Die philosophische Hintertreppe - ReadingSample

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Die philosophische Hintertreppe Die großen Philosophen in Alltag und Denken Bearbeitet von Wilhelm Weischedel 1. Auflage 1992. Taschenbuch. 304 S. Paperback ISBN 978 3 423 30020 9 Format (B x L): 12,4 x 19,1 cm Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft > Philosophie: Allgemeines > Philosophie: Sachbuch, angewandte Philosophie schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Die philosophische Hintertreppe

Die großen Philosophen in Alltag und Denken

Bearbeitet vonWilhelm Weischedel

1. Auflage 1992. Taschenbuch. 304 S. PaperbackISBN 978 3 423 30020 9

Format (B x L): 12,4 x 19,1 cm

Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft >Philosophie: Allgemeines > Philosophie: Sachbuch, angewandte Philosophie

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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»Wie fände sich ohne Studium, ohne wissenschaftlich geschultesDenken und Lesen der Zugang zu Aristoteles, Descartes, KantoderHegel und derenweltbewegenden Erkenntnissen?Wiewollteman seinem noch minderjährigen Sohn die vertrackten Seinsrefle-xionen eines Heidegger, seinem kaufmännischen Freund Russells›Zweifel an den Prämissen‹ oder einem Ingenieur der IndustrieWittgensteins ›Tractatus‹ und die Ergebnisse der ›PhilosophischenUntersuchungen‹ etwa plausibel machen, und zwar so, dass ein zueigenen Fragen und Reflexionen befähigendes Verständnis vermit-telt wird? Wilhelm Weischedel … hat die Masse gelehrter, aberschwer verständlicher Literatur beiseitegeschoben und in vier-unddreißig Aufsätzen die Quintessenz des Denkens und Lebens-werkes ebenso vieler Philosophen in unkonventioneller Weise sodargestellt, dass die jeweilige Kernproblematik und Kernantwortleicht verständlich ist, ohne dass gefährliche Verkürzungen zuverschmerzen wären. Die philosophische Hintertreppe wird zursozialen Einrichtung, sie führt über nur geringe Umwege deranekdotischen Einführung in das Zentrum des jeweiligen Den-kens, ohne beim Leser auch nur die geringste Vorkenntnis voraus-zusetzen. Der Stoff von zweieinhalbtausend Jahren Philosophie-geschichte von Thales, dem philosophierenden Handelsmann ausMilet, bis hin zu LudwigWittgenstein, demmodernen Künder desUntergangs der Philosophie, wird hier ohne wissenschaftlicheArroganz und lehrmeisterhafte Attitüde erzählt, mit allen Mittelndieser Kunst.«(Rheinischer Merkur)

Prof. Dr. Wilhelm Weischedel, geb. 1905 in Frankfurt a.M., stu-dierte in Marburg Evangelische Theologie, Philosophie und Ge-schichte. 1932 Promotion zum Dr. phil. in Freiburg i. Breisgau.Nach 1945 Dozent, dann Professor der Philosophie in Tübingen.1953 ordentlicher Professor an der Freien Universität Berlin; 1970emeritiert. Er starb 1975 in Berlin.

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WilhelmWeischedel

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www.dtv.de

Ungekürzte Ausgabe 197543. Auflage 2016dtv Verlagsgesellschaft mbH&Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt.Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.

© 1966, 1973Nymphenburger Verlagshandlung GmbH,Münchenisbn 3-485-01833-3

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: Raffael, ›Die Schule von Athen‹,um 1510 (BPK, Berlin)Gesamtherstellung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany · isbn 978-3-423-30020-9

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Den Enkeln: KatharinaConstanzeAnnetteSebastian

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Inhalt

Prolog oder Die zwei Aufgänge zur Philosophie . . . . . . . . . . . . 9

Thales oder Die Geburt der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Parmenides und Heraklit oder Die gegensätzlichenZwillinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Sokrates oder Das Ärgernis des Fragens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Platon oder Die philosophische Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Aristoteles oder Der Philosoph als Mann vonWelt . . . . . . . . . . 54

Epikur und Zenon oder Pflichtloses Glück undglücklose Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

Plotin oder Die Gesichte des Entrückten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

Augustinus oder Die Dienlichkeit der Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . 84

Anselm oder Der bewiesene Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

Thomas oder Der getaufte Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Eckhart oder Gott als Nichtgott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109Nikolaus oder Der Nomenklator Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116Descartes oder Der Philosoph hinter der Maske . . . . . . . . . . . . . 125Pascal oder Die gekreuzigte Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137Spinoza oder Der Boykott der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145Leibniz oder Das Puzzlespiel der Monaden . . . . . . . . . . . . . . . . . 156Voltaire oder Die Vernunft in der Klemme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167Rousseau oder Der unglückliche Gefühlsdenker . . . . . . . . . . . . 176Hume oder Der skeptische Schiffbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187Kant oder Die Pünktlichkeit des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195Fichte oder Die Rebellion der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207Schelling oder Die Verliebtheit in das Absolute . . . . . . . . . . . . . 220Hegel oder Der Weltgeist in Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230Schopenhauer oder Der böse Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243Kierkegaard oder Der Spion Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253Feuerbach oder Der Mensch als Schöpfer Gottes . . . . . . . . . . . . 262Marx oder Die Revolte der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272Nietzsche oder Macht und Ohnmacht des Nihilismus . . . . . . . 282Jaspers oder Das fruchtbare Scheitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292Heidegger oder Die Sage vom Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301Russell oder Die Philosophie als Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311Wittgenstein oder Der Untergang der Philosophie . . . . . . . . . . 320Epilog oder Aufstieg und Abstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

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PrologoderDie zwei Aufgänge zur Philosophie

Die Hintertreppe ist nicht der übliche Zugang zu einer Wohnung.Sie ist nicht hell und geputzt und feierlich wie die Vordertreppe.Sie ist nüchtern und kahl und manchmal ein wenig vernachlässigt.Aber dafür braucht man sich für den Aufstieg auch nicht beson-ders vornehm zu kleiden. Man kommt, wie man ist, und man gibtsich, wie man ist. Und doch gelangt man auch über die Hinter-treppe zum selben Ziel wie über die Vordertreppe: zu den Leuten,die oben wohnen.

Auch den Philosophen kann man sich feierlich nähern: übergepflegte Läufer und an blank geputztem Geländer entlang. Aberes gibt auch eine philosophische Hintertreppe. Auch für denBesuch bei den Denkern gibt es ein »man kommt, wie man ist«und ein »man gibt sich, wie man ist«. Und wenn man Glück hat,trifft man auch die Philosophen selber so an, wie sie sind, wennsie nicht gerade am oberen Ende der Vordertreppe einen respek-tablen Gast erwarten; man trifft sie über die Hintertreppe ohnefestliches Gepränge und ohne vornehmes Getue an. Vielleichtbegegnet man ihnen da als den Menschen, die sie sind: mit ihrenMenschlichkeiten und zugleich mit ihren großartigen und einwenig rührenden Versuchen, über das bloß Menschliche hinaus-zugelangen. Wenn das geschieht, dann freilich ist die Unverbind-lichkeit des Aufstiegs über die Hintertreppe vorbei. Dann gilt es,zu einem ernstlichen Gespräch mit den Philosophen bereit zusein.

Vermutlich wird es nicht wenige Verkünder eines »vornehmenTones in der Philosophie« geben, die das Unternehmen des Ver-fassers aufs Strengste verdammen werden, wenn sie es nicht über-haupt für unter ihrer Würde halten, davon Kenntnis zu nehmen.Ihnen sei es unbenommen, den Vorderaufgang zur Philosophie zubenutzen; auch der Verfasser hat dies in einigen seiner bisherigenVeröffentlichungen getan. Wenn er für diesmal die Hintertreppebenutzt, so auch deshalb, weil hier eine Gefahr ausbleibt, die derVordertreppe eigentümlich ist: dass man nämlich unversehens,statt in die Wohnung der Philosophen zu gelangen, bei den Kan-

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delabern, bei den Atlanten und Karyatiden verweilt, die das Por-tal, das Vestibül und den Treppenaufgang schmücken. Die Hinter-treppe ist schmucklos und ohne jede Ablenkung. Zuweilen führtsie deshalb umso eher zum Ziel.

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ThalesoderDie Geburt der Philosophie

Wer alt geworden ist und sein Ende nahen fühlt, dem mag es wohlgeschehen, dass er in einer ruhigen Stunde an die Anfänge seinesLebens zurückdenkt. Das widerfährt auch der Philosophie. Sie istnun zweieinhalb Jahrtausende alt; es gibt nicht wenige, die ihreinen baldigen Tod prophezeien, und wer heute Philosophie be-treibt, den mag wohl manchmal das Gefühl beschleichen, es seieine müde und ein wenig klapprig gewordene Sache, mit der ersich abgibt. Aus dieser Empfindung kann das Bedürfnis erwach-sen, sich in die Vergangenheit zurückzuversetzen und nach denAnfängen zu suchen, in denen die Philosophie noch frisch undmit jungen Kräften im Dasein stand.

Doch wer so der Stunde ihrer Geburt nachforscht, gerät inVerlegenheit. Es gibt ja kein Standesamt für geistige Geschehnisse,dessen Register so weit zurückreichte, dass sich die Eintragungjenes Geburtstages in ihm fände. Wann die Philosophie eigentlichins Leben getreten ist, weiß keiner mit Sicherheit; ihr Anfangverliert sich im Dunkel früher Zeiten.

Nun sagt eine alte Tradition, die Philosophie habe mit Thalesbegonnen, einem klugen Manne aus der Handelsstadt Milet imgriechischen Kleinasien. Der habe dort im sechsten Jahrhundertv. Chr. gelebt und als Erster unter allen Menschen philosophiert.Doch dem stimmt keineswegs der ganze Chor der Gelehrten zu.Einige weisen darauf hin, dass sich doch auch schon bei den frühenDichtern der Griechen philosophische Ideen finden; so machensie Hesiod oder gar Homer zu Urvätern der Philosophie. Anderegehen noch weiter zurück und behaupten, es habe auch schon beiden orientalischen Völkern eine Art von Philosophie gegeben,längst ehe das Volk der Griechen in das Licht der Geschichtegetreten sei.

Weit radikaler noch ist ein Gelehrter aus dem Anfang des18. Jahrhunderts, Mitglied der Berliner Akademie der Wissen-schaften, Jakob Brucker, oder, wie er sich, der Sitte der Zeit ent-sprechend, nennt: Jacobus Bruckerus. Er verfasst ein dickleibigeslateinisches Opus mit dem Titel ›Kritische Geschichte der Phi-

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losophie, von derWiege derWelt an bis zu unserem Zeitalter‹. DerBeginn der Philosophie reicht also, wenn man diesem Gelehrtentrauen will, zurück bis in die allerersten Anfänge, bis zu derWiegeoder, wie man das lateinische Wort auch übersetzen kann, bis zuden Windeln der Menschheit. So findet sich denn auch auf demTitelblatt des 1. Bandes ein Bild einer vorzeitlichen Landschaft,mit einem urwelthaften Bären, der versunken an seiner linkenKlaue kaut. Darüber steht die Inschrift: »ipse alimenta sibi«, zuDeutsch: »er ist selber seine eigene Speise«, was denn wohl heißensoll: Die Philosophie bedarf keiner fremden Nahrung, keiner vor-hergehenden Wissenschaft oder Kunst, sondern sie ist sich selbstgenug; kurz: Die Philosophie entspringt aus sich selber, und zwareben zu der Zeit, als die Menschheit noch in ihren Windeln liegt.

Daher muss Jacobus Bruckerus in seiner Suche nach den An-fängen der Philosophie weiter und weiter zurückgehen: hinter dieGriechen und hinter die Ägypter und Babylonier, ja noch hinterdie Sintflut, bis in jene Zeit zwischen Adam und Noah, in der dieMenschheit ihre ersten Schritte tut. Darum heißt der erste Teilseines voluminösen Werkes: ›Vorsintflutliche Philosophie‹. Dochauch hier hält Bruckerus noch nicht inne; er erörtert sogar dieFrage, ob es nicht vielleicht schon vor Beginn der Menschheit,unter den Engeln und Dämonen, Philosophen gebe. Hier kommter nun freilich nach scharfsinniger Untersuchung zu dem Ergeb-nis: Weder Engel noch Dämonen sind Philosophen. Auch Adamund seine Söhne und Enkel werden ihm, wie er sie genauerbetrachtet, fragwürdig. Zwar kann er bei ihnen Spuren philoso-phischer Reflexion entdecken; aber diese reichen doch nicht aus,um jene mit dem Mantel des Philosophen zu umhüllen. Adametwa, so meint Bruckerus, habe ja gar keine Zeit für philosophi-sche Spekulationen gehabt. Denn wer sich den ganzen Tag umseines Leibes Notdurft kümmern müsse, wer, wie die Bibel sagt,im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen müsse, der habeam Abend keinen Kopf mehr für tiefsinnige Gedanken.

So ähnlich denkt übrigens auch der erste Geschichtsschreiberder Philosophie, der große Aristoteles. Wissenschaft und Philoso-phie, so etwa sagt er, hätten erst dann beginnen können, als dieäußere Notdurft einigermaßen gestillt war und die Menschen fürandere Dinge Muße hatten. Das nun sei zum ersten Mal in Ägyp-ten der Fall gewesen, nämlich bei den Priestern dieses Landes;

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diese hätten darum Mathematik und Astronomie erfunden. DiePhilosophie im eigentlichen Sinne aber sei erst bei den Griechenentstanden, und zwar in der Muße, die sich ein großer Handels-herr in der reichen Stadt Milet leisten konnte. So also kommtAristoteles an den Punkt, an den man seitdem immer wieder denAnfang der Philosophie verlegt: eben zu dem Philosophen Thalesaus Milet.

Von seinem Leben und Wesen weiß man allerdings nicht viel.Aristoteles stellt ihn als einen klugen, fast möchte man sagengerissenen Geschäftsmann dar. Als er nämlich eines Tages be-merkt, dass die Olivenernte besonders reichlich zu werden ver-spricht, kauft er sämtliche Ölpressen auf und vermietet sie zuhohem Zinse weiter. Ob diese Geschichte stimmt, ist freilichunsicher. Gewiss ist dagegen, dass Thales sich mit politischenDingen befasst und sich dann der Mathematik und der Astrono-mie zuwendet. Auf diesem Felde wird er ein berühmter Mann; esgelingt ihm, eine Sonnenfinsternis exakt vorauszuberechnen, undder Himmel tut ihm den Gefallen, an dem vorhergesagten Tageauch tatsächlich die Sonne sich verdunkeln zu lassen.

Diese Tatsache nimmt übrigens ein gegenwärtiger Geschichts-schreiber zum Anlass, um die Geburtsstunde der Philosophieexakt anzugeben; er schreibt den lapidaren Satz: »Die Philosophieder Griechen beginnt mit dem 28. Mai 585«; denn das eben ist derTag jener vorausverkündeten Sonnenfinsternis. Man fragt sichfreilich, was denn die Philosophie mit Sonnenfinsternissen zu tunhabe, es sei denn, die Geschichte der Philosophie sei selber eineFolge nicht von Erleuchtungen, sondern von Finsternissen.

Im Übrigen ist Thales allem Vermuten nach ein echter Weiser:ein Mann nämlich, der nicht nur tief nachdenkt, sondern auch dasLeben und seine Absonderlichkeiten kennt. Das wird von antikenGewährsmännern in hübschen Anekdoten illustriert. Seine Mut-ter will ihn überreden zu heiraten; er aber antwortet: »Noch ist esnicht Zeit dazu.« Als er dann älter wird und die Mutter ihn immereindringlicher bestürmt, erwidert er: »Nun ist die Zeit dazu vorü-ber.« Tiefsinniger noch ist eine andere Geschichte: Auf die Frage,warum er keine Kinder zeugen wolle, antwortet er: »Aus Liebe zuden Kindern.«

Nun mag man die Vorsicht in ehelichen und väterlichen Dingenfür eine lobenswerte Eigenschaft halten: Sie reicht doch nicht aus,

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um einen Menschen zum Philosophen zu machen. Was Platonberichtet, ist aber echt philosophisch: »Als Thales die Sterne be-obachtete und nach oben blickte und als er dabei in einen Brunnenfiel, soll eine witzige und geistreiche thrakische Magd ihn verspot-tet haben: Er wolle wissen, was amHimmel sei, aber es bleibe ihmverborgen, was vor ihm und zu seinen Füßen liege.« Der Philo-soph im Brunnen ist allerdings eine kuriose Erscheinung. Platonaber gibt dieser Geschichte eine ernsthafte Wendung. »Der gleicheSpott trifft alle, die in der Philosophie leben. Denn in Wahrheitbleibt einem solchen der Nächste und der Nachbar verborgen,nicht nur in dem, was er tut, sondern fast auch darin, ob er einMensch ist oder irgendein anderes Lebewesen … Wenn er vorGericht oder irgendwo anders über das reden muss, was zu seinenFüßen oder vor seinen Augen liegt, ruft er Gelächter hervor, nichtnur bei Thrakerinnen, sondern auch beim übrigen Volk; aus Un-erfahrenheit fällt er in Brunnen und in jegliche Verlegenheit; seineUngeschicklichkeit ist entsetzlich und erweckt den Anschein derEinfältigkeit.« Doch nun kommt das Entscheidende: »Was aberder Mensch ist, und was zu tun und zu erleiden einem solchenWesen im Unterschied von den anderen zukommt, danach suchter und das zu erforschen müht er sich.« Jetzt also kehrt sich dieSache um. Platon will sagen: Wenn es um das Wesen der Gerech-tigkeit und um andere wesentliche Fragen geht, dann wissen dieandern nicht aus noch ein und machen sich lächerlich; dann aberist die Stunde des Philosophen gekommen.

Jetzt versteht man, weshalb Platon, Aristoteles und viele anderenach ihnen gerade diesen Thales aus Milet als den ersten Philoso-phen bezeichnen. Es geht ihm nicht um die Dinge, sondern umdas Wesen der Dinge. Er will dahinterkommen, was es in Wahr-heit mit dem auf sich hat, was sich in so vielfältigen Gestalten inder Welt findet: mit den Bergen, den Tieren und den Pflanzen,mit dem Wind und den Sternen, mit dem Menschen, seinem Tunund seinem Denken. Was ist das Wesen von alledem, fragt Thales.Und weiter: Woher kommt, woraus entspringt das alles? Was istder Ursprung von allem? Was ist das Eine, alles Umfassende, dasPrinzip, das macht, dass das alles wird und ist und besteht? Dassind, wenn auch von ihm selber nicht so ausgesprochen, dieGrundfragen des Thales, und indem er sie als Erster stellt, wird erzum Anfänger der Philosophie. Denn nach dem Wesen und nach

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dem Grunde zu fragen, ist seitdem und bis heute das zentralephilosophische Anliegen.

Die Antwort freilich, die Thales auf diese Frage gibt, ist seltsam.Er behauptet nämlich, so wird berichtet, das Wasser sei der Ur-sprung von allem.Wie? All das, was wir als Fülle derWeltgestaltenvor Augen haben, jene Berge, Sterne und Tiere, wir selber und derGeist, der in uns wohnt, all das soll aus demWasser stammen, sollseinem innerstenWesen nach nichts als Wasser sein? Eine wunder-liche Philosophie, diese Philosophie im Anfang.

Offenbar muss man Thales um dieses seines Grundgedankenswillen als einen ausgesprochenen Materialisten ansehen. DasWasser, ein materieller Stoff, wird zum Urprinzip gemacht; ausMateriellem also will dieser Philosoph alles ableiten. So kann manes in manchen Lehrbüchern der Geschichte der Philosophie lesen.Freilich, so wird hinzugefügt, Thales ist noch ein recht primitiverMaterialist. Denn die Forschung nach den Urbestandteilen derWirklichkeit hat seine These keineswegs bestätigt; die Frage nachden ursprünglichsten Konstituenzien der Welt ist viel zu kompli-ziert, als dass sie mit der einfachen Annahme beantwortet werdenkönnte, das Wasser sei das Urprinzip. Thales ist also ein Materia-list; aber man braucht ihn mit seiner überholten Annahme nichtmehr ernst zu nehmen.

Aber die darin liegende Verachtung des Anfangs der Philoso-phie sollte doch zu denken geben. Hat man denn jenen Satz vomWasser als dem Urprinzip richtig verstanden, wenn man ihn soohne Weiteres als Ausdruck eines philosophischen Materialismusdeutet? Das Bedenken wird noch verstärkt, wenn man hin-zunimmt, dass von Thales ein zweiter Satz überliefert wird, dernun ganz und gar nicht zu der materialistischen Deutung passenwill. Er lautet: »Alles ist voll von Göttern.« Jetzt geht es offenbarnicht darum, dass alleWirklichkeit aus einemUrstoff erklärt wird.Jetzt wird vielmehr gesagt: Was wir vor uns sehen, diese ganzsichtbare Welt, ist die Stätte der Anwesenheit von Göttern. DerMensch begreift die Welt nicht richtig, wenn er meint, was er umsich sieht, seien einfachhin vorhandene Dinge; er muss einsehen:Es ist das Wesen der Dinge, dass in ihnen Göttliches waltet.

Hat also Thales, in seinen beiden Sätzen vom Wasser und vonden Göttern, zwei einander widerstreitende Behauptungen auf-gestellt? Denn dies beides steht doch offenbar zueinander im

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Gegensatz: Entweder ist die Wirklichkeit bloßer Stoff, oder sie istgöttlichen Lebens voll. Wenn aber hier ein schroffes Entweder-oder herrscht, auf welcher Seite liegt dann die Wahrheit? DieseFrage reicht bis in den Grund der Weltdeutung, und sie ist bisheute nicht zu Ende gekommen. Noch in der Gegenwart geht esin den philosophischen Diskussionen entscheidend darum, ob dieWelt von einem rein materiellen Prinzip her zu verstehen ist, oderob wir annehmen sollen, die Dinge seien sichtbare Zeichen einesTieferen, die Welt sei Ausdruck eines in ihr waltenden göttlichenPrinzips, vielleicht gar das Geschöpf eines schaffenden Gottes.

Doch wie steht es eigentlich in dieser Hinsicht mit Thales, demanfänglichen Philosophen? Hat er tatsächlich, wie es bis jetzt denAnschein hat, das Widerstreitende unverbunden nebeneinander-gestellt, das Unversöhnliche gelehrt, ohne den Widerspruch zumerken? Oder steht etwa seine Behauptung, alles sei aus demWasser entsprungen, doch mit der anderen in Verbindung, dassalles voll vonGöttern sei? Erwächst vielleicht die Unvereinbarkeitnur daraus, dass man die These vom Ursprung aus demWasser immodernen naturwissenschaftlichen Sinne deutet, als eine Hypo-these über den materiellen Urstoff, und dass man sie damit nichtin ihrem wahren, zeitgenössischen Sinne versteht? Denn es istdoch sehr die Frage, ob eine solche naturwissenschaftliche Theorieder Weltsicht entspricht, wie sie die Menschen des sechsten Jahr-hunderts v. Chr. besitzen. So gilt es, noch einmal zu überlegen,was es heißen will, wenn Thales sagt: Ursprung von allem ist dasWasser.

Da hilft nun weiter, was Aristoteles über Thales berichtet. Erweiß zwar selber nicht mehr genau, was jener Urvater der Phi-losophie eigentlich sagen will; immerhin sind ja bis auf seine Tagefast drei Jahrhunderte verflossen. Aber wie Aristoteles an demdunklen Spruch vom Wasser herumrätselt, meint er, Thales denkedabei wohl an den Okeanos, jenen Urstrom, der nach alter Sagedie Erde umfließt und als Vater des Entstehens von allem gilt.Vielleicht auch sei dem Thales gegenwärtig, dass von alters hererzählt wird: Wenn die Götter einen Schwur leisten, rufen sie denStyx an, den Totenfluss, der das Reich der Lebendigen vom Reichder Schatten trennt; der Eid aber, fährt Aristoteles fort, ist dasHeiligste von allem. Uraltes mythisches Wissen also beschwörtAristoteles herauf, wenn er sich an die Deutung des Satzes des

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Thales macht: den Gedanken an den Okeanos und den Styx, diemythischen Urströme, und an die magische Heiligkeit des Eides.Und jetzt ist deutlich, wohin Aristoteles weisen will. Wenn Thalesvom Wasser redet, dann denkt er nicht an einen materiellen Ur-stoff, sondern an die mythische Mächtigkeit des Ursprünglichen,an die Göttlichkeit des Ursprungs. Dazu nun fügt sich bruchlosjener zweite Satz des Thales, wonach alles voll von Göttern ist.Das heißt dann nicht: Da ist ein Stück Apollon und dort ein StückZeus. Sondern das besagt: Alles, was ist, ist von göttlichen Kräftendurchwaltet. Wo wir philosophieren, dürfen wir die Welt nichteinfach so betrachten, als bestünde sie aus einer Fülle nebeneinan-derliegender Dinge. In der Welt waltet vielmehr ein einheitlichesPrinzip, ein mächtig Göttliches, und aus ihm hat alles, was ist,Ursprung und Bestehen.

Warum ist es aber gerade das Wasser, in dessen Bild Thales dieGöttlichkeit des Ursprungs erblickt? Das hat, wie Aristotelesvermutet, darin seinen Grund, dass alles Lebendige in der Weltdadurch ins Leben kommt und sich im Leben erhält, dass es vomWasser getränkt wird. Wie dieses in den Dingen die Lebendigkeitschafft, so steht es auch mit dem göttlichen Urgrund: Er belebtalles, indem er alles durchdringt. So will denn der Satz des Thales,alles sei aus demWasser entsprungen, dies besagen: In allemWirk-lichen waltet ein göttlichWirksames, von ursprünglicherMächtig-keit wie die Urströme des Mythos und alles durchdringend wiedas lebenserhaltende Wasser.

Damit aber ist Entscheidendes für das Verständnis des anfäng-lichen Wesens der Philosophie gewonnen. Diese beginnt nicht mitprimitiven naturwissenschaftlichen Fragestellungen und Theo-rien. Es geht ihr vielmehr darum, in einer Zeit, in der die Kraft desMythos zu verblassen beginnt, doch das zu bewahren, worum derMythos weiß: zu bewahren freilich in einer gewandelten Form,nämlich in der des ausdrücklichen Fragens nach dem Ursprüng-lichen und Göttlichen.

Was aber ist es, was das Philosophieren in seinem Beginn ausdem Mythos übernehmen kann? Eben das, was Thales mit seinenrätselhaften Worten ausdrücken will: dass nämlich die Welt eineTiefe besitzt. Jene uralten Mythen der Griechen wären ja allzuoberflächlich verstanden, wollte man sie nur als kuriose Ge-schichten von irgendwelchen Fabelwesen, Götter genannt, neh-

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men. Wenn die Griechen von ihren Göttern sprechen, dann mei-nen sie damit vielmehr die hintergründige Tiefe der Wirklichkeit.Sie erfahren die Wirklichkeit des Streites, der alle Bereiche derWelt durchzieht, und benennen sie mit dem Namen des GottesAres. Sie erfahren die dämonische Stille des Mittags und geben ihrden Namen des Gottes Pan. Sie wollen damit sagen: Alles Wirk-liche gründet im Göttlichen; dessen Anwesenheit ist das eigent-lich Wirkliche der Wirklichkeit.

Hier nun knüpft die beginnende Philosophie an. Sie kann zwarnicht mehr in der Unmittelbarkeit der mythischen Geschichtenübernehmen, was dort gesagt wird. Sie beginnt in einer Zeit, in derdemMenschen die religiösen Vorstellungen fragwürdig gewordensind und in der er entdeckt, dass er selber fragen und selber nach-denken muss. Aber nun müht sich die Philosophie darum, dass ihrin solchem Fragen und in solchemNachdenken das nicht verlorengehe, was im mythischen und religiösen Wissen als das eigentlichWahre verborgen ist. Dabei entdeckt sie: Die alte und bleibendeWahrheit ist, dass alles Wirkliche nicht nur ein vordergründigesGesicht trägt, sondern hintergründig von einem Tieferen durch-waltet ist.

Dem nachzuforschen ist seitdem die Leidenschaft des philoso-phischen Fragens. Denn noch heute ist die Philosophie in keineranderen Situation als damals in ihren Anfängen. Auch heutenoch steht sie in der Auseinandersetzung mit dem religiösenWissen. Auch heute noch, und gerade heute, besteht die Gefahr,dass sie in dieser ihrer Abwehrhaltung zu einer rein diesseitigenWeltdeutung kommt, für die es nichts als materielle Dinge gibt.Aber wenn sie sich darauf einließe, dann verlöre sie, was sie imAnfang besessen hat: die Eindringlichkeit des Hinabfragens indie Tiefe und in die Urgründe. Dies sich zu bewahren und sichdoch nicht einem bloßen Glauben auszuliefern, sondern fragen-des Ergründen des Ursprungs zu bleiben, ist auch heute noch dieAufgabe.

Das ist freilich eine große und schwere Aufgabe. Denn demersten Blick zeigt die Welt nichts von einem Ursprung aus demGöttlichen. Was wir zunächst beobachten, ist vielmehr ein tragi-sches Widerspiel von Geburt und Tod, von Entstehen und Ver-gehen. Wie soll man annehmen können, die solcherart zerrisseneWirklichkeit gründe im Göttlichen, das wir uns doch als ewig und

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demWiderstreit des Entstehens und Vergehens enthoben denken?Wie kann das Ewige Grund des Vergänglichen sein?

Hier setzt das philosophische Fragen ein, und dies schon inseinen Anfängen. Es ist die griechische Grunderfahrung und zu-gleich das tiefere Leiden des griechischen Menschen an der Welt,dass das Wirkliche in all seiner Schönheit unter der ständigenDrohung des Todes und der Nichtigkeit steht. Aber der grie-chische Geist verharrt nicht in stummer Resignation vor diesemAnblick der Welt; er unternimmt den leidenschaftlichen Versuch,die Unheimlichkeit der vergänglichen Welt unter dem Aspekt desGöttlichen tiefer zu begreifen.

Eben das geschieht im anfänglichen griechischen Philosophie-ren. Wenn Thales den göttlichen Ursprung der Welt im Bilde desWassers erblickt, dann will er damit die Frage nach der Herkunftdes Vergänglichen aus dem Ewigen beantworten. Denn mag dasWasser auch immer bleiben, was es ist, nämlich Wasser, so zeigt essich doch in stets anderer Gestalt: bald als Dampf, bald als Eis undSchnee, bald als Bach und Meer. Sich verwandelnd in die verschie-denen Weisen seines Erscheinens, bleibt es doch das eine undselbe. So steht es auch mit dem Göttlichen. Es ist ewig und immersich selber gleich, und doch wandelt es sich, und eben darumvermag es Ursprung dessen zu sein, was immerzu entsteht undvergeht: der wirklichen Welt.

Dem denkt der große Schüler des Thales, Anaximander, ein-dringlicher nach. Wenn wir aus den wenigen Nachrichten, dievon ihm erhalten sind, schließen dürfen, dann ist eben das Ent-stehen und Vergehen der Ausgangspunkt seines Philosophierens:dass ein Ding ins Dasein tritt und wieder verschwindet, dass wirselber werden und untergehen, dass die ganze Welt ein ungeheu-rer Schauplatz von Geburt und Tod ist. Wie soll man das begrei-fen und doch daran festhalten, dass das Wirkliche im Ewigen undGöttlichen gründet?

Wie Anaximander dem weiter nachsinnt, kommt er zu einergroßartigen Deutung der Wirklichkeit. Dass ein Ding untergeht,meint er, ist kein zufälliges Geschehen; es ist Buße und Sühne fürein Vergehen; Sterben heißt Abbüßen einer Schuld. Doch worinbesteht diese Schuld? Darin, dass ein jegliches Ding den Dranghat, über das ihm gesetzte Maß hinaus im Dasein zu verharren.Damit aber wird es schuldig an anderen Dingen; denn es versperrt

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ihnen den Raum und benimmt ihnen so die Möglichkeit, insDasein zu treten. Die ganze Welt ist in der Sicht des Anaximanderein großer Kampf um das Sein; das Beharrende hindert das An-kommende daran, ins Dasein zu gelangen; aber weil es sich damitan ihm verschuldet, bereitet ihm die große Notwendigkeit denUntergang und schafft so Raum für den Aufgang neuer Dinge.

So steht es mit der Welt. Doch es gibt für Anaximander nocheinen tieferen Aspekt. Letztlich nämlich geht es nicht so sehr umeine Schuld des einen Dinges gegen das andere als vielmehr um einVergehen gegen den göttlichen Ursprung selber. Dieser muss,wenn alles Wirkliche ihm sein Entstehen verdankt, als ein Prinzipunaufhörlicher, schöpferischer Lebendigkeit verstanden werden,als das Grenzenlose oder Unendliche, wie Anaximander es nennt.Würden nun die Dinge im Dasein beharren und so andere Dingedaran hindern, ins Dasein zu treten, so hieße das, das Unendlichekönnte nicht mehr sein, was es doch vomWesen her ist: schöpferi-sche, immer Neues aus sich gebärende Lebendigkeit; es würdeselber starr und tot. So ist der Untergang der Dinge, dieses Be-fremdliche der Wirklichkeit, zuletzt vom Göttlichen her gerecht-fertigt. Die Dinge, die sich ins Beharren versteifen, müssen ster-ben, damit das Unendliche seine Lebendigkeit bewahren kann.Die Vergänglichkeit, das große Rätsel für das Philosophieren undfür den Menschen, erhält ihren Sinn von der Unvergänglichkeitder göttlichen Lebendigkeit her. Das ist der tiefsinnige Gedankedes Anaximander. Ihn spricht er in dem einzigen größeren Frag-ment, das von ihm erhalten ist, aus: »Ursprung der Dinge ist dasUnendliche. Woraus aber den Dingen das Entstehen kommt, da-hinein geschieht ihnen auch der Untergang nach der Notwendig-keit. Denn sie zahlen einander Sühne und Buße für ihr Unrechtnach der Ordnung der Zeit.«

Die Philosophie versteht freilich in ihrer weiteren Geschichtedie Deutungen, die Thales und Anaximander geben, nicht als dieeinzige und gültige Antwort auf ihre Fragen; vielfältig versuchtsie neue Lösungen des Problems. Aber die anfängliche Fragebleibt. Darum auch besinnt sich die Philosophie immer wieder anden entscheidenden Wendepunkten ihrer Geschichte auf ihrenBeginn und stellt in neuer Unmittelbarkeit das Problem des ab-soluten Grundes der Wirklichkeit und des Hervorgangs des Ver-gänglichen aus dem Unvergänglichen. Denn das ist und bleibt die

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