Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der...

18
Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells zur Entwicklung eines Präventionsmodells* Von Privatdozentin Dr. Rita Haverkamp, Freiburg i. Br. Die Prognose ist und bleibt als Grundlage jeder Gefahrenabwehr unverzichtbar, mag sie auch im Einzelfall unzulänglich sein.“ Bundesverfassungsgericht vom 5. Februar 2004 1 I. Einführung Im vergangenen Jahrzehnt beflügelte der islamistische Terrorismus als eine be- herrschende politische Bedrohung nachhaltige Gesetzesnovellen im Polizei- und Strafrecht. Diese Gesetzesnovellen verändern das Gesetzesgefüge durch Vorver- lagerungen tiefgreifend. Neben die klassische Gefahrenabwehr treten vermehrt proaktive Strategien der Polizei und der Präventionsgedanke beherrscht die Strafbarkeit im Vorfeld. Diesen grundlegenden Wandel läutete jedoch nicht der terroristische Anschlag in New York vom 11. September 2001 ein, sondern er ist Ausdruck einer anhaltenden Entwicklung. In den 1970er Jahren stand der eth- nische oder politische nationale Terrorismus (z. B. RAF) auf der Agenda 2 und beförderte die Einführung von Sicherheitsmaßnahmen mit und ohne Gesetzes- grundlage 3 . Das kriminalpolitische Interesse verlagerte sich in den 1980er Jahren auf die Betäubungsmittelkriminalität 4 . In den 1990er Jahren rückte infolge der Öffnung der Grenzen die organisierte transnationale Kriminalität in den Mittel- punkt und galt als entscheidende Bedrohung 5 . Diese proaktive und präventive Wende lässt sich vor allem auf die klandesti- nen und teilweise transnationalen Netzwerkstrukturen zurückführen. Im Unter- * Bei dem Beitrag handelt es sich um die schriftliche Fassung meines Habilitationsvortrags an der Ludwig-Maximilians-Universität München am 22. Juli 2010. Stand der Internetquellen: 26. 4. 2011. 1 2 BvR 2029/01 Rdn. 101 = BVerfGE 109, 133, 158 zur Streichung der zehnjährigen Höchst- grenze bei einer erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung. 2 Großbritannien IRA; Deutschland RAF. 3 So wurde die Rasterfahndung zunächst ohne gesetzliche Grundlage von der Polizei angewen- det. 4 „War on drugs“ ausgehend von den USA. 5 Mitte der 1980er Jahre wurde die Thematik bereits in der Wissenschaft rezipiert; Bundes- kriminalamt (Hrsg.), Vorträge und Diskussionen bei der Arbeitstagung des Bundeskriminal- amts vom 19. bis 22. November 1996, 1997; Hamacher , Deutschland im Visier. Organisiertes Verbrechen, 2000; im Weiteren ist die Gruppe der Sexualstraftäter zu nennen, die Anlass für zahlreiche Gesetzesschärfungen waren; die Durchführung von DNA-Tests zur Identifizie- rung von unbekannten Tätern lässt sich auch als Biopolitik durch die Polizei einordnen; vgl. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, 2004. ZStW 123 (2011) Heft 1 Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Transcript of Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der...

Page 1: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

Die Prognose von terroristischen Anschlägen:Die Prognose von terroristischen Anschlägen:Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der VersuchGrenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuchzur Entwicklung eines Präventionsmodellszur Entwicklung eines Präventionsmodells**

Von Privatdozentin Dr. Rita Haverkamp, Freiburg i. Br.

„Die Prognose ist und bleibt als Grundlage jeder Gefahrenabwehr unverzichtbar,mag sie auch im Einzelfall unzulänglich sein.“

Bundesverfassungsgericht vom 5. Februar 20041

I. Einführung

Im vergangenen Jahrzehnt beflügelte der islamistische Terrorismus als eine be-herrschende politische Bedrohung nachhaltige Gesetzesnovellen im Polizei- undStrafrecht. Diese Gesetzesnovellen verändern das Gesetzesgefüge durch Vorver-lagerungen tiefgreifend. Neben die klassische Gefahrenabwehr treten vermehrtproaktive Strategien der Polizei und der Präventionsgedanke beherrscht dieStrafbarkeit im Vorfeld. Diesen grundlegenden Wandel läutete jedoch nicht derterroristische Anschlag in New York vom 11. September 2001 ein, sondern er istAusdruck einer anhaltenden Entwicklung. In den 1970er Jahren stand der eth-nische oder politische nationale Terrorismus (z. B. RAF) auf der Agenda2 undbeförderte die Einführung von Sicherheitsmaßnahmen mit und ohne Gesetzes-grundlage3. Das kriminalpolitische Interesse verlagerte sich in den 1980er Jahrenauf die Betäubungsmittelkriminalität4. In den 1990er Jahren rückte infolge derÖffnung der Grenzen die organisierte transnationale Kriminalität in den Mittel-punkt und galt als entscheidende Bedrohung5.

Diese proaktive und präventive Wende lässt sich vor allem auf die klandesti-nen und teilweise transnationalen Netzwerkstrukturen zurückführen. Im Unter-

* Bei dem Beitrag handelt es sich um die schriftliche Fassung meines Habilitationsvortrags ander Ludwig-Maximilians-Universität München am 22. Juli 2010. Stand der Internetquellen:26. 4. 2011.

1 2 BvR 2029/01 Rdn. 101 = BVerfGE 109, 133, 158 zur Streichung der zehnjährigen Höchst-grenze bei einer erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung.

2 Großbritannien IRA; Deutschland RAF.3 So wurde die Rasterfahndung zunächst ohne gesetzliche Grundlage von der Polizei angewen-

det.4 „War on drugs“ ausgehend von den USA.5 Mitte der 1980er Jahre wurde die Thematik bereits in der Wissenschaft rezipiert; Bundes-

kriminalamt (Hrsg.), Vorträge und Diskussionen bei der Arbeitstagung des Bundeskriminal-amts vom 19. bis 22. November 1996, 1997; Hamacher, Deutschland im Visier. OrganisiertesVerbrechen, 2000; im Weiteren ist die Gruppe der Sexualstraftäter zu nennen, die Anlass fürzahlreiche Gesetzesschärfungen waren; die Durchführung von DNA-Tests zur Identifizie-rung von unbekannten Tätern lässt sich auch als Biopolitik durch die Polizei einordnen; vgl.Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, 2004.

ZStW 123 (2011) Heft 1 Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 2: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

schied zur organisierten Kriminalität macht das Bedrohungspotenzial terroristi-scher Anschläge im 21. Jahrhundert die letalen Folgewirkungen für unbeteiligteZivilisten aus. Während der terroristische Anschlag die Öffentlichkeit zur Ver-breitung von Angst und Schrecken benötigt, erfordert die Vorbereitung ein Agie-ren im Verborgenen. Im Vordergrund der Bewältigung von Terrorismus stehtsomit die präventive Gefahrerforschung und Gefahrenprävention durch Polizei,Verfassungsschutz und Nachrichtendienste6. Symptomatisch ist die gesetzlichnicht definierte Figur des „Gefährders“7, die den Polizeikräften an sich fremdeErmittlungen ohne konkrete, vorliegende Gefahr im Sinne des Polizeirechtsermöglicht. Hierzu gehören verdachtsunabhängige Initiativermittlungen, Daten-ermittlung und -sammlung, die Kooperation der dem Trennungsgebot unterlie-genden Sicherheitsbehörden (z. B. im GTAZ8).

Die Vorverlagerung des polizeilichen Handelns wie auch der Strafbarkeit wirftbekanntermaßen grundsätzliche Probleme bei der Neuausrichtung der Sicher-heitsarchitektur der Bundesrepublik auf9. Zunächst stellt sich die Frage nach derBegriffsbestimmung von Terrorismus. Überdies fußen Früherkennung und Ver-hütung von Gefahren auf Prognosen, die die ungewisse Zukunft anhand vonretrospektiven Anknüpfungspunkten aufhellen sollen. Skepsis bereitet hier dieZuverlässigkeit der Vorhersagen. In diesem Kontext könnten sog. Voranschlags-indikatoren dazu beitragen, die Verlässlichkeit von Prognosen zu verbessern. Dasderart ausgeleuchtete Vorfeld terroristischer Anschläge bildet gegenwärtig einwichtiges Anwendungsfeld polizeilicher Präventionsstrategien. Prävention ihrer-seits möchte das Versprechen implizieren, Sicherheit vor seltenen Ereignissen mitfatalen Wirkungen zu gewährleisten. Die Reichweite der polizeilichen Präventi-onsstrategie bleibt allerdings verschwommen und nicht fassbar. Diesen Problem-kreisen widmet sich der folgende Beitrag, der erste Anstöße zur Lösung des Prä-ventionsdilemmas geben möchte.

II. Das Phänomen Terrorismus

Terrorismus ist ein derart vielschichtiges und polarisierendes Phänomen, dasssich bislang in Wissenschaft und Praxis10 keine Definition durchsetzen konnte,

6 Vgl. hierzu auch Nehring, kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland, 2007,S. 437 f.

7 In BT-Drs. 16/3570, S. 6 Frage 9 und 10 ist eine Begriffsbestimmung für „Gefährder“ nieder-gelegt; nach der Definition der „AG Kripo“ (Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landes-kriminalämter und des Bundeskriminalamts) von 2004 „ist ein Gefährder eine Person, beider bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftatenvon erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100 a StPO begehen wird“;kritisch hierzu von Denkowski, Kriminalistik 5/2007, S. 325–332.

8 Gemeinsames Terrorabwehrzentrum in Berlin, das am 14. Dezember 2004 seine Tätigkeitaufnahm; s. zum GTAZ Würz, Kriminalistik 1/2005, S. 10–13.

9 Kritisch Hetzer, Kriminalistik 8–9/2004, S. 508–517 und ders., MschrKrim 2005, S. 111–126.10 Hierzu Weigend, Festschrift für Nehm, 2006, S. 155 ff. auch zur Definition des EU-Rahmen-

beschlusses S. 162 ff.,

ZStW 123 (2011) Heft 1

Die Prognose von terroristischen Anschlägen 93

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 3: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

sondern eine unübersichtliche Fülle an Begriffsbestimmungen11 nebeneinanderstehen. Dieses Dilemma brachte eine resignative Position hervor, nach der eineverbindliche Begriffsbestimmung angesichts der unterschiedlichen Spielarten desTerrorismus aussichtslos sei12. Die Frage der Definition bzw. zumindest vonkonstitutiven Kernaspekten ist jedoch für die Eingrenzung des Phänomens ele-mentar, um Klarheit über dessen Gegenstand wie auch Reichweite zu gewinnenund um hieraus Ansätze zu dessen Bewältigung in der Gesellschaft entwickeln zukönnen.

Überwiegend wird in Definitionsversuchen Terrorismus als Strategie verstan-den, doch gehen die Auffassungen bei Zielrichtung und Basismerkmalen wieder-um auseinander13. Ein Teil betont die mediale Inszenierung und sieht in Terro-rismus eine gewalttätige Kommunikationsstrategie für politische Botschaften14.Demgegenüber akzentuiert eine andere Ansicht die politische Zwecksetzung.Danach basiere Gewaltanwendung auf einer rationalen Abwägung, inwiefernein Anschlag die Durchsetzung politischer Ziele befördere15. Auch wenn derRückbezug auf den Rational-Choice-Approach problematisch ist16, überzeugtdie letzte Auffassung wegen der Mittel-Zweck-Relation: Die Durchsetzung po-litischer Ziele bestimmt die gewalttätige Motivation von Terroristen17. Im Un-terschied zu früheren Erscheinungsformen des Terrorismus charakterisiert dieislamistische Spielart die intendierten tödlichen Konsequenzen für die Zivilbe-völkerung18. Die Herstellung von Öffentlichkeit durch Gewalt stellt das gewähl-

11 Vgl. nur das Standardwerk von Schmid/Jongman, Political Terrorism, 2. Aufl., Oxford 1988mit bis dato 109 Definitionen.

12 Prominenter Vertreter ist Laqueur, Terrorismus, 1977, S. 5, auch Hirschmann, Terrorismus,2003, S. 12.

13 Siehe im Folgenden auch Urban, Die Bekämpfung des Internationalen Islamistischen Terro-rismus, 2006, S. 33 ff.

14 Crenshaw, in: Crenshaw (Ed.), Terrorism, Legitimacy, and Power, USA 1983, S. 2 f., 35 ff.;Jenkins, in: Carlton/Schaerf (Eds.), International Terrorism and World Security, London 1975,S. 16; Waldmann, in: Frank./Hirschmann (Hrsg.), Die weltweite Gefahr, 2002, S. 11 ff. nun-mehr auf die Gewalt abhebend und dazu mit anderen Forschern dahin tendierend Terrorismusprimär als Gewaltstrategie anzusehen. Die skizzierte Zweiteilung fungiert als Groborientie-rung, bei der weitere relevante Ansätze aus Platzgründen nicht diskutiert werden: Beispiels-weise bezeichnen die Soziologen de la Roche, Sociological Forum 11 (1) March 1996, S. 97–128und Black, Sociological Theory 2 (1) March 2004, S. 14–25 Terrorismus als Form der sozialenKontrolle, die auf deviantes Verhalten reagiert und eine Art ‚gewalttätige Selbsthilfe’ einerGruppe bedeute.

15 Vgl. Hoffman, Terrorismus. Der unerklärte Krieg, 2001, S. 56; Harmon, Terrorism Today,Portland 2000, S. 1; Lia, Globalisation and the Future of Terrorism. Patterns and Predictions,London 2005, S. 11, 14; Wilkinson, Terrorism versus Democracy. The Liberal State Response,Portland 2000, S. 12.

16 In der Ökonomie wird Rationalität überwiegend als Triebfeder zur Maximierung des Eigen-nutzens des Akteurs betrachtet; diese Annahme kann jedoch nicht altruistisches Verhalten vonIndividuen in Gruppen erklären, wie es die individuelle Entscheidung zur Teilnahme an einemterroristischen Gruppenakt beinhaltet; aus diesem Grund erweitert Gupta, UnderstandingTerrorism and Political Violence, New York 2008, S. 32–63, diese Perspektive um die Maxi-mierung der Gruppenwohlfahrt und um Anleihen an die Sozialpsychologie.

17 So u. a. Urban (Anm. 13), S. 33 f.18 Folgende Aussage von Brian Jenkins von Rand galt für den „alten“ Terrorismus: „Terrorists

ZStW 123 (2011) Heft 1

94 Rita Haverkamp

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 4: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

te Mittel zur Erreichung der politischen Vorstellungen dar. Dabei dient die me-diale Aufmerksamkeit als kommunikativer Transmissionsriemen zwischen Ter-roristen und Publikum, letztere unterteilt in Angst erfüllte Dritte und in Sym-pathisanten. Auf diese Weise soll eine Reaktionsspirale ausgelöst werden, in derzum einen die Gegner Zugeständnisse machen (z. B. Austausch von Gefangenen)oder durch Demokratie aushöhlende Gegenmaßnahmen überreagieren19 undzum anderen Unterstützer gewonnen oder mobilisiert werden. Als neue Ent-wicklung können die internationale Vernetzung und die unmittelbare Betroffen-heit der Zivilbevölkerung mit möglichst vielen Opfern angesehen werden.

Die Durchführung eines Anschlags beruht auf klandestinen, nichtstaatlichenund teilweise transnationalen Strukturen. In der Gegenwart haben flexible Netz-werke mit verstreuten und wechselnden Akteuren abgeschottete hierarchischeGruppierungen abgelöst20. Gruppendynamische Prozesse entfalten sich heut-zutage nicht ausschließlich in Gruppen mit engen persönlichen Kontakten, son-dern auch in der virtuellen Welt mit lose agierenden und ideell verbundenenIndividuen. Unterstützung im Netz kann dem allein handelnden Täter bei derVorbereitung eines Anschlages beratend zur Seite stehen und ihn zur tatsächlichenRealisierung ermutigen21. Die Zugehörigkeit zu einer geistigen Gemeinschaftbildet den maßgeblichen Unterschied zu einem sog. „Lone Wolf“ (z. B. der „Una-bomber“ Theodore Kaczynski). Ein solcher Einzeltäter gilt nicht als Terrorist,weil nach hier zugrunde liegendem Verständnis der einer terroristischen Grup-pierung innewohnende Antrieb Berücksichtigung finden muss. Diese Gruppen-dynamiken bergen eine größere Gefährlichkeit in sich aufgrund der erhöhtenWahrscheinlichkeit eines erfolgreich begangenen Anschlags. In diesem Rahmenreicht ein lockerer Zusammenschluss aus, in dem der allein ausführende Tätermentalen Halt und Zugehörigkeit im Vorbereitungsstadium erfährt22. Darüberhinaus fallen nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis unter den Begriff„Terrorismus“ nicht Anschläge auf dingliche Objekte (z. B. Brandstiftung) sowie

want a lot of people watching, not a lot of people dead.“; dagegen trifft auf den islamistischenTerrorismus das Zitat von CIA Chief R. James Woolsey zu: „Today’s terrorists don’t want aseat at the table, they want to destroy the table and everyone sitting at it“; nach Lia (Anm. 15),S. 14.

19 So kommen Terroristen ihrem Ziel, nämlich der inneren Erosion der Demokratie infolge vonAnschlägen, näher.

20 Z. B. Albrecht, Festschrift für Nehm, 2006, S. 21.21 Es ist zu beachten, dass nach den vorliegenden Erkenntnissen bereits radikalisierte Individuen

virtuelle Kontakte suchen, aber eine Radikalisierung allein auf Basis des Internets bislangungewöhnlich ist; allerdings scheint der islamistisch orientierte Attentäter, der am 2. März2011 zwei US-Soldaten am Frankfurter Flughafen erschoss, nach ersten Vernehmungen durchDschihad-Propaganda im Internet motiviert worden zu sein; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,748843,00.html, abgerufen am 31. 3. 2011.

22 Im Gegensatz hierzu reicht in § 129 a StGB ein lockerer Zusammenschluss für eine Strafbar-keit wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nicht aus; s. Fischer, 58. Aufl.2011, § 129 a Rdn. 4, 4 a und Wildfang, Terrorismus. Definition, Struktur, Dynamik, 2010,S. 28 f.; hier geht es mitnichten um die Kriminalisierung der Mitgliedschaft, sondern um denVersuch einer Begriffsbestimmung von Terrorismus, die nicht notwendig eine Pönalisierungimpliziert bzw. Defizite bei der Tatbestandsfassung oder der Auslegung offenlegt.

ZStW 123 (2011) Heft 1

Die Prognose von terroristischen Anschlägen 95

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 5: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

Kombattanten23 in einem bewaffneten Konflikt im Sinne des Völkerrechts.Nachstehenden Ausführungen liegt somit folgender Definitionsversuch zugrun-de: Terrorismus ist eine Strategie (trans)nationaler Gruppen, um politische Zieledurchzusetzen und um langfristig einen gesellschaftlichen Wandel herbeizufüh-ren, indem durch Gewalt gegen Zivilisten24 in der medial informierten Öffent-lichkeit sowohl Angst und Schrecken als auch Sympathien und Unterstützung inder Bevölkerung erzeugt werden sollen25.

III. Stand der Forschung zur Prognose von terroristischen Anschlägen

Das vermutete allgegenwärtige Bedrohungspotenzial des transnationalen, isla-mistischen Terrorismus führt zu massiven Anstrengungen der Sicherheitsbehör-den, terroristische Anschläge im Vorbereitungs-, Planungs- und Voranschlags-stadium zu vereiteln. Die komplexe Aufgabe besteht darin, gesicherte Angabenüber die Wahrscheinlichkeit eines konkreten, bevorstehenden Anschlages zumachen. Diese Prognose „ist eine durch Daten oder Erfahrung begründete Ver-mutung über die Zukunft“26. Es handelt sich also um eine wissenschaftlich fun-dierte Aussage über die Beschaffenheit eines in absehbarer Zukunft wahrschein-

23 Gem. Art. 43 Zusatzprotokoll I zu den Genfer Abkommen von 1949 sind mit Ausnahme vonSanitätern und Seelsorgern alle Mitglieder Streitkräfte eine am Konflikt beteiligte Partei; nachdem humanitären Völkerrecht sind Kombattanten in einem internationalen bewaffneten Kon-flikt zur Teilnahme an Feindseligkeiten berechtigt; Kombattanten können unter bestimmtenVoraussetzungen nach Art. 4. A. 2 des III. Genfer Abkommens auch Mitglieder von Milizenund Freiwilligenkorps, einschließlich organisierter Widerstandsbewegungen sein, sofern eininternationaler bewaffnetet Konflikt gem. Art. 2 des Genfer Abkommens vorliegt.

24 Im offiziellen Kommentar zum Zusatzprotokoll I der Genfer Abkommen wurde der Begriffdes Nichtkombattanten, d. h. Angehörige der Streitkräfte ohne Beteiligung an Kampfhand-lungen (Richter, Beamte, Angestellte, Arbeiter, Sanitäter und Seelsorger), aufgegeben, um eineneue und einfachere Definition vom Kombattantenstatus zu etablieren. Völkerrechtlich be-steht kein Unterschied in der Behandlung von (nicht) zum Kampf berechtigten Militärange-hörigen, da Kombattanten und Nichtkombattanten als Kriegsgefangene gelten und daher dieSchutzvorschriften für Zivilisten keine Anwendung finden, vgl. Art. 50 Abs. 1 Satz 1 Zusatz-protokoll I der Genfer Abkommen. Dennoch wird der Begriff des Nichtkombattanten heuteverwendet, allerdings in der Regel in einem weiten Sinne unter Einschluss von Zivilisten, vgl.Urban (Anm. 13), S. 34 f.

25 Auf eine Darstellung der verschiedenen Erscheinungsformen von Terrorismus (ethnisch-na-tionalistisch, sozialrevolutionär, single-issue, religiös) und dessen Abgrenzung zu anderenGewaltphänomenen (Befreiungskampf, Guerillakrieg etc.) wird aus Platzgründen verzichtet.Zwar gelingen theoretisch klare Differenzierungen, doch gibt es nicht selten Überschneidun-gen und Übergänge zwischen den verschiedenen kollektiven Erscheinungsmöglichkeiten,beispielweise Allianzen von Terrorismus mit organisierter Kriminalität (PKK, FARC), Befrei-ungsbewegungen mit Guerillastrategien (Frente Polisario) sowie Befreiungsbewegungen undTerrorismus (LTTE); im Gegensatz zur im Schatten agierenden organisierten Kriminalitätkennzeichnet den Terrorismus den systematischen Tabu- und Regelbruch, der Sichtbarkeitdurch mediale Inszenierung benötigt; zu Verbindungen zwischen organisierter Kriminalitätund Terrorismus vgl. Waldmann, in: Graulich/Simon (Hrsg.), Terrorismus und Rechtsstaat-lichkeit. Analysen, Handlungsoptionen, Perspektiven, 2007, S. 47.

26 Lehmann/Berresheim, Kriminalistik 7/2009, S. 396; Leutzbach, Das Problem mit der Zukunft:Wie sicher sind Voraussagen?, 2000.

ZStW 123 (2011) Heft 1

96 Rita Haverkamp

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 6: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

lich eintretenden Ereignisses, die ausschließlich auf einer retrospektiven Analyseund einer Theorie basiert27. Der Bezug auf die Vergangenheit erfordert dem-zufolge eine hinreichende Datensammlung über bereits bekannte terroristischeGruppen. Die geringe Wahrscheinlichkeit solcher seltenen Ereignisse mit hohenFolgewirkungen28 erschwert jedoch die Vorhersage von konkreten terroristi-schen Anschlägen. Bevor Möglichkeiten und Grenzen der Prognose von Terro-rismus erörtert werden, werden hierzu kriminologische Erkenntnisse der Prog-noseforschung vorgestellt.

1. Erkenntnisse der kriminologischen Prognoseforschung

In der Kriminologie gibt es die Unterscheidung zwischen individuellen und kol-lektiven Kriminalprognosen. Während sich die Kollektivprognose auf die Vorher-sage der (Gesamt)Kriminalitätsentwicklung im Allgemeinen oder im Besonderenin ihren Ausprägungen, ggf. bei bestimmten Bevölkerungsgruppen (Makroebene)richtet, betrifft die Individualprognose Wahrscheinlichkeitsaussagen über daskünftige Legalverhalten von einzelnen Straftätern (Mikroebene)29. Die Gerichts-praxis behilft sich oft mit der intuitiven Methode, bei der wegen der selektivenWahrnehmung das Fehlerrisiko am höchsten erscheint30. Demgegenüber sind diestatistische und die klinische Prognose31 als wissenschaftliche Verfahren aner-kannt32. Den statistischen Methoden liegt die Annahme zugrunde, dass die Häu-fung kriminogener Merkmale (Prädiktoren) die Wahrscheinlichkeit künftigerStraftaten erhöht33. Aufgrund der Schwächen elaborierter Prognosetafeln34

kommt die Entwicklung statistischer Prognosen allerdings nicht mehr voran35.Dagegen macht die Prognoseforschung in der forensischen Psychiatrie und Psy-chologie in den vergangenen beiden Jahrzehnten bedeutende Fortschritte, indemsie die Vorzüge der beiden wissenschaftlichen Prognosemethoden kombiniert.Dabei wurden Kataloge objektivierbarer Kriterien als Prognoseinstrumente auf-gestellt. Im Unterschied zu statistischen Verfahren erschöpft sich diese Methodenicht in einer Auszählung oder Gewichtung der Prognoseparameter, sondern

27 Lehmann/Berresheim, Kriminalistik 7/2009, S. 396.28 „Incidents with a low probability, but a high impact“.29 Schöch, in: Kaiser/Schöch (Hrsg.), Juristischer Studienkurs, 2010, S. 89 Rdn. 2.30 Haller, in: Lösel/Bender/Jehle (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik,

2007, S. 526.31 Eine Sonderform der klinischen Prognose ist die Methode der idealtypisch-vergleichenden

Einzelfallanalyse (MIVEA) von Göppinger und weitergeführt von Bock für nicht psychia-trisch oder psychologisch ausgebildete Personen, so Schöch, in: Schneider (Hrsg.), Interna-tionales Handbuch der Kriminologie. Band 1 Grundlagen der Kriminologie, 2007, S. 383.

32 Dahle, in: Kröber/Dölling/Leygraf/Sass (Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie,Band 3 Psychiatrische Kriminalprognose und Kriminaltherapie, 2006, S. 25.

33 Schöch (Anm. 31), S. 369.34 Schöch (Anm. 31), S. 372 ff. früher einfache Punkteverfahren, fortentwickelt mit den Punkt-

wertverfahren und den komplizierten Strukturprognosetafeln.35 So Schöch (Anm. 29), S. 92 Rdn. 12; anders Dahle (Anm. 32), S. 33, der die Kontroverse bzgl.

der Überlegenheit statistischer und klinischer Verfahren skizziert.

ZStW 123 (2011) Heft 1

Die Prognose von terroristischen Anschlägen 97

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 7: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

beruht auf einer Gesamtanamnese durch einen psychiatrisch geschulten und er-fahrenen Gutachter36.

Die zahlreichen, wissenschaftlich fundierten Prognoseinstrumente37 erlaubenheutzutage vermutlich zuverlässigere prognostische Aussagen zur Einschätzungdes individuellen Rückfallrisikos, weil Parameter für unterschiedliche prognosti-sche Fragestellungen (Urteils-, Vollzugs- und Entlassungsprognose) entwickeltwurden und eine breitere empirische Basis vorliegt. Die modernen Prognosein-strumente beziehen auch dynamische Faktoren ein, die komplexe Konstrukte wiePersönlichkeitszüge oder psychopathologische Merkmale berücksichtigen, undbasieren häufig auf theoretischen Konzepten über die Ursachen und Bedingungenvon Kriminalität und Rückfall38. Allerdings ist darauf aufmerksam zu machen,dass sämtliche Prognoseinstrumente lediglich aktuarische Risikofaktoren künfti-ger Delinquenz angeben und nur im vorgesehenen Anwendungsfeld eingesetztwerden können39. Noch dazu ist dem Umstand Beachtung zu schenken, dass esbislang an einem Prognoseinventar für terroristische Delinquenz fehlt und mithindie vorliegenden spezifischen Prognoseinstrumente nicht ohne weiteres übertra-gen werden können40. Dies gilt umso mehr für den dschihadistischen Terroris-mus, den die Ablehnung der westlichen Gesellschaft eint und deren Anhängereine völlig andere Kultur kennzeichnet41.

Gütekriterien für aktuarische Prognosen sind Objektivität, Zuverlässigkeit,Validität und Ökonomie entsprechend den psychologischen Testverfahren42. DieValidität wirft die größten Bedenken auf, weil hier die Vorhersagequalität in Fragesteht43. Während im Mittelfeld, dem der Großteil der Probanden angehört, derUngewissheit nicht abgeholfen werden kann, lässt sich an den beiden extremenEndpunkten eine bessere Treffsicherheit bei besonders (un)günstigen Prognosenausmachen44. Erschwerend kommt das retrospektive Vorgehen hinzu, das Vor-hersagen nur im Rahmen der vorliegenden Anknüpfungspunkte ermöglicht, aber

36 Schöch (Anm. 29), S. 93 Rdn. 15.37 Z. B. Psychopathy Checklist Revised (PCL-R) von Robert Hare, Historical, Clinical and Risk

Variables (HCR-20) für psychisch kranke Gewalttäter, Sexual Violence Risk (SVR-20); inDeutschland stellt die Integrierte Liste der Risikovariablen (ILRV) von Norbert Nedopildas Standardinstrument dar, so Haller (Anm. 30), S. 532; vgl. hierzu Nedopil, Prognosen inder Forensischen Psychiatrie – Ein Handbuch für die Praxis, 2006, S. 122 ff., 282 f.; s. zu denMindestanforderungen für Prognosegutachten Boetticher/Kröber/Müller-Isberner/Böhm/Müller-Metz/Wolf, NStZ 2006, S. 537–544.

38 Dahle, in: Vollbert/Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, S. 454 f.39 Haller (Anm. 30), S. 527 ff.40 Dahle (Anm. 38), S. 459; eine Analyse der wenigen Erkenntnisse aus der psychologischen und

psychiatrischen Forschung unternimmt Dittmann, SZK/RSC/SJC 1/2002, S. 18–22; ein sie-benstufiges Karrieremodell zu terroristischem Handeln stellt Böllinger, Krim Journal 2002,S. 116–123 vor.

41 Ähnlich wohl Dahle (Anm. 38), S. 459, der sich auf die Übertragbarkeit von angloamerikani-schen Prognoseinstrumenten auf Täter in Deutschland bezieht.

42 Schöch (Anm. 29), S. 97 Rdn. 24.43 Schöch (Anm. 29), S. 98 Rdn. 25.44 Schöch (Anm. 29), S. 98 Rdn. 25.

ZStW 123 (2011) Heft 1

98 Rita Haverkamp

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 8: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

Entwicklungsdynamiken als unerwartete Zukunftsaspekte nicht berücksichtigenkann45. Aktuarische Prognosen haben also eine beschränkte Aussagekraft, die nurfür die bei der Konstruktion einbezogenen Gruppen und soziokulturellen Bedin-gungen Gültigkeit beanspruchen kann46, d. h. nur über hinlänglich bekannte ter-roristische Gruppen können valide Voraussagen gemacht werden. In der Zukunftliegende Taktik- und Strategiefortentwicklungen bzw. -wechsel können keineBerücksichtigung in der retrospektiven Prognose finden und entwerten die Vali-dität. Überdies bleibt die Dunkelfeldproblematik bei allen Prognoseverfahrenaußen vor. Deswegen wenden sich die Anhänger der Etikettierungstheorie inder Regel gegen Kriminalprognosen. Danach wären Prognosemerkmale bloßeDefinitions- und Selektionskriterien für ohnehin benachteiligte Angehörige desPrekariats und würden zu weiterer Stigmatisierung beitragen. Demgemäß lassensich bei der Suche nach Terroristen solche nachteiligen Effekte für die musli-mische Minderheit in Deutschland nicht von der Hand weisen. Als Beispiel hier-für kann der erfolglose und viele unbescholtene Bürger tangierende Einsatz derpräventiven polizeilichen Rasterfahndung zur Erfassung von sog. Schläfern an-geführt werden47.

Ein schwerwiegendes Problem der Kriminalprognose stellt jedoch die Über-bewertung des Kriminalitätsrisikos bei den sog. false positives dar48. Bezogen aufden Terrorismus hat die Schlüsselfrage nach den falsch Positiven zweierlei Aus-wirkungen. Im proaktiven und präventiven Bereich geraten Unbeteiligte auf-grund von Risikofaktoren ins Visier der Fahnder. Die verdeckten Überwachungs-maßnahmen verletzten die fälschlicherweise als Terrorverdächtige eingestuftenPersonen in ihren Grundrechten empfindlich. Im schlimmsten Fall kann die Ver-wechslung zu einer Tötung führen, wie es die tragische Erschießung des Brasilia-ners Jean Charles de Menezes49 am 22. Juli 2005 in London zeigt. Im Strafvollzugkönnten Terroristen aufgrund einer ungünstigen Prognose zu lange inhaftiertwerden und haben dauerhaft keine Chance, die Unzulänglichkeiten dieser Vor-hersage nachzuweisen. Aus Untersuchungen zu Rückfallprognosen ergibt sicheine hohe Fehlerquote von zwei Dritteln, d. h. einer zutreffenden Einschätzung

45 Schöch (Anm. 31), S. 362 f.; ders. (Anm. 29), S. 98 Rdn. 29: Vorbehalt der „clausula rebus sicstantibus“.

46 Dahle (Anm. 38), S. 459; Schöch (Anm. 29), S. 98 Rdn. 26.47 In einem Beschluss v. 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02 hat das BVerfG die Anwendung als nicht

verfassungskonform bewertet: „Eine präventive polizeiliche Rasterfahndung ist mit demGrundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nur vereinbar, wenn zumindest eine kon-krete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundesoder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person gegeben ist. Als bloßeVorfeldmaßnahme entspricht eine solche Rasterfahndung verfassungsrechtlichen Anforde-rungen nicht. Daher reichen eine allgemeine Bedrohungslage, wie sie in Hinblick auf terro-ristische Anschläge seit dem 11. September 2001 durchgehend bestanden hat, oder außen-politische Spannungslagen für die Anordnung der Rasterfahndung nicht aus. Vorausgesetztist vielmehr das Vorliegen weiterer Tatsachen, aus denen sich eine konkrete Gefahr, etwa fürdie Vorbereitung oder Durchführung terroristischer Anschläge, ergibt.“.

48 Schöch (Anm. 31), S. 366 ff.49 http://www.tagesschau.de/ausland/london2.html (abgerufen am 15. 10. 2010).

ZStW 123 (2011) Heft 1

Die Prognose von terroristischen Anschlägen 99

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 9: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

aus drei Gefährlichkeitsbeurteilungen50. Überdies sind terroristische Anschlägeseltene Ereignisse hierzulande, so dass die Basisrate von Terroristen in der Wohn-bevölkerung verschwindend gering ist und damit ein hohes Risiko besteht, zuUnrecht als Terrorist eingeschätzt zu werden und damit intensiven Grundrechts-verletzungen ausgesetzt zu sein.

Obwohl die modernen, klinisch-aktuarischen Verfahren anderen Prog-nosemethoden überlegen sind, ist nach wie vor deren wissenschaftliche Fehler-haftigkeit zu konstatieren. Im Gegensatz zur kriminologischen Individualprog-nose muss betont werden, dass Vorhersagen von terroristischen Anschlägenzusätzliche Schwierigkeiten bereiten. Im Gegensatz zur Individualprognose, dieeine Tendenz zur Rückfallgefährdung angibt, geht es hier um eine Situationsprog-nose, d. h. die Prognose von konkreten terroristischen Anschlägen im Vorberei-tungs- und Durchführungsstadium in gruppendynamischen Prozessen. Zudemsind in der Regel die sog. Gefährder in der Vergangenheit strafrechtlich zumindestnicht einschlägig aufgefallen.

2. Prognose von terroristischen Anschlägen

In der interdisziplinären Terrorismusforschung erfolgen Prognosen auf derGrundlage kriminologischer, ökonomischer, politologischer, psychologischerund soziologischer Verfahren. Dabei wird zwischen lang-, mittel- und kurzfristi-gen Prognosen differenziert und nach methodischem Zugang und der Zielsetzungunterschieden. Da die tatsächlichen Umstände und Bedingungen des Terrorismuseinem steten Wandel unterliegen, sind dynamische Prognosen zur Erfassung vonVeränderungen vonnöten51. Langfristige Prognosen zielen auf Erkenntnisse zumHintergrund von Terrorismus, um umfassende Bewältigungsprozesse unter Be-rücksichtigung der wirtschaftlichen Dynamiken, der politischen und institutio-nellen Stabilität und Pazifizierungsprogramme zu entwickeln52. Trendanalysen

50 Nedopil/Stadtland, in: Lösel/Bender/Jehle (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Krimi-nalpolitik, 2007, S. 541 f.; Schöch (Anm. 31), S. 368.

51 So schon Gupta, in: Albrecht/Arnold/Haverkamp (Eds.), On the predictability of terroristattacks – In search of pre-incident indicators of extreme violence, erscheint in Kürze, S. 12; beider Prognose müssten laut Gupta die folgenden zwei goldenen Regeln beherzigt werden: „1. Itis extremely difficult to forecast, especially the future (Niels Bohr) und 2. If forecast you must,forecast and forecast often“.

52 Gupta (Anm. 51), setzt hier auf multivariate ökonometrische Verfahren, während sich Taleb,Der Schwarze Schwan, 2010, S. 279 ff. vehement dagegen ausspricht, weil die herkömmlicheStatistik auf die Berechnung von Durchschnittswerten ausgerichtet ist und die Extreme ver-nachlässigt. Da terroristische Ereignisse selten auftreten, sind sie „statistische Ausreißer“ undkönnen mit dem herkömmlichen statistischen Inventar nicht adäquat erfasst werden; er plä-diert für eine Anwendung der fraktalen Geometrie nach Benoît Mandelbrot; die GeneralMorphological Analysis (GMA) der Schwedischen Verteidigungsforschungseinheit (FOI)könnte hier auch verwendet werden; hierbei handelt es sich um eine computergestützte Me-thode zur Strukturierung und Analyse von Beziehungen in multidimensionalen, nichtquan-tifizierbaren Problemkomplexen (sog. „wicked problems“ nach dem AstronomieprofessorFritz Zwicky), s. http://www.swemorph.com/index.html.

ZStW 123 (2011) Heft 1

100 Rita Haverkamp

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 10: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

zu Terrorismus basieren auf Zeitreihen- bzw. Längsschnittuntersuchungen, mitderen Hilfe eine Reallokation von Ressourcen und eine Neuausrichtung von Ge-genmaßnahmen vorgenommen werden können53.

Demgegenüber wird für die Vorhersage von bevorstehenden Anschlägen einequalitative, expertenbasierte Herangehensweise auf der Grundlage quantitativerDaten aus Statistiken und Datenbanken als vielversprechend angesehen54. Einepraxisrelevante Methodik zur Abschätzung einer spezifischen Anschlagsbedro-hung ist in der Wissenschaft bislang nicht entwickelt worden55. Dieses Defizit istaufdiebesonderenSchwierigkeiten inderTerrorismusforschungzurückzuführen.Ungeachtet der Literaturfülle nach dem Anschlag in New York am 11. September2001 gibt es nachvollziehbare Komplikationen bei der Gewinnung von empiri-schen Erkenntnissen. Dieses Dilemma beruht sowohl auf der Unzugänglichkeitvon Terroristen56 als auch auf dem fehlenden Zugang zu vertraulichen Daten derSicherheitsbehörden. Offene Datenbanken (sog. open-source databases57) dienenals wichtige Erkenntnisquelle für Sekundärauswertungen, doch müssen die Datenwegen der unzureichenden Erfassung von terroristischen Ereignissen zurückhal-tend interpretiert werden. Nicht nur die Datensammlungen sind unvollständig,auch die Zuordnung von Ereignissen zu Terrorismus ist wegen der geschildertenDefinitionsproblematik fehlerhaft58. Angaben zur Voranschlagsphase sind in der

53 LaFree/Dugan/Cragin, Trends in terrorism, 1970 to 2007, in: Hewitt/Wilkenfeld/Gurr (Eds.),Peace and Conflict, Boulder 2009, S. 51–64; LaFree/Morris/Dugan, Cross-national patterns ofterrorism: Comparing trajectories for total, attributed and fatal attacks, 1970 to 2006. BritishJournal of Criminology 2009 (50); S. 622–649; LaFree/Dugan/Korte, Criminology 2009 (47),S. 501–530.

54 So Gupta (Anm. 51), S. 17; anderer Ansicht sind Lehmann/Berresheim, Kriminalistik 7/2009,S, 397 ff., die ein integratives Modell zur Erarbeitung lang- und mittelfristiger kriminalpoliti-scher strategischer Analysen mit der Integration von Szenario-Technik und Delphi-Technikentwickelt haben.

55 Andrew Silkes Statement bringt die Problematik auf den Punkt: „. . . research ultimately isaimed at arriving at a level of knowledge and understanding where one can explain why certainevents have happened and where one can accurately predict the emergence and outcome ofsimilar events in the future. Terrorism research has failed to arrive at that level of knowledge.„,vgl. Terrorism and Political Violence (13) 4/2001, S. 3 und ferner: Silke (Ed.), Research onTerrorism. Trends, Achievements & Failures, Großbritannien 2006, S. 59.

56 Verdienstvolle Arbeiten wurden u. a. erstellt von Berko, The Path to Paradise, London 2007und Merari, Driven to Death. Psychological and Social Aspects of Suicide Terrorism, USA2010 zu gescheiterten Suizidattentätern in Israel; zur Deradikalisierung von islamistischenTerroristen Horgan, Walking away from Terrorism. Accounts of disengagement from radicaland extremist movements. New York 2009.

57 Die bekannteste und umfassendste Datenbank ist die Global Terrorism Database (GTD) vonSTART (USA) mit etwa 87.000 Anschlägen (http://www.start.umd.edu/gtd): Seit 1970 wer-den internationale Anschläge und seit 1998 nationale Anschläge erfasst; in Deutschland gibt esdie Terroristische Ereignisdatenbank (TED) des Fraunhofer Ernst-Mach-Instituts in Frei-burg i. Br., die Daten aus verschiedenen Datenbanken aufnimmt und eigene Medienanaly-sen für Deutschland vornimmt; diese Datenbank ist nicht öffentlich zugänglich und wirdmit dem Augenmerk auf terroristische Taktiken zu dem Zweck verwandt, die Standfestigkeitvon Bauwerken im Hinblick auf die Detonation von Explosivstoffen zu erhöhen („targethardening“).

58 Ein Beispiel aus der GTD ist ein dokumentierter Übergriff von rechtsextremistischen Jugend-

ZStW 123 (2011) Heft 1

Die Prognose von terroristischen Anschlägen 101

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 11: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

Regel ebenfalls nicht enthalten, so dass eine Auswertung in Bezug auf eine kurz-fristige und konkretisierte Prognose für bekannte Gruppierungen ausscheidet59.Eine öffentlich zugängliche Informationsquelle sind darüber hinaus Kommis-sionsberichte zu den terroristischen Anschlägen in New York und in London,wobeiaufgrundvonGeheimhaltungsinteressenDetailszurückgehaltenwerden60.

Hieraus ergibt sich, dass eine wissenschaftliche Methode zur Einschätzungvon konkreten Gefährdungen durch Terrorismus eine Kooperation mit den Si-cherheitsbehörden, insbesondere der Kriminalpolizei, voraussetzt. Zu diesemZweck wäre die Einrichtung einer aus Wissenschaftlern und Repräsentantender Sicherheitsbehörden zusammengesetzten Expertengruppe sinnvoll61. DieKomplexität der Methodenentwicklung für eine dynamische Situationsprognoseterroristischer Anschläge, aber auch in der tatsächlichen Anwendung erforderteine permanente Überprüfung von Denk- und Handlungsstrategien sowie eineselbstkritische und Kritik zulassende Position, um vereinfachenden Handlungs-tendenzen wie affirmative Wahrnehmung und Methodismus sowie Schutzmecha-nismen wie „Groupthink“62 entgegenzuwirken63. Bei der affirmativen Wahrneh-mung werden intuitiv lediglich das Weltbild erhaltende Faktoren berücksichtigt.Demzufolge werden auffällige Verhaltensweisen eines Gefährders nur als belas-tende Voranschlagsindikatoren interpretiert. Beispielsweise begründet sowohlder Besitz von zehn Handys als auch der Verzicht auf ein Handy einen Verdacht.Methodismus wiederum bedeutet, dass an in der Vergangenheit bewährten Ma-ximen festgehalten wird. Danach würden Fahnder einen Wechsel in der Taktik beieiner bereits bekannten terroristischen Gruppierung ignorieren. So könnten Ex-plosivstoffe anstelle einer Schusswaffe eingesetzt werden. Unter Berücksich-tigung der genannten Handlungs- und Schutzmechanismen könnten jedoch sog.

lichen am 20. Februar 1995 in Greifswald, der an und für sich zur Hasskriminalität gehört;abrufbar unter http://www.start.umd.edu/gtd/search/IncidentSummary.aspx?gtdid=199502200005.

59 Eine Ausnahme ist die American Terrorism Study database (ATS), die seit 1988 Terrorismus-fälle in den USA aufnimmt und Analysen zum Planungs- und Vorbereitungsstadium erlaubt.Informationen unter http://trc.uark.edu/index.php/rschProjects/1.

60 Vgl. Intelligence and Security Committee, Could 7/7 have been prevented? Review of theIntelligence on the London Terrorist Attacks on 7 July 2005, London May 2009, S. III: „TheReview contains some highly sensitive intelligence and an unprecedented level of operationaldetails as a result, there are some instances where we have agreed that information must beredacted from the published version of the Review in order that individuals are not put indanger, that current operations are not compromised and that our enemies do not learn of thecapabilities of the UK’s intelligence and security Agencies. There are also some instanceswhere the courts have ruled that information cannot be published.“

61 Ähnlich Gupta (Anm. 51), S. 17, beispielsweise im Rahmen einer Delphi-Befragung; die heikleFrage nach der Publikation der Ergebnisse stellt sich bei der Entwicklung der Methodik nicht,da hier keine vertraulichen Angaben zu terroristischen Gruppen, Anschlagszielen und dasoperationale Vorgehen der Sicherheitsbehörden preisgegeben werden.

62 Übereinstimmung im Weltbild unter wechselseitiger Versicherung, wobei Kritik ausgeblendetwird und damit die Richtigkeit der Gruppenauffassung bestätigt wird.

63 Dörner, in: Zoche/Kaufmann/Haverkamp, Zivile Sicherheit. Gesellschaftliche Dimensionengegenwärtiger Sicherheitspolitiken, 2011, S. 80 ff.; Gupta (Anm. 51), S. 17.

ZStW 123 (2011) Heft 1

102 Rita Haverkamp

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 12: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

Voranschlagsindikatoren (pre-incident indicators) im Rahmen eines Prognose-modells als Prognosemerkmale fungieren.

IV. Die Bedeutung von Voranschlagsindikatoren für die Prognoseterroristischer Anschläge

1. Der Begriff „Voranschlagsindikatoren“

Die Voranschlagsphase, die dem terroristischen Akt vorangeht, umfasst Vorberei-tungshandlungen auf ein ausgewähltes Anschlagsziel64. Die Definition des Be-griffs „Voranschlagsindikatoren“ ist abhängig von der Reichweite der Vor-anschlagsphase. Während nach einer hierzu vorliegenden Studie planende undvorbereitende Aktivitäten ineinander übergehen, ist eine Ruheperiode zwischendem Abschluss der Vorbereitungshandlungen und dem Beginn der Tatausführungzu beobachten65. Nach dieser Auffassung ist hier eine klare Trennlinie zwischenVoranschlags- und Durchführungsphase zu ziehen. Im Gegensatz hierzu wird dieVoranschlagsphase in einem weiteren Sinne verstanden, die in die Versuchsphasedes terroristischen Anschlags hineinreicht. Das Entfachen der Zündschnur zurTötung einer Vielzahl von Menschen oder das Anlegen und Zielen mit einerSchusswaffe auf das Opfer sind tatbestandliche Ausführungshandlungen unddamit ein unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes des Mor-des gem. § 211 StGB66. Dies gilt ebenfalls für eine Bombe mit Zeitzünder, die erstzu einem späteren Zeitpunkt ihre explosive Wirkung entfaltet67. Maßgeblich fürden Eintritt ins Versuchsstadium ist das In-Gang-Setzen der den unmittelbarenAngriff bildenden Kausalkette durch den Täter, der derart den weiteren Gesche-hensablauf aus der Hand gibt68. Da es bei der Verhinderung von terroristischenAnschlägen auf die letzte Vereitelungsmöglichkeit durch die Polizei ankommt,weisen die Voranschlagsphase und das Begehungsstadium mit dem unmittelbarenAnsetzen zur Tatbestandsverwirklichung einen Überschneidungsbereich auf.Voranschlagsindikatoren beziehen sich somit auf dreierlei Typen, nämlich Indi-katoren während der Planung, Vorbereitung und Ausführung.

Die Vorbereitungshandlungen können sich auf die Begehung verschiede-ner Straftaten beziehen. Hierzu gehören u. a. Diebstähle von Explosivstoffen,

64 Bis zu diesem Stadium sind mit der Rekrutierung und der ersten Organisation wie auchPlanung die ersten beiden Phasen der Entwicklung zu einem terroristischen Anschlag abge-schlossen; Smith/Cothren/Roberts/Damphousse, Geospatial Analysis of Terrorist Activities.The identification of Spatial and Temporal Patterns of Preparatory Behavior of Internationaland Environmental Terrorists, University of Arkansas, February 2008, S. 14.

65 Smith/Cothren/Roberts/Damphousse (Anm. 64), S. 17 f.66 Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 40. Aufl. 2010, Rdn. 603.67 Wessels/Beulke, Allg. Teil (Anm. 66), Rdn. 603.68 Wessels/Beulke, Allg. Teil (Anm. 66), Rdn. 603; i. d. R. liegt ein Gruppenkontext vor, so dass die

Grenze zum Versuch bei der Mittäterschaft überschritten wird, wenn auch nur einer von ihnenim Rahmen des gemeinsamen Tatentschlusses zur Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestan-des unmittelbar ansetzt, nach Wessels/Beulke, Allg. Teil (Anm. 66), Rdn. 611.

ZStW 123 (2011) Heft 1

Die Prognose von terroristischen Anschlägen 103

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 13: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

Zündschnur oder Waffen, Geldfälschung und Geldwäsche zur Finanzierung derGruppenaktivitäten sowie Verstöße gegen das Waffengesetz69. Die notwendigenPlanungsarbeiten betreffen das Auskundschaften der Gegebenheiten am beab-sichtigten Anschlagsort. Absprachen sind in Form von persönlichen Treffen, Te-lefongesprächen und Emails70 erforderlich71. Diese beobachtbaren Verhaltens-weisen könnten im präventiven und repressiven Bereich Aufschluss über Mustervorbereitender Verhaltensweisen geben und damit zur Früherkennung mit Hilfevon daraus entwickelten Voranschlagsindikatoren beitragen72.

Folgende Definition wird vorgenommen: Voranschlagsindikatoren dienen derIdentifizierung eines konkreten terroristischen Anschlags. Es handelt sich um nachaußen wahrnehmbare Verhaltensweisen in der Voranschlagsphase, die neben denPlanungs- und Vorbereitungshandlungen auch das Versuchsstadium einschließt.

2. Stand der Forschung

Das Voranschlagsgeschehen stellt auf Grund der dargestellten Informations-zugangsprobleme ein vernachlässigtes Forschungsgebiet dar. In der Kriminologiegibt es nur eine bekannte Untersuchung zu räumlichen und zeitlichen Musternvorbereitenden Verhaltens von Terroristen in den USA73. Ein bemerkenswertesErgebnis der ersten Stichprobe von 60 terroristischen Anschlägen ist, dass Terro-risten, insbesondere transnational agierende Gruppierungen, ein kleinräumigerBewegungsradius zum Anschlagsziel auszeichnet74. Die Vorbereitungshandlun-gen umfassen das Ausspähen des Anschlagsziels und vorbereitende Kriminalitätzur Finanzierung des Lebensunterhalts und zur Anschlagsvorbereitung (z. B.Raub, Diebstahl, Waffendelikte, Bombenherstellung) meist nahe dem Wohnortund Anschlagsziel. Vor allem bei internationalen Vereinigungen wird vermutet,dass der lokal begrenzte Aktionsraum auf Ortsunkenntnis, Transportdefizite, denImmigrantenstatus und den Wunsch zur Vermeidung von Aufmerksamkeit zu-rückgeht.HinsichtlichzeitlicherIntervallezeigensichUnterschiedezwischendenterroristischen Gruppen. Während transnationale Gruppen im Durchschnitt 92Tage für Planung und Vorbereitung des Anschlags benötigten, reichten Umwelt-gruppen75 zwei Wochen aus. Hieraus wird geschlossen, dass Wissen über örtliche

69 Smith/Cothren/Roberts/Damphousse (Anm. 64), S. 14.70 Al-Qaida-Methode: die Emails werden nicht verschickt, sondern im Entwurfsordner gespei-

chert, so dass die Gruppenmitglieder sich über das Einloggen in den Email-Account austau-schen können.

71 Smith/Cothren/Roberts/Damphousse (Anm. 64), S. 15.72 Smith/Cothren/Roberts/Damphousse (Anm. 64), S. 15.73 Daten aus der in Anm. 59 genannten American Terrorism Study database (ATS); Smith/Co-

thren/Roberts/Damphousse (Anm. 64).74 44% der untersuchten terroristischen Gruppierungen wohnten rund 50 Kilometer vom An-

schlagsziel entfernt; vgl. Smith, NIJ Journal No. 260, July 2008, S. 2; die folgenden Ausfüh-rungen gehen auf den Artikel zurück.

75 Ökoterrorismus (single-issue terrorismus) ist in Deutschland unbekannt. Es stellt sich erneut

ZStW 123 (2011) Heft 1

104 Rita Haverkamp

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 14: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

und zeitliche Muster verschiedener terroristischer Gruppierungen einen Beitragzur polizeilichen Prävention von terroristischen Anschlägen leisten könnte.

In der Experimentalpsychologie wird in Deutschland das „auffällig unauffäl-lige“ Verhalten von Attentätern vor dem Anschlag untersucht. Dabei wurdencharakteristische Verhaltensmuster von simulierenden „Attentätern“ festgestellt,die aus dem Bemühen um Unauffälligkeit resultieren und sich von dem situati-onsangepassten Verhalten aller anderen anwesenden Menschen unterschieden76.Diese unbewusst wirksamen Stress-Signale wurden umgekehrt von erfahrenenPersonenschützern als Verdacht begründend angeführt. In einer quasi-experi-mentellen Feldstudie wurde die Identifikationsleistung von Personenschützernund Laien erforscht77. Es wurde der Frage nachgegangen, ob und welche Ver-haltensindikatoren die Erkennung von instruierten Attentätern erleichtern. DieResultate weisen auf eine gute intuitive Einschätzung von Personenschützerngegenüber Laien hin, wobei Frauen ein besseres Identifikationsvermögen habensollen. Die Autoren regen die Entwicklung von Ausbildungseinheiten zur Ver-besserung der Identifikation mit Hilfe von Verhaltensmerkmalen an. Die Aus-sagekraft der Experimentalstudie ist jedoch angesichts von insgesamt acht Ver-suchspersonen begrenzt und wohl nicht verallgemeinerbar.

3. Entwicklungsansatz für ein Prognosemodell mit Voranschlagsindikatoren

Die Prognose spezifischer terroristischer Anschläge erfordert drei methodischeSchritte. Zuerst ist mit einem explorativen Ansatz Wissen zur Szenerie und denHauptlinien der Problematik zu gewinnen. Eine exemplarische Beschränkungauf den dschihadistischen Terrorismus zur Eruierung einer Methodologie er-scheint angesichts der überschaubaren Fallzahlen in Westeuropa78 angemessen.Danach werden entsprechend dem deskriptiven Ansatz zuverlässige und valideDaten zum Phänomen, d. h. Bedrohungspotenzial und Bewältigungsstrategien,gewonnen. Schließlich soll der explanative Ansatz mit der Herausarbeitung gül-tiger Erkenntnisse über den dschihadistischen Terrorismus, die tatsächlichePrognose von spezifischen terroristischen Ereignissen ermöglichen.

Deskription und Analyse der Voranschlagsphase erfordern ein multidimen-sionales Vorgehen: 1. das auffällige Verhalten von Individuen, 2. nach außen wahr-nehmbare Signale von Gruppendynamiken, 3. die Planung der Tat mit spontanenElementen, 4. ein geschultes Gefahrenbewusstsein von hoheitlichen und privatenSicherheitsträgern sowie 5. der situative und ökologische Kontext. In diesem

die Frage nach der Weite des Begriffs „Terrorismus“, die zu einem vorsichtigen Umgang mitdem Label mahnt.

76 Heubrock/Immerini/Mengeringhausen/Palkies, Kriminalistik 2/2009, S. 87.77 Heubrock/Kindermann/Palkies/Röhrs, Polizei & Wissenschaft 2/2009, S. 2–11.78 2009 fand ein islamistischer Anschlag auf eine Militäreinrichtung in Italien statt; vgl. Europol,

TE-SAT 2010 – EU Terrorism Situation and Trend Report, S. 11; http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/TE-SAT%202010.pdf.

ZStW 123 (2011) Heft 1

Die Prognose von terroristischen Anschlägen 105

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 15: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

Rahmen lassen sich verschiedene Kriminalitätstheorien wie die ökologischen An-sätze mitsamt der environmental Criminology79 und dem Routine Activity Ap-proach80, die Lerntheorien, die Subkulturtheorie, die Kulturkonfliktstheorie unddie Etikettierungsansätze81 fruchtbar machen. Ihr anwendungsbezogener Erklä-rungsgehalt dient der Zielsetzung, relevante Prognosemerkmale herauszuarbeitenund Prognosen zu ermöglichen. Die parallele Heranziehung von unterschiedli-chen und gegensätzlichen Kriminalitätstheorien erscheint zwar in dieser Füllebeliebig, doch steht hier die Absicht dahinter, sie in einem umfassenden Erklä-rungs- und Strukturmodell von anwendungsbezogenen Voranschlagsindikatorenzu integrieren82.

AlsempirischbeobachtbareGrößenhabenVoranschlagsindikatorendieFunk-tion, das bevorstehende Anschlagsgeschehen zur Ergreifung von Gegenmaßnah-men sichtbar zu machen. Aufgrund der dargestellten komplexen Prognose-probleme scheidet eine schematische und statische Anwendung retrospektivgewonnener Voranschlagsindikatoren aus. Vielmehr bedarf es einer dynamischenFortentwicklung nach allgemeinen und gruppenspezifischen Voranschlagsindika-toren. Alle Bemühungen ändern aber nichts daran, dass Prognosen immer nurWahrscheinlichkeitsaussagen sind, denn die Zukunft kennzeichnet das Momentder Unvorhersehbarkeit,Ungewissheit und Nichtbeherrschbarkeit.Ein nach wis-senschaftlichen Standards geführter Index schützt nicht vor der erfolgreichen Be-gehung von terroristischen Anschlägen aufgrund von Fehlinterpretationen oderschlichtweg von Nichtwissen. Eine Situationsprognose kann geplante terroristi-sche Anschläge nicht absolut sicher vorhersagen, sondern nur dazu beitragen, dasRisiko im Vergleich zum Nichtstun oder planlosem Aktionismus zu verringern.

V. Prävention von terroristischen Anschlägen

Die Prognose bildet den Ausgangspunkt zur Ergreifung präventiver Maßnah-men83. Prävention zielt darauf, einem unerwünschten terroristischen Ereigniszuvorzukommen und somit zu verhindern oder seinen Eintritt in den Schadens-folgen zu begrenzen84. Überdies gilt es im Falle eines erfolgreichen Anschlages,

79 So schlägt ein Bedrohungsassessment vor: Armborst, in: Albrecht/Arnold/Haverkamp (Eds.),On the predictability of terrorist attacks. In search of pre-incident indicators of extremeviolence, erscheint in Kürze; Smith/Cothren/Roberts/Damphousse (Anm. 64), S. 12 f.

80 Hamm, Terrorism as Crime, New York 2007, S. 4 analysiert die Kriminalität im Vorfeldverschiedener Anschläge mit Hilfe dieser Theorie und der Lerntheorien; ein situatives Krimi-nalitätspräventionsmodell wenden an Clarke/Newman, Outsmarting the Terrorists. Westport2006 and Roach/Ekblom/Flynn, Security Journal 2005, 18 (3), S. 7–25.

81 Vgl. Schöch (Anm. 29), S. 4, Rdn. 16; zu beachten ist, dass Etikettierungsansätze einen grund-legenden sozialstrukturellen Wandel der Kriminalisierungsprozesse einer täterschaftlich ori-entierten Kriminalprävention vorziehen.

82 Hierzu auch Schöch (Anm. 29), S. 20 Rdn. 94.83 Ziegler, Widersprüche 2001, Heft 79, S. 9.84 Pütter, Bürgerrechte & Polizei/CILIP (86) 1/2007, S. 3.

ZStW 123 (2011) Heft 1

106 Rita Haverkamp

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 16: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

zukünftige Wiederholungen zu vermeiden. Bei Anschlägen in der Voranschlags-phase geht es in der Prävention um gezielte polizeiliche Gegenmaßnahmen, dieentsprechend dem Stand der Vorbereitung von der verdeckten Überwachung ineinem frühen Stadium bis zur Festnahme der Verdächtigen kurz vor Ausführungder Tat reichen.

Prävention ist als wesentliche Kategorie polizeilichen Selbstverständnisses zuverstehen, da ihre originäre Aufgabe in der Gefahrenabwehr liegt85. Die eingangsangeführte polizeiliche Aufgabenvorverlagerung in den Bereich der Gefahrenvor-sorge löst sich jedoch von einem eingrenzbaren polizeilichen Gefahrenbegriff undbewegt sich hin zu einem ausufernden, präemptiv verstandenen Gefahrenbegriff.Das verständliche Bemühen der Sicherheitsbehörden, einen jeden geplanten ter-roristischen Anschlag im Keim zu ersticken, führt angesichts der beschriebenenUnzulänglichkeiten von Prognosen zu einem präventiven Handlungsprogramm,beidem möglichstumfassendInformationengewonnenundverarbeitetwerden86.

In Terrorismusfällen87 tritt infolgedessen die Fallbearbeitung in den Hinter-grund. Von Relevanz sind die aktive Verdachtsschöpfung, die strategische Kri-minalitätsanalyse, die Kooperation der Sicherheitsbehörden (GTAZ) sowie dieGenerierung neuer Erkenntnisse aus den vorhandenen Datenbeständen88. Diehieraus gewonnene Gefahrenprognose ersetzt das Vorliegen einer konkretenGefahr und ermöglicht die Einstufung normtreuer Personen als Gefährder89,wenn „bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person politischmotivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinnedes § 100 a StPO begehen wird“90. Das unbestimmte Etikett „Gefährder“ erlaubttiefgreifende Grundrechtseingriffe durch die Polizei: Zum Repertoire der ver-deckten Ausforschungsmaßnahmen gehören u. a. der Lausch- und Spähangriff inder Privatwohnung (vgl. § 20 h BKAG).

Im Unterschied zu dieser Gefahrenprognose im Vorfeld bezieht sich die hiererörterte Prognose schon auf die Vorbereitung von näher bestimmten terroristi-schen Anschlägen. Die Konkretisierung zieht bei terroristischen Gruppierungeneine Strafbarkeit wegen Verbrechensverabredung nach § 30 Abs. 2 StGB nach sich,unabhängig von der ebenfalls vorliegenden Verwirklichung der Mitgliedschaft ineiner terroristischer Vereinigung gem. §§ 129 a, b StGB91. Die Voranschlagsphase

85 So u. a. Pütter, Bürgerrechte & Polizei/CILIP (86) 1/2007, S. 5.86 Zu Konzepten vgl. Klink, Der Kriminalist 9/2003, S. 341–346 und Remberg, Kriminalistik

2/2008, S. 82–85, Diwell, in: Festschrift für Nehm, 2006, S. 101–109; s. zu den Nachrichten-diensten von Däniken, SZK/RSC/SJC 1/2002, S. 441–445.

87 Auch Fälle, die der organisierten Kriminalität zugeordnet werden.88 Pütter, Bürgerrechte & Polizei/CILIP (86) 1/2007, S. 10.89 Ablehnend zur legal nicht definierten Figur des Gefährders von Denkowski, Kriminalistik

5/2007, S. 325.90 Nach der Definition der „AG Kripo“ (Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminal-

ämter und des Bundeskriminalamts) von 2004 in BT-Drs. 16/3570, S. 6 Frage 9 und 10.91 Bei mutmaßlichen Einzeltätern ohne konkretisierten Anschlagsbezug setzt eine Strafbarkeit

nach den §§ 89 a, 89 b und 91 StGB sogar noch früher ein.

ZStW 123 (2011) Heft 1

Die Prognose von terroristischen Anschlägen 107

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 17: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

verlässtdemnachdenBereichdesPolizeirechtsundgehörtzurStrafverfolgungmitder Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens mitsamt den straf-prozessualen Rechtsgarantien für den Beschuldigten. Die Zuordnung zum repres-siven Bereich darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass am Anfang derInformationsgewinnung häufig polizeiliche Initiativermittlungen gegenüber un-verdächtigen Personen stehen, die letztendlich nur bei einem Bruchteil zu einerStrafbarkeit führen, aber für alle Betroffenen empfindliche Grundrechtseinbußenbedeuten. Darüber hinaus lässt sich die theoretisch präzise Zuordnung der Vor-anschlagsphase zur Strafverfolgung in der Praxis wegen undurchschaubarer Fall-konstellationen nicht immer nachvollziehen. In diesem Rahmen dürften auch dieVoranschlagsindikatoren keinen substanziellen Beitrag leisten: Je weiter der An-schlag von einer Realisierung entfernt ist, desto weniger Rückschlüsse könnten dieVoranschlagsindikatoren auf das anvisierte Ziel zulassen. Denn die äußerlich be-obachtbaren Signale sind als Prognosemerkmale interpretationsbedürftig und er-schöpfen sich in ihrer Indizwirkung für als bevorstehend eingeschätzteAnschläge.

VI. Resümee

Sicherheitsbehörden schätzen Terrorismus als eines der dringlichsten Kriminali-tätsprobleme ein. Das letale Bedrohungspotenzial der Anschläge in New York,London und Madrid prägt seither die Gefahrprognosen und befördert das Bedürf-nis nach Prävention. Bei den für notwendig erachteten Datensammlungen undKontrollen von Unverdächtigen zur präventiven Rettung von potenziellen Op-fern möglicher Anschläge erscheinen die Grundrechte (z. B. Recht auf informa-tionelle Selbstbestimmung gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) und andereGrundsätze (Trennungsgebot von Polizei, Verfassungsschutz und Nachrichten-diensten92) mitunter als Stolpersteine für den Sicherheit erzeugenden und gewähr-leistenden Staat. Die nicht auszuschließenden tödlichen Folgewirkungen einesterroristischen Anschlages setzen eine nicht enden wollende Präventionsspiralein Gang, die traditionelle Abwägungen mit den Grundrechten in Frage stellt undnach immer mehr Wissen über Bedrohungen strebt. Diesem Anliegen kommt dasdigitale Informationszeitalter entgegen, das Vernetzungen in informationeller,funktioneller und kompetenzieller Hinsicht ermöglicht. Die intendierte Gefah-renvorsorge unterstützt eine Tendenz zur Vernachrichtendienstlichung der Poli-zei, einer engeren Kooperation der Sicherheitsbehörden verbunden mit Daten-akkumulation, -austausch und -speicherung. Der Präventionslogik entsprechendmüssten die weniger schwerwiegenden Grundrechte von Unverdächtigen im An-

92 Ausführlich hierzu Gusy, Trennungsgebot. Tatsächliches oder vermeintliches Hindernis füreffektive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus?, abrufbar unter http://www.jura.uni-bielefeld.de/Lehrstuehle/Gusy/Veroeffentlichungen_Vortraege/TERRORISMUSTRENNUNG.pdf: Während das Trennungsgebot unstreitig Gesetzesrang genießt, trennen sich dieAnsichten bzgl. der Frage nach dem Verfassungsrang.

ZStW 123 (2011) Heft 1

108 Rita Haverkamp

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM

Page 18: Die Prognose von terroristischen Anschlägen: Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Versuch zur Entwicklung eines Präventionsmodells

gesicht der vermuteten tödlichen Bedrohung für unzählige Zivilisten grundsätz-lich zurücktreten.

Diese Verschiebungen in der Sicherheitsarchitektur stoßen auf grundlegendeBedenken, weil polizeiliche Präventionsstrategien auf dynamischen Prognosenberuhen, denen Ungewissheit über die Zukunft wegen ihrer retrospektiven Be-schränkungen und ihrer inhärenten Tendenz zur Überbewertung von Gefähr-dungen innewohnt. Trotz aller Skepsis sind polizeiliche Präventionsstrategienschon wegen der nicht auszuschließenden Opferzahlen bei erfolgreichen An-schlägen unverzichtbar. In Deutschland sind die bisherigen Erfolge bei der Be-wältigung des dschihadistischen Terrorismus ermutigend. So wurden in der Vor-anschlagsphase der geplante Sprengstoffanschlag auf eine nahegelegene Synagogeam Straßburger Weihnachtsmarkt im Jahr 2000 rechtzeitig entdeckt und die sog.Sauerlandattentäter im Jahr 2008 überführt. Ein Modell zur Kriminalpräventiondes Terrorismus muss jedoch dessen Grenzen und Möglichkeiten inkorporieren,um eine Aufgabenüberspannung mit gesellschaftlichen Zielsetzungen und einedamit einhergehende Überforderung der Polizei zu vermeiden. So kann die po-lizeiliche Kriminalprävention für sich genommen nicht die Entstehungsbedin-gungen des Terrorismus93 und auch nicht Kriminalitäts- bzw. Terrorismusfurchtin der Bevölkerung beseitigen. Die polizeiliche Präventionsorientierung erscheintvor allem in der Voranschlagsphase vielversprechend, weil dieses Stadium sich aufdie klassische Gefahrenabwehr und die Strafverfolgung entsprechend dem Gradder Vorbereitung bezieht. Allerdings steht hier die Genauigkeit der Prognosehinsichtlich Ziel, Termin, Beteiligte und Durchführung in Frage. Eine anwen-dungsorientierte Systematik von Voranschlagsindikatoren dürfte deshalb als Ge-fährdungsmaß für einen konkreten terroristischen Anschlag nicht überbewertetwerden und vor allem nicht schematisch gehandhabt werden. Eine Einzelfall-betrachtung erfordert eine sorgfältige und zurückhaltende Abwägung, die unterBerücksichtigung der Schwächen von Prognosen die Verdachtsmomente stets inFrage stellt und ebenso zur Revision bereit ist, um schädliche Folgen für unbe-teiligte Dritte möglichst zu vermeiden. Unter Berücksichtigung dessen könnenVoranschlagsindikatoren mit ihrer wichtigen Indizfunktion durchaus einen sub-stanziellen Beitrag zur Verhinderung von terroristischen Anschlägen leisten.

93 Das Ende der RAF kann nicht den Präventionsstrategien der Polizei zugeschrieben werden; sobereits Pütter, Bürgerrechte & Polizei/CILIP (86) 1/2007, S. 14.

ZStW 123 (2011) Heft 1

Die Prognose von terroristischen Anschlägen 109

Brought to you by | New York University Bobst Library Technical ServicesAuthenticated

Download Date | 12/8/14 4:33 AM