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Die Psychologie der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg In diesem Beitrag geht es um den entwicklungspsychologischen Aspekt der moralischen Entwicklung anhand des Stufenmodells von Lawrence Kohlberg, dem einzigen bekannten moralentwick- lungs-psychologischen Stufenmodell. Nach der Beschreibung des Kohlbergschen Modells gehe ich der Frage nach, welches Ver- ständnis von Moral (aus moralphilosophisch-historischer Pers- pektive) dem Kohlbergschen Stufenmodell zugrunde liegt. Kohlberg veröffentlichte seine Gedanken zur Psychologie der Mo- ralentwicklung zum ersten Mal im Jahr 1963. Er entwickelte die- se weiter an Hand einer 30 Jahre dauernden Längsschnittstudie. Moralentwicklung ist für ihn zunächst ein Aspekt der Soziali- sation; ein Prozess der Internalisierung grundlegender kultureller Regeln und ihrer Äußerungen. Im Laufe der Moralentwicklung emanzipiert sich der Mensch jedoch durch Durchlaufen der Stufen der Moralentwicklung von dem Prozess der reinen Internalisierung kultureller Regeln: Wenn er von einer Moralstufe auf die nächste kommt, macht er jeweils eine Entwicklung in drei Bereichen: 1. Seine soziale Perspektive erweitert sich, weg von einer rein ego- zentrischen Perspektive hin zur Perspektivenübernahme eines oder mehrerer Menschen. 2. eine moralische Selbstbestimmung wächst. Er lernt, kulturelle Regeln und moralische Normen zu hinterfragen und zu be- gründen. 3. Die Begründung der Regeln seines Handelns wandelt sich von rein egozentrischen Lust/Unlust-Begründungen zu Begründun- gen auf Grund von Normen. Kohlberg postuliert und untermauert in einem späteren Schritt, dass das reife moralische Urteil, das auf einer hohen moralischen ZTA 4/2006 305 FOCUS 1. Die Psychologie der Moralentwick - lung nach Lawrence Kohlberg Ursula Iskenius-Schuppert (PTSTA), DIPL.-PSYCH., ARBEITET IN EIGENER PRAXIS UND BILDET TRANSAKTIONS- ANALYTIKERINNEN AUS.

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Die Psychologie der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg

In diesem Beitrag geht es um den entwicklungspsychologischenAspekt der morali schen Entwicklung anhand des Stufenmodellsvon Lawrence Kohlberg, dem einzigen bekannten moralentwick-lungs-psychologischen Stufenmodell. Nach der Beschreibung desKohlbergschen Modells gehe ich der Frage nach, welches Ver-ständnis von Moral (aus mo ralphilosophisch-historischer Pers -pektive) dem Kohlbergschen Stufenmodell zugrunde liegt.

Kohlberg veröffentlichte seine Gedanken zur Psychologie der Mo-ralentwicklung zum ersten Mal im Jahr 1963. Er entwickelte die-se weiter an Hand einer 30 Jahre dauern den Längsschnittstudie.Moralentwicklung ist für ihn zunächst ein Aspekt der Soziali -sation; ein Prozess der Internalisierung grundlegender kulturellerRegeln und ihrer Äußerungen. Im Laufe der Moralentwicklungemanzipiert sich der Mensch jedoch durch Durchlaufen der Stufender Moralentwicklung von dem Prozess der reinen In ter na li sie rungkultureller Regeln: Wenn er von einer Moralstufe auf die nächstekommt, macht er jeweils eine Entwicklung in drei Be rei chen: 1. Seine soziale Perspektive erweitert sich, weg von einer rein ego-

zentrischen Per spektive hin zur Perspektivenübernahme einesoder mehrerer Menschen.

2. eine moralische Selbstbestimmung wächst. Er lernt, kulturelleRegeln und moralische Normen zu hinterfragen und zu be-gründen.

3. Die Begründung der Regeln seines Handelns wandelt sich vonrein egozentri schen Lust/Unlust-Begründungen zu Begründun-gen auf Grund von Normen.

Kohlberg postuliert und untermauert in einem späteren Schritt,dass das reife morali sche Urteil, das auf einer hohen moralischen

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FOCUS

1. Die Psychologieder Moralentwick-lung nachLawrence Kohlberg

Ursula Iskenius-Schuppert (PTSTA), DIPL.-PSYCH.,

ARBEITET IN EIGENER PRAXIS

UND BILDET TRANSAKTIONS-

ANALYTIKERINNEN AUS.

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Kohlberg und andere

Autoren fanden keine spe-

ziellen Sozialisationsfakto-

ren für mo ralische Inter -

nalisierungen.

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Ursula Iskenius-Schuppert – Die Psychologie der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg

Stufe getroffen wurde, entsprechendes moralisches Handeln nachsich zieht. Zunächst aber trennt er moralisches Handeln von mo-ralischem Urteilen. Sein Stufenmodell bezieht er auf moralischesUrteilen. Kriterium für das Vorhandensein internalisierter Maßstäbe ist fürihn seine Beobach tung, „inwieweit das Kind der Versuchung wi-derstehen kann, eine Regel zu übertre ten (z.B. zu mogeln), wennes ihm unwahrscheinlich erscheinen muss, dass es er tappt und be-straft wird“ (Kohlberg, 1996, S. 8). Ein zweites Kriterium für dasVorhandensein internalisier ter Maßstäbe sei das „Auftreten vonselbstbestrafenden, selbstkritischen Empfindun gen der Reue undAngst nach einer Verletzung der kulturellen Normen, also Schuld -gefühlen (Kohlberg, 1996, S. 8). Hier befasst sich Kohlberg nochmit moralischem Handeln; später mit moralischem Urteilen.Kohlberg und andere Autoren fanden keine speziellen Sozialisa -tionsfaktoren für mo ralische Internalisierungen; vielmehr deute-ten die Forschungsresultate darauf hin, dass dieselben Bedingun-gen, die allgemein das Erlernen kultureller Regeln und Er war tun -gen fördert, (wie z.B. elterliche Wärme) auch die moralische In-ternalisierung fördert. Bei der Entwicklung seines Stufenmodellsbezieht sich Kohlberg auf eine Untersu chung an Kindern (bis 9 Jah-ren) von Hartshorne und May et. al. (1928-1930), in der es nochum moralisches bzw. unmoralisches Handeln (= Mogeln) geht. Indieser wurden folgende Faktoren als einflussreichste bezüglich derEntscheidung zu mogeln oder nicht zu mogeln bestimmt: ➜ Die Entscheidung zu mogeln oder nicht zu mogeln, hängt von

der Situation ab (z.B. der Billigung durch die Gruppe).➜ Aus dem Mogeln in einer Situation kann man nicht auf das

Mo geln in einer ande ren Situation schließen.➜ Das Nicht-Betrügen passiert mehr aus Vorsicht als aus Ehrlich-

keit.➜ Moralisches Wissen hat kaum Einfluss auf moralisches Ver-

halten (Korrelationen von verbalen Tests zum moralischen Ver -halten waren niedrig.).

➜ Wenn moralische Werte sich tatsächlich im Verhalten aus-drücken, dann sind sie spezifisch für die soziale Klasse oder Be-zugsgruppe des Kindes.

Nach Kohlberg gibt es keinen „moralischen Charakter“ i.S. einer„konsi stenten Disposition“ (Kohlberg, 1996, S. 12) und „keine in -

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Moralisches Handeln er-

fordert nach Kohlberg fol-

gende „Kernkompetenzen“

Die Ermittlung moralischer Urteilemit Hilfe moralischerDilemmata

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nere Disposition zur Ehrlichkeit“ (Kohlberg, 1996, S. 12). „DieDisposition dazu, Schuld zu empfinden, wurde als Folge früherKindheitsidenti fikationen und Straferfahrungen gesehen“ (Kohl-berg, 1996, S. 12).

Moralisches Handeln erfordert nach Kohlberg folgende „Kern-kompetenzen“:➜ Empathie (die Fähigkeit, die Reaktionen anderer auf die eigene

Handlung vorauszu sagen);➜ Voraussicht (die Fähigkeit, langfristige Folgen der Handlung

vorherzusehen);➜ Beurteilungsvermögen (die Fähigkeit, Alternativen und Wahr-

scheinlichkeiten abzuwägen);➜ die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub (die Fähigkeit, eine ent-

fernter liegende, aber eine größere Belohnung der unmittelba-ren, aber geringeren Belohnung vor zuziehen);

➜ Stabilität und Ausdauer der Aufmerksamkeit (Kohlberg, 1996,S. 14).

Kohlberg untersuchte mit Hilfe von Reaktionen auf moralischeDilemmata die Ent wicklung des moralischen Urteils. Den Pro-banden wurden zehn hypothetische Di lemmata vorgelegt, durchdie sie in einen inneren Konflikt geraten können. Die bekanntesteGeschichte ist das Heinz-Dilemma. Sie handelt von einem Mannnamens Heinz, dessen Frau sterbenskrank ist. Der einzige Apo-theker der Stadt hat ein Medikament entwickelt, das die Frau hei-len könnte. Der Apotheker verkauft der Frau das Medi kament fürden zehnfachen Preis, den ihn die Herstellung kostet. Diesen Preiskann Heinz nicht bezahlen. Der Apotheker ist aber nicht bereit,von seinen Preisvorstellun gen abzulassen. Deshalb bricht Heinz indie Apotheke ein und stiehlt das Medika ment für seine Frau. Kohlberg untersuchte nun nicht den Inhalt, sondern die Strukturder Begründungen der Probanden auf die Fragen, „ob und warumHeinz das Medikament stehlen sollte, was schlimmer eingestuftwerden kann: jemanden sterben zu lassen oder zu stehlen; ob Heinzauch das Medikament stehlen sollte, wenn er seine Frau nicht lie-ben würde; ob man auch für einen Freund oder ein Haustier dasMedikament stehlen sollte und ob ein Richter Heinz für den Dieb-stahl bestrafen sollte“ (nach Kohlberg in Wikipedia). Alle von

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Stufen der Moralent-wicklung nach Kohl-berg, aufbauend aufPiaget

drei Hauptniveaus

der Entwicklung

Niveau I: prä-moralisch (biszum 9. Lebensjahr)

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Ursula Iskenius-Schuppert – Die Psychologie der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg

Kohlbergs Dilemmata handeln jeweils von zwei sich widerspre-chenden und nicht zu vereinbarenden moralischen Normen. „Eineoptimale Lösung kann niemals gefunden werden“ (nach Kohlbergin Wikipedia1).

Die unten beschriebene Stufenfolge von sechs Entwicklungsstufenbezieht sich nicht auf moralisches Handeln, sondern auf morali-sches Urteilen über moralisches Han deln: Die Entwicklungsstufendes moralischen Urteils drücken nach Kohlberg Alters trends aus,eine unumkehrbare Abfolge der Stufen sowie eine Allgemeingültig-keit unter verschiedenen kulturellen Bedingungen. Wenn einMensch von einer Stufe des Moralbewusstseins zu einer anderenge langt, verändert sich sein Bewusstsein in drei Bereichen. Kohlberg(1996, S. 26f.) ordnet diese Stufen drei Hauptniveaus der Entwick-lung zu: Die ersten beiden Stufen dem „prämoralischen Ni veau“,die 3. und 4. Stufe dem Niveau II „Moral der konventionellen Rol-lenkonformität“ und die 5. und 6. Stufe dem Niveau III „der Mo-ral der selbst-akzeptierten moralischen Prinzipien“ (Kohlberg,1996, S. 26f.). Die Inhalte der drei Entwicklungsniveaus werde ichim Folgenden erläutern. Bei der Bezeichnung der Entwicklungsstu-fen halte ich mich an die Kohlbergschen Bezeichnungen.

„Auf diesem Niveau reagiert das Kind auf kulturelle Regeln undKa tegorisierungen von „gut“ und „schlecht“, „richtig“ oder„falsch“; die Kategorien erhalten ihre Bedeu tung durch die physi-sche Macht derjenigen, die die Regeln aufstellen“ (Kohlberg,1996, S. 51). Das Bewusstsein des Kindes, dass Erwachsene be-strafen können, ge nügt für einen absolutistischen Bezugsrahmenund die Einteilung von Handlungen in gute und böse Handlun-gen. Verantwortlich für diese kindliche Schlussfolgerung ist dieentwicklungspsychologisch begründete Unfähigkeit des Kindes,zwischen subjek tiven und objektiven Aspekten seiner Erfahrungzu unterscheiden und seine Unfähig keit, seine eigene Sichtweisevon der anderer zu trennen. Kohlberg nennt dies den Egozentris-mus des kleinen Kindes und spricht von einer „natürlichen Ten-denz“ (Kohlberg, 1996, S. 24).

Gefühle von Vertrauen, Angst und Liebe spielen auf dieser Stufeeine Rolle. Nach Kohlberg beziehen die Autoren Peck und Ha-

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Stufe 1:

Orientierung an Strafe

und Gehorsam

Stufe 2: Naiver instru-

menteller Hedonismus

Niveau II: Moral der konventionellen Rollenkonformität

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vighurst, 1960, Aspekte von Gefühlen und Verhalten in das Stu-fenmodell des moralischen Urteils des Kindes mit ein (Kohl berg,1996, S. 30).

Auf dieser Stufe (Kohlberg, 1996, S. 26) hat das Kind aus sozial-perspektivischer Sicht noch einen egozentri schen Standpunkt. Ei-ne Person auf dieser Stufe nimmt die Interessen einer anderen Per-son noch nicht wahr. Die Sichtweise der Autoritätsperson ist nochvermischt mit der eigenen.

Auf dieser Stufe (Kohlberg, 1996, S. 26) ist es für das Kind in Ord-nung, die eigenen Interessen und Bedürf nisse durchzusetzen undan deren dasselbe zuzugestehen („Wie du mir, so ich dir.“). Es ver-hält sich konform, um Belohnungen zu bekommen. „MenschlicheBe ziehungen sind Handelsgeschäften vergleichbar“ (Kohlberg,1996, S. 51).Aus sozialperspektivischer Sicht kann das Kind auf dieser Stufe sei-ne eigenen Inte ressen und Sichtweisen trennen von denen der Au-toritätspersonen und anderen. Jetzt ist ihm klar, dass jede Person ei-gene Interessen verfolgt. Das Kind integriert konfliktbehaftete In-teressen, weil es die andere Person braucht oder es fair sein will.

Nach Kohlberg erreicht ein Großteil der Jugendlichen und Er -wachse nen dieses Niveau (1996, S. 26). Die Moral dieser Ent-wicklungsstufe beruht auf der Bemühung um wechselseitige undgleichwertige Beziehungen zwischen Individuen. Das Kind be-greift nun, dass es eine Vielfalt von Meinungen über Recht undUnrecht gibt. Nicht nur die Meinung der Eltern zählt nunmehr,sondern auch die der Gruppe. Das Kind ist sich nun der gutenoder schlechten Absicht einer Handlung bewusst. Es wird sich desWeiteren bewusst, dass eine Handlung nicht nur deshalb schlechtsein kann, weil sie die Strafe eines Erwachsenen nach sich zieht,sondern auch, weil sie anderen schadet. Gefühle von Sympathie,Dankbarkeit, Loyalität und Rache spielen auf dieser Stufe eineRolle. Das Kind bemüht sich, die soziale Ordnung zu erhaltenund sich mit der Gruppe oder Teilen der Gruppe zu identifizieren.

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Stufe 3: Moral des gu -

ten Kindes, das gute

Be ziehungen aufrecht

erhält und die Aner-

kennung der anderen

sucht

Stufe 4: Moral der

Auf rechterhaltung

von Autorität

Niveau III: Moral der selbst akzeptiertenmoralischen Prinzi -pien

Stufe 5: Moral des

Vertrages, der indivi-

duellen Rechte und

des demokratisch an-

erkannten Gesetzes/

Rechtssystems

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Ursula Iskenius-Schuppert – Die Psychologie der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg

Das Kind verhält sich konform, um die Missbilligung und Abnei-gung der anderen zu vermeiden. Beherrschend sind stereotypeVorstellungen davon, was mehrheitliches oder „natürliches“ Ver-halten ist“ (Kohlberg, 1996, S. 52).

„Autorität, feste Regeln und die Erhaltung der sozialen Ordnungsind die wesentli chen Orientierungspunkte. Richtiges Verhaltenbesteht darin, seine Pflicht zu tun, Respekt vor Autorität zu zei-gen und die bestehende Sozialordnung um ihrer selbst willen zuerhalten“ (Kohlberg, 1996, S. 52).

Diese Stufe erreicht nach Kohlberg eine Minderheit von Erwach-senen, meist erst nach dem 20. Lebensjahr. Auf diesem Niveauwird nach Kohlberg zum ersten Mal „ein genuin moralisches Ur -teil“ gefällt (Kohlberg, 1996, S. 28). Moralurteile im Kohlberg-schen Sinne sind „darauf gerichtet, eine allgemeingültige, umfas-sende, konsistente Form anzunehmen und sich auf objektive, un-persönliche oder ideelle Grundlagen abzustützen“ (Kohlberg,1996, S. 28/29). Nach Kohlberg haben erst Jugendliche und jun-ge Erwachsene im Alter zwischen 16 und 21 Jahren dieses Niveauerreicht. Es wurde „bei Stammesgrup pen und bäuerlichen Dorf-populationen nicht vorgefunden“ (Kohlberg, 1996, S. 31).Die Stufen 5 und 6 dieses Niveaus „beruhen auf Übereinkommen,Vertrag und der Unvoreingenommenheit des Gesetzes und seinerFunktion, die Rechte der Indivi duen zu bewahren“ (Kohlberg,1996, S. 30).

Auf dieser moralischen Stufe geht es um die Auseinandersetzungmit dem „was ver fassungsmäßig gilt und auf das man sich demo-kratisch geeinigt hat“ (Kohlberg, 1996, S. 53). Es werde der „le-gale Standpunkt betont, dabei aber immer die Möglichkeit im Au-ge behalten, das Gesetz auf Grund rationaler sozialer Nützlich-keitserwägungen ändern zu können, statt es, wie auf der an „Ge-setz und Ordnung“ orientierten Stufe 4, als unveränderbar zu ak-zeptieren“ (Kohlberg, 1996, S. 53). Der Relativismus persön licherWerte und Meinungen wird klar erkannt und dementsprechendwird Wert auf Verfahrensregeln für die Herstellung von Konsensgelegt“ (Kohlberg, 1996, S. 52f.).

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FOCUS

Stufe 6: Moral der in-

dividuellen Gewissens -

prinzipien

Moralische Entwick-lung und Urteils-fähigkeit förderndeFaktoren im Kohl-bergschen Sinne

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„Was richtig ist, wird durch Gewissensentscheidungen im Ein-klang mit selbst ge wählten ethischen Prinzipien festgelegt, die sichdarauf berufen, logisch umfassend, universell und konsistent zusein. Dabei handelt es sich um abstrakte, moralphilo sophischePrinzipien, nicht um konkrete Regeln wie die Zehn Gebote. ImMittelpunkt stehen die universellen Prinzipien der Gerechtigkeit,der Gegenseitigkeit und Gleich heit der Menschenrechte sowie derAchtung vor der Würde menschlicher Wesen als individueller Per-sonen“ (Kohlberg, 1996, S. 53).Kohlberg ist der Ansicht, dass moralisches Urteilen über morali-sches Handeln ein Produkt formal-operationalen Denkens ist,dass das Erreichen der jeweils nächsten Stufe der Moralentwick-lung ein Produkt von Lernprozessen ist und dass der Lern prozessdurch die Einsichten der Beteiligten selbst gesteuert wird. Um voneiner mo ralischen Stufe zur nächsten zu gelangen, braucht es kog -nitive Operationen, „die in zunehmendem Maße komplex, ab-strakt, allgemein und reversibel werden“ (Haber mas, 1983, S. 43).Jede Stufe sei eine neue moralische Struktur, die Elemente derfrüheren Struktur „zwar einschließt, sie aber so umwandelt, dasssie ein stabileres und ausgedehnteres Gleichgewicht darstellen“(Habermas, 1983, S. 44).

Folgende Faktoren fördern nach Kohlberg eine moralische Ent-wicklung:➜ emotionale Wärme;➜ Beteiligung an Entscheidungen in der Familie;➜ Übertragung von Verantwortung aufs Kind;➜ Aufzeigen von Konsequenzen, die die eigenen Handlungen für

andere haben;➜ die Interaktion der Eltern mit dem kleinen Kind und die Intro-

jektion elterlicher Werte;➜ die Interaktion des Kindes mit anderen;➜ Verstehen der sozialen Ordnung, in der das Kind lebt;➜ die Fähigkeit, die eigenen Ziele mit denen der sozialen Ord-

nung in Beziehung zu setzen;➜ Fähigkeit zur Rollenübernahme auf der Basis von Gegenseitig-

keit und Austausch;➜ Intelligenz als notwendige, aber noch nicht hinreichende Ursa-

che des morali schen Fortschritts;

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2. Synopsen

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➜ Fähigkeit zu emotionalen und intellektuellen Formen morali-scher Rollenüber nahme in der Familie und anderen Gruppen;

➜ Partizipation.

PIAGET

Sensumotorisches Stadium (0-18 Mon.)Bei der Geburt ist das Kind in einemZustand des absoluten Egozentrismus;es nimmt außer sich selbst nichtswahr. Das Kind beherrscht einfacheReflexe, aus denen willkürliche Aktio-nen werden. Daraus wiederum ent-steht zielgerich tetes Verhalten undObjektpermanenz. Das Kind beginntam Ende dieses Stadiums, seinen ego-zentrischen Standpunkt auf der physi-schen Ebene aufzugeben.

Präoperationales Stadium(1,5-7 Jahre)Das Kind kann schon in Gedankenagieren. Es kann sich aber nicht vor -stellen, wie ein Objekt vor seiner Än-derung ausgesehen hat. In diesemStadium nimmt das Kind an, dass je-der so denkt wie es selbst. Auf Grundseines Egozentrismus ist das Kindnicht fähig, sich in andere Menschenhineinzudenken. Das Kind glaubt,dass alles, was es für real hält, auchwirklich existiert (auch Träume etc.).Es glaubt des Weiteren, dass die Din-ge wie es selbst sind: belebt, bewusstund voller Absichten (Animismus).

Konketoperationales Stadium(7-12 Jahre)Das Denken ist von der direktenWahr nehmung beeinflusst. Es ist in-tuitiv und nicht logisch und auf kon-krete anschau liche Erfahrungen be-schränkt. Abstrak tionen sind nichtmöglich.

SELMAN(nach Habermas, 1983, S. 152-158)

1. Stufe (5-9 Jahre)Differenzierte und subjektive Per spektivenübernahme

Personwahrnehmung: Das Kind kann klar zwischen physi -schen und psychologischen Aspekteneiner Person unterscheiden. Gedan-ken, Meinungen und Gefühle könnenunter schieden werden.Beziehungswahrnehmung:Die Wahrnehmung des Kindes in einerBeziehung ist subjektiv. Die subjekti-ven Perspektiven von anderen und ei-nem selbst können klar unterschiedenwer den. Perspektivenübernahme istnur einseitig möglich, nicht gegen -seitig.

2. Stufe (7-12 Jahre)Selbstreflektiv; gegenseitige Per spektivenübernahme

Personwahrnehmung:Das Kind kann die Perspektive einerzweiten Peron einnehmen. Das Kindkann erkennen, dass die Gedankenund Gefühle einer Person vielschich-tig sein können und dass man Dinge

KOHLBERG

Orientierung an Strafe undGehor sam (bis 5 Jahre)

Die von Autoritäten gesetzten Regelnwerden befolgt, um Strafe zu ver -meiden.

PRÄKONVENTIONELLE EBENE

Naiver instrumenteller Hedonismus (bis 9 Jahre)

Die Kinder erkennen, dass mensch -liches Verhalten auf Gegenseitigkeitberuht. Recht handeln besteht darin,die eigenen Bedürfnisse und gele-gentlich die von anderen zu befriedi-gen (Ich gebe, damit du gibst.).

KONVENTIONELLE EBENE

Moral „des guten Kindes“ (9-13 Jahre)Das Kind möchte den Erwartungen derBezugspersonen entsprechen. Wird esden Erwartungen nicht gerecht,empfin det es Schuldgefühle. Es stelltauch selber Erwartungen an morali-sches Verhalten anderer.

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Es kann nun folgende kognitiveOpera tionen leisten:– Reversibilität (in Gedanken rück -

wärts gehen; durchgeführte Opera-tionen rückgängig machen);

– Seriation (Fähigkeit, Objekte in ei-ner Reihenfolge eines Merkmals an-zuordnen);

– Klassifikation (Fähigkeit, eineGruppe von Objekten entspre chendeines Merkmals zu identifi zieren).

Formaloperationales Stadium(12-21 Jahre u. mehr)Der Mensch kann nicht nur über kon -krete Dinge, sondern auch überGedan ken nachdenken. AbstraktesDenken ist nun ebenso möglich wieSchluss folgerungen ziehen.

tun kann, die man nicht tun magbzw. die man nicht beabsichtigte zutun.Beziehungswahrnehmung:Reziprok; das Kind kann sich nun injemand anderen hineinversetzen undrealisiert, dass die andere Person dasGleiche tut. Das Kind kann die einzel-ne Person wahrnehmen, aber nochnicht die Beziehung zwischen ihnen.

Einführung einer gedachten drittenPerson und gegenseitige Perspekti-venübernahme (10-15 Jahre)

Personwahrnehmung:Personen werden vom jungen Heran-wachsenden als Systeme von Haltun-gen und Werten, die über eine länge-re Zeit konsistent sind, wahrgenom-men. Die/ der Heranwachsende istfähig, die Perspektive einer ehrlichen3. Person einzunehmen, und zwarausserhalb seines eigenen Systems.Esist die Perspektive des „beobachten-den Ich“ („observing ego“ (Selmannach Habermas, S. 154)) Der / dieHeranwachsende sieht sich gleichzei-tig als Handelnde/r und Objekt. Er/sie handelt und reflektiert gleichzei-tig die Wirkungen seiner/ ihrer Hand-lungen auf sie selbst und auf sieselbst in Interaktion mit anderen.Beziehungskonzept:Die eigenen Perspektiven werdengleichzeitig mit denen anderer koordi-niert und es wird das Bedürfnis emp-funden, sie zu koordinieren. Auf dieserStufe glaubt man an soziale Befriedi-gung, gegenseitiges Verständnis undkoordinierte gegenseitige Absprachen,wenn man effektiv sein will. Beziehun-gen werden als Systeme aufgefasst, indenen Gedanken und Erfahrungen ge-genseitig geteilt werden.

Orientierung an Gesetz und Ordnung (13-16 Jahre)Das Kind/die Jugendliche erkennt dieBedeutung moralischer Normen fürdas Funktionieren der Gesellschaft.„law and order“ wird anerkannt.

POSTKONVENTIONELLE EBENE

Moral des Vertrages(16-21 J.)Aus Gedanken der Gerechtigkeit oderder Nützlichkeit für alle (Gesell -schafts vertrag) werden bestimmteNormen akzeptiert. Moralische Nor-men werden jetzt auch hinterfragtund nur noch als verbindlich angese-hen, wenn sie gut begründet sind.

Moral der individuellenGewissens prinzipien(ab 21 J.)Das richtige Handeln wird mit selbstgewählten ethischen Prinzipien inEin klang gebracht. Konflikte sollenunter gedanklicher Einbeziehung allerBetei ligten gelöst werden.

Stadien der kognitiven Entwicklung nach Piaget, Sta dien der Moralentwicklung nach Kohlberg, Selmans Stufen der Perspektivenübernahme

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Habermas hat die einzelnen Elemente der Stufenmodelle von Kohlberg und Selman in ei-ner Tabelle zusammengestellt (Habermas, 1983, S. 176f.), an die sich die unten abgebilde-te Tabelle anlehnt.

Synopse der Interaktionsstufen, Sozialperspektiven und Moralstufen von Kohlberg und Selman (nach Habermas, 1983, S. 176f.)

KognitiveStrukturen

Handlungs -typen

Perspektiven -struktur

Struktur derVerhaltens -erwartung

Begriff derAutorität

Begriff derMotivation(Dinge wer -den getan aus folgendenMotivationen)

Sozialperspektiven

Perspektive Gerechtig-keitsvor- stellung

Stufen desmoralischenUrteils

prä-konven-tionell:

autoritäts -gesteuerte Interaktion

interessen -gesteuerte Kooperation

SubjektivePerspektive;

wechselseiti-ge Verknüp-fung vonHand lungs -perspek tiven

EinzelneVerhaltens -muster werden erwartet

Autorität vonBezugsperso -nen bestimmtdas Verhaltendes Kindes.

Das Kind er-lebt den Er-wachsenenwillkürlichhandelnd.

Loyalität gegenüberPersonen;Orientierungan Beloh -nung/Bestra fung

EgozentrischePerspektive

Komplementa -rität von Befehl undGehorsam

Symmetrie derEntschädigun -gen

1

2

konven -tionell:

Rollenhandeln

Koordinierungvon Beobach -ter- undTeilnehmer -perspektiven

Symmetrievon Rechtenund Pflichten

Sozial verall-gemeinerteVer hal tens -mus ter wer-den erwartet;soziale Rollewird einge-nommen

VerinnerlichteAutorität hatLoyalität zurKonsequenz

Pflicht vs.Neigung

Primär -gruppen -perspektive

Rollen -konformität 3

normen -geleitete Interaktion

Sozial verall-gemeinerteRollen werdeneingenom-men; manverhält sichnach einemNormensystem

VerinnerlichteAutorität desunpersönl.Kollektiv -willens = Legitimität

Perspektiveeines Kollek -tivs (system’spoint of view)

Konformitätmit bestehen -dem Normen -system

4

post-konven-tionell:

Diskurs

Regel zur Normprüfungwird ent-wickelt sowieVerhalten aufGrund einesPrinzips Als Autorität

gilt das eige-ne Ideal(ideale vs. so-ziale Geltung)

Autonomie vs.Heteronomie

Prinzipien -perspektivehat Vorrangvor der Per-spektive desKollektivs

Orientierungan Gerechtig -keits pers -pektiven

5

Regel zur Prüfung vonPrinzipienwird ent-wickelt sowieein Verfahrender Normen -begründung

Prozess-Perspektive

Orientierungan Verfahrender Normen -begründung

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Kohlberg, Levine und Lever, (1984, nach Kohlberg, 1996,S. 311ff.) beschreiben folgende philosophische Annahmen, dieKohl bergs Theorie zu Grunde liegen:

Wertrelevanz im Gegensatz zu Wertneutralität bei Definitionendes Morali schen; z.B. die Annahme, dass der Wert des „Lebens ansich“ (sichtbar im „Heinz-Dilemma, s.o.) wichtiger sei als der Wertdes Eigentums.

Ethischer Universalismus im Gegensatz zu kulturellem und ethi-schem Relativis mus; „Universalistisch ist eine Ethik dann, wennsie grundsätzlich für alle Menschen kultur- und zeitunabhängigGeltung beansprucht“ (Schmid-Noerr, 2006 S. 166), z.B. die An-nahme, dass Leben immer und unter allen Umständen zu erhaltensei im Gegensatz zu der Annahme, dass es auch Umstände gebenkönnte, unter denen Leben nicht unbedingt erhalten werden soll-te. Der Relativismus ist der Ansicht, dass Moralprinzipien aufgrundsätzliche Weise kulturell veränderlich seien („Jede/r hat sei-ne eigenen Werte.“). Mit „Universalismus“ ist „Verallgemeiner-barkeit“ gemeint. Moralisch wertvoll ist eine Handlung nachKant dann, wenn die darin enthaltene Ma xime verallgemeinertwerden kann:„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die duzugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“Der Universa lismus beruft sich auf die „Menschenrechte, einKonzept, nach dem allen Menschen von Geburt an die gleichenRechte zustehen“ (Wikipedia).

Die Menschenrechte ent standen im Zuge von Humanismus und Auf-klärung und wurden anfangs naturrecht lich (Hobbes, Rousseau), spätervernunftbegründet (Kant). Allen einzeln genannten Menschenrechtenübergeordnet ist das „Gleichstellungsgebot“ (Wikipedia). „Jeder Menschhat Anspruch auf die hiermit garantierten Menschenrechte und Freihei-ten, ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Ge-schlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, na-tionaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigenUmständen“ (Wikipedia). Bei den Menschen rechten, die sich in unseremGrundgesetz wieder finden, handelt es sich um univer sale Grundsatznor-men („Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1); „das Recht aufdie freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (Art. 2); „das Recht auf Lebenund körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2); „das Recht auf Gleichheit allervor dem Gesetz“ (Art. 3); das Recht auf „Glaubens- und Gewissensfrei-

ZTA 4/2006 315

FOCUS

3. Kohlbergs moral-philosophische Vorannahmen

Relativismus ist der An-

sicht, dass Moralprinzipien

auf grundsätzliche Weise

kulturell veränderlich seien.

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Einige Menschenrechte

stellen auch die Basis der

gerade neu gefassten EA-

TA Ethikrichtlinien dar.

vernunftgemäßes Be -

gründen von morali schen

Urteilen und moralischem

Handeln

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Ursula Iskenius-Schuppert – Die Psychologie der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg

heit“ (Art. 4); das Recht auf „Meinungsfreiheit“ (Art. 5); das Recht auf„Versammlungsfreiheit“ (Art. 8); „das Recht auf Vereinigungs- und Ko-alitionsfreiheit“ (Art. 9); „das Recht auf Berufsfreiheit“ (Art. 12); etc. (al-le entnommen dem deutschen Grundgesetz).

Einige Menschenrechte stellen auch die Basis der gerade neu gefasstenEATA Ethikrichtlinien dar. (Explizit erwähnt werden in der Neufassungdie Rechte auf Menschenwürde, Selbstbestimmung, Gesundheit und Si-cherheit.) Als ethische Prinzipien, die den EATA Ethikrichtlinien zuGrunde liegen, werden genannt „Respekt“, „empowerment“, „Schutz“,„Verantwortlichkeit“. Bezogen werden die Werte, ethische Prinzipienund die daraus abgeleiteten neu gefassten EATA Ethikrichtlinien auf Kli-enten, Trainees, Kollegen, den TA-Praktizierenden selbst und das umge-bende Gemeinwesen bzw. die entsprechende TA-Gesellschaft.

Präskriptivismus (das Wort kommt vom lat. präscribere = vor-schreiben); Kohlberg ist der Ansicht, dass erst Werte festgelegtwerden über das, was sein sollte, was wünschenswert ist, im Ge-gensatz zum „Deskriptivismus“ (vom lat. describere = beschrei-ben), d.h. dass man erst beschreibt, was gewünscht wird. „Mora-lische Ur teile […] weisen uns an, gebieten oder verpflichten uns,eine Handlung auszuführen. […] Sie sind […] Pflichten, die sichaus Regeln oder Handlungsprinzipien herleiten, welche der Spre-cher als für sein Handeln verbindlich ansieht. Für Kant sind reifemo ralische Prinzipien im Sinne des kategorischen Imperativs ver-allgemeinerbar“ (Kohl berg, 1996, S. 328/329).

Kognitivismus, d.h. Vernunft und vernunftgemäßes Begründenvon morali schen Urteilen und moralischem Handeln stehen imVordergrund. Mit „Kognitivismus“ ist gemeint: Ich begründemeine Handlungen aus „Pflicht“, aus „Erfordernis“, also aus„Vernunft“ (= dem „oberen Begehrungsvermögen“) und nichtaus „sinnlicher Nei gung“, womit „Handlungen aus Egoismus“und „Handlungen aus Wohlwollen“, dem „unteren Begehrungs-vermögen“ gemeint sind (Schmid-Noerr, 2006, S. 92).Kant war ein bedeutender Vertreter des Kognitivismus im Gegen-satz zum Emotivis mus, der der Überzeugung ist, moralische Ur-teile seien nur der sprachliche Ausdruck von schmerzlichen Af-fekten, nämlich vor allem von Scham und Schuld. „Moral ist tot[…] Wissen gibt es nur über naturwissenschaftliche Tatsachen,nicht aber über mo ralische Werte. Moralische Überzeugungenund Urteile sind nur die kognitiven Ent sprechungen der schmerz-

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Gefühlen tragen wir nicht

genügend Rechnung.

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lichen Affekte, die jeder Moral zugrunde liegen, nämlich Schamund Schuld“ (Gilligan, 1976, S. 144 zitiert in Kohlberg, Levineund Hewer, 1996, S. 330). Ayer und Stevenson sind ebenfalls derAnsicht, dass moralische Ur teile v. a. zum Ausdruck bringen, dassich eine Handlung billige, „und zum andern nehme ich auf dasVerhalten des Hörers Einfluss, indem ich ihn gleichsam auffor -dere, meine Billigung zu teilen.“(Rohls, 1999, S.606) Die letztenWerteinstellungen lassen sich für Steven son „nicht rational recht-fertigen, da sie ihren Ursprung nicht in der Vernunft, son dern imGefühl haben“ (Rohls, 1999 S. 606/607). Kohlberg selbst räumtein: „unsere Analyse des moralischen Urteilens“ ist ihnen (= denEmotivisten, U.I.) zu „blutleer, zu stark nur auf den nüchternenVerstand ausgerichtet. Den Gefühlen der Empathie, des Mitleids,der Empörung etc. tragen wir, nach dieser Auffassung als for-menden Kräften im moralischen Urteil nicht genügend Rechnung.[…] Unsere Theorie erkennt an, dass Gemütsbewegungen eineRolle spielen, wenn an die Achtung vor der Men schenwürde ap-pelliert oder für zwischenmenschliche Anteilnahme und Verant-wortlichkeit eingetreten wird. Affekt wird in unserer Theorie aberimmer als durch kognitive Prozesse – wie etwa Rollenübernahme(heisst: ich übernehme zeitweise in Gedanken die Rolle des ande-ren, U.I.) – vermittelt oder strukturiert angesehen. Ein solcher ko-gnitiv strukturierter Affekt kann sich dann als Mitgefühl für dasOpfer […] äußern. Die Theorie der Rollenübernahme und dermoralischen Gefühle […] überzeugt uns.“ Die „gefühlstheoreti-sche Interpretation des moralischen Urteils aber lehnen wir ab, dasie die wichtige Rolle der Prinzipien und des Durchdenkens undErörterns von Prinzipien im Moralurteil verkennt“ (Kohlberg1996, S. 332). Der Leser/die Leserin führe für sich selbst oder mitanderen die Diskussion fort und bringe sie mit transaktionsanaly-tischen Konzepten in Zusammenhang (mit dem Konzept der Au-tonomie, dem Konzept der „integrierten Erwachsenen“, mit derDefinition der Ich-Zustände, mit den Konzepten von rackets, psy-chologischen Spiele, etc.).

Formalismus: im Gegensatz zur Orientierung an moralischen In-halten bedeu tet Formalismus, dass ein moralischer Standpunktbestimmten formalen Kriterien genügen muss: „Jemand nimmtdann den moralischen Standpunkt ein, wenn er […] Prinzipienfolgt, wenn er bereit ist, die Prinzipien zu verallgemei nern, und

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4. Kritik an Kohlbergs Stufen -modell der Moral -entwicklung

Annahme einer unumkehr-

baren und konsekutiven

Reihenfolge der Stufen

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Ursula Iskenius-Schuppert – Die Psychologie der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg

wenn er bei alledem das Wohl jedes Mitmenschen in gleichemMaße berücksichtigt“ (K. Baier zit. in Kohlberg,1996, S. 338). (Diehervorgehobenen Begriffe sind die „formalen Kriterien“, U.I.)

Prinzipienorientiertheit (principium = Grundsatz, Regel) meint,dass Prinzi pien die leitenden Regeln des moralischen Urteils sind.Kohlberg geht von der Annahme aus, dass Gerechtigkeit dasKernstück der Moral ist, „und dass moralische Probleme, soweitsie ein Dilemma aufwerfen, im wesentlichen Gerechtigkeitsprob -leme sind“ (Kohlberg, 1996, S. 312).

Unter Autonomie, der „ethischen Selbstbestimmung“ (Schmid-Noerr, 2006, S. 160) verstand Kant die Freiheit des Menschen, zuwählen zwischen „Vernunft“ und „sinn licher Neigung“. DerMensch ist „nicht durch endliche Gegenstände und durch Glücks -anreize fremdgetrieben (heteronom), sondern weiß sich als inFreiheit sich selbst bestimmend (autonom))“ (Kant nach Halder,2000, S. 167).

Wolf Jordan hat in seinem Artikel „Autonomie und Beziehungs-fähigkeit“ (ZTA 3/02, S. 34) eine umfassende Kritik von Stufen-modellen geleistet, die ich wertvoll finde und die ich auf Kohl-bergs Stufenmodell ebenfalls anwende. Ulrike Müller verweist in ihrem Forumsbeitrag in der ZTA1/2004 in Zusammenhang mit dem Stufenmodell geistiger Ent-wicklung von Greenspan darauf, dass Stufen in ei nem Stufenmo-dell zwar nicht unumkehrbar, invariant, unbedingt aufeinanderfolgend sein müssen, sie jedoch meistens einer „inneren Logik“folgen.Die Annahme einer unumkehrbaren und konsekutiven Reihenfol-ge der Stufen be deutet, dass verschiedene Versuchspersonen das-selbe Ziel nicht über verschiedene Entwicklungspfade erreichenkönnen, und dass sich dieselbe Versuchsperson nicht von einerhöheren zu einer niedrigeren Stufe entwickelt oder dass sie eineStufe überspringen kann („Entwicklungslogik“).Es bedeutet des Weiteren, dass die kognitiven Strukturen einerhöheren Stufe die jeweils niedrigeren Stufen ersetzen und in aus-differenzierter Form aufbewahren. Stufenwechsel wird definiertals gerichtete, sequentielle, qualitative Transformation in einer

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Anmerkung

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psy chischen Struktur. In seiner Abhandlung „Zusammenhängezwischen der Moralentwicklung in der Kindheit und im Erwach-senenalter“ (Kohlberg, 1996, S. 81-123) räumt Kohlberg ein, dassMenschen auch im Erwachsenenalter von einer höhe ren auf eineniedrigere Moralstufe regredieren könnten. Frühere Überzeugun-gen und Standards könnten durchaus in Frage gestellt werden. Je-mand könne regredieren, um sich zu entwickeln. Häufig hättenErfahrungen, die einen dazu bringen, „sein Ur teil über das mora-lisch Richtige und Gute zu ändern“, […] „eine starke emotionaleKomponente. Wenn Emotionen in die Erfahrungen eingehen, diezu Veränderungen führen, dann sind sie es, die das Umdenkenauslösen und begleiten“ (Kohlberg, 1996, S. 103). „Echter per-sönlicher Gedankenaustausch“ sei Vorbedingung für Re flexionund Umdenken.Habermas (1983, S. 183) fragt in seiner Kritik an Kohlberg an,„ob sich die Urteils- und Handlungsfähigkeit des moralisch reifenErwachsenen im Lichte kognitivistischer und formalistischerTheorien angemessen bestimmen lassen. […] Und schließlich istdie Frage offen, wie die strukturalistische Theorie so mit ich-psy-chologischen Er kenntnissen verbunden werden kann, dass auchdie psychodynamischen Aspekte der Urteilsbildung zu ihremRecht kommen“ (Habermas, 1983, S. 183).

Es fällt auf, dass Kohlberg seine Stichproben nur aus Studentenrekrutiert, und zwar aus männlichen Studenten. Es wurde wederuntersucht, ob für Frauen die gleichen Ergebnisse gelten, noch wiedie Ergebnisse für Menschen anderer soziokultureller Schichtenaussehen würden. Besonders weibliche Moralphilosophen kriti-sieren an Kohlberg, dass er mit seinem Stufenmodell den Ein-druck erwecke, Frauen und Men schen aus anderen soziokulturel-len Schichten seien weniger moralisch. Dies bringt er nirgends ex-plizit zum Ausdruck, allerdings schreibt er, dass sich bei „Längs-schnitt-Probanden, die nicht das College besuchten“ und „auchbei keinem Schüler der High School prinzipienorientiertes Den-ken feststellen“ ließ (Kohlberg, 1996, S. 106). Zur diesbezügli-chen Kritik von Kohlberg siehe die Bücher von Hoagland, 1991,und Wendel, 2003.

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5. Zusammenhängezwischen der Moral-entwicklung in derKindheit und im Er wachsenenalter

6. Die siebte Moral-stufe bei Kohlberg

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Ursula Iskenius-Schuppert – Die Psychologie der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg

Kohlberg ist in seinen späteren Ausführungen (ab 1973) der Mei-nung, dass auch ein Stufenwechsel im Erwachsenenalter vorkom-men kann, und zwar als Produkt von Auseinandersetzungen einesIndividuums mit seiner Umwelt. Kohlberg beruft sich dabei aufeine Längsschnittuntersuchung von über 21 Jahren an männli-chen Probanden ab High-School-Alter.Er lehne sich in seiner Meinung an Piaget an, der behaupte, „dassseine kognitiven Stufen „interaktions- und nicht reifungsbedingteStufen“ seien, sind sie doch eng an die Reifung des Nervensystemsgebunden“ (Kohlberg, 1996, S. 88). Das formal-ope ratorischeDenken werde nun, im Erwachsenenalter, auf viele Bereiche undAktivitä ten angewendet. Dennoch sei die Anwendung des formal-operatorischen Denkens keine Gewähr dafür, dass ein Menschsich auch auf einer entsprechenden morali schen Stufe befinde.„Die empirischen Beziehungen, die wir gefunden haben, sind der-art, dass eine bestimmte logische Stufe eine notwendige, aber kei-ne hinreichende Bedingung für die parallele Moralstufe ist“(Kohlberg, 1996, S. 91). Logische und mo ralische Stufen sind al-so verschieden voneinander. Moralische Urteile setzen „Ope ra tio -nen der Reziprozität“ voraus, also der Wechselseitigkeit, d.h. dieFähigkeit, wechselnde Seiten einnehmen zu können (kognitiv undemotional). Die moralischen Urteile im Erwachsenenalter würdensich auf viele Bereiche und Aktivitäten auswirken.

Außer der Bemerkung, dass die Identitätskrise erwachsener Men-schen ein Zeichen von einem Stufenwechsel sein kann, und dasssich Menschen in einer kognitiv und sozial stimulierenden Um-welt relativ schnell entwickeln können, bezieht sich Kohl berg imwesentlichen auf die Entwicklungspsychologie Erwachsener vonErik Erikson. Nach Erikson durchläuft der erwachsene Menschim mer wieder Identitäts krisen. Vom Akzeptieren einer zuge-schriebenen Identität kommt der erwachsene Mensch über dieIdentitätskrise zur Festigung der Identität (siehe Erikson, 1973).Erikson definiert nach der sechsten Entwicklungsstufe, die er derpsychosexuellen Phase der Genitalität zuschreibt, und die bei ihm„Intimität und Solidarität gegen Isolierung“ heißt, noch eine sieb-te und eine achte Stufe in der Entwicklung des erwachsenen Men-schen. Die siebte Stufe nennt er „Generativität“ und die achte Stu-fe „Integrität vs. Ver zweiflung“ (Erikson, 1973, S. 214). Kohl-

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„Warum gerecht sein in

einem Universum, das

weitgehend ungerecht ist?“

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berg fragt sich, ob es vielleicht parallel dazu auch eine siebte Mo-ralstufe beim erwachsenen Men schen gebe, auch wenn er für die-se keine empirischen Daten aufweisen könne. Auf dieser Stufe be-antworte sich der erwachsene Mensch die Frage „Warum mora-lisch sein?“ „Warum gerecht sein in einem Universum, das weit-gehend ungerecht ist?“ Diese beiden Fragen implizierten die Fra-ge „Warum lebt man?“ und „Wie dem Tode gegenübertreten?“(Kohlberg, 1996, S. 118/119). Diese Fragen seien nicht mit reinlogischen und rationalen Mitteln lösbar. Deshalb postuliert Kohl-berg eine siebte Stufe, die auf diese Fragen „einige sinnvolle Lö-sungen“ aufzeigen könne. „Merk mal aller Lösungen auf Stufe 7ist, dass sie kontemplative Erfahrungen nicht-egoisti scher undnicht-dualistischer Art implizieren. Manchmal wird die Logik sol-cher Erfah rungen theistisch formuliert, das muss aber nicht sosein. Ihr Kern ist das Gefühl, Teil des Lebensganzen zu sein, unddie Einnahme einer kosmischen – statt einer universell-humanisti-schen (Stufe 6) – Perspektive. Das Konzept einer solchen 7. Stufeist natürlich im religiösen Schrifttum sowie in der klas sischen me-taphysischen Tradition von Platon bis Spinoza wohl bekannt. Inden meisten Darstellungen geht die Entwicklung von der Ver-zweiflung aus. … Wir empfinden eine solche Verzweiflung, wennwir aus einer eher unbegrenzten Perspektive unser Leben als be-grenzt zu erkennen beginnen. Die Sinnlosigkeit des Lebens ange-sichts des Todes ist die Sinnlosigkeit des Endlichen aus der Per-spektive des Unendlichen gesehen. Die Aufhebung der Verzweif-lung auf Stufe 7 stellt die Fortsetzung des Prozesses der Übernah-me einer eher kosmischen Perspektive dar, dessen erste Phase dieVerzweiflung gewesen ist. In gewisser Weise handelt es sich hierum ei nen Wechsel von Figur und Grund. […] In dem Zustand,der metaphorisch Stufe 7 genannt wird, identifizieren wir unsselbst mit der kosmischen oder unendlichen Per spektive und wer-ten das Leben aus dieser Sicht“ (Kohlberg, 1996, S.119-120). Die-ser Zustand werde auch „Vereinigung des Geistes mit demGanzen der Natur“ oder „Er lebnis der Einheit“ genannt. Von die-sem Standpunkt aus gesehen erscheine der „kulturelle Stand-punkt“ der Stufe 6 „relativ und willkürlich“ (Kohlberg, 1996,S. 120). In gewisser Weise passt der Beitrag von Klaus Burghardtin diesem Heft zu einer solchen Stufe-sieben-Erfahrung.

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7. Zur Beziehungzwischen mora -lischem Urteil undmoralischem Handeln

Ein einheitlicher Entwick-

lungsprozess, der sowohl

moralisches Urteilen wie

moralisches Handeln

umfasst.

Im letzten Kapitel seines Buches setzt sich Kohlberg mit der Be-ziehung zwischen moralischem Urteilen/ Wissen und moralischemHandeln auseinander. Er zitiert nochmal die Untersuchung vonHartshorne und May (Kohlberg, 1996, S. 380 ff.), die herausge-funden hatte, dass die Korrelation zwischen moralischem Wissenund moralischem Handeln äußerst niedrig ist, in deren Untersu-chungen höchstens bei r =.35 zu finden war. Dieses Ergebnis wur-de durch eine Reihe weiterer Autoren untermauert. (Mills, 1958,Grinder, 1962, Brown und Herrnstein, 1975 etc. alle zitiert nachKohlberg, 1996, S. 382) In diesem Zusammenhang wird auch dasbekannte Milgram-Experiment genannt und andere Experimente,in denen „junge Studenten und Erwachsene unter entsprechen-dem situativen und institutionellen Druck unmoralisch handeln,obwohl ihr moralisches Urteil auf andere Handlungsfähigkeitschließen lässt.“ (Kohlberg, 1996, S. 382) Nach Kohlberg, 1996, S. 383 sind Brown und Herrnstein der An-sicht, dass moralisches Denken sich entsprechend der PiagetschenPrinzipien der kognitiven Entwicklung organisiert, moralischesHandeln aber eher nach Theorien des sozialen Lernens entwi ckelt.Kohlberg hingegen geht von einem einheitlichen Entwicklungs-prozess aus, der sowohl moralisches Urteilen wie moralisches Han -deln umfasst. Er schlägt vor, folgende Elemente, die zu einer mo-ralischen Handlung geführt haben, in Betracht zu ziehen:1. wie ein Individuum sein Handeln subjektiv wahrnimmt und

beurteilt; 2. die Form der individuellen moralischen Handlungen;3. welche Normen welchen moralischen Handlungen zu Grunde

liegen, und wie das Individuum diese Normen ins Verhältnissetzt oder setzen muss, um eine einigermaßen widerspruchs-freie Entscheidung treffen zu können oder mit den Wider-sprüchen leben kann. Es gilt also, bei uns selbst und anderenin Erfahrung zu bringen, wie wir unsere Einheit von Urteil,Motivation und Handlungsausführung organisieren bzw. wieunsere Klientinnen oder Ausbildungskandidatinnen und -kan-didaten es tun.

4. Dazu lassen sich folgende Fragen einbeziehen: (a.) nach wel-chen Standards bezeichnet der Handelnde seine Handlung als„moralisch richtig“? (b.) nach welchen Standards behandeltdie Gesellschaft oder das System, in dem sich jemand befindet,eine Handlung als „moralisch richtig“? (c.) Nach welchem

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moralischen Prinzip und nach welchem universellen philoso-phischen Urteil über die Richtigkeit einer Handlung im Lichtedieses moralischen Prinzips bezeichnet jemand seine Handlungals moralisch richtig?

5. Wenn ich die drei in Punkt 4 genannten Aspekte in die Beur-teilung einer Handlung einbeziehe, wird ein moralisches Urteilumso differenzierter ausfallen können, je mehr Wissen jemandhat und je größer seine Fähigkeit zur Informationsverarbei-tung ist. Die zwei letzten Punkte sind in einer Zeit und in Si-tuationen, in denen oft sehr schnelle Entscheidungen getroffenwerden, von großer Bedeutung.

6. Neben der Frage, welcher Norm ein Verhalten entspricht (dasist eine Frage der „normativen Ethik“), kann die weitere Fra-ge gestellt werden, welche Intention einer Handlung zu Grun-de liegt (das ist eine Frage der „Gesinnungsethik“) und welcheKonsequenzen eine Handlung für das eigene Wohlergehen unddas anderer hat, die von der Handlung betroffen sind, (das isteine Frage der „Verantwortungsethik“). Dazu müssen die ei-genen Interessen und Gefühle und die anderer verarbeitet undHandlungsergebnisse vorausgesehen werden können.

7. Kohlberg, 1996, S. 392ff. ist der Meinung, dass „Willens- oderIch-Stärke“ „ein Beispiel für einen Faktor“ darstellt, „der dieKluft zwischen moralischem Urteilen und moralischem Han-deln überbrückt“. Dazu haben Kohlberg und Candee in einerUntersuchung ermittelt (nach Kohlberg, 1996, S. 393) Schüler,die im moralischen Urteil auf einer hohen Entwicklungsstufestanden, auf Grund ihrer Ich-Stärke noch „moralischer“ wur-den, „während eine ausgeprägte Ich-Stärke solche Schüler, dieauf niedrigerer Moralstufe stehen, veranlasst, noch mehr zumogeln“ (Kohlberg, 1996, S. 393).

8. Kohlberg grenzt moralisches Urteilen und Handeln von prak-tischen, ökonomischen und pragmatischen Standpunkten ab,da es bei moralischem Urteilen und Handeln um die Ausein-andersetzung mit universellen Normen gehe. An anderer Stel-le weist er darauf hin, dass der Glaube, dass Denken und Han-deln sich normalerweise entsprechen, eine Denkvoraussetzungist, die man genauso gut in Frage stellen kann. (Wir haben vielmehr Ideen als wir auch nur ansatzweise umsetzen.)

9. Ein weiteres Kriterium, moralisches Urteilen und Denken mitmoralischem Handeln zu verbinden, ist nach Kohlberg die Fä -

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FOCUS

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higkeit, etwas zu riskieren: „Wenn wir moralisches Verhaltenuntersuchen, dann befassen wir uns mit Handlungen, bei de-nen das Individuum etwas aufgeben oder riskieren muss unddas Unterlassen der Handlung eigentlich leichter und von un-mittelbarem Vorteil erschiene […] Erst die Überwindung die-ser situativen Widerstände, auf der Ebene des Gesprächs undauf der Ebene körperlichen Handelns, stellt einen Test des mo-ralischen Verhaltens dar“ (Kohlberg,1996,S.408).

10. Um in die Tat umzusetzen, was man für richtig hält, benötigtman nach Kohlberg noch „Ich-Kontrollen wie Aufmerksam-keit, Intelligenz und die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub“(Kohlberg, 1996, S.491).

Zusammenfassend für dieses Kapitel lässt sich festhalten, dassKohlberg durchaus einen Zusammenhang zwischen moralischerUrteilsstufe und Handeln sieht. Er beobachtete, dass die Art undWeise, wie Personen Rechte und Pflichten in hypothetischen Si-tuationen definieren, deren Handeln in realen Situationen oft ent-spricht. Für ihn ist ein Kriterium für „universell richtige Hand-lungsweisen“ (Kohlberg, 1996, S. 490), ob man die Anwendungei nes gültigen ethischen Prinzips ableiten kann. Damit ist er einVertreter der teleologischen und deontologischen Ethik. Als spe-zifisch moralische Merkmale des sozialen Handelns stellt Kohl-berg die Faktoren „moralisches Urteil“ und „Willen“ in den Mit-telpunkt, räumt jedoch ein, dass noch eine Vielzahl anderer Va-riablen moralisch relevante Verhaltensweisen erklären.

Der vorliegende Artikel beschreibt das einzig bekannte entwick-lungspsychologische Modell der Entwicklung eines moralischenUrteils und seiner Umsetzung in Handlung von Lawrence Kohl-berg. Dieses wurde aus dem Umgang mit moralischen Dilemma-ta, der auch in der transaktionsanalytischen Aus- und Weiterbil-dung eine wichtige Rolle spielt, entwickelt. Kohlbergs Modellwird in Beziehung gesetzt zu den Stadien der kognitiven Entwick-lung von Piaget und dem Entwicklungsmodell der Sozialperspek-tiven von Selman. Die moralphilosophischen Hintergründe vonKohlbergs Modell werden diskutiert. Die Kritik an seinem Modellund dessen Implikationen soll sich durch die Auseinandersetzungder Leserin und des Lesers damit entwickeln.

Kohlberg sieht durchaus

einen Zusammenhang zwi-

schen moralischer Urteils-

stufe und Handeln.

Zusammenfassung

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The following article describes the only existing developmentalpsychological model that deals with the stages of the developmentof moral judgement by Lawrence Kohlberg. This was a result ofresearch concerning moral dilemmas. The handling with moraldilemmas is also an important factor in transactional educationand further education. Kohlberg’s model refers to the theory ofstages of cognitive development by Piaget and the model of deve-lopment of social perspectives by Selman. The moral-philosophi-cal background of Kohlberg’s concept gets discussed. The critiqueof his model and its implications is supposed to reveal throughthe examination by the reader.

• Erikson, E. (1973): Identität und Lebenszyklus, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

• Habermas, J. (1983): Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln,

Suhrkamp, Frankfurt a.M.

• Halder, A. (2000): Philosophisches Wörterbuch, Herder, Freiburg.

• Hoagland, S. (1991): Die Revolution der Moral, Orlanda, Berlin.

• Kohlberg, L. (1996): Die Psychologie der Moralentwicklung, Suhrkamp,

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• Lind, G. (2003): Moral ist lehrbar, Oldenbourg, München.

• Rohls, J. (1999): Geschichte der Ethik, Mohr Siebeck, Tübingen.

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• Wendel,S. (2003): Feministische Ethik, Junius, Hamburg.

• Wikipedia, Internet-Enzyklopädie

FOCUS

Summary

Literatur

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FOCUS

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