Die Schatzkammer des Königs (Sufigeschichten) von Hazrat Inayat Khan (Leseprobe)

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In der Geschichte der Menschheit wurden von jeher spirituelle Wahrheiten in Geschichten verkleidet erzählt. Für den, der nur das äußere Geschehen aufnimmt, sind sie eine vergnügliche Unterhaltung - für denjenigen, der die hintergründige Bedeutung erkennt, sind sie eine Weisung für den inneren Pfad. So hat auch Hazrat Inayat Khan seine Lehren mit anschaulichen Bildern geschmückt, die auf verschiedenen Ebenen verständlich sind. Viele der Geschichten wurden von den Sufimeistern seit alten Zeiten immer wieder in Variationen erzählt. weitere Informationen: www.verlag-heilbronn.de

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Hazrat Inayat Khan

Die Schatzkammer des Königs

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Hazrat Inayat Khan

Die Schatzkammer des Königs

Sufigeschichten

Auswahl aus der englischen Gesamtausgabe

„The Sufi Message of Hazrat Inayat Khan“,

Barrie & Rockliff. London,1983

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Inayat Khan < Hazrat>:

Die Schatzkammer des Königs / Hazrat Inayat Khan

Ausgew., übers. u. eingeleitet von Karima Sen Gupta

Illustrationen von Subhani Koster

Weinstadt, Verlag Heilbronn, 2010

Verlag Heilbronn

Postfach 2162

D-71370 Weinstadt

Verkehrsnummer 14894

ISBN 978-3-936246-00-1

Alle Rechte vorbehalten

© International Headquarters of the Sufi Movement

Gestaltung:

Wajad Ernst Grünwald, Wien

Gesamtherstellung:

PRESSEL Digitaldruck

73630 Remshalden

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Hazrat Inayat Khan

Die Schatzkammer des Königs

Sufigeschichten

Auswahl aus der englischen Gesamtausgabe

„The Sufi Message of Hazrat Inayat Khan“,

Barrie & Rockliff. London,1983

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Inayat Khan < Hazrat>:

Die Schatzkammer des Königs / Hazrat Inayat Khan

Ausgew., übers. u. eingeleitet von Karima Sen Gupta

Illustrationen von Subhani Koster

Weinstadt, Verlag Heilbronn, 2010

Verlag Heilbronn

Postfach 2162

D-71370 Weinstadt

Verkehrsnummer 14894

ISBN 978-3-936246-00-1

Alle Rechte vorbehalten

© International Headquarters of the Sufi Movement

Gestaltung:

Wajad Ernst Grünwald, Wien

Gesamtherstellung:

PRESSEL Digitaldruck

73630 Remshalden

Page 5: Die Schatzkammer des Königs (Sufigeschichten) von Hazrat Inayat Khan  (Leseprobe)

Inhalt

Einleitung 6Der Mullah und ein Bauernmädchen 9Der unverschämte Sufi 10Die Schale des Derwisches 11Alif 12Das Feuer der Liebe 14Die Kraft des Wortes 15Fasten 16Musikmeditation 17Majnun und Leila 18Einssein mit Gott 19 Moses und der Hirtenjunge 20Goldbestickte Schuhe 21Die Füße Gottes 22Der Test für den König 22Was geschieht nach dem Tod? 24Wahrer Glaube 24Menschliche Schwächen 25Die Königin der Fische 27 Beobachtung 28Geduld 29Hafis 30Gedächtnis 31Sa’dis Bücher 32Der Heilige als Dieb 33Der König und der Papagei 34Geistige Reinigung 36 Ein Seufzer 39Schönheit 41

Eben darum! 42 Unter dem Baum der Wünsche 43Datteln 44Meditation 45Pilgerreise 46 Birbals Frage 47Vom Privileg, ein Mensch zu sein 48Die Schatzkammer des Königs 50Vertrauen 52Tansen und Akbar 54Ehestreit 56Salomon 57Shah Khamush 58Aufrichtigkeit 59Kali und der Sufimeister 60Tugend und Sünde 62Im Spiegel 64Weise Liebe 65Puran Bhagat 66Nicht genug! 67

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Inhalt

Einleitung 6Der Mullah und ein Bauernmädchen 9Der unverschämte Sufi 10Die Schale des Derwisches 11Alif 12Das Feuer der Liebe 14Die Kraft des Wortes 15Fasten 16Musikmeditation 17Majnun und Leila 18Einssein mit Gott 19 Moses und der Hirtenjunge 20Goldbestickte Schuhe 21Die Füße Gottes 22Der Test für den König 22Was geschieht nach dem Tod? 24Wahrer Glaube 24Menschliche Schwächen 25Die Königin der Fische 27 Beobachtung 28Geduld 29Hafis 30Gedächtnis 31Sa’dis Bücher 32Der Heilige als Dieb 33Der König und der Papagei 34Geistige Reinigung 36 Ein Seufzer 39Schönheit 41

Eben darum! 42 Unter dem Baum der Wünsche 43Datteln 44Meditation 45Pilgerreise 46 Birbals Frage 47Vom Privileg, ein Mensch zu sein 48Die Schatzkammer des Königs 50Vertrauen 52Tansen und Akbar 54Ehestreit 56Salomon 57Shah Khamush 58Aufrichtigkeit 59Kali und der Sufimeister 60Tugend und Sünde 62Im Spiegel 64Weise Liebe 65Puran Bhagat 66Nicht genug! 67

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Einleitung

In der Geschichte der Menschheit wurden von jeher spirituelle Wahrheiten in Geschichten verkleidet erzählt, sei es in den großen Epen und Mythen der Völker, oder in teils besinnlichen, teils heiteren kurzen Parabeln, Gleichnissen, Anekdoten, die besonders bei den Sufis, im Chassidismus und im Zen-Buddhismus eine Rolle spielen. Für den, der nur das äußere Geschehen auf-nimmt, sind sie eine vergnügliche Unterhaltung, - für denjenigen, der die hintergründige Bedeutung erkennt, sind sie eine Weisung für den inneren Pfad. In Indi-en und sicher auch in anderen Ländern des Orients, in denen die Kunst des Lesens noch nicht allgemein verbreitet ist, und die Massenmedien die Freude am Einfachen und die Phantasie noch nicht verdorben haben, spielt der Geschichtenerzähler noch heute eine große Rolle. Man kann es immer wieder beobachten, wie eine Schar von Menschen einem Mann lauschen, der gesprochen oder gesungen oder gar mit Hilfe einiger Puppen, die uralten, seit langem bekannten Geschich-ten erzählt, singt oder tanzt. Selbst für einen Europä-er, der die Sprache nicht versteht, vermittelt dies einen Zauber, dem man sich schwerlich entziehen kann. Die gleichen Themen finden wir in vielerlei Variationen, die jeweils eine besondere Facette aufleuchten lassen. Der indische Mystiker und Musiker Pir-o-Murshid Hazrat Inayat Khan war der erste, der die Sufi-Lehren in die westliche Welt brachte. Er wurde am 5. Juli 1882 in Baroda geboren. Er lebte mit seiner ganzen Familie im Haus seines Großvaters Moula Bakhsh, das nicht

nur ein Treffpunkt berühmter Musiker, sondern auch der Dichter, Philosophen und Mystiker verschiedenster Herkunft war. In dieser Atmosphäre wuchs der junge Inayat auf. Grossen Einfluss hatte sein Großvater auf seine Erziehung. Er pflegte ihn jeden Morgen zu we-cken und den Vormittag mit ihm zu verbringen. Ina-yat zeigte bereits als Kind ein ungewöhnliches Interesse für Religion. Oft besuchte er Yogis und Derwische, um ihnen still zuzuhören. Inayat Khan wurde in seiner Zeit zu einem der berühmtesten Musiker Indiens und musizierte an den Höfen der Maharajas, bis er in Hyderabad seinem geis-tigen Lehrer, Murshid Abu Hashim Madani, begegnete und die meiste Zeit mit seinem Meister verbrachte. Vor seinem Tod trug sein Murshid ihm auf, in den Westen zu gehen, um dort die Weisheit des Sufismus zu ver-breiten, denn dies sei seine Aufgabe. Er reiste 1910 mit seinen Brüdern, zu denen sich später auch der jüngste, Moulamia Musharaff Khan, gesellt hatte, zuerst in die USA und später nach England und Frankreich, wo er sich nach dem ersten Weltkrieg in Suresnes bei Paris mit seiner Familie niederließ. Von hier aus unternahm er zahlreiche Reisen, auf denen er Vorträge hielt, Be-sucher empfing und seine Botschaft vermittelte. Die Zahl seiner Anhänger vermehrte sich rasch. Im Jahr 1922 veranstaltete er in Suresnes seine erste Sommer-schule, der jährlich weitere folgten, zu denen immer mehr Menschen aus aller Welt kamen, um sich von Murshid Inayat Khans Botschaft von Liebe, Harmonie und Schönheit inspirieren zulassen und ihr zu folgen. Sein Werk blühte auf und er schuf die Organisation der „Sufi-Bewegung“, um damit „der Seele der Weisheit

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Einleitung

In der Geschichte der Menschheit wurden von jeher spirituelle Wahrheiten in Geschichten verkleidet erzählt, sei es in den großen Epen und Mythen der Völker, oder in teils besinnlichen, teils heiteren kurzen Parabeln, Gleichnissen, Anekdoten, die besonders bei den Sufis, im Chassidismus und im Zen-Buddhismus eine Rolle spielen. Für den, der nur das äußere Geschehen auf-nimmt, sind sie eine vergnügliche Unterhaltung, - für denjenigen, der die hintergründige Bedeutung erkennt, sind sie eine Weisung für den inneren Pfad. In Indi-en und sicher auch in anderen Ländern des Orients, in denen die Kunst des Lesens noch nicht allgemein verbreitet ist, und die Massenmedien die Freude am Einfachen und die Phantasie noch nicht verdorben haben, spielt der Geschichtenerzähler noch heute eine große Rolle. Man kann es immer wieder beobachten, wie eine Schar von Menschen einem Mann lauschen, der gesprochen oder gesungen oder gar mit Hilfe einiger Puppen, die uralten, seit langem bekannten Geschich-ten erzählt, singt oder tanzt. Selbst für einen Europä-er, der die Sprache nicht versteht, vermittelt dies einen Zauber, dem man sich schwerlich entziehen kann. Die gleichen Themen finden wir in vielerlei Variationen, die jeweils eine besondere Facette aufleuchten lassen. Der indische Mystiker und Musiker Pir-o-Murshid Hazrat Inayat Khan war der erste, der die Sufi-Lehren in die westliche Welt brachte. Er wurde am 5. Juli 1882 in Baroda geboren. Er lebte mit seiner ganzen Familie im Haus seines Großvaters Moula Bakhsh, das nicht

nur ein Treffpunkt berühmter Musiker, sondern auch der Dichter, Philosophen und Mystiker verschiedenster Herkunft war. In dieser Atmosphäre wuchs der junge Inayat auf. Grossen Einfluss hatte sein Großvater auf seine Erziehung. Er pflegte ihn jeden Morgen zu we-cken und den Vormittag mit ihm zu verbringen. Ina-yat zeigte bereits als Kind ein ungewöhnliches Interesse für Religion. Oft besuchte er Yogis und Derwische, um ihnen still zuzuhören. Inayat Khan wurde in seiner Zeit zu einem der berühmtesten Musiker Indiens und musizierte an den Höfen der Maharajas, bis er in Hyderabad seinem geis-tigen Lehrer, Murshid Abu Hashim Madani, begegnete und die meiste Zeit mit seinem Meister verbrachte. Vor seinem Tod trug sein Murshid ihm auf, in den Westen zu gehen, um dort die Weisheit des Sufismus zu ver-breiten, denn dies sei seine Aufgabe. Er reiste 1910 mit seinen Brüdern, zu denen sich später auch der jüngste, Moulamia Musharaff Khan, gesellt hatte, zuerst in die USA und später nach England und Frankreich, wo er sich nach dem ersten Weltkrieg in Suresnes bei Paris mit seiner Familie niederließ. Von hier aus unternahm er zahlreiche Reisen, auf denen er Vorträge hielt, Be-sucher empfing und seine Botschaft vermittelte. Die Zahl seiner Anhänger vermehrte sich rasch. Im Jahr 1922 veranstaltete er in Suresnes seine erste Sommer-schule, der jährlich weitere folgten, zu denen immer mehr Menschen aus aller Welt kamen, um sich von Murshid Inayat Khans Botschaft von Liebe, Harmonie und Schönheit inspirieren zulassen und ihr zu folgen. Sein Werk blühte auf und er schuf die Organisation der „Sufi-Bewegung“, um damit „der Seele der Weisheit

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eine äußere Form zu geben.“ Es entstand ein umfang-reiches Werk an Schriften, teils aus mitgeschriebenen Vorträgen, teils von ihm selbst diktiert. Er drückte sich in einer schlichten Sprache aus, die immer mehr enthüllt, je tiefer man nachdenkend in sie eindringt. Als echter Orientale schmückte er seine Lehren nach alter Sufitradition mit anschaulichen Bildern und Geschich-ten, die für jeden verständlich sind. Die Sommerschule im Jahre 1926 bildete den Höhepunkt seines Wirkens. Bald darauf kehrte er in seine geliebte Heimat zurück. Er hoffte dort die Ruhe und Zurückgezogenheit zu finden, um sich von den Anstrengungen der letzten Jahre zu erholen, die ihn physisch erschöpft hatten. Doch für ihn war die Zeit gekommen, seine irdische Aufgabe war erfüllt. Am 5. Februar 1927 starb er in Delhi. Die Nachfolge übernahmen nach einander seine Brüder und Nachkommen bis heute.

Karima Sen Gupta

Die Ziffern am Ende einer jeden Geschichte beziehen sich auf Band und Seitenzahl in der englischen Originalausgabe.

Der Mullah und ein Bauernmädchen

Ein Bauernmädchen war auf dem Weg zu ihrem Geliebten. Sie ging an einem Mullah* vorüber, der betete. In ihrer Unwissenheit ging sie an ihm vorbei, was das Gesetz verbietet. Der Mullah war sehr zornig und als sie zurückkehrte, tadelte er sie für ihr Verge-hen und sagte: „Mädchen, was hast du für eine große Sünde begangen, als du vor mir vorübergingst, während ich betete.“ Sie fragte: „Was ist das: Beten?“ Er erwider-te: „Ich dachte an Gott, den Herrn des Himmels und der Erde.“ Darauf sagte sie: „Es tut mir leid, wenn ich etwas Unrechtes tat. Ich weiß kaum etwas von Gott und vom Beten. Ich war auf dem Weg zu meinem Geliebten und dachte an ihn. Ich sah nicht, dass Sie beteten. Aber wie konnten Sie mich sehen, wenn Sie an Gott dach-ten?“ Diese Worte berührten den Mullah so sehr, dass er zu ihr sagte: „Von diesem Augenblick an bist du mein Lehrer. Ich bin es, der von dir lernen sollte!“

*Priester V/180

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eine äußere Form zu geben.“ Es entstand ein umfang-reiches Werk an Schriften, teils aus mitgeschriebenen Vorträgen, teils von ihm selbst diktiert. Er drückte sich in einer schlichten Sprache aus, die immer mehr enthüllt, je tiefer man nachdenkend in sie eindringt. Als echter Orientale schmückte er seine Lehren nach alter Sufitradition mit anschaulichen Bildern und Geschich-ten, die für jeden verständlich sind. Die Sommerschule im Jahre 1926 bildete den Höhepunkt seines Wirkens. Bald darauf kehrte er in seine geliebte Heimat zurück. Er hoffte dort die Ruhe und Zurückgezogenheit zu finden, um sich von den Anstrengungen der letzten Jahre zu erholen, die ihn physisch erschöpft hatten. Doch für ihn war die Zeit gekommen, seine irdische Aufgabe war erfüllt. Am 5. Februar 1927 starb er in Delhi. Die Nachfolge übernahmen nach einander seine Brüder und Nachkommen bis heute.

Karima Sen Gupta

Die Ziffern am Ende einer jeden Geschichte beziehen sich auf Band und Seitenzahl in der englischen Originalausgabe.

Der Mullah und ein Bauernmädchen

Ein Bauernmädchen war auf dem Weg zu ihrem Geliebten. Sie ging an einem Mullah* vorüber, der betete. In ihrer Unwissenheit ging sie an ihm vorbei, was das Gesetz verbietet. Der Mullah war sehr zornig und als sie zurückkehrte, tadelte er sie für ihr Verge-hen und sagte: „Mädchen, was hast du für eine große Sünde begangen, als du vor mir vorübergingst, während ich betete.“ Sie fragte: „Was ist das: Beten?“ Er erwider-te: „Ich dachte an Gott, den Herrn des Himmels und der Erde.“ Darauf sagte sie: „Es tut mir leid, wenn ich etwas Unrechtes tat. Ich weiß kaum etwas von Gott und vom Beten. Ich war auf dem Weg zu meinem Geliebten und dachte an ihn. Ich sah nicht, dass Sie beteten. Aber wie konnten Sie mich sehen, wenn Sie an Gott dach-ten?“ Diese Worte berührten den Mullah so sehr, dass er zu ihr sagte: „Von diesem Augenblick an bist du mein Lehrer. Ich bin es, der von dir lernen sollte!“

*Priester V/180

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Der unverschämte Sufi

Ein Sufi ruhte einst glücklich und zufrieden unter einem Baum; seine Beine waren ausgestreckt, die Arme unter den Kopf gelegt. Er war ganz entspannt. Ein Vor-übergehender, ein sehr frommer Mann, sah ihn so und rief aus: „Ich wusste nicht, dass du ein so unverschäm-ter Kerl bist!“ Der Sufi war ganz überrascht über diese Bemerkung. „Warum sagst du, dass ich unverschämt sei? Ich tue nichts, ich ruhe mich hier nur friedlich aus.“ – „Du liegst auf eine höchst unverschämte Art, weil deine Füße nach Mekka zeigen!“ sagte der fromme Freund. Der Sufi dachte einen Augenblick nach. „Komm bit-te hierher, mein Freund“, sagte er dann, „nimm meine Beine und drehe sie in d i e Richtung, wo Gott nicht ist.“

Die Schale des Derwisches

Eine alte Geschichte erzählt von einem König, der einem Derwisch einen Wunsch erfüllen wollte. Der Derwisch wünschte sich, dass man seine Bettelschale mit Gold-münzen füllen möge. Der König hielt es für ein Leich-tes, die Schale zu füllen. Aber die Schale erwies sich als eine Zauberschale. Je mehr er auch versuchte, sie zu füllen, - sie blieb leer! Der König war sehr enttäuscht bei dem Gedanken, dass er sein Versprechen nicht erfüllen könnte. Da sagte der Derwisch: „Majestät, wenn Sie meine Schale nicht füllen können, so sagen Sie es nur, und ich werde sie wieder mitnehmen. Ich bin ein Der-wisch und werde wieder gehen und nur denken, dass Sie Ihr Wort nicht gehalten haben.“ Mit all seinen guten Absichten, seiner Großzügigkeit und seinem Reichtum konnte der Herrscher die Scha-le nicht füllen. Darum fragte er: „Derwisch, erzähle mir das Geheimnis deiner Schale. Es scheint mir nicht natürlich zu sein.“ Der Derwisch antwortete ihm: „Ja, Majestät, es ist wahr, Sie vermuten richtig. Es ist eine Zauberschale. Es ist die Schale eines jeden Herzens. Es ist das Herz des Menschen, das niemals zufrieden ist. Füllen Sie es, womit Sie wollen, mit Reichtum, mit Aufmerksamkeit, mit Liebe, mit Wissen, mit allem, was es gibt. Es wird niemals gefüllt sein, denn es ist ihm nicht bestimmt, gefüllt zu werden. Weil er dieses Geheimnis des Lebens nicht kennt, verlangt der Mensch stets nach allen Dingen, die er vor sich sieht. Und je mehr er bekommt, desto mehr wünscht er sich, - die Schale seines Verlangens wird niemals gefüllt sein. VI/190-191

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Der unverschämte Sufi

Ein Sufi ruhte einst glücklich und zufrieden unter einem Baum; seine Beine waren ausgestreckt, die Arme unter den Kopf gelegt. Er war ganz entspannt. Ein Vor-übergehender, ein sehr frommer Mann, sah ihn so und rief aus: „Ich wusste nicht, dass du ein so unverschäm-ter Kerl bist!“ Der Sufi war ganz überrascht über diese Bemerkung. „Warum sagst du, dass ich unverschämt sei? Ich tue nichts, ich ruhe mich hier nur friedlich aus.“ – „Du liegst auf eine höchst unverschämte Art, weil deine Füße nach Mekka zeigen!“ sagte der fromme Freund. Der Sufi dachte einen Augenblick nach. „Komm bit-te hierher, mein Freund“, sagte er dann, „nimm meine Beine und drehe sie in d i e Richtung, wo Gott nicht ist.“

Die Schale des Derwisches

Eine alte Geschichte erzählt von einem König, der einem Derwisch einen Wunsch erfüllen wollte. Der Derwisch wünschte sich, dass man seine Bettelschale mit Gold-münzen füllen möge. Der König hielt es für ein Leich-tes, die Schale zu füllen. Aber die Schale erwies sich als eine Zauberschale. Je mehr er auch versuchte, sie zu füllen, - sie blieb leer! Der König war sehr enttäuscht bei dem Gedanken, dass er sein Versprechen nicht erfüllen könnte. Da sagte der Derwisch: „Majestät, wenn Sie meine Schale nicht füllen können, so sagen Sie es nur, und ich werde sie wieder mitnehmen. Ich bin ein Der-wisch und werde wieder gehen und nur denken, dass Sie Ihr Wort nicht gehalten haben.“ Mit all seinen guten Absichten, seiner Großzügigkeit und seinem Reichtum konnte der Herrscher die Scha-le nicht füllen. Darum fragte er: „Derwisch, erzähle mir das Geheimnis deiner Schale. Es scheint mir nicht natürlich zu sein.“ Der Derwisch antwortete ihm: „Ja, Majestät, es ist wahr, Sie vermuten richtig. Es ist eine Zauberschale. Es ist die Schale eines jeden Herzens. Es ist das Herz des Menschen, das niemals zufrieden ist. Füllen Sie es, womit Sie wollen, mit Reichtum, mit Aufmerksamkeit, mit Liebe, mit Wissen, mit allem, was es gibt. Es wird niemals gefüllt sein, denn es ist ihm nicht bestimmt, gefüllt zu werden. Weil er dieses Geheimnis des Lebens nicht kennt, verlangt der Mensch stets nach allen Dingen, die er vor sich sieht. Und je mehr er bekommt, desto mehr wünscht er sich, - die Schale seines Verlangens wird niemals gefüllt sein. VI/190-191

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Alif

In Indien wird eine Geschichte aus der Kindheit des großen Heiligen Bullhe Shah erzählt. Als Kind wurde er zur Schule geschickt, um Lesen und Schreiben zu lernen. Ihm wurde zuerst der Buchstabe Alif (ein gerader Strich) gelehrt, aber er kam über diesen einen Buch-staben nicht hinaus. Die anderen Knaben in seiner Klasse beendeten das ganze Alphabet, während er sich noch immer mit dem ersten Buchstaben abmühte. Als Wochen vergingen und sein Lehrer sah, dass das Kind keine Fortschritte machte, dachte er, dass der Knabe geistig zurückgeblieben sein müsse und schick-te ihn nach Haus zu seinen Eltern. Die Eltern taten alles, was in ihrer Macht stand für den Sohn, schickten ihn zu den verschiedensten Lehrern, aber er machte einfach keine Fortschritte. Sie waren darüber sehr enttäuscht. Schließlich lief er von zu Hause fort und lebte im Dschungel, damit er nicht länger seinen Eltern zur Last falle. Er lebte im Wald und sah die Manifesta-tionen von Alif, das sich als Gras, Blätter, Bäume, Zweige, Früchte und Blumen zeigte. Das gleiche Alif offenbarte sich als Berge und Hügel, als Steine und Felsen. Er war Zeuge desselben im Keim, im Insekt, im Vogel und im Tier. Das gleiche Alif war in ihm selbst und in anderen Menschen. Er dachte an Eines, sah Eines, fühlte Eines, realisierte Eines und nicht anderes daneben. Nachdem er diese Lektion zutiefst beherrschte, kehr-te er nach vielen Jahren zurück, um seinen alten Lehrer zu besuchen. Der Lehrer, ganz in Anspruch genommen

von seiner Sicht der Mannigfaltigkeit, hatte ihn schon längst vergessen. Aber Bullhe Shah konnte seinen alten Lehrer nicht vergessen, der ihm seine erste so inspirie-rende Lektion gegeben hatte, die fast sein ganzes Leben in Anspruch genommen hatte. Er verneigte sich demütig vor dem Lehrer und sagte: „Ich habe die Lektion, die ihr mir so liebevoll gelehrt habt, vorbereitet. Wollt ihr mir nun weiteres, was es zu lernen gibt, zeigen?“ Der Lehrer lachte ihn aus und dachte bei sich selbst: „Nach all der Zeit hat sich dieser Narr doch noch an mich erinnert.“ Bullhe Shah bat um die Erlaubnis, die Aufgabe aufschreiben zu dürfen. Der Lehrer antwortete im Spaß: „Schreib auf diese Wand dort.“ Da schrieb Bullhe Shah das Zeichen Alif an die Wand, indem er sagte: „Schauen Sie, ist es so recht?“ Augenblicklich spaltete die Wand sich in zwei Teile und formte so das Zeichen Alif. Der Lehrer war über dieses Wunder verblüfft und rief aus: „Du bist mein Lehrer! Das, was du aus dem einen Buchstaben Alif gelernt hast, zu dem war ich mit all meiner Gelehrsamkeit nicht fähig. Ich bin fortan dein Schüler!“ I/40

 

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Alif

In Indien wird eine Geschichte aus der Kindheit des großen Heiligen Bullhe Shah erzählt. Als Kind wurde er zur Schule geschickt, um Lesen und Schreiben zu lernen. Ihm wurde zuerst der Buchstabe Alif (ein gerader Strich) gelehrt, aber er kam über diesen einen Buch-staben nicht hinaus. Die anderen Knaben in seiner Klasse beendeten das ganze Alphabet, während er sich noch immer mit dem ersten Buchstaben abmühte. Als Wochen vergingen und sein Lehrer sah, dass das Kind keine Fortschritte machte, dachte er, dass der Knabe geistig zurückgeblieben sein müsse und schick-te ihn nach Haus zu seinen Eltern. Die Eltern taten alles, was in ihrer Macht stand für den Sohn, schickten ihn zu den verschiedensten Lehrern, aber er machte einfach keine Fortschritte. Sie waren darüber sehr enttäuscht. Schließlich lief er von zu Hause fort und lebte im Dschungel, damit er nicht länger seinen Eltern zur Last falle. Er lebte im Wald und sah die Manifesta-tionen von Alif, das sich als Gras, Blätter, Bäume, Zweige, Früchte und Blumen zeigte. Das gleiche Alif offenbarte sich als Berge und Hügel, als Steine und Felsen. Er war Zeuge desselben im Keim, im Insekt, im Vogel und im Tier. Das gleiche Alif war in ihm selbst und in anderen Menschen. Er dachte an Eines, sah Eines, fühlte Eines, realisierte Eines und nicht anderes daneben. Nachdem er diese Lektion zutiefst beherrschte, kehr-te er nach vielen Jahren zurück, um seinen alten Lehrer zu besuchen. Der Lehrer, ganz in Anspruch genommen

von seiner Sicht der Mannigfaltigkeit, hatte ihn schon längst vergessen. Aber Bullhe Shah konnte seinen alten Lehrer nicht vergessen, der ihm seine erste so inspirie-rende Lektion gegeben hatte, die fast sein ganzes Leben in Anspruch genommen hatte. Er verneigte sich demütig vor dem Lehrer und sagte: „Ich habe die Lektion, die ihr mir so liebevoll gelehrt habt, vorbereitet. Wollt ihr mir nun weiteres, was es zu lernen gibt, zeigen?“ Der Lehrer lachte ihn aus und dachte bei sich selbst: „Nach all der Zeit hat sich dieser Narr doch noch an mich erinnert.“ Bullhe Shah bat um die Erlaubnis, die Aufgabe aufschreiben zu dürfen. Der Lehrer antwortete im Spaß: „Schreib auf diese Wand dort.“ Da schrieb Bullhe Shah das Zeichen Alif an die Wand, indem er sagte: „Schauen Sie, ist es so recht?“ Augenblicklich spaltete die Wand sich in zwei Teile und formte so das Zeichen Alif. Der Lehrer war über dieses Wunder verblüfft und rief aus: „Du bist mein Lehrer! Das, was du aus dem einen Buchstaben Alif gelernt hast, zu dem war ich mit all meiner Gelehrsamkeit nicht fähig. Ich bin fortan dein Schüler!“ I/40

 

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Das Feuer der Liebe

Ein Murid* war lange bei einem geistigen Lehrer, mach-te jedoch keine Fortschritte und wurde nicht inspiriert. Schließlich ging er zum Lehrer und sagte: „Ich habe gesehen, dass viele meiner Mitschüler inspiriert wurden, aber ich bin unglücklich, weil ich keine Fortschritte mache. Jetzt habe ich alle Hoffnung aufgegeben und werde Sie verlassen.“ Der Lehrer gab ihm den Rat, die letzten Tage seines Aufenthalts in einem Haus nahe dem Khankah** zu verbringen. Jeden Tag schickte er ihm sehr gutes Essen und ließ ihm sagen, dass er mit seinen geistigen Übungen aufhören und ein bequemes und ruhiges Leben führen solle. Am letzten Tag sandte er ihm einen Korb mit Früchten durch ein besonders schönes, junges Mädchen. Sie setzte ihren Korb ab und ging augenblicklich zurück, obwohl er sie bat zu blei-ben. Ihre Schönheit und ihr Charme hatten ihn zutiefst beeindruckt, sodass er an nichts anderes mehr zu den-ken vermochte. Er sehnte sich danach, sie wiederzuse-hen, und sein Wunsch wuchs mit jedem Augenblick. Er vergaß zu essen, war voller Seufzer und Tränen. Sein Herz war geschmolzen durch das Feuer der Liebe. Nach einiger Zeit besuchte ihn der Lehrer, und jetzt vermoch-te ein einziger Blick, ihn zu inspirieren. * geistiger Schüler V/181

** Ashram, Kloster

Die Kraft des Wortes

Eine Geschichte erzählt von einem Sufi, der ein krankes Kind heilte. Er wiederholte leise einige Worte, dann gab er das Kind seinen Eltern und sagte: „Nun wird es gesund werden.“ Jemand, der dies nicht glauben konn-te, warf ein: „Wie kann das möglich sein, dass irgend-jemand durch ein paar Worte geheilt werden kann?“ Von einem sanften Sufi erwartet niemand eine zornige Antwort, doch jetzt drehte er sich zu dem Mann um und entgegnete: „Du verstehst nichts davon. Du bist ein Narr!“ Der Mann fühlte sich sehr beleidigt. Sein Gesicht lief rot an und er wurde sehr wütend. Der Sufi sagte nun: „Wenn ein Wort die Kraft hat, dich wütend zu machen, wie sollte dann ein Wort nicht auch die Kraft haben zu heilen?“

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Das Feuer der Liebe

Ein Murid* war lange bei einem geistigen Lehrer, mach-te jedoch keine Fortschritte und wurde nicht inspiriert. Schließlich ging er zum Lehrer und sagte: „Ich habe gesehen, dass viele meiner Mitschüler inspiriert wurden, aber ich bin unglücklich, weil ich keine Fortschritte mache. Jetzt habe ich alle Hoffnung aufgegeben und werde Sie verlassen.“ Der Lehrer gab ihm den Rat, die letzten Tage seines Aufenthalts in einem Haus nahe dem Khankah** zu verbringen. Jeden Tag schickte er ihm sehr gutes Essen und ließ ihm sagen, dass er mit seinen geistigen Übungen aufhören und ein bequemes und ruhiges Leben führen solle. Am letzten Tag sandte er ihm einen Korb mit Früchten durch ein besonders schönes, junges Mädchen. Sie setzte ihren Korb ab und ging augenblicklich zurück, obwohl er sie bat zu blei-ben. Ihre Schönheit und ihr Charme hatten ihn zutiefst beeindruckt, sodass er an nichts anderes mehr zu den-ken vermochte. Er sehnte sich danach, sie wiederzuse-hen, und sein Wunsch wuchs mit jedem Augenblick. Er vergaß zu essen, war voller Seufzer und Tränen. Sein Herz war geschmolzen durch das Feuer der Liebe. Nach einiger Zeit besuchte ihn der Lehrer, und jetzt vermoch-te ein einziger Blick, ihn zu inspirieren. * geistiger Schüler V/181

** Ashram, Kloster

Die Kraft des Wortes

Eine Geschichte erzählt von einem Sufi, der ein krankes Kind heilte. Er wiederholte leise einige Worte, dann gab er das Kind seinen Eltern und sagte: „Nun wird es gesund werden.“ Jemand, der dies nicht glauben konn-te, warf ein: „Wie kann das möglich sein, dass irgend-jemand durch ein paar Worte geheilt werden kann?“ Von einem sanften Sufi erwartet niemand eine zornige Antwort, doch jetzt drehte er sich zu dem Mann um und entgegnete: „Du verstehst nichts davon. Du bist ein Narr!“ Der Mann fühlte sich sehr beleidigt. Sein Gesicht lief rot an und er wurde sehr wütend. Der Sufi sagte nun: „Wenn ein Wort die Kraft hat, dich wütend zu machen, wie sollte dann ein Wort nicht auch die Kraft haben zu heilen?“

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Anfragen für Informationen über die von Hazrat Inayat Khan gegründete Internationale Sufi-Bewegung und Internationaler Sufi-Orden können an folgende Adressen geschickt werden:

The General Secretariat of the Sufi MovementInternational Sufi Movement

Geschäftsstelle: [email protected]

www.sufimovement.org

Sufi Orden Deutschland e.V.Geschäftsstelle [email protected]

www.sufiorden.de

Sufi Orden Schweiz

www.sufismus.ch

Sufi Orden Österreich

www.sufiorden.at

Verlag HeilbronnPostfach 2162, D-71370 Weinstadt

[email protected]

www.verlag-heilbronn.de

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