Die Seinsgebundenheit des Denkens - Karl Mannheim und die ... · Mannheim’sche Schrift auf die...

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Thomas JungDie Seinsgebundenheit des Denkens

2007-01-10 11-12-59 --- Projekt: T636.sozialtheorie.jung.mannheim / Dokument: FAX ID 020f136407972562|(S. 1 ) T00_01 schmutztitel.p 136407972570

Thomas Jung (Dr. phil.) lehrt Soziologie an der Universität Olden-burg. Seine Forschungsfelder sind: Soziologie des Intellektuellen,Kultursoziologie und Kultursemiotik.

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Thomas Jung

Die Seinsgebundenheit des DenkensKarl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie

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Inhalt

O. Vorwort 7. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. Einleitung 13. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Biografische Orte und intellektuelle Ortlosigkeit 25. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.1. Biografie erzählen 25. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.2. Biografische Orte und Kreiserfahrungen 28. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.2.1. Budapest 28. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.2.2. Heidelberg 34. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.2.3. Frankfurt 41. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.2.4. London 47. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.3. Intellektuelle Ortlosigkeit und Fremdheitserfahrung 52. . . . . .

2.3.1. Jüdische Mentalität 53. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.3.2. Intellektuelle Melancholie 63. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3. Epistemologische Prämissen 67. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1. Wahrheitswert 75. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.2. Relationales Denken 93. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.3. »Konjunktives Erkennen« 110. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4. Grundkategorien 119. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.1. Seinsgebundenes Denken 120. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.2. Weltanschauung 141. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.3. Ideologie 172. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Grundbegriffe und Methode der soziologischen

Interpretation 187. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.1. Grundbegriffe der soziologischen Interpretation 188. . . . . . . . . . .

5.1.1. Denkstil 190. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.1.2. Funktionalität 206. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.1.3. Sinn 217. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.2. Sinnentsprechung als methodisches Prinzip 223. . . . . . . . . . . . . . .

5.2.1. Drei Sinnarten 225. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.2.2. Immanente und nichtimmanente Interpretation 239. . . .

6. Begriff und Funktion des Intellektuellen 249. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.1. Begriff des Intellektuellen 250. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.2. Gesellschaftliche und historische Funktiondes Intellektuellen 262. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7. Zwischen den Fronten: zweierlei Kritik an K. Mannheim 273. . . . . . . . . .

7.1. Die Kritik von E. R. Curtius 276. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.2. Die Kritik von M. Horkheimer und T. W. Adorno 280. . . . . . . . .

8. Schlussbemerkung: Zwischen Agonalität und Synthese? 297. . . . . . . . .

Literaturverzeichnis 307. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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0. Vorwort | 7

0. Vorwort »Man muss im Denken vom Anderen affiziert sein.«

(Der Autor)

Es ist ein Wagnis, eine soziologische Denkweise aus der Zeit der so-ziologischen Klassiker, also aus der Entstehungsphase der deutschenSoziologie rehabilitieren zu wollen. Der soziologische Mainstream istnicht so, dass man mit dem soziologischen Denken K. Mannheimsreüssieren könnte. Allenfalls als »Begründer der deutschen Wissens-soziologie«, der mit M. Scheler zusammen »die Wissenssoziologieals eine eigenständige kritische Theorie des Denkens, Erkennens undWissens« auf den Weg gebracht hat (H. Knoblauch, 2005, 100) wirddas soziologische Denken K. Mannheims in Form von Einführungs-bänden dargestellt und gewürdigt. Gleichwohl sollte man sich noch-mals erinnern, was die genuine Grundfrage dieses Klassikers derWissenssoziologie einmal war, um die weiterhin geltende Relevanzdes Mannheim’schen Denkens anerkennen zu können. Die ur-sprüngliche Grundfrage K. Mannheims hat E. Lederer in knapper,aber sehr treffender Weise wie folgt umrissen:

»Da einmal ganz systematisch die Frage aufgeworfen wird […]: woher kommt

es, daß gerade dieses oder jenes in dieser Zeit gedacht, in dieser Zeit verstan-

den und gesehen werden kann, daß die Menschen, trotzdem sie immer den-

ken, nicht immer dasselbe denken, trotzdem sie immer sehen, nicht immer

dasselbe sehen, trotzdem sie immer verstehen, nicht immer dasselbe verste-

hen können? Ohne daß man sagen könnte, daß ein immanenter Entwick-

lungsprozeß des Denkens, Sehens und Verstehens vorliegt, in dem jeweils

die eben erreichte Stufe unzweifelhaft höher liegt als die früheren.« (E. Lede-

rer, 1982, 384)

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8 | Die Seinsgebundenheit des Denkens

Im Zuge der marxistisch fundierten Ideologiekritik ist die Mann-heim’sche Beantwortung dieser Grundfrage, sowohl zu Lebzeiten K.Mannheims als auch während der Reaktualisierung seiner Schriftenin den gesellschaftskritischen Debatten der siebziger Jahre des vori-gen Jahrhunderts, als Forschungsprogrammatik einer Ideologiefor-schung angesehen worden, die sich konsequent »der ursprüngli-chen Marx’schen Intention«, nämlich »Wegweiser der kritisch-dia-lektischen Analyse menschlicher Selbstentfremdung« zu sein, entzo-gen hat (M. Djuric, 1979, 144). Diese Reklamation des Mann-heim’schen Denkens für eine ideologiekritische Forschung stütztesich durchweg auf eine politische Lesart, vor allem des Buches »Ideo-logie und Utopie« (1985). Vergessen wurde dabei aber, dass dieseMannheim’sche Schrift auf die ideologischen Debatten der WeimarerRepublik bezogen war, um dieser weltanschaulichen Debattenlageden Spiegel »standortgebundener« Denkenweisen vorzuhalten. DerTenor des Buches wie auch dessen Vokabular hat der Lesart politischmotivierter Ideologiekritik in die Hände gespielt. So lautet z.B. einezentrale Formulierung in diesem Buch, dass »die Entdeckung derseinsgebundenen Wurzel des Denkens also zunächst die Form derEnthüllung angenommen hat« (Ideologie und Utopie, 1985, 36). DerBegriff der »Enthüllung«, aber auch Argumente wie z.B., dass »einegeistige Denkhaltung einher geht mit Grundprinzipien gesellschaftli-cher Lebensformen bzw. Seinslagen«, d.h., dass das Denken »analo-gen Strukturlagen im sozialen Raum entspricht« (Die Bedeutung derKonkurrenz im Gebiete des Geistigen, 1982, 348), haben der ideolo-giekritischen Verrechnung des Mannheim’schen Denkens Vorschubgeleistet. Erst mit den später zugänglich gewordenen Frühschriften K.Mannheims zur Kultursoziologie (vgl. Strukturen des Denkens,1980) ist diese ideologiekritische Lesart K. Mannheims verschwun-den. Was die kultursoziologischen Schriften wesentlich in den Vor-dergrund rücken, war von Anfang an das zentrale Anliegen desMannheim’schen Denkens: den interferierenden Funktionszusam-menhang von koexistentieller Sozialwelterfahrung und Denkweisensoziologisch interpretierbar zu machen. Diese Rekonstruktionsab-sicht war grundsätzlicher angelegt als man durch die spätere wis-senssoziologische Adaption der Mannheim’schen Vorgaben vermu-ten kann, denn K. Mannheims Skeptizismus ging weiter als nur biszur wissenssoziologischen Aufdeckung von impliziten Sinn- oderRegelstrukturen, die in sozialen Alltagsvollzügen Wirklichkeitsmei-nungen erzeugen. Der Mannheim’sche Denkskeptizismus ist in derwissenssoziologischen Weiterentwicklung weitgehend verblasst bzw.

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0. Vorwort | 9

verschwunden. Was jetzt gilt, ist Folgendes: Die wissenssoziologischeSinnanalyse hat sich thematisch auf kleine Sinnwelten und metho-disch – wenn man sich z.B. an der wissenssoziologischen Herme-neutik orientiert, die noch aufs Engste mit der ursprünglichen For-schungsprogrammatik K. Mannheims zu verbinden ist – auf die so-ziologische Rekonstruktion von protokollierten Handlungs- und In-teraktionsabläufen des Alltags einzugrenzen. Eine solche forschungs-pragmatische Kleinschreibung lag bzw. liegt nicht in der Ausgangs-frage, die K. Mannheim mit seinem soziologischen Denken inaugu-rieren wollte. Rekurriert man nochmals auf seine zugrundeliegendenIntention – insbesondere repräsentiert in seinen kultursoziologi-schen Schriften –, so ging es ihm elementarer um ein soziologischesVerstehen der korrelationalistischen Formensprache, die sich zwi-schen bestehenden Denk- bzw. Erkenntnisweisen (in der Form »kon-junktiven Erkennens«) und den historisch gegebenen Seinsweisen (inder Form kollektiv-existentieller Erlebenszusammenhänge) aus-drückt. Dahinter stand aber die weitergehende Intention seines sozio-logischen Denkens, die ein Ausdruck seiner denk- bzw. erkenntnis-kritischen Skepsis war: nämlich, dass das Denken in den Sozialwel-ten von gemeinschaftlichen Lebensformen sein ursprüngliches Fun-dament und seine Genese hat. Diese denk- bzw. erkenntnisskepti-sche Grundhaltung wird in den drei zentralen Stichworten, die K.Mannheim als neue Aufgabenstellung des modernen soziologischenDenkens formuliert hat, sehr deutlich. Er hebt als dritte und wichtigeAufgabenstellung hervor, dass »drittens die Tendenz, unsere Er-kenntnistheorie, die bisher die gesellschaftliche Natur des Denkensnicht genügend berücksichtigte, zu revidieren« ist (Ideologie undUtopie, 1985, 45). Diese erkenntniskritische Revision, die im Kerneine neue Lesart der soziologischen Schriften K. Mannheims entlangeiner Philosophie der Art und »Weisen der Welterzeugung« (N.Goodman, 1990) herausfordert, steht noch aus, weil sie eben durchden Kanon wissenssoziologischer Rezeptionsweisen verdeckt ist. Die Faktizität der prinzipiellen Seinsgebundenheit des Denkens, vonder K. Mannheim – sowohl durch seinen biografischen Lebenswegals auch durch den Kanon seiner eigenen philosophischen Rezeptio-nen nachvollziehbar – überzeugt war, ist von der wissenssoziologi-schen Weiterentwicklung niemals als nachkantischer Einspruch gegenden Primat subjekt- bzw. individualtheoretischer Begründungen fürdie soziologische Theoriebildung kultiviert worden. Grundsätzlicherkann man auch sagen, dass das soziologische Verstehen kollektiverbzw. gemeinschaftlicher Weltanschauungen (einschließlich der darinausgedrückten kollektiven Handlungs-, Denk- wie Willensintentiona-

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10 | Die Seinsgebundenheit des Denkens

litäten) in der soziologischen Theoriebildung deshalb vernachlässigtwurde, weil es heute weitgehend einem methodologischen wie ontologi-schen Individualismus auch anhängt. Dessen Annahme ist ja, dass dasGemeinsame des Seins (in Form der sozialen Lebenswelt), des Den-kens und des Handelns letztlich auf subjektiven Intentionalitäten(die der Konstitutionsgrund der heterogenen Formen intersubjekti-ver Kopplungsprozesse sind) beruht. Das Moment der gemeinschaft-lichen Sozialerfahrung im Sinne einer vorgängigen Wir-Bewusstseins-struktur, oder wie K. Mannheim es intentionalistisch als »gemeinsa-me Weltwollung« formulierte, ist – bis auf die marxistische Soziolo-gie (L. Goldmann, H. Lefebvre) und der E. Durkheim-Schule (M.Halbwachs) – kaum zum epistemologischen Ansatzpunkt der sozio-logischen Theoriebildung und ihres Verstehensansatzes erhobenworden. Nach wie vor gilt, dass M. Weber das Profil der verstehendenSozialwissenschaft auf einen Handlungsbegriff gegründet hat, derkeine Kollektivsubjekte kennt und »Kollektivgebilde« nur als Vorstel-lungsgehalte von Individuen einstuft:

»Die Deutung des Handelns muß von der grundlegenden wichtigen Tatsache

Notiz nehmen: daß jene dem Alltagsdenken […] angehörenden Kollektivge-

bilde Vorstellungen von etwas teils Seiendem, teils Geltensollenden in den

Köpfen realer Menschen […] sind, an denen sich deren Handeln orientiert,

und daß sie als solche eine ganz gewaltige, oft geradezu beherrschende, kau-

sale Bedeutung für die Art des Ablaufs des Handelns der realen Menschen

haben« (1968, 7).

Der Bruch mit einem methodologischen wie ontologischen Individualis-mus für eine soziologische Theoriebildung (einschließlich ihres Sinn-verstehenskonzepts) ist aber m.E. bereits mit dem Mannheim’schenKonzept einer denksoziologischen Rekonstruktion von Weltanschau-ungs- und Denkstilmustern vorgezeichnet worden, in dem es K. Mann-heim darum ging, die Soziogenese dieser Muster nicht an das den-kende Subjekt, sondern an die konjunktive Erfahrungsebene, d.h. diekoexistentiellen Erfahrungswelten von Kollektiven bzw. Gemeinschaf-ten zurückzubinden. Mit dieser Form der soziologischen Analyse istK. Mannheims Denkansatz originär und bis heute für die soziologi-sche Theoriebildung ungebrochen aktuell. Man muss folglich die soziologischen Schriften K. Mannheimsnochmals lesen, um sie im vorgenannten Sinne als ein denksoziologi-sches Konzept zu begreifen, das gleichermaßen den synchronen wiediachronen Zusammenhang von Weltanschauungsmustern (»tota-le Ideologie«) und den dadurch präponierten Denkstilmustern der

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0. Vorwort | 11

sozialen Wirklichkeitskonstruktionen aufdeckt. K. Mannheim hat –zumindest metadisziplinär – ein denksoziologisches Konzept inaugu-riert, das die durch Kant gegebene transzendentale Analyse der un-abdingbaren Apriori von Erkenntnisleistungen durch eine denksozio-logisch instrumentierte Erkenntniskritik ersetzt. Diese Erkenntniskri-tik, die sich eher als eine denksoziologisch umargumentierte Erkennt-nisskepsis ausnimmt, soll die historischen wie weltanschaulichenSpaltungen zwischen dem Denken und dem sozialen Sein verstehbarmachen, indem sie die agonalen, aber auch die synthetischen For-mierungsprinzipien dieser Spaltungen als soziologische Funktionali-täten für das gesellschaftliche Sein der Menschen ausweist. Der Rückbezug auf K. Mannheim, auf die wesentlichen Sinnge-halte und Argumentationstopoi seines denksoziologischen Konzepts,das nur quer und gegen den Strich seiner wissens- und kultursozio-logischen Schriften zu interpretieren ist, dient also nicht einer Mu-sealisierung eines soziologischen Klassikers. K. Mannheim hat inseinem Aufsatz »Das Problem der Generationen« (1964) hellsichtigdavon gesprochen, dass das »Absterben früherer Generationen imsozialen Geschehen dem nötigen Vergessen dient« (1964, 533).Gleichwohl kann über den generationsspezifischen Vergessenszu-sammenhang daran erinnert werden, dass in den klassischen Textender frühen Soziologengeneration eine unterschwellige Wirkungskon-tinuität bestehen bleibt, die etwas zu bewahren trachtet, was sichheute in der soziologischen Fachdisziplin völlig entschlägt: Die be-griffliche wie methodische Vitalität einer Hermeneutik des Sozialen,die das soziologische Achsenkreuz noch zwischen historischer Sinn-rekonstruktion und sozialfunktionaler Sinnkritik von geltendenDenk- und Erkenntnisweisen spannte. Es ist keine pure Anhänglich-keit, wenn man Denktraditionen aufgreift, eher systematische Verge-genwärtigung eines Denkens, in der sich die Stimme der Denkskep-sis als denksoziologische Kritik ausbuchstabiert hat. Noch etwas in eigener Sache: Diese Interpretationsstudie ist übereinen langen Zeitraum entstanden. Von daher trägt sie Spuren un-terschiedlichster Intensität der Auseinandersetzung mit den Schrif-ten K. Mannheims. Dieses wechselnde Nähe- und Distanzverhältniszum Thema gehört aber notwendigerweise zur Natur langfristi-ger Schreibprozesse. Auf der langen Strecke seiner Produktivitätwünscht sich jeder Autor zum Abschluss eine entlastende Korrektur.Für eine solche Hilfestellung danke ich besonders Eva van Leeuwenund Leo Farwick.

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1. Einleitung | 13

1. Einleitung »Der Mensch ist nicht einsam, aber Denken ist einsam.«

(G. Benn)

Eine Einleitung sollte die Funktion haben das thematische Geländeabzustecken, den mit dem Thema gegebenen Untersuchungsfokuszu benennen, eine Übersicht über den argumentativen Aufbau zu lie-fern, aber auch die Intentionen, wie das gewählte Verfahren der Text-interpretation offen zu legen. Beginnen wir zunächst mit den zu-grunde liegenden Intentionen: Es geht in der Hauptsache um eine erneute, sehr textnahe Lektü-re der wissens- und kultursoziologischen Schriften K. Mannheims.Dabei ist der Fokus dieser Wiederlektüre eine breit angelegte wie sys-tematisch vorgehende Reinterpretation wesentlicher Begriffe, Argu-mentationstopoi und Begründungsmuster unter der leitenden Frage-stellung, was K. Mannheim eigentlich mit der numinos klingendenFormel vom »seinsgebundenen Denken« denksoziologisch gemeint undkonzeptualisiert hat. Es handelt sich insofern um eine Reinterpreta-tion, weil sich diese stark begriffsanalytisch verfahrende Werkstudiezu K. Mannheim der wissensoziologischen Lesart, also der Einbet-tung der Schriften K. Mannheims als einem Vorläufer oder Klassikerder Wissenssoziologie entschlägt. Von daher ist diese Werkstudieauch keine schlichte Einführung in das Werk eines soziologischenKlassikers, der neben M. Scheler zu den Begründern der deutschenWissenssoziologie gezählt wird. Sie ist aber auch keine erneute Re-formulierung der Mannheim’schen Wissenssoziologie in Hinblickauf ihre Anschlussfähigkeit zum gegenwärtigen Mainstream der wis-senssoziologischen Theoriediskussion. Einführungen und wissens-soziologische Adaptionen zu den Werken K. Mannheims gibt es in-

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14 | Die Seinsgebundenheit des Denkens

zwischen in ausreichender Anzahl; – da muss nichts mehr hinzuge-fügt werden. Was hier versucht wird ist etwas anderes. Ausgehend von derMannheim’schen Zentralkategorie vom »seinsgebundenen Denken«soll die Grundthese K. Mannheims, dass Erkennen und Denken letzt-lich sozialen Ursprungs und nicht letztbegründend in Subjektleis-tungen zu verorten sind, an den soziologischen Texten durchbuch-stabiert werden. Dabei wird der begriffliche und thematische Textkor-pus der primär soziologischen Schriften K. Mannheims dekompo-niert, um die begriffliche, kategoriale und argumentative Grund-struktur als ein denksoziologisches Theoriekonzept K. Mannheims zurekomponieren. Damit wird nicht nur terminologisch ein bewusstgewählter Abstand zur wissenssoziologischen Rezeption der soziolo-gischen Schriften K. Mannheims ausgedrückt, sondern die wissensso-ziologische Lesart zugunsten einer denksoziologischen Lesart der TexteK. Mannheims verschoben. Es geht also nicht um eine von K. Mann-heim inaugurierte kritisch-soziologische Theorie des Wissens undder Wissensbestände, sondern vielmehr um die denksoziologische Er-setzung subjekttheoretischer Fundierung des Erkennens und Den-kens durch die schlüssige Beantwortung zweier Fragen. Fragen, diefür das soziologische Denken K. Mannheims ganz zentral waren:Wie ist die sozial gebundene Bewusstseinsstruktur, die sich in denunterschiedlich manifestierten Denkweisen ausdrückt, soziologischbeschreibbar, und wie ist der Zusammenhang dieser sozialen Be-wusstseinsstruktur mit kollektiv wirksamen Weltanschauungen sovermittelt, dass er denksoziologisch begründbar bzw. rekonstruierbarist? Diese denksoziologische Lesart der Mannheim’schen Texte ist dieerste grundlegende Intention dieser Interpretationsstudie. Eine andere, aber auch wesentliche Intention, bezieht sich aufeine Umschrift der Rezeption K. Mannheims als Ideologiekritiker.Wenn man davon ausgeht, dass das Grundmotiv der originärenDenkweise K. Mannheims war, die Sozialität als letzte konstitutiveSeinsweise des Menschen in den existierenden Denk- und Wissens-formen soziologisch aufzudecken und interpretierbar zu machen,dann verblasst gewissermaßen eine Rezeption K. Mannheims alsIdeologiekritiker. Die denksoziologische Ermittlung der Struktur-merkmale und Topoi des gemeinschaftlichen bzw. kollektiven Welt-verstehens, des konjunktiven Weltinterpretationsmusters war K. Mann-heim weit wichtiger als der – durch seine prominente Schrift »Ideolo-gie und Utopie« (1985) – inaugurierte Ansatz, Partikularideologien inihren politisch wirksamen Semantiken bzw. Wissensdiskursen fest-zustellen. Es ging ihm nicht nur einfach um die »seinsverbundene«

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