Die sieben Todsünden von Hieronymus Bosch (Heptalogie) fileEin Stück von Rafael Spregelburd...

25
Die sieben Todsünden von Hieronymus Bosch (Heptalogie) 1. DIE APPETITLOSIGKEIT Ein Stück von Rafael Spregelburd Übersetzung aus dem argentinischen Spanischen von Dieter Welke Die sieben Todsünden von Hieronymus Bosch 1. Die Appetitlosigkeit Die Personen des Stückes Frau Perrotta Ihr Mann Ein Angestellter Sara Virgilio Ein Zigeuner Magalí Romita Leila

Transcript of Die sieben Todsünden von Hieronymus Bosch (Heptalogie) fileEin Stück von Rafael Spregelburd...

Die sieben Todsünden von Hieronymus Bosch (Heptalogie)

1. DIE APPETITLOSIGKEIT

Ein Stück von Rafael SpregelburdÜbersetzung aus dem argentinischen Spanischen von Dieter WelkeDie sieben Todsünden von Hieronymus Bosch1. Die Appetitlosigkeit

Die Personen des Stückes

Frau PerrottaIhr MannEin AngestellterSaraVirgilioEin ZigeunerMagalíRomitaLeila

1.

FRAU PERROTTA und IHR MANN sitzen am Tisch. Sie essen wenig oder haben (gerade) aufgehört zu essen. Ein laufender Fernseher verschärft die Pausen mit klirrendem Elektrosmog.

FRAU PERROTTA: Das von gestern habe ich dir doch erzählt?

MANN: Ich glaube schon.

Pause

FRAU PERROTTA: Ich glaube, ich habe es dir nicht erzählt

Pause

FRAU PERROTTA: Ich kam müde nach Hause.

Pause

FRAU PERROTTA: Ich war weg gestern abend. Deshalb möchte ich wissen, ob ich es dir schon erzählt habe. Hast du nie an Adoption gedacht?

MANN: Ja, doch.

FRAU PERROTTA: Wir könnten ein Kind haben. Komplikationslos. Ich habe an Adoption gedacht in letzter Zeit.

MANN: Wie du meinst.

FRAU PERROTA: Ja ja. Ein Vater will lieber ein echtes Kind.

MANN: Ist mir gleich.

FRAU PERROTA: Willlst du das bestreiten? Immerhin bin ich die Mutter, ich habe das Recht, ein paar Dinge zu sagen.

MANN: Ist mir egal. Es kann eine Adoption sein.

Pause

MANN: Na gut. Sag, was du sagen wolltest.

Pause

FRAU PERROTTA: Geht schon vorbei. Ich habe mich nur blöde begeistert. Einen Augenblick lang. Ich stellte mir die Adoption vor, die Formalitäten, alles. Bei einer Adoption kann man das Geschlecht des Kindes auswählen. Zum Beispiel. Wir könnten ein Mädchen bekommen, das wäre wirklich ein Segen. Ich dachte, darüber könnten wir reden.

MANN: Gut.

FRAU PERROTTA: Nein, Laß sein... Einen Hunger hab ich!

MANN: Nein, wenn wir verschiedener Meinung sind, dann müssen wir das austragen. Irgendwann. Ich bin für etwas und du dagegen, so ist es. Ich bin nicht in der Stimmung, irgendwas aufzuschieben.

FRAU PERROTTA: Das ist überspannt. Ich bin nicht auf Scheidung aus.

MANN: Alles nicht nötig. Übertreib nicht. Gewisse Dinge muß man austragen in der Ehe. Das ist normal. Auch wenn es schmerzt, sag ich. Wir reden immerhin von Adoption und nicht vom Krieg in Bosnien!

FRAU PERROTTA: Du sagtest doch, es sei dir egal.

MANN: Nein. Ich sagte, es ist in Ordnung. Ich habe auch oft an Adoption gedacht, das habe ich sogar zugegeben.

Pause

FRAU PERROTTA: Ja und? Worüber redest du?

Pause

MANN: Na ja, ich glaubte, man könnte drüber reden.

FRAU PERROTTA: Ja

Pause

FRAU PERROTTA: In Bosnien oder Serbien?

Pause

FRAU PERROTTA: Verzeihung. Wir sind also einer Meinung. Wir können es adoptieren.

MANN: Ja

Pause

MANN: Hast du keinen Hunger mehr? Was hast du gesagt?

FRAU PERROTTA: Ich könnte ein Kind , zart und knackig.

MANN: Ich kann ja Nudeln machen. Und noch ein bißchen Omelette.

FRAU PERROTTA: Nein, laß sein. Ich habe zuviel gegessen.

MANN: Ich auch

FRAU PERROTTA: Das ist Jugoslawien, nicht wahr?

Pause

FRAU PERROTTA: Wir haben noch Orangen.

MANN: Mmm, gut! Ex-Jugoslawien.

FRAU PERROTTA: Willst du welche?

MANN: Nein. Nein danke. Ich kaufe mir später eine Tafel Schokolade.

FRAU PERROTTA: Haben wir hier.

MANN: Mmm.

Pause

FRAU PERROTTA: Seit wann denkst du an Adoption?

MANN: Ich denke an Vieles.

FRAU PERROTTA: Wann?

MANN: Unter anderem stelle ich mir eine Wohnung vor, ein oder zwei Kindern, kleine Kinder. Klitzeklein. Die in den Kindergarten gehen, die ihre Prüfungen bestehen, die sich um uns kümmern, wenn wir alt sind. Die uns ernähren.

FRAU PERROTTA: Ich bin noch jung.

MANN: Klar. Ich habe auch an was anderes gedacht.

FRAU PERROTTA: Du müsstest Sport treiben. Tennis, oder so. Du denkst soviel. Weil du nichts Nützliches tust.

Pause

MANN: Gehst du aus?

FRAU PERROTTA schaut ihn erstaunt und schweigend an. Dann nach einer Weile:

FRAU PERROTTA: Ich gehe aus. Ich gehe. Also gut. Ich gehe.

2.

FRAU PERROTTA, in einem Büro.

EIN ANGESTELLTER: Wollen Sie sich nicht setzen?

FRAU PERROTTA: Ist mir egal.

ANGESTELLTER: Sie wollten mich sprechen?

FRAU PERROTTA: Ja. Sehen Sie hier die Rechnung, die ist von Ihnen.

ANGESTELLTER: Ja.FRAU PERROTTA: Ja, genau.

ANGESTELLTER: Ich verstehe nicht.

FRAU PERROTTA: Sie verstehen sehr wohl.

ANGESTELLTER: (schließt die Tür.) Man hat mir gesagt, sie hätten Krach geschlagen am Schalter. Aber die Rechnung ist korrekt.

FRAU PERROTTA: Ja ich weiß, sie ist korrekt. Geben Sie sie mir bitte, sie könnte verlorengehen. (Sie steckt sie in ihre Handtasche.)

Pause

ANGESTELLTER: Und?

FRAU PERROTTA: Genau. Hier bin ich.

ANGESTELLTER: Es ist nicht zuviel berechnet worden, die Adresse stimmt auch, ihr Name ist korrekt... Sie sind Frau Perrotta.

FRAU PERROTTA: Mein Name tut nichts zur Sache. Ich ziehe es vor, anonym zu bleiben in solchen Fällen.

ANGESTELLTER: In welchen Fällen?

FRAU PERROTTA: Machen Sie es nicht noch schwerer. Ich weiß, wer Sie alle sind, da müssten Sie eigentlich auch wissen, was ich will.

ANGESTELLTER: Wir?

FRAU PERROTTA: Ich sage nichts mehr. Wenn ich mich geirrt hätte, hätten Sie mich rauswerfen können. Ich will es ausprobieren. Ich weiß, daß Sie neue Mitglieder aufnehmen.

ANGESTELLTER: Warum sagen Sie nicht, was Sie wollen?

FRAU PERROTTA: Nein, ich sage nichts mehr. Aus Scham. Ich hoffe, Sie sagen mir, was ich zu tun habe. Vermutlich treiben Sie es nicht gerade hier, im Büro.

ANGESTELLTER: Möchten Sie einen Kaffee.

FRAU PERROTA: Ja.

ANGESTELLTER: (betätigt die Durchsprechanlage.) Sara. (Setzt sich mit verschränkten Armen auf den Schreibtisch und stützt den Kopf auf die Arme.)

Pause

SARA: Hallo.

FRAU PERROTTA: Hallo

SARA: Ich bin Sara.

FRAU PERROTTA: Angenehm.

Pause

SARA: Und?

ANGESTELLTER: Ich weiß nicht. Sie...

FRAU PERROTTA: Keinem von uns Dreien fällt es leicht, darüber zu sprechen. Das beruhigt ein bißchen. Ich kam mit solcher Angst. Ich bin eine normale Frau. Wie sie alle, vermutlich. Ich lebe mit meinem Mann. Und mit meiner Familie. Manchmal gehe ich aus. Ich habe Freundinnen. Die sind auch normal. Alle haben wir Scham. Meine Freundinnen sind auch verheiratet, manchmal sind sie ihren Männern untreu geworden. Wir haben keinen Gruppensex gehabt. Mein Mann ist ein bißchen starrköpfig. Verzeihen Sie, aber einer mußte ja anfangen, davon zu reden.

SARA: Nein, bitte, fahren Sie fort.

FRAU PERROTTA: Andererseits sind wir sehr unabhängig. Unsere Kinder erziehen wir auch zur Unabhängigkeit, dann können sie später zwischen Gut und Böse wählen. Außerdem, wenn es sich um die Lust handelt...

SARA: Um Sex, reden Sie nur, kein Problem.

FRAU PERROTTA: Ja , genau. Da kann man nicht behaupten, daß das eine

gut ist und das andere böse.

SARA: Wieviele Kinder haben Sie?

FRAU PERROTTA: Ja. Es gibt Dinge, die sollte man besser... Für den Fall, daß... Sie verstehen schon. Ich könnte jetzt auch meine Handtasche nehmen und durch diese Tür gehen, so wie ich hereingekommen bin, und wir haben uns nie gesehen. Ich weiß noch nicht mal, wie Sie beide heißen.

SARA: Sara.

FRAU PERROTTA: Das sagen Sie. Darf ich Sie duzen?

ANGESTELLTER: Ihr Name steht auf der Rechnung, Frau Perr...

FRAU PERROTTA: Sprechen Sie ihn nicht aus. Machen Sie das nicht kaputt. Ein Name bleibt ein Name. Manche Namen sind noch nicht mal das, es sind Ehenamen, Namen von anderen.

SARA: Bleiben wir geduldig. Was wollen Sie eigentlich sagen?

FRAU PERROTTA: Ich weiß, Sie organisieren hier... diese Praktiken..

SARA: Sadomasopartys?

Pause

FRAU PERROTTA: Meine Freundinnen haben Sex miteinander gehabt, sogar mit Unbekannten, Männern und Frauen. Wir haben viel darüber geredet., wenn wir zusammen waren. Es ist gut so.

SARA: Und ihre Freundinnen haben Ihnen gesagt, daß Sie hierher kommen sollen.

FRAU PERROTTA: Ich wäre lieber mit meinem Mann gekommen. Aber der

wollte nicht. Er schämt sich bestimmt. Er schämt sich, wenn ich dabei bin. Wir haben schon seit langem keine normalen Beziehungen. Von außen gesehen, kann man denken, wir führten eine sehr glückliche Ehe. Heute hatten wir eine schlimme Diskussion, beim Frühstück. Wir sprachen über schmerzliche Dinge, Dinge, die schon viele Jahre dauern. Er gab mir zu verstehen, daß ich viel schneller altere als er. Das stimmt. Er treibt Sport, ich vermute sogar, daß er ein sehr aktives Sexuallebenhat, natürlich außerhalb der Ehe. Ich dagegen mache gar nichts. Abgesehen von den Treffen mit meinen Freundinnen.

SARA: Arbeiten Sie nicht?

FRAU PERROTTA: Ich habe gearbeitet. Aber dann wurde ich schwanger, mit meinem ersten Kind, da mußte ich es sein lassen, dann kam das zweite, schneller als ich dachte, sie können sich das vorstellen. Ich blieb zu Hause, abgesehen von den Treffen mit meinen Freundinnen: Magalí und Romita. Ich möchte harten Sex ausprobieren, ich möchte, daß sie mich auf einem Tisch festbinden und in die Möse beißen. Ich möchte mir Lederklamotten anziehen, ich möchte die Peitsche schwingen. Ich möchte Männer und Frauen züchtigen, mit Schmerzen und ohne. In dieser Hinsicht habe ich viel Phantasie.

SARA: Seit wann?

FRAU PERROTTA: Eine gute Frage.

ANGESTELLTER: Möchten Sie ein Glas Wasser?

FRAU PERROTTA: Ja, bitte.

ANGESTELLTER: (betätigt die Sprechanlage) Virgilio.

FRAU PERROTTA: Und Sie? Haben Sie Familie?

SARA: Ja, wir wohnen weiter draußen, zum Flughafen hin.

FRAU PERROTTA: Ja. Meine Wohnung ist nichts besonderes, aber für uns

langt sie, zur Zeit.

VIRGILIO kommt herein.

ANGESTELLTER: Ah, Virgilio, kommen Sie herein.

FRAU PERROTTA: Hallo.

ANGESTELLTER: Also, wir lassen sie jetzt beide ein Weilchen allein. Wenn Sie was brauchen, können Sie uns rufen. Wir sind nebenan.

SARA: Ciao, bis dann.

FRAU PERROTTA: Ciao Sara, bis dann.

ANGESTELLTER: Wir sehen uns gleich.

SARA und der ANGESTELLTE gehen hinaus. Vergilio stellt sich vor FRAU PERROTTA, die auf ihrem Platz sitzen bleibt.

FRAU PERROTTA: Virgilio also, ja? Man man hat mir viel von Ihnen erzählt. Vielleicht kennen Sie auch meinen Mann. Ein liebenswerter Mensch, ungefähr 45 Jahre alt. Brillenträger. Ein Meter siebzig. Sehr elegant gekleidet. Heute morgen noch hat er zu mir gesagt: „Wenn du Virgilio siehst, oder wenn man ihn dir vorstellt, grüße ihn von mir und richte ihm aus, daß ich ihm das von neulich besorgt habe“. Nein, „was neulich bei Horacio liegengeblieben ist.“ Horacio ist ein Freund von ihm, er hat eine Villa, feines Viertel, nicht weit vom Airport. Er geht da oft hin, es gibt dort einen Tennisplatz. Also, ich gehe davon aus, daß Sie wissen, wer Horacio ist, Sie kennen sich bestimmt alle, sag ich mal. Und wie! Ich weiß nicht, ob ich da eine Woche verbringen könnte, ...weiß ich nicht ... wo es doch das erste Mal ist, vielleicht besser ein langes Wochenende. Jetzt im Juni gibt es zweimal ein langes Wochenende. Sag ich mal, wegen der Zeit. Weil ich doch werktags in der Schule arbeite. Um es auszuprobieren, nicht? Vielleicht gefällt es mir überhaupt nicht. Mein ältester Sohn, kennen Sie den? Der ist bestimmt manchmal dabeigewesen, zusammen mit meinem Mann. Ich spreche nicht mehr mit ihm, seit

langem, Wir haben uns auseinandergelebt, sag ich. Ich habe ihn bestimmt schlecht beurteilt, wie alle Mütter, ich habe meine Nase in Dinge gesteckt, die mich nichts angingen. Na ja, diese Manie der Eltern, sich verantwortlich zu fühlen für die Moral ihrer Kinder. Als wären wir nicht alle unabhängig. Nicht wahr? Aber mit Kindern ist das schwierig. Ich habe zwei Jungen. Den jüngeren haben Sie nicht kennengelernt, glaube ich. Nie. Hätte ich sie bloß nicht bekommen. Haben Sie Kinder, Virgilio? Sind Sie sterilisiert? Verzeihen Sie mir die Frage, sie hat nichts damit zu tun, aber mir fällt gerade ein, daß sie trotzdem irgendwie mit anderen Fragen verbunden ist, die sehr wohl etwas mit der Sache zu tun haben; es wäre unhöflich, wenn ich gleich am Anfang sie nach viel gewagteren Dingen fragen würde, oder nach Details. Na ja, egal, wenn Sie sich eines Tags entscheiden, ein Kind zu haben und nicht können, sag ich mal, dann bleibt Ihnen noch die andere Möglichkeit.(Lange Pause) Es gibt immer eine andere Möglichkeit, Virgilio.

(Black)

3.FRAU PERROTTA auf einem Platz. Ein Zigeuner.

ZIGEUNER: Tag

FRAU PERROTTA: Tag.

ZIGEUNER: Zeigen Sie mir Ihre Hand.

FRAU PERROTTA: Ich zeig sie Ihnen, junger Mann, ich zeig sie Ihnen.

ZIGEUNER: Ihre Zukunft ist klar, voller Wege in alle möglichen Richtungen, Wünsche, Phantasien, ich sehe ein Schwein, liebenswert, mit großen Ohren, an einem Scheideweg des Lebens, und eine intelligente, reife Entscheidung. Sie werden hundert Jahre leben, tausend, soviel sie wollen, vorausgesetzt, sie finden keinen Geschmack daran. Sie sind eine tief veranlagte Frau. Welches Sternzeichen haben Sie?

FRAU PERROTTA: Das ist nicht wichtig. Kommen Sie, setzen Sie sich, reden

Sie weiter, das tut mir sehr gut.

ZIGEUNER: Ich weise Sie darauf hin, daß das alles gelogen ist.

FRAU PERROTTA: Das weiß ich. Ich werde es ihnen trotzdem bezahlen.

ZIGEUNER: Gut. Was wollen Sie hören?

FRAU PERROTTA: Sprechen Sie mir davon, wie glücklich ich mit meiner Tochter Leila sein werde.

ZIGEUNER: Ist es die da?

FRAU PERROTTA: Die auf der Schaukel. Ist sie nicht wundervoll? Manchmal weiß ich nicht, ob ich mit ihr glücklich werde. Ich sehe sie und kenne sie nicht.

ZIGEUNER: Ja. Wundervoll. Leila wird Protestantin werden. Sie wird ein Reisebüro aufmachen. Sie werden sehr glücklich sein, zusammen.

FRAU PERROTTA: Protestantin?

ZIGEUNER: Jetzt nur, weil sie ihre Tochter ist. Sie wiegt sich glücklich in ihrer Schaukel, wie ein Pendel, im Glauben, daß ein und derselbe Gott sie mit ihren Eltern vereint. Im Gymnasium, an einem Dienstag den zwanzigsten, in einigen wenigen Jahren, wird eine Lehrerin mit spanischem Namen ihr von Luther erzählen. Leila greift zwanghaft zum Geschichtsbuch. Sie findet unvollständige, verstreute Angaben, ein Studentenreferat über die Reformation. Ein ungenaues Referat. Trotzdem, an diesem Dienstag beginnt das Fieber: ein ungeheurer Wissensdurst überfällt sie, sie sucht nach mehr Information. Sie studiert Deutsch mit einem Stipendium, das Sie und Ihr Mann ihr verschaffen.

FRAU PERROTTA: Mein Mann?

ZIGEUNER: Sie liest direkt in den Quellen und konvertiert. Deshalb wird sie aber nicht zum Ungeheuer, keineswegs. Ihre Aktivitäten, ihr Gefühlsleben, ihre musikalischer Geschmack wird davon nicht beeinträchtigt. Aber sie engagiert sich leidenschaftlich und findet darin ihr Glück.

FRAU PERROTTA: (mit Tränen in den Augen) Danke.

ZIGEUNER: Ist Ihnen nicht gut?

FRAU PERROTTA: Ich wußte, es ist gelogen, aber was ich nicht wußte, ist, daß ich es so schnell merke. Ich schenke Ihnen Leila.

ZIGEUNER: Das Kind?

FRAU PERROTTA: Nehmen Sie sie mit. Ich mag sie nicht.

ZIGEUNER: Wirklich?

FRAU PERROTTA: Die da, auf der Schaukel. Erziehen Sie sie, wie sie wollen, eben so wie Zigeuner ihre Kinder erziehen. Ich kann nicht überall sein. Nehmen Sie sie mit, bevor sie merkt, daß ich mich verziehe, und mit mir nach Hause gehen will, wie ein kleiner Hund. Na, nehmen Sie sie schon. Ihren Vornamen ändern sie bitte nicht. Sie heißt Leila. Ihren Familiennamen können Sie ihr ja geben, wenn sie wollen. Aber nennen Sie sie immer Leila. Ihr Vorname ist das einzige, was sie ist. Sie ist gar nicht dumm, sie antwortet schon, wenn man sie mit diesem Namen ruft. Wiedersehen.

4.

FRAU PERROTTA in der Wohnung von ROMITA. MAGALI ist auch da. Sie sitzen um einen Tisch herum, auf dem Kremschnittchen stehen.

MAGALÌ: Habt ihr gesehen, sie sagt immer ja zu ihm, wenn es ihm egal ist? So reizt sie ihn ständig. Und wenn es ihm nicht egal ist, sagt sie nein. Oder schlimmer noch, sie sagt ihm das Nein nicht ins Gesicht. Sie sagt: „Na ja, ich weiß nicht“, dreht das Gesicht weg und schaut in eine andere Richtung. Sie tut so, als ob sie an etwas anderes denkt. Sie sagt nichts. Sie hat ihn voll im Griff. Das macht sie gut. Wenn sie ihn in Ruhe lassen würde, täte er mit ihr genau dasselbe.

FRAU PERROTTA: Was tut er denn?

MAGALÌ: Das, genau das tut er mit ihr.

FRAU PERROTTA: Na ja, er hat es verdient. Die sehen gut aus, die Schnittchen!

MAGALÌ: Ja, die sind gut.

ROMITA: Ja. Die hat Magalí mitgebracht.

MAGALÍ: Die sind von unten.

ROMITA: Unten haben sie gute Sachen.

FRAU PERROTTA: Ja, gute Sachen.

Pause. Niemand ißt.

ROMITA: Hast du Virgilio gesehen?

FRAU PERROTTA: Ja, ich habe ihn gesehen.

ROMITA: Hör nicht auf ihn.

MAGALÍ: Er redet, um zu reden.

ROMITA: Was sagst du da?

MAGALÍ: Das weiß ich.

ROMITA: Gut, du wirst es wissen.

MAGALÍ: Was er sagt, ist überhaupt nicht wichtig. Man muß es so nehmen wie es ist.

ROMITA: Und was ist es.

MAGALÍ: Das.

ROMITA: Ja.

Pause

FRAU PERROTTA: Daran habe ich nicht gedacht.

Pause

MAGALÍ: An das, was er zwischen den Beinen hat, Virgilio.

FRAU PERROTTA: Ich stand auf dem Platz, da kam eine junge Frau und bat mich, auf ein Mädchen aufzupassen, das auf einer Schaukel saß.

ROMITA: Die tun immer dasselbe.

FRAU PERROTTA: Da kam ein Zigeuner vorbei, dem hab ich das Kind gegeben.

Pause

FRAU PERROTTA: Wir hatten heute eine fürchterlichen Streit. Die Kinder haben alles mit aangehört. Das war das Schlimmste.

ROMITA: Die tun immer dasselbe.

FRAU PERROTTA: Ich habe die Tür hinter mir zugeknallt und bin rausgelaufen. Er sagte, ich sei unfähig, die Kinder zu erziehen, ich vertrödelte die ganze Zeit zuhause, ohne mich um sie zu kümmern. Ich fange bloß keinen Krach mit ihnen an, das ist nicht dasselbe. Wir sind wie Fremde, nicht wahr? Im gleichen Haus.

Pause

ROMITA: Ich habe was gesehen, auf der Straße. Das will ich euch erzählen. Da war ein gelähmter Typ. Dem fehlte ein Bein. Es war unmöglich, ihm in die Augen zu schauen, das schwöre ich euch. Ich konnte nicht aufhören, es zu tun. Beeindruckend war nicht das Fehlen des Beins an sich, das abwesende Bein war nicht häßlich, sondern die Stelle, wo es anfing zu fehlen. Versteht man das? Nicht das Fehlen, sondern der Ort, die Grenze des Fehlens. Der Rand.

MAGALÍ: Der Stummel.

ROMITA: Klar. Eine vertrackte Sache. Es war keine ungestrafte Abwesenheit. Auch keine anständige. Es gibt Dinge, die eleganter fehlen. Eßt ihr nichts? Es gibt Dinge, die fehlen, es gibt Kinder, die hungern, all das gibt es, ich sage nicht das Gegenteil. Aber die Stummel sind häßlich.

Pause

MAGALÍ: An was ihr alles denkt. Ich bin schon ganz dösig.

ROMITA lacht.FRAU PERROTTA lacht.ROMITA lacht.MAGALÍ lacht.Danach Stille.

5.

FRAU PERROTTA zuhause. Ihr gegenüber LEILA, ein Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren.

FRAU PERROTTA: Warte wenigstens, bis dein Vater kommt, Leila.

LEILA: Wozu?

FRAU PERROTTA: Um es mit ihm zu besprechen.

LEILA: Ist egal.

FRAU PERROTTA: Ich hatte einen schweren Tag, mach ihn mir nicht noch schwerer. Mir schwirrt der Kopf.

LEILA: Ein schwerer Tag.

FRAU PERROTTA: Hast du was gegessen?

LEILA: Ja.

FRAU PERROTTA: Sicher?

Pause

FRAU PERROTTA: Also Leila, ich setze mich jetzt hier hin, solange bis dein Vater kommt.

LEILA: Tu, was du willst. Ich packe meine Sachen fertig und gehe.

FRAU PERROTTA: Gut. Du weißt, ich habe mich nie in dein Leben eingemischt. Auch nicht in das deiner Geschwister. Ich habe sie erzogen, so gut ich konnte. Als du dich tätowieren lassen wolltest, was habe ich dir da gesagt? Gar nichts, keinen Pieps hab ich gesagt. Da ist sie nun. Die Tätowierung. Wie lange hast du gebraucht, um sie zu bereuen?

LEILA: Du hättest mir ja sagen können, daß ich es bereuen werde.

FRAU PERROTTA: Ja, meine Kleine, das könnte ich, aber das ist die Macht der Mode, die Macht der Mode über die Jugend, die macht sie heiß, die wollen doch alles, die jungen Leute.

LEILA: Du hättest sie retten können, die Brust, die man mir schließlich wegoperiert hat.

FRAU PERROTTA: Gut, daß du mir das vorwirfst, gut. Nur zu.

LEILA: Nein, wenn es dir gefällt, dann nein.

FRAU PERROTTA: Du Biest. Du wolltest doch die Tätowierung. Dann wolltest du im Eiltempo dein Pensum fürs Abitur bewältigen, dir alles auf einmal in die Birne stopfen und dir nichts entgehen lassen. Und? Wie ist es dir ergangen?

LEILA: Ich weiß nicht.

FRAU PERROTTA: Klar, du weißt nicht. Weil du nur zwei Jahre brauchtest, um das Abitur zu machen.

LEILA: Und?

FRAU PERROTTA: Genau. Normale Kinder brauchen fünf, sechs Jahre, wenn sie Schönschreiben lernen und als Techniker rauskommen. Warum nach Jugoslawien?

LEILA: Die brauchen Freiwillige.

FRAU PERROTTA: Aber du bist ein Mädchen, verdammt nochmal. Ein zartes, sanftes Mädchen.

LEILA: Ja. Aber es ist Krieg. Die Kriege verwüsten die Felder auf denen tausend zarte, sanfte Rosen wachsen.

FRAU PERROTTA: So ist es dort. Dort ist Bosnien. Hier ist es anders. Hier hast du den Lezama-Park. Das Haus von Tante Olga.

LEILA: Ich halte es nicht mehr aus.

FRAU PERROTTA: Warte wenigstens auf deinen Vater.

LEILA: O.K. (Pause) Tante Olga stinkt. Und ihre Feste auch.

LEILA setzt sich. FRAU PERROTTA fummelt an einer Mandarine. Sie tut es mit viel Aufwand. Sie schält sie sorgfältig, aber dennoch ungeschickt. Sie leidet ein wenig. Sie bekleckert sich. Sie legt die Mandarine zur Seite. Kurzes Black.

Wenn das Licht wieder angeht, sitzt der MANN ebenfalls mit den beiden zusammen. LEILA versinkt im Sofa. FRAU PERROTTA sieht erschöpft aus.

MANN: Verzeiht meinen Mangel an Takt, aber so eine familiäre Situation habe ich nicht erwartet. Was mir passiert ist, war intensiv. Es ist nötig, daß ihr es wißt. Ich hatte diesen Vortrag zu halten über Getreidetransport und Versicherungsrisiko. Zum Schluß war ich ganz erschöpft. Sie stellten mir Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Ihr wißt, ich bin Experte auf diesem Gebiet.

Pause

MANN: Habt ihr schon gegessen? Wir können ja Pizza bestellen.

Pause

MANN: Ich wollte mich aufheitern. Ich ging bis zum Zirkus Gustavo Rodó. Sie bauten herade die Arena ab. Da waren drei Typen, ich gab mich ihnen hin,damit sie mir in den Hintern ficken. Ich weiß, Leila, daß setzt einem Haufen Erwartungen ein Ende, die du dir vielleicht über uns gemacht hast, -darüber, mit uns eine Familie zu bilden, eine typische Familie.

FRAU PERROTTA: Die typische Familie besteht aus zwei Personen und

zwei Kindern. Ein Mann und eine Frau. Ein Eherpaar und zwei Kinder.

MANN: Ja. Und einer war der Verwaltungsdirektor. Denen ist es nicht gut ergangen in der Gegend. Die sind weggezogen nach Baradero. Nachher haben wir einen Kaffee getrunken. Ich kriege vom Kaffeetrinken Sodbrennen, also habe ich nur zugeschaut und zugehört. Die erzählen phantastische Geschichten, Nummern von gezähmten Schweinen. Wir sprachen von der Zukunft. Ich weiß nicht. Es kann sein, daß ich mit ihnen reise. Danach sind wir zur Arena zurückgelaufen und haben nochmal gesündigt.

FRAU PERROTTA: Hör zu. Leila geht als Freiwillige nach Bosnien.

MANN: Nach Bosnien?

FRAU PERROTTA: Ich habe sie gebeten, wenigstens auf dich zu warten, um es dir zu sagen.

MANN: Ist das nicht Ex-Jugoslawien?

LEILA: Wenn wir das Land für erledigt halten, dann ist es ex. Wenn wir dagegen die Kraft tausender junger Menschen vereinen und es uns gelingt jene Rosen zu säen, die unter sich die Panzer begraben, dann ist es das große Jugoslawien, die Heimat, der Garten. Dort sollen meine Kinder herumtollen.

FRAU PERROTTA: Du mieses Stück. Du könntest sie noch nicht mal stillen, wie es sich gehört. Launische Ziege!

LEILA: Es ist nicht Ex-Jugoslawien. Ihr seid meine Ex-Heimat, ich emigriere, ich spucke euch in das Essen, das ihr mir gegeben habt, ich nehme meinen letzten Krimskrams und mache mich vom Acker.

Sie geht hinaus. Ab und zu sieht man sie wieder hereinkommen und einige Elemente des Bühnenbilds aufsammeln, die sie hinausträgt.

FRAU PERROTTA: Wirst du hierbleiben? Du siehst doch, wie das alles

ausgeht.

MANN: Sei still, bitte.

FRAU PERROTTA: Ich habe Hunger. Ich rufe die Pizzeria an.

MANN: Ja.

FRAU PERROTTA: (Wählt eine Nummer). Hallo. Ja. Ich möchte was zu essen bestellen. Ja, eine große. (Zu ihrem MANN) Soll ich Napolitana bestellen? (Ihr MANN nickt mit dem Kopf.) Ja, genau. Eine große Napolitana. (Zu ihrem MANN). Willst du Polenta? Ich habe dich was gefragt?

MANN: Ja, ich habe es dir doch schon gesagt. Wieviele Male soll ich denn noch Ja sagen?

FRAU PERROTTA: Gut, ich habe dich nicht gehört. Nein, nicht Sie. Das ist hier im Haus. Ja, zweimal Polenta. Für Familie Klein. Mit „E”. Ist dasselbe. Wie lange brauchen Sie? Gut, so schnell wie möglich, bitte. (Zu ihrem MANN) Soll er sie schneiden? (Ihr MANN man macht eine sichtbare Geste des Überdrusses, er will reden, schließlich verschränkt er zornig die Arme ) Gut. Danke. Ich habe vielleicht einen Hunger. Owohl ich heute nachmittag etwas gegessen habe. Bei Romita. Pfannkuchen mit Karamelkrem. Wir haben gefressen wie die Scheunendrescher. Magalí hat mich auf den Mund geküsst. Ich hatte Karamelkrem auf den Lippen und sie hat mich auf den Mund geküsst.

MANN: Hast du ihm gesagt, daß er sie schneiden soll, die Pizza?

FRAU PERROTTA: Ich glaube...

MANN: Hast du es ihm gesagt?

FRAU PERROTTA: Naja, die wird doch immer geschnitten.

Pause

FRAU PERROTTA: Du könntest ja auch mal ein bißchen aufstehen und ein Messer holen.

MANN: Die haben mir gerade den Arsch ramponniert.

FRAU PERROTTA: Also, die hab ich jetzt wirklich dicke.

MANN: Drei. Einer war der Verwaltungsdirektor.

FRAU PERROTTA: Ja ja, es langt, ich hab schon verstanden.

LEILA (kommt herein) Also...

FRAU PERROTTA: Um wieviel Uhr geht dein Flugzeug.

LEILA: Nein, es fliegt erst in einer Woche. Aber ich wollte schon alles fertig haben.

FRAU PERROTTA: Versprich, daß du uns schreibst.

LEILA: Klar.

FRAU PERROTTA: Ich habe Pizza bestellt. Willst du dich nicht setzen, dann essen wir sie zusammen.

LEILA: Reicht es für drei.

FRAU PERROTTA: Ja, klar. Sie ist in acht Teile geschnitten.

LEILA: Reicht es auch? Ich will euch nicht auf den Wecker fallen.

MANN (genervt) Wenn deine Mutter sagt, daß es reicht, dann reicht es. Dann hältst du den Mund.

LEILA setzt sich. Pause.

FRAU PERROTTA: Ich habe noch zweimal Polenta bestellt.

LEILA: Mmm, lecker.

FRAU PERROTTA: Ja, lecker, nicht?

LEILA: Papa, du blutest.

Der MANN streicht mit der Hand über das Kissen auf dem er sitzt. Es kann tatsächlich ein wenig blutig sein.

FRAU PERROTTA: Aus was ist die Polenta? Aus Kichererbsen, nicht? Aus Kichererbsenmehl. Lecker.

Pause

FRAU PERROTTA: Ah, ich habe heute die heilige Rechnung bezahlt. Ich habe Krach geschlagen. Sie ließen mich fast zwei Stunden warten. Dann hat mich eine gewisse Sara bedient. Man muß halt hingehen und direkt mit ihnen sprechen.

Es läutet an der Tür.

FRAU PERROTTA: Das ist bestimmt die Pizza.

Niemand rührt sich.

FRAU PERROTTA: Wer geht?

Stille. Es klingelt wieder.

FRAU PERROTTA: Wir könnten den Serviettenkasten benutzen. Dann bräuchten wir nicht aufzustehen und Teller zu holen. Eine Napolitana, sage ich ihm, mit rohen Tomatenscheiben, und der Typ wiederholt „eine Napo , eine Napo und zweimal Polenta”. Was soll das, willst du mir sagen?

„Eine Napo, eine Napo“. Ich sag dir, der Typ ist ein Idiot. Gehst du allein? Wann? Am kommenden Montag, Dienstag, oder so. Wann fliegst du?

LEILA: Ich weiß nicht, Mama. ich weiß es nicht. Basta.

FRAU PERROTTA: Ich wollte es ja nur ungefähr wissen. Ich stelle mir schon vor, wie ich deine Briefe aus Serbien lese. Deine Briefe, die ich liebevoll im gleichen Kasten aufbewahre, in dem auch deine tätowierte Brust liegt. Die Briefe und dein Brüstchen, die Postkarten aus Jugoslawien, die zerstörten Rosenstöcke. In den Nächten lese ich jede Zeile, immer wieder, und bin gerührt, wie nur eine Mutter gerührt sein kann. Eine Mutter, die alles verliert. Und ich schlafe ein, mit deiner Brust und deinen Briefen unter dem Kopfkissen, dann bin ich nicht mehr so allein. Und ich weiß, daß ich am nächsten Tag auf Nachricht von dir warte, - wissen, daß du noch am Leben bist, all das, was nur eine Mutter versteht. Weil ich eine Mutter bin.(Es klingelt zum letzten Mal.) Naja. Ich habe solchen Hunger. (Pause) Wer geht?

BlackRafael SpregelburdNovember 1996