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ImpressumC. U. WiesnerDie singende Lokomotive25 KurzgeschichtenISBN 978-3-86394-396-7 (E-Book) Die Druckausgabe erschien erstmals 1974 im Eulenspiegel Verlag Berlin.Titelbild: Ernst Franta © 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbRGodernAlte Dorfstraße 2 b19065 PinnowTel.: 03860 505788E-Mail: [email protected]: http://www.ddrautoren.de

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Die singende LokomotiveEs war einmal eine kleine Lokomotive. Die hatte man auf ihr Schmalspurgleis gehoben, alsnoch der Großherzog von Wolkenwieck regierte. Seitdem schleppte sie tagaus, tagein denPersonenzug von Hoppenstedt nach Quarmbrück und von Quarmbrück nach Hoppenstedt.Sie beförderte Bauern und Soldaten, Landgendarmen und Arbeitslose, Schulkinder undBetrunkene, Drahthaarterrier und Hausierer, Gerichtsvollzieher undMädchenheiminsassinnen, Waldarbeiter und Revolutionäre, Krankenschwestern undJungingenieure, Schwarzfahrer und Grünschnäbel.Früher war die Strecke links und rechts der Gleise eintönig gewesen - Felder, ein bisschenWald und zwei Froschtümpel, höchstens noch die alte Schäferei von Ladenthin.Abwechslung gabs nur vor den beiden kleinen Bahnhöfen, wo jeweils ein Landweg dieSchienen kreuzte. Dort stand ein Schild mit den Buchstaben „LP“. Das hieß nichtLangspielplatte, sondern war eine Aufforderung an die Lokomotive, ein bisschen zu läutenund zu pfeifen. Das tat sie denn auch treu und brav jahraus, jahrein, aber (jetzt kann mansja sagen) ohne innere Anteilnahme, mehr so pflichtgemäß.Eines Tages - Hoppenstedt war längst an seinem Bahnhof vorbeigewachsen - wurde dichtbeim dortigen LP eine neue Schule eingeweiht. Früher hatte da mal inmitten einerDistelwiese das rumplige Häuschen des Trunkenbolds Neigenfind gestanden, und derkleinen Lokomotive war es eine Lust gewesen, den alten Saufsack mit einem besondersschrillen Pfiff aus den Federn zu scheuchen. Nun aber machte ihr das Pfeifen an dieserStelle keinen Spaß mehr, denn sie fürchtete, die Kinder könnten es altmodisch finden. Sokam es, dass sie es sich in den Schornstein setzte, das Singen zu erlernen. Immer wenn siedes Abends in ihren Schuppen gesperrt wurde, begann sie leise zu üben. Sie hatte sich einbesonders schönes Lied ausgedacht. Es enthielt alles, was sie auf ihren Fahrten aus denTransistorradios aufgeschnappt hatte: Ein bisschen Beat, ein bisschen Walzer, ein paarTakte Herbert Roth und ein paar Töne von Frank Schöbel, zwei Kinderreime und einenhalben Wirtinnenvers (den kannte sie vom Quarmbrücker Stationsvorsteher), eine Zeile auseinem Shanty und den Kehrreim aus einem Pionierlied, und dazu wollte sie leis mit demGlöckchen was Russisches bimmeln. Schmunzelnd malte sie sich aus, wie die Kinder mittenim Unterricht an die Fenster stürzen und ihr lachend zuwinken würden. Die DeutscheReichsbahn wäre ratlos, weil singende Lokomotiven in keiner Vorschrift vorgesehen sind,und der Kreisredakteur des „Quarmbrücker Abendwinds“ hätte endlich mal wasBesonderes zu berichten.Leider ist aus alledem nichts geworden. Kurz vor ihrem musikalischen Debüt wurde diekleine Lokomotive außer Dienst gestellt, denn ihre Strecke hat sich als veraltet undunrentabel erwiesen. Heute verkehren nur noch Autobusse zwischen Hoppenstedt undQuarmbrück.Da niemand wissen konnte, dass es sich um die einzige singende Lokomotive der Welthandelte, sollte sie verschrottet werden. Um das zu verhindern, habe ich die zuständigeReichsbahndirektion gebeten, mir die kleine Lokomotive wenigstens als Titel und Zugkraftfür meine fünfundzwanzig Kurzgeschichten zu überlassen. Nun warte ich geduldig auf

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Antwort.

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Hoffnung in HoppenstedtHerr Löwlein lebt seit vierzig Jahren in Hoppenstedt. Dort ist er geboren und aufgewachsen,hat einen Beruf erlernt, eine Tochter der Stadt zur Frau genommen und mit ihr drei gesundeKinder gezeugt. Darum lässt er auf Hoppenstedt nichts kommen. Gewiss, das Stadttheaterkann sich weder mit der Berliner Volksbühne noch mit der Leipziger Oper messen; auch mitder Obstversorgung sieht es dort noch aus wie anderswo vor Jahren. Dafür besitzt dieStadt eine einmalig schöne Umgebung. Man denke nur an den Großen Buckelhahn (714 mü. M.) mit seiner unvergleichlichen Aussicht auf das Schnaupatal, die Perle desKrotzengebirges, oder den prächtigen Schrieberwald mit dem Forsthaus Hübelberg unddem Singenweiler Wasserfall, Wanderziele, welche die Familie Löwlein so manchenSonntag in die grüne Natur lockten. Dennoch, der Mensch ist nie zufrieden, und das ist gutso, denn sonst gäbe es auch in Hoppenstedt keinen Fortschritt.Für die Löwleins sah der Fortschritt so aus, dass das Familienoberhaupt vor einigen Jahrenaus reiner Unzufriedenheit in seinem Betrieb mit einigen Verbesserungsvorschlägenhervorgetreten war. Es hatte dabei nicht so sehr an sich gedacht. Um so erstaunter war es,dass seine - wie er immer sagte - kleinen Feierabendideen nicht nur dem Betrieb einenbeträchtlichen Gewinn einbrachten, sondern auch Herrn Löwlein so beachtliche Prämien,dass er sich zum ersten Mal in seinem Leben ein Sparkonto einrichtete. Von nun knobelte erteils aus Spaß und teils aus Freude an seinem Konto immer neue nützliche Sachen für denBetrieb aus.Auch Frau Löwlein war unzufrieden - nämlich mit ihrem Los als Hausfrau. Und da die Kinderlangsam selbstständiger wurden, kehrte sie schließlich in ihren alten, gut bezahlten Berufzurück. Eines Abends sprach sie zu ihrem lieben Mann: „Nun haben wir einen Kühlschrank,einen Fernseher und ein Konzertanrecht, die Kinder gehen flott gekleidet. Jetzt kann ich dirsagen, was ich mir schon so lange wünsche.“ Sie wünschte sich ein schmuckes kleinesAuto, und auch Herrn Löwlein dünkte es reizvoll, den Großen Buckelhahn auf vier Rädern zuerklimmen und an freien Wochenenden mit seiner Familie einmal die Landschaft jenseits desKrotzengebirges zu genießen. Ahnungslos ging er los und meldete sich für einen Trabantan. Als er erfuhr, dass er darauf sieben Jahre warten müsse - wie ein Märchenprinzverdammt noch mal auf sein verwunschenes Mägdelein -, schimpfte er zum ersten Mal seitseiner Geburt gottsjämmerlich auf sein liebes Hoppenstedt. Herr Bamme, seinStammfriseur, der solches hörte, sprach tiefsinnig von einer Ironie des Schicksals. Er selbersei nämlich im übernächsten Jahr mit einem Trabant dran, sein kleiner Friseurladenindessen werfe leider zu wenig ab, als dass man an einen Autokauf denken könne. HerrLöwlein witterte Morgenluft. Wenn nun von seinen Ersparnissen Herr Bamme den Wagenkaufte und ihn pro forma Herrn Löwlein zur Nutzung überließe? Friseur Bamme wiegtenachdenklich den Kopf. Warum nicht? Und er werde sich das mal genau überlegen. HerrLöwlein verlieh seiner aufkeimenden Hoffnung Ausdruck, indem er ein Trinkgeld von zweiMark in die Tasche des Friseurkittels gleiten ließ.Zu Hause machte er seiner Frau klar, dass sie bei Friseur Bamme besser bedient werdeals bei der PGH „Figaro“, und sie solle nur ja nicht kleinlich sein. Auch die drei jungen

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Löwleins wurden jetzt alle zwei Wochen der tüchtigen Schere Meister Bammespreisgegeben und durften ihm jedes Mal eine eingewickelte Mark extra in die Kitteltaschestecken. Wenn sich Herr Löwlein selber die Haare schneiden ließ, pflegte er mit demFriseur pfiffige Verschwörerblicke zu tauschen. Meister Bamme hatte sich zwar noch nichtendgültig zu dem Geschäft geäußert, doch Herrn Löwlein immerhin darauf hingewiesen,dass die Sache niemand anders in Hoppenstedt anginge. Und eine regelmäßigeKopfwäsche mit anschließender Massage könne nicht von Schaden für den Haarwuchssein. Herr Löwlein zwang sich manchen dankbaren Blick für derlei Ratschläge ab undverzichtete sogar auf sein Bierchen im „Goldenen Löwen“, um die ständig steigendenVeredlungskosten für seine Kopfoberfläche decken zu können.Ein Jahr ging herum, und für den kommenden Sommer planten Löwleins schon einenAutourlaub für die ganze Familie. Eigentlich war nun die Anzahlung für das Wägelchen fällig.Meister Bamme jedoch hatte für diesbezügliche Bemerkungen nur ein stilles, fastorientalisches Lächeln, was Herrn Löwlein bewog, den Trinkgeldsatz um weitere fünfzigProzent zu erhöhen.Eines Tages traf Herrn Löwlein fast der Schlag. Am Lenkrad eines funkelnagelneuenTrabants kurvte Meister Bamme stolz und noch etwas verhalten über den Albert-Fliedermüller-Ring, den Hauptboulevard der Stadt. Offenbar hatte der Friseurladen in derletzten Zeit doch etwas abgeworfen. Nicht nur Herr Löwlein ballte die Faust in der Tasche.Viele Hoppenstedter legten fortan keinen allzu hohen Wert mehr auf die Pflege ihresHaarwuchses. Die PGH „Figaro“ bekam enormen Kundenzuwachs. Herr Löwlein erstand fürseine Familie ein Wochenendhäuschen am Fuße des Großen Buckelhahns, das bequem mitden Fahrrädern zu erreichen ist. Meister Bamme aber hat sich einen neuen Laden in derKreisstadt eingerichtet, wo er seinen Kunden vertraulich von dem Wartburg erzählt, für densich seine Frau angemeldet habe und den man sich leider selber nicht kaufen könne.

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Der motorisierte NeandertalerWenn ausgerechnet ich sage, dass ich keine Motorräder mehr mag, so ist das eigentlichunsinnig. Ich konnte die Dinger ja schon vor jener für mich so entscheidenden Reise nichtleiden. Und jetzt? Was könnte mir jetzt noch eine Jawa oder RT anhaben?Es war im letzten Sommer. Ich hatte mich mit Susi endgültig verkracht, und zwar wegen ...aber was spielt das heute noch für eine Rolle? Susi war dann allein nach Ahrenshoopgefahren, und ich saß in meiner Bude und machte den Lebensmüden. Bis amSonntagvormittag das Telegramm eintraf: „ERWARTE DICH DRINGEND 15 UHR AHRENSHOOP HO SEEZEICHEN + SUSI“.Das Seezeichen wurde zum Hoffnungslämpchen für mich Schiffbrüchigen. Susi hatteoffenbar bereut, und alles würde gut werden. Benommen durchblätterte ich das Kursbuch.Verdammter Mist: Mit dem Zug war es nicht mehr zu schaffen! Ich ging zu KleindarstellerRogge, der einen alten Hanomag sein eigen nennt, und erinnerte ihn daran, dass ich ihmneulich in einer Kritik bescheinigt hatte, dass er ein brachliegendes Talent sei. Der Hanomagwar vor zwei Tagen an einen Bastler verkauft worden. Der brachliegende Rogge versprachmir jedoch, mit dem Nachbarssohn zu reden. Der junge Leisegang habe ein Motorrad undsei als sehr hilfsbereit bekannt.Gegen elf klingelte es bei mir. Vor der Tür stand eine Art Neandertaler, ganz in Ledereingenäht, fletschte die Zähne und knurrte: „Ick fahr Ihnen nach Ahrenshoop rüber.“ - „Sehrfreundlich“, sagte ich, „bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.“ - „Machense kein Schmus!“,schnauzte er mich an. „Det kost hundertfuffzig Piepen, für Sprit und so.“ Ich war versucht,ihm eine freche Antwort zu geben, doch dann dachte ich an Susi, suchte die Scheinezusammen und schob sie dem Scheusal in die Pranken. „Los, uffsteijen, Vata“, grunzte es,„ick bin heute ahmt hier verabredet!“ Das Motorrad musste in guten Zeiten mal eine Sport-AWO gewesen sein. Wo der Hersteller den Tacho vorgesehen hatte, steckte ein dreckigerLappen. Dem Soziussitz fehlte der Bezug. Mein Hinweis, dass das Hinterrad verblüffendwenig Speichen habe, wurde mit der brummigen Bemerkung abgetan: „Sone Mücke wieIhnen trägt er noch lange.“Die ersten Kilometer sind mir nicht mehr recht in Erinnerung. Ich musste mich erst darangewöhnen, dass das Motorrad hinten keine Stoßdämpfer hatte. Genau weiß ich nicht mehr,warum der Verkehrspolizist an einer Pankower Kreuzung hinter uns her trillerte. Ergebnislosübrigens. Erst hinter der Stadtgrenze begann ich bewusst, gegen meine Todesangstanzukämpfen, indem ich nach der Armbanduhr die Geschwindigkeit stoppte. Bei 120Kilometern war ich überzeugt, dass die Straßenmeisterei die Steine falsch beziffert habe.Der junge Leisegang fuhr wortlos. Nur einmal drehte er sich um und schrie: „Jeümpft dieDüse, Vata, staunse, wa?“ - Ich stellte mir Susi vor und dass noch alles gut werden könne.Bei Neustrelitz überfuhren wir einen Gänserich, aber es war gerade kein Bauer in der Nähe.Kurz hinter Greifswald verloren wir den Auspuff, aber der Neandertaler band ihn mit Strippewieder fest. Vor Stralsund zerknickten wir eine Bahnschranke, aber bevor die Polizeieintraf, hatte der kräftige Urmensch die Vorderfelge zwischen seinen Knien gradegebogen

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und dem Bahnwärter zur Erinnerung ein paar Speichen zurückgelassen. In Barth überfieluns ein Wolkenbruch, aber meinem Fahrer machte das nichts aus, denn sein Lederfell waroffenbar wasserdicht. In Zingst bestand er darauf, zu Mittag zu essen. Ich schaute aufmeine Uhr. Es war halb drei. Verzweifelt beschwor ich den Unhold, sich lieber erst inAhrenshoop zu stärken, ich würde doch dort in einer halben Stunde erwartet. „Na, dennloofense doch hin!“, sagte er gelassen. Während ich vor Aufregung nicht mal meinenApfelsaft austrank, verzehrte der junge Leisegang in Seelenruhe ein Eisbein, eineRinderroulade, ein Beefsteak a la Mayer sowie zwei Pilsner und zur Verdauung einenBoonekamp. Nachdem ich die Rechnung bezahlt hatte, war meine Hoffnung, Susi noch imSeezeichen zu finden, erheblich gesunken, zumal wir hinter Prerow eine Reifenpanne zubeheben hatten. Die kultivierten Badegäste wichen entsetzt zurück, als wir in Ahrenshoopeinfuhren. Ich fiel vom Sozius und begab mich nass, dreckig und wütend ins Seezeichen.Susi war nicht zu sehen. Der Kellner herrschte mich an: „Raus! Betteln hat im Sozialismuskeiner nötig.“ Ich gab ihm zehn Mark und beschrieb ihm Susi, wozu nicht viel gehört. „Aha!“,sagte er und schnalzte mit der Zunge. „Die Dame ist vor 'ner Stunde in einen Polski-Fiatgestiegen. Berliner Kennzeichen.“Herrn Leisegang am Strand aufzustöbern, war nicht weiter schwierig, denn er erregte obseines allseitig starken Haarwuchses beträchtliches Aufsehen. Als er mich sah, grunzte erunwillig. „Bitte!“, flehte ich ihn an. „Sofort zurück nach Berlin. Es geht um meinLebensglück!“ - „Zwanzig Mark Eilzuschlag!“, sagte er ungerührt und hielt die Hand auf. Ichsuchte meine letzten Markstücke zusammen. Von der Rückfahrt weiß ich nicht mehr viel,weil ich vor Wut nur noch rot sah. Wenn wir den Polski-Fiat einholten, was würde es nochnützen? Ich malte mir aus, wie Siegfried, dieser unappetitliche Kalbskopf, lässig neben ihram Steuer säße. In Altentreptow kassierte ein Polizist wegen überhöhter Geschwindigkeit10 Mark von meinem Urmenschen. „Könnse mir za Hause wiederjehm“, sagte der zu mir.Hinter Neubrandenburg streiften wir ein Fahrrad, aber als ich mich umwandte, richtete sichdie alte Frau schon wieder auf. Unweit Fürstenbergs gingen wir des Scheinwerfersverlustig. „Macht nischt“, schrie Leisegang, „koofense mir ehmt za Hause ’n neuen!“ BeiGransee überholte uns ein Tatra, den wir gerade ziemlich hart geschnitten hatten. „IhrLumpenhunde!“, brüllte der Fahrer aus dem Fenster und schüttelte eine Drohfaust. „Euchmüsste man ...“ Und schon war er vorbei. Bald darauf begann unser Hinterrad entsetzlich zuschlackern. Irgendwas krachte, dann wurde es finster. Ich erwachte noch einmal fürSekunden, als sich Siegfrieds Kalbskopf über mich beugte. „Nein, Susi!“, rief er. „Das ist erbestimmt nicht! Der Feigling würde sich nie auf ein Motorrad wagen. Steig ein, Schätzchen,das ist kein Anblick für dich!“Trotz alledem - auf den Neandertaler bin ich längst nicht mehr böse. Er erweist sich sogar -nunmehr ohne seinen Feuerstuhl - als ein umgänglicher Mensch. Ich habe ihm auch schonfast mein ganzes Geld wieder abgewonnen, beim Sechsundsechzig, mit dem wir uns aufunserer Wolke die Zeit vertreiben. Es ist schön ruhig hier oben. Nur wenn ein Gewitteraufzieht, zucke ich zusammen und schaue furchtsam zur Erde hinab. Das Donnern erinnertmich an irgendetwas Schreckliches.

*** Ende der Demo-Version, siehe auch

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http://www.ddrautoren.de/Wiesner/Lokomotive/lokomotive.htm ***

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C. U. Wiesner

Geboren im letzten Monat der Weimarer Republik, am Neujahrstag 1933, in der einstigenmärkischen Hauptstadt Brandenburg, entwich nach dem Abitur den heimatlichenStadtmauerzwängen, gelangte in eine etwas größere Hauptstadt, ohne zu ahnen, daß mandort schon zehn Jahre später aus väterlicher Sorge bemüht sein würde, ihm den Horizontmit erheblicherem Bauaufwand zu verstellen.Eines Tages mochte er fürder nicht mehr in der eingefriedeten Hauptstadt leben und zog esvor, in die vertrauten märkischen Wälder zurückzukehren.Dank prophetischer Gaben bestellte er den Möbelwagen von Berlin-Pankow nachKlosterfelde für den 9. November 1989.Während des achtunddreißigjährigen Berlin-Aufenthalts:Studien als Dolmetscher für Englisch; Germanistik und Filmszenaristik (diese im Gegensatzzu jenen hin und wieder angewandt).Tätig als Lektor, Redakteur, Reporter, Theaterkritiker, Mitarbeiter der satirischen ZeitschriftEulenspiegel, Entertainer in eigener Sache, Schauspieler (leider zu selten) und(vorwiegend) Schriftsteller.Sein bekanntestes Geschöpf ist der Frisör Kleinekorte, den das Berlin-BrandenburgischeWörterbuch zu Recht an die Seite der Volksfiguren von Glaßbrenner und Tucholsky stellt.C.U.W. schrieb u. a. Hörspiele, Kabarett-Texte, Fernsehfilme und Fernsehserien (u. a.Gespenstergeschichten wie Spuk unterm Riesenrad, Spuk im Hochhaus, Spuk aus der

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Gruft für Kinder von 8 bis 88 Jahren) sowie dreizehn Bücher, vom Kinderbuch über denKriminalroman, die satirische Darstellung eigener Umwelt im weitesten Sinne bis zumbitteren erst um die Jahreswende 1989/90 nach einiger Verzögerung erschienenenMärchenroman für Erwachsene Die Geister von Thorland. Machs gut, Schneewittchen!und Lebwohl, Rapunzel! erzählen von den Kinder- und Jugendjahren in der HavelstadtBrandenburg.

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E-Books von C. U. WiesnerDie Geister von ThorlandAnfang Juli 1985 brachten verschiedene Tageszeitungen folgende Meldung: "DemFährschiff Saßnitz, das an den Wochenenden zwischen Saßnitz (Rügen) und Rönne(Bornholm) verkehrt, fiel östlich des 14. Längengrades und südlich des 55. Breitengradesaus ungeklärten Gründen kurzzeitig die Radarortung aus: Die Radarantenne fuhr Karussell.Ebenso ungeklärt sind eine dichte Nebelwand bei strahlendem Sonnenschein und hohemLuftdruck sowie eine rätselhafte Wellenfront bei spiegelglatter See in der Höhe desAdlertiefs." Niemand wäre seinerzeit darauf gekommen, dass an dieser Stelle, mitten in derOstsee einst das nördlichste souveräne Herzogtum Thorland gelegen hatte. Es musste imJahre 1885 untergehen wie einst die legendäre Stadt Vineta. Auch seine Bewohner hattendamals nicht gut getan.C. U. Wiesner erzählt die fesselnde und anrührende Geschichte vom Untergang undWiederauftauchen Thorlands und fügt als Beweis einen reich bebilderten 32-seitigenOriginalreiseführer des Herzogtums von 1885 bei. Aus diesem erfährt man u. a. vonseltenen Tieren, die es nur auf dieser Insel gegeben hat, etwa dem Bockschwein, demFeuerdingo oder dem Kurzschwänzigen Thorländischen Vielfraß.Bücher haben ihre Schicksale. Die Geister von Thorland wollte der Eulenspiegel Verlag plangemäß im II. Quartal 1989 auf den Markt bringen. Dann aber verschlang der allerletzteParteitag der SED soviel von dem ewig knappen Druckpapier, dass so manchesVerlagsvorhaben zurückstehen musste. Vielleicht war das für die Sicherheit des Autors gutso, nicht jedoch für sein Werk, in dem er auf märchenhafte Weise den Fall der Mauervorhersagte.Das MöwennestEin Mann fährt auf eine malerische Ostseeinsel und erlebt den nächsten Tag nicht mehr,seine Leiche treibt im Bodden, nahe dem Ufer. Würgemale und Kopfverletzungen sindlndizien eines gewaltsamen Todes. Wer war der Mann, und weshalb musste er sterben?Diese Fragen konfrontieren Hauptmann Wadzeck und seine Mitarbeiterin Sabine Donix mitder widersprüchlichen Person des Toten. Sie stellen fest: Das Motiv für die Tat hätteneinige ... Das war's. Lachdienliche HinweiseEine Sammlung von Kurztexten, die teils im Eulenspiegel erschienen waren, teils zumRepertoire Wiesners kabarettistischen Lesungen gehörten. Für das Berliner Kabarett DieDistel hatte er seinerzeit eine Fontane-Parodie geschrieben. Am Premierenabend abervermisste er sie auf dem Programmzettel. Der Direktor des Hauses behauptete, seinKabarettist Gustav Müller habe den viel zu langen Riemen nicht lernen können. Nun ja, derobrigkeitshörige Otto Stark hatte einfach Schiss. Wiesner dagegen nicht so sehr. Fortanwurde sein John Maynard viele Jahre lang ein Höhepunkt seiner eigenen Auftritte.Die singende Lokomotive

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Ein unglücklich verliebter junger Mann verabredet sich mit der Dame seines Herzens zumSchlittschuhlaufen, obwohl er noch nie solche Eisen unter den Sohlen gehabt hat … Einpaar neunmalkluge Männer machen eine bahnbrechende Erfindung, mit der man sich dasRauchen abgewöhnen könnte … In Leipzig, vor der Thomaskirche, steigt Johann SebastianBach von seinem Sockel, um mit ein paar Musikstudenten nächtlicherweile zu jazzen …In 25 Kurzgeschichten, zuvor schon in der Zeitschrift Eulenspiegel veröffentlicht, geschehenkomische, skurrile, alberne und abgründige Dinge.Frisör Kleinekorte in Venedig und anderswoErnst Röhl, Wirtschaftsredakteur der Zeitschrift Eulenspiegel, hatte ein ausgemachtesFaible für heiße Eisen, aber die mussten möglichst raffiniert verpackt werden, damit sichbestenfalls die Zielfiguren die Finger daran verbrannten, nicht aber Redakteur und Autor. Dawar für uns Eiertänzer schon Turnierformat vonnöten. Konnte man einen Missstand nichtfrontal angehen, so war die bessere Möglichkeit, den Frisör Kleinekorte über das Themaparaphrasieren zu lassen. Das klappte fast immer, was vielleicht auch daran lag, dass dieeingewanderten Genossen der ZK –Abteilung Agitation und Propaganda des Berlinischennicht mächtig waren.Zweimal aber blieben Kleinekortes Monologe schon beim Chefredakteur Gerd Nagelhängen. Bei dem Text Frisör Kleinekorte – ein Rufer in der Wüste notierte er: „Das ist eineBankrotterklärung für unsere sozialistische Volkswirtschaft. Nein und nochmals nein!“Frisör Kleinekorte seift wieder einMitte April 1961 redete ganz Berlin über Juri Gagarin und seine spektakuläre ErdumrundungIch steuerte den Frisörsalon an und wollte gerne den Meister zu einem witzigen Kommentarprovozieren. Der Alte aber stand vor seiner Ladentür und schimpfte wie ein Rohrspatz,dass es die ganze Straße hören konnte. „Hamse schon jehört, wat die sich da ohm wiederausjedacht ham? Nu wollnse die kleinen Tauben allesamt verjiften, und dis, wo doch durchden Kriech so ville von die heimatlos jeworden sind, Is dis nich ’n Stück ausm Dollhaus? Dasteckt bestimmt wieder die verdammte Partei dahinter. Da sollnse doch lieber ihreParteijenossen verjiften, findense nich ooch?“ Da ich schon damals nicht das Zeug zumWiderstandskämpfer hatte, machte ich wortlos auf der Stelle kehrt und verschob dennächsten Haarschnitt um mindestens eine Woche. Da der Alte partout nicht domestizierbarwar, erfand ich von nun an Kleinekortes Monologe höchstselber, natürlich mit KowalcziksEingangsformel. Frisör KleinekorteEnde der fünfziger Jahre wohnte ich im Bezirk Prenzlauer Berg in einer Untermieterbude amArnswalder Platz. Gleich um die Ecke, in der Dimitroff-Straße, lag des Altberliner Figarosarmseliger, aber sauberer kleiner Laden, der mich mit seinen vielfältigen Utensilien an dasBühnenbild eines frühen Gerhart-Hauptmann-Dramas erinnerte. An der Tür hing einhandgeschriebenes Schild: Freitag und Sonnabend kann ich Kinder keine Haareschneiden. Den Frisierstühlen gegenüber prangte halblebensgroß ein gerahmteshandkoloriertes Foto. Es zeigte den schnauzbärtigen Ladenbesitzer in der kleidsamen

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Infanteristenuniform des Ersten Weltkriegs, neben sich, wie einen Hund an der Kette, einwassergekühltes Schweres Maschinengewehr auf Rädern, darunter ein Schild: WirHerrenfrisöre kämpfen für den Frieden.Solange Meister Kowalczik seinen Kunden bediente, vom Kittelumbinden bis zumKragenabbürsten, redete er auf ihn ein. Monologe voller skurriler Lebensweisheiten undkomischen Döntjes aus seinem langen Erdentagen. Die weitere Personnage bestand ausseiner Ehefrau, Muttern, die höchstens mal mit einem Töppken Kaffe in Erscheinung trat,aber in den Erzählungen ihres Mannes eine gewisse Rolle spielte.Herrensalon W. KleinekorteNach fast zwanzig Jahren geriet meine Figur in eine tiefe Sinnkrise. Dummerweise war mirim allerersten Text eine Altersangabe unterlaufen. Da sagt Kleinekorte: „Wissense. ick binjetzt an die Zweiundsiebzig …“ Unter den Lesern aber gab es auch mathematisch begabte;und die fingen nun an zu rechnen und taten empört der Redaktion kund, dass es so steinalteFriseure gar nicht geben könne, und man solle den alten Bartkratzer endlich einesnatürlichen Todes sterben lassen. Leserbriefe mussten in der DDR ernst genommen undbinnen 14 Tagen beantwortet werden, galten sie doch als Eingaben im Sinne desStaatsratserlasses über Eingaben. So tagte denn das Redaktionskollegium mit heißenKöpfen: Sollten die Leute gar recht haben? Zwar kamen die Briefe nicht aus dem berlin-brandenburgischen Sprachraum, sondern von einem kleinen zänkischen Bergvolk im Südender Republik. Aber es war ein hoher Prozentsatz von ungehaltenen Konsumenten: Bei einerAuflage von gut dreihunderttausend Exemplaren immerhin zwei Briefe!!!Traurig und verunsichert bangte ich um die Figur, die in all den Jahren nicht nur mir ans Herzgewachsen war. Dann aber bekam ich einen heißen Tipp, der mich zum Gegenschlagausholen ließ: In der Berliner Brunnenstraße gäbe es einen Herrenfrisör namens Fritz, dernoch mit dreiundneunzig Jahren hinter dem Stuhle stünde. Flugs machte ich mich in derRolle eines Kunden auf den Weg, und siehe da: Mein Informant hatte nicht gelogen. Als daskleine alte Männlein gegen Ende der Sitzung mit zitternden Händen seinen Barbierdegenschärfte, um mir den Nacken auszurasieren, packte mich die nackte Angst. Ich dachte, meinletztes Stündlein hätte geschlagen. Nun sagt man ja, in solcher Lage zöge blitzschnell nocheinmal das halbe Leben an einem vorbei. Von wegen! Ich hatte nichts als scheißerndeAngst. Da besann ich mich auf das Wort: Solange noch geredet wird, wird nicht –geschnitten. Also begann ich pausenlos auf ihn einzuquasseln. Dabei fragte ich ihn auch: „Sagense mal, Meister Fritz, in welchem Altersheim leben Sie denn?“ „Altersheim?!“,erwiderte er kopfschüttelnd. „Ick lebe als Untermieter - bei ältere Leute.“Jonas wird misstrauischAn einem Wintertag des Jahres 1967 verließ der Kollege P., leitender Mitarbeiter desEulenspiegel Verlages, um die Mittagszeit sein, um sich, wie er sagte, kurz mit einem altenKriegskameraden zu treffen. Als seine Kollegen Feierabend machten, war P. noch immernicht zurückgekehrt. Am nächsten Tag erschien er, sonst ein Muster an Korrektheit, nichtzum Dienst. Die Kollegen begannen sich zu wundern, zumal er am Vortage nicht mal seinenMantel mitgenommen hatte. Bald schwirrten die Gerüchte durch das Haus.

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Am Morgen darauf ging in einem Dorf bei Bernau eine junge Frau zur Arbeit. In einemWaldstück blieb ihr vor Schreck beinahe das Herz stehen. An dem Ast einer Eiche baumelteein Mann mit heraushängender Zunge …Der Fall P. konnte nie aufgeklärt werden. Als der Verlag Neues Berlin einen Wettbewerbum die beste Kriminalerzählung ausschrieb, beschloss ich, mich zu beteiligen. Da ich fürlängere Arbeiten gern den häuslichen vier Wänden entfleuchte, suchte ich mir ein ruhigesQuartier in der Uckermark. Als ich mit meinem Trabant gen Norden fuhr, hielt mich kurzhinter der Berliner Stadtgrenze ein junger Mann an. Ob ich bis Zerpenschleuse führe?Nachdem er eingestiegen war, erzählte er mir, er habe gerade seine Abiturprüfungbestanden. Ich gratulierte ihm und fragte ihn, warum er dann so ein trübseliges Gesichtmache. Da sagte er mir mit Tränen in den Augen, vor drei Tagen habe sich seinLieblingslehrer erhängt.Mach's gut, Schneewittchen. 10 Geschichten aus der KinderzeitEs tauchen die Gestalten meiner Kindheit aus dem Nebel der Vergangenheit auf: der böseKaufmann Sumpf, dessen Weib ich in ohnmächtiger Rachsucht beinahe umgebracht hätte,der furzende Lehrer Buchhorn, dem ich einen Spitznamen verpasste, der ihm bis zumLebensende anhing, die Kinder des Reichspropagandaministers auf der InselSchwanenwerder, der Feldmarschall von Mackensen in der Uniform der Totenkopfhusaren,welcher schmählich im Katzendreck erstickte, und viele andere.Meine Heimatstadt nannte ich 1982 nicht beim Namen, aber sie ist unschwer alsBrandenburg an der Havel zu erkennen. Auch die meisten Personen verschlüsselte ich, dennman weiß ja nie …Trotzdem wäre es einmal beinahe schiefgegangen. 1986 veranstaltetedie größte Buchhandlung der Stadt eine Signierstunde. Mehr als zweihundert Leser standenSchlange, aber so was war im Leseland DeDeDingsda keineswegs ungewöhnlich. Bei deranschließenden Lesung saß in der ersten Reihe ein Mann, der mir durch seineSchnapsfahne und seinen finsteren Blick auffiel. Leicht verunsichert überlegte ich: Woherkennste denn den Kerl? Nachdem der Beifall verrauscht war, zischte mir der Mann zu: „Detis ne Schweinerei von dir, dette jeschrieben hast, wie dolle mein Vadder jeschielt hat.Komm du mir nachher hier raus, sag ick dir!“Nun erst erkannte ich meinen ehemaligen Jungenschaftsführer Günter, der in dem KapitelAls ich ein Großdeutscher Pimpf war zu Recht nicht sehr schmeichelhaft weggekommenist. Ich verließ die Buchhandlung durch die Hintertür. Wie lange können Ressentiments nochweiterglimmen? Er war damals dreizehn, ich zwölf Jahre alt.Leb wohl, Rapunzel! 11 Kapitel aus der JugendzeitIn der Havelstadt Brandenburg endeten meine Kindheitserinnerungen Machs gutSchneewittchen. Und genau da geht es nun weiter. Das Kriegsende naht. Den letztenschweren Luftangriff erlebe ich in einem Hochbunker. Und plötzlich sind die gefürchtetenRussen da. Der deutsche Kampfkommandant weigert sich zu kapitulieren. Lieber opfert erdie Stadt. Vorbei an den ersten Toten, die ich in meinem zwölfjährigen Leben sehe, geht eshinaus auf einen Flüchtlingstreck. In einem märkischen Dorf hören wir im Reichsrundfunk dieMeldung, dass unser heißgeliebter Führer an der Spitze seiner Truppen in heldenhaftem

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Kampf gefallen sei. Nur den schwachsinnigen Alwin aus unserer Straße freut das: „Wennder abjekratzt is, kann er mir nich mehr wechholen lassen, sagt mein Pappa.“Nach dem Abitur versucht mich die Großstadt Berlin an ihren gewaltigen Busen zu drücken.Diese Liebe ist zunächst einseitig, nicht aber meine Liebe zu Luise, die nun für ein Jahr imStädtischen Dolmetscherseminar neben mir sitzt. Voller Seligkeit paddeln wir im Faltbootdurch die märkischen und mecklenburgischen Seen, wandern den Rennsteig entlang undspuken auf der Burg Falkenstein im Harz herum. Alles könnte gut sein, wäre da nicht dienoch mauerlose Stadtgrenze. Jede Woche zweimal besucht Luise, die in WirklichkeitAnnegret heißt, in Westberlin den Gottesdienst einer christlichen Sekte, und ich bemühemich, ihr in ihrem Glauben zu folgen. Warum soll ich mir kein Beispiel an dem französischenKönig Henri IV. nehmen, der zum katholischen Glauben übertrat, weil ihm Paris eine Messewert war? Man braucht ja nur 20 Pfennige für eine S-Bahnkarte, um das Land zu wechseln.Spuk unterm RiesenradAuf einem Staubsauger fliegen sie durch die Lüfte – vom Alexanderplatz zur BurgFalkenstein im Harz: Hexe Emma, Riese Otto und der böse Zwerg Rumpi, lebendiggewordene Figuren aus einer Berliner Geisterbahn. Die drei Enkelkinder des Schaustellers,Umbo, Tammi und Keks, machen sich auf zu einer atemberaubenden Verfolgungsjagd.Die siebenteilige Abenteuerserie von C. U. Wiesner, erstmalig im Fernsehen der DDR am 1.Januar 1979 ausgestrahlt, hat es längst zu einem Kultstatus gebracht. Sie wurde zu einemzweiteiligen überaus erfolgreichen Kinofilm, erreichte als Kinderbuch in den achtziger Jahreneine Auflage von über 100.000 Exemplaren und wurde von zahlreichen Fernsehsendern aufvier Kontinenten übernommen (u. a. Spanien, China, Kanada, Ägypten). Im Sommer 2012 eroberten Hexe, Riese, Rumpelstilzchen auf einen Streich gleich drei Theaterbühnen inRostock, Berlin und Dresden. Bei Google findet man inzwischen fast 63.000 Einträge. Nachdem Spuk unterm Riesenrad ging es fröhlich und gruselig weiter: Spuk im Hochhaus (1982),Spuk von draußen (1987) und Spuk aus der Gruft (1997).Friseur Kleinekorte - Salongespräche aus drei JahrzehntenIm Jahre 1990 wurde der Eulenspiegel Verlag durch jenes Institut liquidiert, das manirreführend Treuhand nannte. Bald darauf gab es einen neuen Verlag gleichen Namens. Derbrachte im Jahre 1994 so etwas wie Best of Kleinekorte heraus, das war eine Auswahl ausden vorangegangenen vier Büchern, dazu einige Texte, die nach dem Mauerfall imEulenspiegel erschienen waren. Dies war der Endpunkt einer Erfolgsgeschichte: EineGesamtauflage von einer halben Million Bücher.Eine Theaterfassung: Kleinekortes Große Zeiten, die 1969 unter der Mitregie des Autors am Volkstheater Rostock uraufgeführt wurde, dort viele Jahre an mehreren Spielstättenerfolgreich lief und an etlichen Theatern – außer in Berlin – nachgespielt wurde.Eine Fernsehfassung am Studio Rostock 1970. Natürlich ließ ich es mir nicht nehmen,selber in die Rolle des Willem Kleinekorte zu schlüpfen. In manchen Jahren waren es mehrals siebzig Auftritte im Rundfunk, auf Kabarettbühnen und auf gut besuchten öffentlichenLesungen.

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Beinahe wäre es auch noch zu einem DEFA-Film gekommen. Der Erzkomödiant RolfLudwig lag schon auf der Lauer. Leider war ich an den falschen Dramaturgen und denfalschen Regisseur geraten.Trotzdem bin ich, inzwischen selber ein Methusalem, noch immer ein bisschen stolz aufmein literarisches Geschöpf, den Frisör Kleinekorte, den das Brandenburg-BerlinischeWörterbuch in eine Reihe mit den Figuren von Glassbrenner und Tucholsky gestellt hat.