Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

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Universit¨ at Leipzig Institut f ¨ ur Philosophie Wissenschaftliche Abschlussarbeit zur Erlangung des akademischen Grades ”Magister Artium” Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon Charlotte Knips Frohburgerstr. 40 04277 Leipzig Matrikelnummer: 1187195 1. Hauptfach: Philosophie 2. Hauptfach: Physik Betreuung und Gutachten: Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider Dr. Christian Schmidt Leipzig, 17. Dezember 2012

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Magisterarbeit, eingereicht am Institut für Philosophie der Universität Leipzig im Wintersemester 2012-2013.

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Universitat LeipzigInstitut fur Philosophie

Wissenschaftliche Abschlussarbeit zur Erlangung desakademischen Grades ”Magister Artium”

Die Spannung zwischen Organischem undNicht-Organischem bei Deleuze, Guattari

und Simondon

Charlotte KnipsFrohburgerstr. 40

04277 Leipzig

Matrikelnummer: 11871951. Hauptfach: Philosophie2. Hauptfach: Physik

Betreuung und Gutachten: Prof. Dr. Ulrich Johannes SchneiderDr. Christian Schmidt

Leipzig, 17. Dezember 2012

Page 2: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

Inhaltsverzeichnis

Einleitung 1Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

I Simondons Philosophie der Ontogenese 41 Simondon und das Problem der Individuierung . . . . . . . . . . . 42 Begründung einer neuen Methode und Logik . . . . . . . . . . . . 53 Physikalische und technische Paradigmen . . . . . . . . . . . . . . 10

Technische Paradigmen: Hylemorphismus und Nachrichten-technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Der Kristall als Paradigma für die Individuierung . . . . . . . . 164 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen . 17

Physikalische und biologische Individuierung . . . . . . . . . . 17Das Lebendige und das Problem, Individuierung als Lösung . . 21Topologie des Kristalls, Topologie des Organismus . . . . . . . . 25

II „La cinématique de l’œuf“ 29Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

1 Virtuelle Mannigfaltigkeiten und Differenzphilosophie . . . . . . . 29Problem und Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30Die Idee als virtuelle Mannigfaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 32Singularität, Struktur und Determiniertheit . . . . . . . . . . . . 34Differentierung, Integration und Differen z

t ierung . . . . . . . . 362 Individuierung als Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

Das intensive Feld der Individuierung und die Disparation . . . 38Resonanz und Dispars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

3 Embryogenese und Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46Ei, Drama und Larvensubjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Embryogenese, Epigenese und Präformismus . . . . . . . . . . . 49Differenzierung und Strukturalismus in der Biologie . . . . . . . 51Die Komplexität in biologischen Systemen . . . . . . . . . . . . 53

III Der Organismus und das Nicht-Organische 56Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux . . . . . . . . . . . . . . . . . 57Das Rhizom als Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57Der glatte und der gekerbte Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . 60Konsistenz- oder Immanenzebene . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

2 Die Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68„Les deux plans“ oder Konsistenzebene und Bauplan . . . . . . 69

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Von Simondon zur Geologie – Die Stratifizierung . . . . . . . . . 72Der Körper ohne Organe als Bild des Nicht-Organisierten . . . . 80

3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität . . . . . 84Weder Struktur noch Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85Kritik des klassischen Maschinenbegriffs: Autopoietische Ma-

schinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87Die abstrakte Maschine und das maschinische Gefüge . . . . . . 89Auf der Mechanosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93Der „Platz des Lebens“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Konklusion und Ausblick 102

Literaturverzeichnis 104

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Einleitung

Wie konstituieren sich Lebewesen – als Individuen, als Organismen – und wie

werden sie vom Unbelebten abgegrenzt? Ist ein Lebewesen notwendigerweise

auch ein Organismus?

Diese Fragen gehören zum Bereich der Biologie – so sieht es zunächst einmal

aus. Der Organismus und das Lebende sind, nach der Schuldefinition, Gegen-

stände der „Wissenschaft vom Leben“.

Bei genauerem Hinsehen gibt es Grauzonen und Mischfälle. Ist ein Virus

lebendig, obwohl er kein eigenes Reproduktionssystem hat? Ist ein Compu-

terprogramm lebendig, nur weil es sich selbst spontan und indeterministisch

reproduzieren kann? In Ermangelung einer vollständigen und eindeutigen Lis-

te mit Merkmalen und Kriterien, die ein System erfüllen muss, um als lebendig

zu gelten, verwischen sich nicht nur die Grenzen der Lebewesen, physikali-

schen Dinge und der Artefakte, sondern auch die Grenzen der Biologie, der

Physik, der Chemie und der Ingenieurwissenschaften. Disziplinen wie die

Molekularbiologie oder die Selbstorganisationstheorie mit ihrem Unterbereich

des Artificial Life überschreiten so diese ehemals fest gezogenen Grenzen.

Die drei Denker, deren Positionen Gegenstand dieser Arbeit sind, haben sich

alle immer wieder mit den Gegenständen der Mathematik und der Natur- und

Ingenieurwissenschaften ihrer Zeit befasst, insbesondere mit dem Übergangs-

bereich zwischen ihnen.

Gilbert Simondon ist in Deutschland noch nahezu unbekannt und war auch in

Frankreich lange eine Randfigur mit Ausnahme der Aufmerksamkeit, die De-

leuze und Guattari ihm schon seit den 1960er Jahren in ihren Werken gewidmet

haben. Simondon ist stark von der Kybernetik und der Informationstheorie

der 1950er und 60er Jahre beeinflusst, hier vor allem sein Hauptwerk Du moded’existence des objets techniques.1 Sein zweites Hauptwerk L’individuation à la

1Erschienen 1958.

Page 5: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Einleitung

lumière des notions de forme et d’information2 ist dagegen der Frage nach der

Individuierung – zunächst von physikalischen Dingen, dann von lebendigen

Wesen und schließlich von psychologischen und intersubjektiven Phänomenen

– gewidmet. Die Besonderheit an Simondons Philosophie der Ontogenese ist

dabei der kontinuierliche Übergang zwischen diesen Bereichen.

Der erste Teil dieses Werkes, L’individu et sa genèse physico biologique3 hat durch

Deleuze große Beachtung erfahren und Elemente von Simondons Denken tau-

chen immer wieder in seinen Schriften auf. Deleuze selbst hat sich immer

wieder für die Interferenzen von Philosophie, Kunst, Mathematik und Natur-

wissenschaften interessiert und ihre Konzepte als Inspirationsquellen für seine

Philosophie genutzt. So trifft in seiner Philosophie der Ontogenese Bergsons

Virtuelles mit Riemanns Manngifaltigkeiten zusammen, um seinen von Kant

inspirierten transzendentalen Empirismus zu begründen. War Deleuze in seinen

Schriften der 1960er Jahre noch dem Strukturalismus in gewisser Hinsicht zu-

geneigt, änderte sich dies durch die Zusammenarbeit mit Félix Guattari. Im

gemeinsamen Werk der beiden nimmt das Konzept der Maschine einen zentra-

len Platz ein – zunächst mit der Wunschmaschine in Anti-Œudipus4, dann mit

der abstrakten Maschine und dem maschinischen Gefüge in Mille Plateaux.

Im Zuge dieses universellen Maschinismus verschiebt sich die Frage von der nach

dem Übergang von physikalischen und lebendigen Systemen zu der Frage nach

der Möglichkeit eines nicht-organischen Lebens, oder vielleicht sogar zu der des

Vorrangs des Nicht-Organischen vor dem Organisierten.

Aufbau der Arbeit

Das erste Kapitel ist Simondons L’individu et sa genèse physico-biologique gewid-

met, genauer der Beschreibung der Individuierung von technischen, physikali-

schen und lebendigen Individuen. Im zweiten Kapitel wird Deleuzes Theorie

der Individuierung als Aktualisierung eines Virtuellen diskutiert, wobei die

Betonung besonders auf den biologischen Aspekten und Simondons Einflüssen

liegt.

Im dritten Kapitel sollen dann Verbindungen, sowohl von Simondons Philo-

sophie der Ontogenese, insbesondere seiner Kritik des hylemorphistischen

2Vollständig erst 2005 erschienen.3Erschienen 1968, im weiteren Verlauf mit „IGP“ abgekürzt. Für weitere Abkürzungen s.

Literaturverzeichnis.41972 erschienen.

Page 6: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

Einleitung 3

Modells, als auch von Deleuzes Schriften der 1960er Jahre zur Zusammenarbeit

mit Félix Guattari aufgezeigt werden, um schließlich die Frage nach dem Ver-

hältnis vom Lebendigen zum Organisierten zu beantworten. Hier werden auch

Guattaris Schriften – Bücher und Sammlungen von Artikeln – zur Maschine

miteinbezogen. Insgesamt wird versucht, Bezüge zur Mathematik und zu den

Naturwissenschaften herauszustellen.

Page 7: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

Kapitel I

Simondons Philosophie der

Ontogenese

1 Einleitung: Simondon und das Problem der Indi-

viduierung

„Peu de livres, en tout cas, font autant sentir à quel point un philosophe

peut à la fois prendre son inspiration dans l’actualité de la science, et

pourtant rejoindre les grands problèmes classiques en les transformant, en

les renouvelant.“1

Gilbert Simondon (1924-1989) ist in Deutschland noch nahezu unbekannt. Das

als sein Hauptwerk betrachtete Du mode de l’existence des objets techniques wurde

erst kürzlich ins Deutsche übersetzt2. Von seinen übrigen Werken liegen noch

keine vollständigen Übersetzungen vor. Auch die Forschung in Frankreich

zeigt erst seit den 1990er Jahren großes Interesse an diesem Denker, bis dahin

„figure marginale“3 und hauptsächlich als Technikphilosoph bekannt. Den-

noch ist Simondons Denken für Deleuze bzw. für Deleuze und Guattari von

großer Bedeutung. Anne Sauvagnargues geht sogar so weit zu sagen, dass man

Différence et répétition nicht verstehen könne, ohne Simondons Philosophie sehr

aufmerksam zu studieren4. In Deleuzes Werken der 1960er Jahre, wie auch in

Mille Plateaux finden sich vor allem Verweise auf Simondons L’individu et sa

1Deleuzes Rezension zu L’individu et sa genèse physico-biologique, in L’île déserte et autres textes(1953-1974), herausgegeben von David Lapoujade, Minuit, Paris, 2002 , S.120-124, S. 124.

2Gilbert Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte, Diaphanes, 2012.3Sauvagnargues 2010, S.2424Ebd.

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2 Begründung einer neuen Methode und Logik 5

genèse physico-biologique 5. Veröffentlicht 1964, stellt dieses Werk nur einen Teil

von Simondons gesamter Dissertation dar, die vollständig erst 2005 unter dem

Titel L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information6 erschien. Es

war daher dieser Teil, der Deleuze und Guattari stark beeinflusst hat und daher

auch hier im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen soll.

Sich abwendend von einer Logik der Einheit und der Identität, verändert Si-

mondon das klassische Begriffs- und Kategoriensystem von Grund auf und

begründet durch Anleihen bei Biologie, Physik, Informationstheorie und Ky-

bernetik seine eigene Terminologie. Das Ziel von L’individu et sa genèse physico-biologique sei, das Werden von Individuen neu zu denken, und zwar auf den

drei Niveaus physisch, vital und psycho-sozial 7. Hierbei liegt der Fokus auf

dem Prozess statt auf dem Ergebnis, auf dem Intermediären, dem metastabilen

Bereich statt auf stabilen und unveränderlichen Substanzen. Die hylemorphisti-

sche Dyade Materie-Form wird aufgebrochen und ergänzt, so dass Disparität,

Singularität und Information, wie auch die Transduktion, ein Prozess des Wer-

dens, der dem System immanent, sich von Bereich zu Bereich fortpflanzend

abläuft, zu Schlüsselbegriffen werden.

Mit diesem Begriffssystem untersucht Simondon die Formationsprozesse von

Kristallen, Einzellern oder Viren bis hin zu komplexeren Organismen.

Diese Vorgehensweise impliziert eine gewisse Kontinuität zwischen den unter-

suchten Phänomenen. Simondon nimmt nur eine Seinsweise für physikalische

und lebende Individuen an. Er verfällt dennoch nicht in einen Reduktionismus

des Lebendigen auf das Physikalische, da er das physikalische Paradigma des

Kristalls zum Lebendigen in entscheidenden Punkten weiterentwickelt und

qualitative Unterschiede zwischen den jeweiligen Individuierungsprozessen

einräumt.

2 Begründung einer neuen Methode und Logik

Simondons Projekt bricht in Bezug auf Logik und Ontologie mit der Tradition.

Sowohl der aristotelische Hylemorphismus und der Atomismus als auch die

hegelsche Dialektik sind Ziel seiner Kritik. Den traditionellen Modellen wirft er

Unvollständigkeit vor; wo der Atomismus die Problematik in die elementaren

5Im weiteren Verlauf als IGP zitiert6Gilbert Simondon, L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information, Suppléments

Millon, Grenoble, 2005.7(IGP 16).

Page 9: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

6 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese

Bausteine der Materie verlege und diese einfach als bereits individuiert anneh-

me8, sei der Hylemorphismus außer Stande, die Individuierung vollständig

mit den Konzepten von Form und Materie zu erklären, da diese immer vor der

realen Individuierung als bloße Abstraktion betrachtet würden.9.

In jedem Falle könne mit den traditionellen Methoden allenfalls ein Teil der

Realität als „verarmtes Seiendes“10 gedacht werden, das immer schon fertige

Individuum. Ausgehend von Prinzipien wie dem der Identität oder vom ausge-

schlossenen Dritten sei es unmöglich, den präindividuellen Seinsbereich oder,

in Simondons Terminologie, die präindividuelle Phase des Seins zu beschreiben.

Simondon situiert seine Untersuchung daher vor jeder Logik und Ontologie:

„[L]’être individuel, principe de la notion de substance, doit être considéré

à travers l’individuation, opération qui le fonde et l’amène à l’être; l’étude

de l’ontogenèse doit être antérieure à la logique et à l’ontologie.“ (IGP

275-6)

Um das Individuum von seinem Entstehungsprozess her zu fassen, seien die

herkömmlichen Identitätskriterien nicht mehr hilfreich. Wie einem optischen In-

strument mit zu geringem Auflösungsvermögen, entgehe ihnen das Wesentliche

an Simondons Modell. Inspiriert von Quantenfeldtheorie und Kristallwachs-

tum – ein Phänomen, das später zum Paradigma für Individuierung überhaupt

wird – postuliert er die Mehrphasigkeit des Seins: es sei „mehr als Einheit undmehr als Identität„.11 So reichert er den präindividuellen Bereich an, um den

Entstehungsprozess immanent, von seinen Bedingungen her, beschreiben zu

können. In dieser Dynamik spielt die Relation eine wichtige Rolle und so ist

eines der – oder das Grundpostulat von Simondons Theorie:

„[C]onsidérer toute véritable relation comme ayant rang d’être“. (IGP 17)

Das mehrphasige Seiende steht zu sich selbst in Relation. Diese wird später

über das physikalische Paradigma als „interne Resonanz“ bezeichnet und ist es-

senziell für den Prozess der Individuierung. Die klassische Logik übersehe den

intermediären Bereich und könne nur die Extreme fassen; auf der einen Seite die

abstrakte Idee eines Individuums, das als ideelle Form zu einer völlig formlosen

Materie kommt, und auf der anderen das abgeschlossene, „verarmte“, von dem

Milieu, aus dem es entstand, abgetrennte Individuum.8Vgl. IGP 101.9Vgl. IGP 3, mehr zur Hylemorphismuskritik im nächsten Abschnitt.

10Ein „être appauvri“ (IGP 17).11„Plus qu’unité et plus qu’identité“ (IGP 7).

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2 Begründung einer neuen Methode und Logik 7

Wie genau ist der Individuierungsprozess nach Simondon zu denken, wie läuft

er ab? Und wie kann die Einheit eines Individuums garantiert werden, das ein

komplexes, mehrphasiges Seiendes ist? An die Stelle der Einheit der Identität

tritt die transduktive Einheit. Im Gegensatz zur Einheit der stabilen, einfachen

Substanzen beschreibt die Transduktion einen Prozess in einem heterogenen,

sich im metastabilen Gleichgewicht befindlichen System.

„[C]e n’est pas d’une substance mais d’un système qu’il y a individuation.“

(IGP 123)

Auch wenn der Begriff der Transduktion in der Genetik bereits verwendet wird,

definiert Simondon ihn auf seine Art neu.

„Nous entendons par transduction une opération physique, biologique, so-

ciale, par laquelle une activité se propage de proche en proche à l’intérieur

d’un domaine, en fondant cette propagation sur une structuration du do-

maine opérée de place en place: chaque région de structure constituée sert

à la région suivante de principe de constitution.“ (IGP18)

Das beste und einfachste Beispiel für die Transduktion im simondonschen Sinn

ist das Wachstum eines Kristalls aus einem Keim in einer übersättigten Lö-

sung; allgemeiner gefasst ein Übergang von einer Struktur zu einer anderen,

begünstigt durch eine Spannung, d. h. eine potenzielle Energie. Die Rolle, die

physikalische Konzepte bei dieser Operation spielen wird in Abschnitt 3 dieses

Kapitels genauer diskutiert werden.

Als „mentales Vorgehen“ und Vorgehensweise im entdeckenden Geist, die

darin besteht, „dem Seienden in seiner Genese zu folgen“12 stellt Simondon die

Transduktion der Dialektik gegenüber. Der entscheidende Unterschied liegt

in der Rolle des Negativen. Während in der Dialektik das Negative sozusa-

gen getrennt, sukzessiv in eine zweite Etappe ausgelagert wird, liegt es bei

der Transduktion „sous forme ambivalente de tension et d’incompatibilité“

immanent in der Bedingung des Prozesses vor (IGP 20). Die Etappen – oder

besser Phasen – sind simultan statt sukzessiv.13 Dieses Negative, als Spannung

zwischen Disparaten, als Problematisches, ist somit zugleich Bedingung der

transduktiven Lösung eben dieses Problems. Ursprung und Bild der Disparati-on entnimmt Simondon aus der Psycho-Physiologie der Wahrnehmung. Dort

bezeichnet Disparation den Unterschied der Bilder des linken und rechten Au-

ges. Unvereinbar miteinander im Zweidimensionalen, da aus verschiedenen12Ein „procédé mental“ und „démarche qui consiste à suivre l’être dans sa genèse“ (IGP 20).13Vgl. IGP 278.

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8 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese

Blickwinkeln aufgenommen, werden sie im Wahrnehmungsprozess so zusam-

mengeführt, dass eine „einzige Gesamtheit von höherem Grad“14 entsteht – das

dreidimensionale Bild als Lösung des Problems der Wahrnehmung.

Hierin sieht Simondon auch den Unterschied zwischen Transduktion auf der

einen, Induktion und Deduktion auf der anderen Seite. Während die Deduktion

ein dem problematischen Sachverhalt äußerliches, allgemeines Prinzip zusätz-

lich annehmen muss, kann die Induktion nicht die Realität des problematischen

Sachverhalts verlassen, da sie nur das Positive, das allen Termen Gemeinsame

einbezieht. Die Transduktion dagegen entnimmt die Problem-lösende Struktur

selbst aus den Spannungen des problematischen Bereichs und kann, indem sie

diese Disparationen, diese Unterschiede berücksichtigt daraus etwas genuin

Neues erhalten.15

Ganz allgemein gefasst ist die Transduktion der Übergang zwischen verschiede-

nen Phasen des Seins und wird in Simondons Methode die zentrale Operation,

die den Übergang von unterschiedlichen Niveaus der Individuierung als Pa-

radigma leiten. Die Theorie solcher Phasenübergänge allgemein bezeichnet

Simondon als allagmatique. Dies ist ein Neologismus, der vom griechischen

allatein, „sich wandeln, verändern“ abgeleitet ist.

In L’individu et sa genèse physico-biologique charakterisiert Simondon eine al-

lagmatische Theorie als „eine allgemeine Theorie des Austauschs und der

Zustandsänderung“.16 In einem kurzen Text Analyse des critères de l’individualitébeschreibt Simondon solche Zustandsänderungen, in denen die Genese des

Individuums besteht, genauer als „eine Art von Realitäts-Transfert, eine andere

Verteilung von Materie und Energie“.17 Dabei stehen Anfangs-und Endzustand

nicht im Verhältnis von Ursache und Wirkung sondern ersterer sei das „voraus-gehende Äquivalent“18 von letzterem. Abstrakte methodische Betrachtungen zur

Allagmatik finden sich in L’allagmatique.19 Dort schreibt Simondon:

„L’allagmatique est la théorie des opérations.“ 20

14„Un ensemble unique de degré supérieur“ (IGP 223, Fußnote).15Diese Auffassung vom Problem, das gleichzeitig auch Feld der Lösung ist, wird sich in

Différence et répétition wiederfinden. Dies wird im folgenden Kapitel diskutiert werden.16„[U]ne théorie générale des échanges et des modifications des états“ (IGP 287).17„[U]ne sorte de transfert de réalité, une autre répartition de matière et d’énergie“. aus Ana-

lyse des critères de l’individualité, in L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information(op. cit.), S. 558.

18„[E]quivalent antérieur“, ebd.19Ebenfalls einem der Anhänge zur Gesamtausgabe von L’individuation à la lumière des notions

de forme et d’information (op. cit.).20Ebd. S.559.

Page 12: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Begründung einer neuen Methode und Logik 9

Dass die Transduktion ein Übergang von einer Struktur zu einer anderen ist

wurde bereits gesagt, ganz allgemein definiert Simondon eine Operation wie

folgt:

„L’opération est ce qui fait apparaître une structure ou qui modifie une

structure. L’opération est le complément ontologique de la structure et la

structure est le complément ontologique de l’opération.“21

Also befasst sich die Allagmatik mit Strukturtransformationen und deren Ver-

hältnis zueinander. Da die Genese des Individuums über solche Transforma-

tionen begriffen werden muss, ist die Allagmatik somit auch das Studium des

individuierten Wesens.

In L’individu et sa genèse physico-biologique bezeichnet Simondon seine Methode

als „analogistischen Paradigmatismus“ (IGP 20).22 Mit Hilfe von Paradigmen

und analogistischen Verbindungen zu anderen Operationen will die Allagmatik

das Werden, d. h. den Zusammenhang von Strukturen und Operationen im

Seienden, verstehen. Damit ein Schema zu einem Paradigma wird, muss es

eine analogistische Relation im folgenden Sinn herstellen:

„L’acte analogique est la mise en relation de deux opérations, directement

ou à travers des structures.“23

Eine Analogie vergleicht Operationen oder bringt genauer gesagt Identitäten

zwischen operationalen Verhältnissen zum Vorschein, während im Gegensatz

dazu die Relation der bloßen Ähnlichkeit sich mit Identitäten zwischen struktu-

rellen Verhältnissen befasst.24 Die Allagmatik will zur ersten Art gehören. Ihr

Programm „zielt darauf ab, eine universelle Kybernetik zu sein“25, Dies wäre

eine Wissenschaft, deren Methode analogistischen Anwendung von Paradigmen

wie dem Kristallwachstum und der Informationstheorie auf die verschiedenen

Bereiche der Individuierung. Das bedeutet, die verschiedenen Systeme nach

den Prozessen und Operationen, die sie ausführen, nicht nach deren Strukturen,

in Zusammenhang zu stellen und so auch der Individuierung des Lebendigen

oder des psycho-sozialen auf den Grund zu gehen. Inwieweit diese Metho-

21Ebd.22Hier übersetze ich „analogique“ nicht im üblichen Wortsinn mit „analog“, sondern mit

„analogistsich“, um den methodischen Aspekt Hervorzuheben – nicht der Paradigmatismus istanalog zu etwas, sondern es handelt sich um eine Methode, die Paradigmen und Analogienverwendet.

23Ebd. S.561.24Vgl. ebd. S.563.25Im Original „vise à être une cybernétique universelle“, ebd.

Page 13: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

10 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese

de Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit der gewöhnlichen Kybernetik hat,

wird in in Abschnitt II.3 zu Simondons Kybernetik-Kritik noch erläutert werden.

3 Physikalische und technische Paradigmen

Technische Paradigmen: Hylemorphismus und Nachrichten-

technik

Das erste Kapitel von L’individu et sa genèse physico-biologique ist der Hyle-

morphismuskritik gewidmet. Simondon zeigt, dass der Hylemorphismus in

seiner elementarsten Form weder die Ontogenese allgemein, noch die „einfa-

che“ Entstehung eines Ziegels aus Ton und einer abstrakten Form im Speziellen,

vollständig erklären kann. Wie oben bereits erwähnt, fehlen entscheidende

Konzepte zu ihrer Vollständigkeit: die Relation und der intermediäre Bereich.

So ist der einfache Hylemorphismus ein Beispiel für die oben bereits erwähnten

Methoden, die nur die Extreme betrachten. In diesem Falle sind die „termes

extrèmes“ die völlig form- und energielose Materie und die bloß abstrakte

Form. In Simondons Ergänzung wird daher der herkömmliche Hylemorphis-

mus durch ein komplexeres Schema ersetzt, bestehend aus zwei „Halb-Ketten“

und und ihrer „Vermittlung“ – zwei Extreme und ihre Relation als entscheiden-

der dritter Term. Das folgende Schema soll dies veranschaulichen.26

Abstrakte FormA! Form (le moule)

Kra f te ! Formbare Materie B Rohmaterial

makroskopisch mikroskopisch

In diesem Schema sind die beiden „Halb-Ketten“ durch die einfachen Pfeile

(A und B) gekennzeichnet. Sie beschreiben den Übergang von den äußersten

Termen des Modells zu vermittelbaren, einander angenäherten Termen. Abezeichnet die Transformation der abstrakten oder ideellen Form, vom rein

geometrischen Parallelepiped zur materiellen, zur Anwendung bereitstehen-

den Form (le moule), die ausgegossen oder dem Material aufgedrückt werden

kann.27 Dies ist der Teil von makroskopischer Größenordnung.

Auf der anderen Seite bezeichnet B die Transformation vom Rohmaterial, wie

es in der Natur vorkommt zur homogenen Tonmasse, die bereit ist, die beab-

26Im Original „médiation“, vgl. dazu IGP 29-39.27Hier ist die Ausdrucksweise im Deutschen umständlicher als im Französischen, da das

deutsche „die Form“ sowohl „le moule“ (diese materielle Form), als auch „la forme“ (dieabstrakte Form) bedeuten kann.

Page 14: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Physikalische und technische Paradigmen 11

sichtigte Form anzunehmen. Hier liegt nun ein fundamentaler Unterschied

zum klassischen Verständnis von Materie: von einer „passiv deformierbaren“

zu einer „aktiv plastischen“ Materie. Die Form-„gebung“ ist demnach nur

auf Grund der mikroskopischen Eigenschaft der Kohäsion, verursacht durch

Anziehungskräfte zwischen den Molekülen des Lehms oder Tons, möglich. Die

potenzielle Energie, die zur Aktualisierung der Form benötigt wird, liegt in der

Materie.

Daher ist die Vermittlung zwischen den beiden Halb-Ketten durch einen Dop-

pelpfeil symbolisiert. Dieser deutet auf die Wechselwirkung zwischen Form

und Geformtem hin. Beide Terme tragen bestimmende Kräfte zur Formgebung

bei. Während die Form (moule) Kräfte ausübt, die zu einer Berandung, der

Bildung einer Oberfläche führen, wird durch die Kohäsion des Materials ge-

währleistet, dass diese Kräfte sich von Molekül zu Molekül fortpflanzen, „in

der ganzen Masse widerhallen“.28

Dieses Bild ist das eines Signals bzw. einer Welle, die sich durch Streuung

(Reflexion oder Refraktion) in einem System fortpflanzt. Passen Frequenz der

Welle und Eigenfrequenz des Materials zueinander, geht das System in einen

neuen Zustand über, den der Resonanz. Simondon definiert diese wie folgt:

„[L]a résonance est échange d’énergie et de mouvements dans une encein-

te déterminée, communication entre une matière microphysique et une

énergie macrophysique à partir d’une singularité de dimension moyenne,

topologiquement définie.“ (IGP39)

Auf den oben beschriebenen Formgebungs-Prozess angewendet, entspricht die

Form (moule) und die von ihr ausgeübte Kraft der makroskopischen Energie,

die Kohäsionskraft der Lehmmoleküle der mikroskopischen Materie, während

es sich bei der topologisch definierte Singularität – d. h. einer Diskontinuität –

um die Berandung handelt. Es geht also nicht nur um die Zusammenführung

von zwei unterschiedlichen Entitäten (Form und Materie) sondern auch um die

Vermittlung zwischen verschiedenen Größenordnungen, d. h. die Herstellung

einer „dimensionellen Kongruenz der beiden Enden der Kette“.29

Hier findet sich das oben besprochene Bild der Disparation wieder: Es wird

beschrieben, wie zwei heterogene und vorerst unvereinbare Bereiche in einer

neuen Ebene zusammengebracht werden können.30 Im Fall des hylemorphis-

tischen Modells ist dieses entscheidende Element und Schlüsselkonzept zur28„[S]e réverbère[nt] dans toute la masse“ (IGP 37).29„[C]ongruence dimensionnelle des deux bouts de la chaîne“ (IGP34).30Vgl. IGP 29.

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12 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese

Individuierung die Energie, die implizit schon in beiden Größenordnungen

enthalten war, jedoch erst durch die Individuierung im Zustand der Resonanz

manifest wird. Der hylemorphistische Dualismus von Form und Materie wird

zur „Triade Matiere-Form-Energie“ (IGP46) ergänzt. Um zu verdeutlichen, dass

dieser Formgebungsprozess nichts Äußerliches an sich hat – „die Form wirkt

nicht von außen“31 – spricht Simondon meist von der internen Resonanz.

Wie beim physikalischen Phänomen der Resonanz müssen zwischen den beiden

Systemen energetische und strukturelle Bedingungen erfüllt sein. Diese der

Materie inhärenten Strukturen nennt Simondon eccéités, Haecceitäten. Eine tech-

nische Formgebung muss diese Vorstrukturierung berücksichtigen, da diese,

wie schon am Beispiel der Kohäsion des Lehms gesehen, die Formbarkeit der

Materie bestimmt.

„[L]a prise de forme technique n’est pas une genèse absolue d’eccéité;

l’eccéité de l’objet technique est précédée et soutenue par plusieurs niveaux

d’eccéité naturelle qu’elle systématise, révèle, explicite, et qui commodu-

lent l’opération de prise de forme.“ (IGP 58)

Während die Form (moule) nicht einfach nach Belieben eine amorphe Materie

modelliert, sondern bestehende Strukturen moduliert (IGP 32), spielen die Haec-

ceitäten eine ebenso aktive Rolle, indem sie komodulieren. Statt aktiver Form und

passiver Materie entsteht eine Kommunikation zwischen den beiden, gewisser-

maßen ein Dialog aus Modulation und Komodulation. Hier wird das klassische

Bild des Ziegels durch die des Modulators als technisches Gerät (Triode, Relais,

Transistor), das zentral für die Nachrichten- und Informationstechnologie war

und ist, erweitert.

Das von Simondon verwendete Beispiel der Triode dient als Weiterentwicklung

der Form (moule). Die Triode ist eine Elektronenröhre, in der ein zwischen

Anode und Kathode befindliches, relativ zur Kathode negativ gepoltes Gitter

den Elektronenstrahl beeinflusst indem es als variable Potentialbarriere die

Elektronen zu einem gewissen Grad am Durchlaufen hindert. So kann dem

Elektronenstrahl in Form von Intensitätsvariationen eine Information „aufmo-

duliert“ werden. Hier entspricht der Elektronenstrahl der „Materie“ und die

Spannung zwischen Gitter und Kathode der (abstrakten) „Form“. Die Modu-lation verändert kontinuierlich und in sehr kurzen Zeiträumen ein im Fluss

befindliches Medium. So wird die feste, zeitlich nicht veränderliche Form, wie

sie am Ziegel deutlich wurde, zum Informationsfluss.31„[L]e moule n’agit pas du dehors"(IGP 37).

Page 16: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Physikalische und technische Paradigmen 13

Ganz allgemein definiert Simondon die Modulation wie folgt:

„[L]a modulation est la transformation d’une énergie en structure (. . . ).

Dans ce cas, la structure est un signal.“32

Die Energie (Elektronenfluss, beschleunigt zwischen Kathode und Anode) wird

zu einer Struktur (Signal) indem ihr durch Variationen der Gitterspannung eine

Information aufmoduliert wird. Zu den fundamentalen Eigenschaften eines

Modulators gehört der Aspekt der Verstärkung. Die potentielle Energie oder

“zu modulierende Energie“ ist im Vergleich zur „modulierende Information

(. . . ) getragen von einer sehr kleinen Energie“33 sehr groß. So wird das kleine

Signal der Gitterspannung durch die Kathodenspannung verstärkt. Daher ist

der Modulator Schema/Paradigma für die Vermittlung zwischen disparaten

Größenordnungen:

„[L]e modulateur est amplificateur sans itération ou processus de multipli-

cation parce qu’il met en jeu un rapport entre termes extrèmes d’une série

énergétique incidente et d’une série locale, en réalisant dans un espace

privilégié une équivalence entre ces termes extrêmes.“34

Das Ausgangssignal wird so als vermittelt zwischen der einfallenden Reihe und

der lokalen Reihe interpretiert als etwas Neues, eine noch nicht dagewesene

Zusammenführung von einer unstrukturierten großen Eingangsenergie und

einer strukturierten, aber an sich zur Übertragung zu schwachen Information.

Ergebnis und Grenzen des technischen Paradigmas

Wie bereits in der Einleitung angekündigt, hat die Hylemorphismuskritik das

Begriffssystem stark verändert:

„Aux notions de substance, de forme, de matière, se substituent des noti-

ons plus fondamentales d’information première, de résonance interne, de

potentiel énergétique, d’ordres de grandeur.“ (IGP17)

Anders betrachtet ist die oben angesprochene Triade Materie-Form-Energie be-

stehend aus zwei disparaten Größenordnungen, die molekulare und die ma-

kroskopische, und ihrer Vermittlung. Sie ist „eine Realität, die einer möglichen

Individuierung den Rahmen setzt“ indem sie durch die Information vermittelt32L’Allagmatique, S. 561.33Im Original „énergie à moduler“ und „information modulante (. . . ) portée par une énergie

très faible“, in Perception et Modulation, S. 191.34„L’amplification dans les processus d’information“ (1962), S.157-176, S. 166.

Page 17: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

14 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese

bzw. „Kommunikation zwischen Größenordnungen“ herstellt.35 In diesem

letzten Term besteht die Realität der Relation (IGP69), das bereits mehrmals

angesprochene fundamentale Postulat von Simondons Ontologie.

Im intermediären Bereich entsteht eine „zone (. . . ) des singularités qui sont

l’amorce de l’individu dans l’opération d’individuation“ (IGP64). In diesem

Realitätsbereich, durch den und in dem der Individuierungsprozess nur seinen

Anfang nehmen kann, muss sich auch das Prinzip der Individuierung befin-

den: bei den Diskontinuitäten, Grenzen, (Phasen-)Übergängen „jouant un rôle

d’information active“ (IGP65). „Amorce“ bedeutet soviel wie Zünder, was auf

den Aspekt der Verstärkung hinweist. Dies wird am Beispiel der Kristallisation

noch besser deutlich werden. Ein Prozess, der mit Hilfe einer allagmatischen

Theorie (im oben besprochenen Sinn) beschrieben werden muss:

„ [L]a prise de forme ne peut s’éffectuer que si matière et forme sont réu-

nies en un seul système par une condition énergétique de métastabilité.

Cette condition, nous l’avons nommé résonance interne du système, in-

stituant une relation allagmatique au cours de l’actualisation de l’énergie

potentielle.“ (IGP 67)

Schon das auf technische Geräte begrenzte Paradigma zeigt, welche Kondi-

tionen eine „wirkliche“ Individuierung erfüllen muss: ein System, in einem

metastabilen Zustand. Ein im metastabilen Gleichgewicht befindliches System

kann durch Störungen mit relativ kleiner Energie seinen Zustand ändern und

birgt im Gegensatz zum stabilen System noch potentielle Energie, die durch

die Störung freigesetzt werden kann.36 So kann ein passender, aber relativ

kleiner „Zünder“ der Individuierung es in Resonanz versetzten und so zu einer

Zustandsänderung (allagmatische Relation zwischen den Zuständen) bringen.

Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob das technische Paradigma ausreicht, um

die Individuierung allgemein zu erklären. Das obige Ergebnis, insbesondere

die Betonung auf das metastabile Gleichgewicht deutet bereits an, dass eine

Betrachtung von Phasenübergängen in physikalischen Systemen diesem Prinzip

noch besser gerecht werden kann.

Das liegt zunächst daran, dass die technische Individuierung zeitlich begrenzt

ist und den über eine gewisse Lebensdauer aufrecht erhaltenen Zustand der

35„[R]éalité encadrant une individuation possible“ und „communication entre ordres degrandeurs, singularité“, IGP 103.

36Im Gegensatz hierzu ist das stabile Gleichgewicht auch gegen große Störungen stabil undder labile Zustand ändert sich bereits durch infinitesimale Störungen.

Page 18: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Physikalische und technische Paradigmen 15

inneren Resonanz nicht erklären kann. Simondon unterscheidet hier zwischen

verschiedenen Arten von Individuen: einem bloßen „individuiertem Seiendem“

und einem „realen“ oder „wahrhaftigen“ (véritable) Individuum“.37 Die tech-

nische Individuierung ergebe zwar die erste Art, aber für ein Individuum im

stärkeren Sinne müsse noch gefordert werden, dass das System der Individuie-

rung mit seinen Potenzialen unter der Bedingung der internen Resonanz vom

Individuum über seine Lebensdauer zu einem gewissen Grad aufrecht erhalten

wird. Dies wird später als „fortdauernde Individuierung„ (individuation per-pétuée bezeichnet.Im Gegensatz dazu sei das technische Individuum nur genau

während seiner Individuierung ein eigentliches Individuum:

„[L]e véritable individu n’existe qu’un instant pendant l’opération techni-

que.“ (IGP 67)

Ein weiteres Manko des technischen Paradigmas ist seine Äußerlichkeit, die

Trennung zwischen Individuum und Individuierendem: der Ziegel ist von

Form und Handwerker getrennt, der Elektronenstrahl durchläuft und verlässt

die Triode. Dagegen müsse das Lebendige als „handelndes und Theater“ agentet théâtre seiner eigenen Individuierung verstanden werden (IGP12). Schon der

Einleitung hatte Simondon das Lebewesen sowohl betreffs seiner Entstehung

als auch seiner Aktivität vom Automaten abgegrenzt:

„Il y a dans le vivant une individuation par l’individu et non pas seulement

un fonctionnement résultant d’une individuation une fois accomplie, com-

parable à une fabrication.“ (IGP 9)

Die Ontogense lässt sich nicht auf die Herstellung einer Maschine reduzieren,

da hierzu eine „intention fabricatrice“ (IGP 46), einen Plan, der dem technischen

Individuum äußerlich bleibt, vorausgesetzt werden muss. Um alle Teleologie

aus der Erklärung der Ontogenese herauszuhalten, müsse man sich über andere

Prozesse dem Lebendigen annähern, „les processus de formation naturelle des

unités élémentaires que la nature présente en dehors du règne défini comme

vivant“ (IGP 46). Das Individuum muss als „s’individuant“ verstanden werden.

Auch die Aktivität des Individuums sieht Simondon als prinzipiell nicht auf

Anpassung und Feedback reduzierbar.

„[L]e vivant résout des problèmes, non pas seulement en s’adaptant (. . . ),

mais en se modifiant lui-même, en inventant des structures internes nou-

velles, en s’introduisant lui-même complétement dans l’axiomatique des

problèmes vitaux.“ (IGP 9)37Ein „être individué“ und „individu réel“.

Page 19: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

16 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese

Der Automat im Gegensatz dazu löst keine Probleme, er nähert sich nur durch

Anpassen seines „Verhalten“ einem vordefinierten Ziel an ohne dabei neue

Strukturen zu erschließen (vgl. IGP 145). Auf das Konzept des „Problemati-

schen“ wird in Abschnitt 4 dieses Kapitels noch genauer eingegangen werden.

Simondon kritisiert deshalb die Kybernetik – in einem genannt mit Descartes

Doktrin der Tier-Maschinen – da sie versuche, die Funktionen des Lebendigen

allein durch Darstellungen „issues de la technologie“ (IGP 47-48) zu durch-

dringen. Was er der Kybernetik vorwirft ist, statt wissenschaftlich Analogien

zwischen Operationen aufzustellen, nur pseudo-wissenschaftlich Ähnlichkeiten

von Strukturen zu betrachten und so in einen Reduktionismus verfällt.38 Auf

das Bild des Modulators wird Simondon später in diesem Sinne der Analogie

allerdings noch zurückkommen. 39

Der Kristall als Paradigma für die Individuierung

Die Physik der Phasenübergänge: Metastabilität und potenzielle Energie

Die Hylemorphismuskritik hatte gezeigt: Phasenübergänge, Singularitäten und

Zustandsänderungen, nicht Kontinuität der Materie stehen im Mittelpunkt.

Erster und fundamentaler Aspekt der physikalischen Individuierung wird

daher folgender:

„L’individuation comme opération n’est pas liée à l’identité d’une matière,

mais à une modification d’état.“ (IGP 96)

Als Beispiel für einen Phasenübergang sucht Simondon das Phänomen der

Kristallisierung aus, da es sich dabei um eine Strukturtransformation vom

amorphen zum geometrisch angeordneten Zustand handelt. Bei einer übersät-

tigten Lösung im metastabilen Zustand genügt dann schon ein Kristallkeim um

die Kristallisierung in Gang zu setzen. Dieser Keim kann spontan entstehen

oder von außen zugefügt werden. Dies nennt Simondon die „condition infor-

mationnelle“ (IGP 97), der Keim spielt die Rolle der Singularität, wie sie weiter

oben beschrieben wurde, und löst die Struktur-Veränderung aus:38L’Allagmatique, S. 563, auch Combes 1999, S.11.39Hier soll am Rande betont werden, dass L’individu et sa genèse physico-biologique vor dem

Aufkommen von Selbstorganisationstheorie, Synergetik und Artificial Life verfasst wurde.Umberto Maturana und Francesco Varela zum Beispiel definieren den Maschinenbegriff soum, dass Autopoiesis die externe Teleologie ersetzt. Auch der epigenetische Standpunktund Selbstorganisationstheorien in biologischen Systemen rücken davon ab, das Lebendigeals Ausführendes eines genetischen Programms zu sehen. Hier ist Deleuzes Theorie derbiologischen Systeme und auch Deleuze und Guattaris Theorie der Maschine sicher näher ander heutigen Naturwissenschaft. Dies wird in Abschnitt II.3 und III.3 diskutiert werden.

Page 20: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen 17

„Le début de l’individuation structurante est un événement pour le systè-

me en état métastable.“ (IGP 97)

Der Keim bricht (rompt) das metastabile Gleichgewicht und das System geht

transduktiv fortschreitend in einen stabilen, den kristallinen Zustand über. Die

Richtung hiervon wird durch die potentielle Energie geleitet, es ist eine „Be-

wegung von der Zone, die reich an potenzieller Energie ist hin zum bereits

strukturierten Bereich“.40

Diese Transduktion ist wesentlich Verstärkung, da der Keim „eine Materie

strukturiert, deren Masse um einen Faktor von mehreren Milliarden größer als

seine eigene ist.41 Diese Strukturierung läuft solange fort, bis die energetischen

oder strukturellen Voraussetzungen der Metastabilität nicht mehr erfüllt sind.

Das Beispiel des Kristalls zeigt, dass Individuierung „eine Operation ist, die aus

dem Zusammentreffen und der Kompatibilität von einer Singularität und von

energetischen und materiellen Bedingungen resultiert“ (IGP 102). Und anders

als bei den technischen Beispielen dem System immanent, frei von äußerer

Teleologie. Der Keim trifft auf ein metastabiles Feld, eine „situation hylémor-

phique tendue“ (IGP 109), die globale energetische und materielle Bedingungen

bereitstellt.

Simondon beschreibt nun die Allagmatik als eine Methode, die die Individuen

von genau so einem Prozess her zu verstehen sucht: die Entwicklung einer

Singularität durch die Vereinigung von globalen energetischen und materiellen

Bedingungen in einer intermediären Größenordnung.42 Der Kristall liefert hier-

für ein Paradigma, das das technische Beispiel nur andeutungsweise deutlich

machen konnte.

4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung

des Lebendigen

Physikalische und biologische Individuierung

Die Absicht des analogistischen Paradigmatismus ist, von der physikalischen Indi-

viduierung aus die Individuierung des Lebendigen zu verstehen. Inwiefern ist

40Im Orignial „un mouvement vers la zone riche en énergie potentielle à partir du domainedéjà structuré“, „L’amplification dans les processus d’information“, S.173.

41„[L]a structuration d’une masse de matière plusieurs milliards de fois supérieure à lasienne“ (IGP 106).

42Vgl. IGP 102.

Page 21: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

18 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese

das physikalische Modell wirklich paradigmatisch? Insofern, als es allagmatisch–im oben Besprochenen Sinne einer Methode – ist. Die Betonung liegt auf der

Zustandsänderung, die durch dem System immanente Bedingungen erklärt

werden kann:

„La physique invite á penser l’individu comme étant échangeable contre

la modification structurale d’un système, donc contre un certain état défini

d’un système.“ (IGP287)

Hierbei beruft sich Simondon nicht nur auf die Strukturierung einer amorphen

Lösung beim Kristallwachstum, sondern auch auf den Dualismus von Welle

(„quantité d’énergie“) und Teilchen („individu physique“) des Photons. Teil-

chen bzw. Strukturen können allgemein entstehen oder vernichtet werden, das

entscheidende dabei sind die Potenziale, die die Lösungen der Wellengleichung

bestimmen.43

Zur Beschreibung der Individuierung des Lebendigen werden daher die selben

Konzepte wie beim physikalischen Paradigma angewendet, der Übergang von

physikalisch zu lebendig ist der Methode nach kontinuierlich. Simondon stellt

eine methodologische Hypothese auf:

„Il ne semble pas qu’il faille opposer une matière vivante et une matière

non vivante, mais plutôt une individuation primaire en systèmes inertes

et une individuation secondaire en systèmnes vivants, précisément selon

les différentes modalités des régimes de communication au cours de ces

individuations.“ (IGP 131)

Der Unterschied zum vitalistischen Denken, das dem Lebendigen einen substan-

ziellen, qualitativen Unterschied zugesteht, liegt in der graduellen Definition

des Unterschieds in Simondons Modell. Hier gehören Physikalisches und Le-

bendiges nicht verschiedenen Ordnungen von Realität an, sondern werden als

„zwei Geschwindigkeiten der Evolution des Realen“ behandelt44 – als Produkte

von grundsätzlich analogen Prozessen die aber durch unterschiedliche Be-

dingungen und unterschiedliche Geschwindigkeiten verschiedene Strukturen

hervorbringen:

„[U]ne individuation rapide et itérative donne une réalité physique, une

individuation ralentie, progressivement organisée, donne du vivant.“ (Fuß-

note1 IGP 279)

43Eine ausführliche Diskussion der Bedeutung des Welle-Teilchen-Dualismus für SimondonsTheorie der Ontogenese findet sich in Barthélémy 2008, S.24-34.

44„ [D]eux vitesses d’évolution du réel“ (IGP 279).

Page 22: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen 19

Verglichen werden gemäß Simondons analogistischer Methode die Operatio-

nen der Individuierung, im Prozess des Werdens, den das System durchläuft,

nicht Strukturen, Formen oder Organisationen. Das Verständnis der physikali-

schen Individuierung ist reichhaltig genug um graduelle aber fundamentale

Unterschiede zwischen den Bereichen zu machen. Über die Fähigkeit eines Sys-

tems, Information aufzunehmen als „essenzieller Ausdruck der Operation der

Individuierung“45 wird gewissermaßen ein Grad der Individuierung definiert:

„[I]l y a individuation physique lorsque le système est capable de recevoir

une seule fois de l’information , puis développe et amplifie en s’individuant

de manière non autolimitée cette singularité initiale. Si le système est capa-

ble de recevoir successivement plusieurs apports d’information, de com-

patibiliser plusieurs singularités au lieu d’itérer par effet cumulatif et par

amplification transductive la singularité unique et initiale, l’individuation

est de type vital, autolimitée, organisée.“ (IGP132)

Die Individuierung des Lebendigen unterscheidet sich demnach fundamental

dadurch, dass sie komplexer und vielschichtiger als die physikalische ist, die

gewissermaßen einfach und geradlinig jeweils ausgehend von einer Singularität

voranschreitet. Das hat vor allem Auswirkungen auf die topologischen Aspekte

der Individuierung.

Dieses Mehr an Komplexität bedeutet aber nicht, dass die Individuierung

des Lebendigen nach der physikalischen kommt, im Gegenteil: Wo der Kris-

tall im Fortschreiten metastabile in stabile Bereiche umwandelt, konserviert

das lebendige Individuum immer noch metastabile Bereiche, die für künftige

Individuierungen Potenziale (z. B. des Wachstums oder der Wundheilung) be-

reitstellen können. So gleicht es im Hinblick auf die energetischen Bedingungen

eher einem „einem Kristall im Entstehungsprozess, der sich verstärkt ohne

sich zu stabilisieren“46 als einem fertigen und somit stabilen physikalischen

Individuum. Simondon spricht von einer Dilatation, d. h. eine Ausdehnung der

Anfangsphase der physikalischen Individuierung, ein Auf- oder Zurückhalten

des Prozesses der Stabilisierung. Mit dem biologischen Terminus der „Neo-

tenie“, der ein Fortbestehen von nicht-voll-entwickelten oder larven-artigen

Zügen in einem erwachsenen Lebewesen bezeichnet, charakterisiert er dies

auch als „Neotenisierung der physikalischen Individuierung.47

45„[E]xpression essentielle de l’opération de l’individuation“. (IGP 132).46Im Orignial „un cristal à l’état naissant s’amplifiant sans se stabiliser“ (IGP 133).47„[N]éoténisation de l’individuation physique“ (IGP 280)

„Neotenie [von griech. neos=Junges, teinein=spannen (. . . )], Neotänie, Progenese, Erreichen der

Page 23: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

20 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese

Diese Formulierung könnte vermuten lassen, dass Lebewesen als bloße Vorstufe

zu unbelebten Wesen angesehen werden. Eine solche Verkürzung der Verbin-

dung zwischen den Individuierungsprozessen von Belebtem und Unbelebtem

birgt die Gefahr eines Reduktionismus. Derartige Vorwürfe weist Simondon

allerdings zurück, es handele sich weder um eine Reduktion noch um einen

Zusammenhang von Ursache und Wirkung:

„[C]omme nous supposons qu’il y a des degrés divers d’individuation,

nous avons utilisé le paradigme physique sans opérer une réduction

du vital au physique (. . . ). Nous ne voulons nullement dire que c’est

l’individuation physique qui produit l’individuation vitale.“ (IGP 271)

Vielmehr sei die Individuierung des Unbelebten „eine Individuierung die Etap-

pen überspringt, die an ihrem Ursprung nicht lange genug ausharrt“48, da

sie den Phasenübergang zu schnell und vollständig vollziehe. Bei der Indivi-

duierung des Lebendigen passiert so gewissermaßen mehr, da sie durch die

Dilatation des inkohärenten, metastabilen Zustandes eine „Vertiefung des ex-

tremen Anfangs“ vollzieht.49 Sie vertieft und kompliziert die physikalische

Individuierung indem sie sie verlangsamt, in der Schwebe hält und dabei

verstärkt. Daher erfordert sie auch komplexere Anfangsbedingungen, was

Spannung und Metastabilität betrifft. Die Transduktion im Lebendigen, der

fortschreitende Formungsprozess, ist aus diesem Grund viel komplizierter als

am Beispiel des Kristalls erläutert. Auf eine Weise, die als „indirekt und hierar-

chiesiert“ 50 beschrieben wird, ist die Operation der Transduktion nicht mehr

einfach sondern wird als das Verhältnis von Integration und Differenzierung

beschrieben. Die Passage hierzu in L’individu et sa genèse physico-biologique ist

kryptisch und nicht sehr detailliert ausgeführt. Aber da Simondon Integration

und Differenzierung eher vom technischen Gerät, bzw. den Grenzwerten von

Differenzen und Summen her zu verstehen scheint, liegt hier ein Ansatz zur

Interpretation.

Die technische Operation der Differenzierung ist ein Zerlegen von Signalen,

misst die Veränderungsrate eines Signals. So geht auch im Organismus die

Differenzierung von der Gesamtheit, dem übergeordneten Niveau zum unter-

geordneten – eine relative Einheit in der Organisation wird in ihre Bestandteile

Geschlechtsreife unter Beibehaltung von Larvalmerkmalen.“ (Spektrum Lexikon der Biologie,Band 10).

48Im Orignial „ une individuation qui brûle les étapes, qui ne reste pas assez suspens à sonorigine“ (Fußnote IGP 272).

49„[U]n approfondissement de l’extrême début“ (ebd.).50„[I]ndirecte et hiérarchisée“ (IGP 142).

Page 24: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen 21

zerlegt.51

Die Integration dagegen geht vom untergeordneten zum höheren Niveau, ist

Aufsummieren, eine Kumulation von Signalen. Im Organismus werden daher

Bestandteile in die nächst höhere Einheit integriert.

So strukturiert der Organismus sich und sein Milieu nicht einfach in eine Rich-

tung wie der Kristall, sondern ist ständig in Kumulation und Ausdifferenzieren

von Bereichen begriffen.52

Das Lebendige und das Problem, Individuierung als Lösung

Hiermit kommen wir zum wichtigen Konzept des Problems, das methodisch

schon in Abschnitt II.2 bei der Erwähnung der Disparation als Inkommensura-

bilität vorgekommen war.

Die Individuierung des Lebenden beginnt als Lösung eines neuen Problems:

„[L]’individuation physique est la résolution d’un premier problème en

cours, et l’individuation vitale s’insère en elle, à la suite du surgissement

d’une nouvelle problématique.“ (IGP 272)

Diese neue, prä-vitale Problematik kommt allerdings mit der Entstehung des

lebendigen Individuums zu keiner vollständigen Lösung: das Lebendige erhält

präindividuelle Potenziale, Aspekte der Problematik, aufrecht, sie sind „Keim

von neuen verstärkenden Operationen“(germe d’opérations amplifiantes nouvelles)

(IGP 272) und somit Ausgangspunkte für neue (partielle) Lösungen. Jede Ent-

wicklungsstufe ist Formulierung eines Teilproblems, jeder Entwicklungsschritt

eine partielle Lösung

„L’état d’un vivant est comme un problème à résoudre dont l’individu

devient la solution à travers des montages successifs de structures et de

fonctions.“ (IGP 223)

Die Ontogenese wird zur „perpetuierten Problematik“ (IGP 224), eine Verket-

tung und Ineinanderschachtelung von Prozessen. Das sich individuierende

lebendige Individuum ist immer – ob während der Ontogenese oder als Er-

wachsenes – mit Problemen konfrontiert, mit disparaten Größenordnungen im51Wenn diese Interpretation stimmt, wäre allerdings mit Differenzierung nicht die „Ausdif-

ferenzierung“ eines Organismus im Sinne von Spezifizierung von Organen, etwa in einementwicklungsgeschichtlichen Verlauf gemeint, sondern nur ein Prozess innerhalb der üblichenFunktionsweise eines Organismus.

52Vgl. IGP 142-143.

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22 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese

metastabilen Gleichgewicht, zu denen es Lösungen finden muss. Dabei wird

durch jede Individuierung, jede Neustrukturierung, jede Handlung ein neuer

Absatz (palier) der relativen Stabilität erreicht (vgl. IGP 285). Das Lebende

löst dabei die Spannungen nicht auf, sondern vollzieht eine Transformation

hin zu einem Endzustand, der ein „System von Strukturen und Funktionen,

in dessen Innerem die Spannungen kompatibel sind“ ist.53 So hält erhält sich

das Individuum als ständig Werdendes in einem Zustand der „Homöostase

des metastabilen Gleichgewichts“.54 Homöostase (von homoios: ähnlich und

stasis: Zustand) ist eine Eigenschaft eines offenen Systems (Zelle, Organismus,

Population), das auf Störungen so reagiert, dass seine Einheits- und Existenzbe-

dingungen aufrecht erhalten werden.55 Die Formalisierung der Homöostase ist

ein zentrales Anliegen der Kybernetik. In diesem Sinne beschreibt Homöostase,

die Eigenschaft von Systemen, die über Rückkopplungs-Mechanismen (feedback)

die für das Überleben wichtigen Parameter im operationellen Bereich erhalten.56

Daher ist die „Homöostase des metastabilen Gleichgewichts“ im Lebewesen

die Aufrechterhaltung von präindividuellen Potenzialen auch im individuier-

ten Zustand, die darauf gerichtet ist, wandlungs- und reaktionsfähig zu bleiben.

Das Beispiel des Kristalls war insofern einfacher, als hier nur zwei Phasen, die

metastabile der übersättigten Lösung und die stabile, kristalline, durch einen

direkten und definitiven Übergang getrennt vorkamen und nach Beendigung

der Individuierung nur noch eine Phase übrigbleibt. Das Individuum dagegen

wird als polyphasig bestimmt, in ihm koexistieren die präindividuelle Phase als

„pures Potenzial“ (IGP 272) und die individuierte Phase, in einem Vorgang der

Resonanz zwischen disparaten Größenordnungen weiterhin auch nach dem

Übergang zu einer neuen Struktur .

Simondon bezeichnet die Resonanz auch als „Korrelation zwischen Chronolo-

gie und Topologie des Systems“ (IGP 129) denn sie ist ein In-Kommunikation-

Setzen von disparaten Größenordnungen, die ineinander geschachtelt sind. Da-

bei hat jede Größenordnung zunächst ihre eigene Chronologie, ihrem eigenes

Werden spezifische Zeitskala. Je mehr und je weiter auseinander liegende Grö-

53„[U]n système de structures et de fonctions à l’intérieur duquel les tensions sont compati-bles“ (IGP 224).

54„[H]oméostasie de l’équilibre métastable“ (IGP 223)55Vgl. Encyclopædia universalis, Paris 2002.56Vgl. Wiener 1958 , S.135, hier nennt Wiener als Beispiel die Regulierung des einfallendes

Lichts durch die Öffnung der Pupille. Für eine ausführliche Diskussion, vor allem von RossAshbys Arbeiten der 1950er Jahre zur Homöostase s. Johnston 2008, S.40-47.

Page 26: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen 23

ßenordnungen in Resonanz treten, desto größer ist der Grad der Individuierung.

Auf der anderen Seite ist nur, wo noch „Nicht-Koinzidenz von Chronologie und

Topologie“ (IGP 129) besteht, d. h. nicht alle Größenordnungen des Systems

durchlaufen eine synchronisierte Entwicklung und eine Transformation ist noch

möglich.

Ein Individuum in totaler Resonanz wäre die Substanz (im simondonschen

Sinne), als System, das „vollkommen kohärent mit sich selbst ist, verarmt und

leer, dessen Potenziale erschöpft sind“.57

So ein Individuum wäre eine perfekte Einheit, statt mehreren Phasen hätte es

nur eine einzige. Das simondonsche Individuum dagegen ist metastabil weil

mehrphasig und „mehr als eins“

“[L]’individu est multiple en tant que polyphasé (. . . ) parce qu’il est une

solution provisoire, une phase du devenir qui conduira à de nouvelles

opérations.“ (IGP 273)

Es kann sich noch weiterentwickeln, weil es nicht alle Potenziale ausschöpft,

sondern provisorisch Probleme löst indem es durch die zeitliche Dimension die

Disparaten in einem neuen, kontinuierlichen System einbindet.58

Das stabile Gleichgewicht, gleichbedeutend mit dem wahrscheinlichsten Zu-

stand oder dem Zustand der maximalen Entropie wird mit dem Tod assoziiert.:

„tous les potentiels sont épuisés: il est système mort“ (IGP 237).

Dies ist eine intrinsische Art von Tod, die immer schon in der Individuierung

mit enthalten ist. Mit jeder Individuierung, Lösung eines Problems, Strukturie-

rung von präindividuellen Bereichen, Ausdifferenzierung von pluripotentem

Gewebe bleibt ein gewisser Rest:

„[T]oute différenciation laisse un certain résidu qui ne peut être éliminé et

qui grève l’être individué d’un poids diminuant les chances d’individuations

ultérieures (. . . ); l’individu qui se structure ses organes ou les montages

automatiques de l’habitude devient de moins en moins capable de refaire

de nouvelles structures si les anciennes sont détruites“ (IGP 241-242)

So „zahlt“ das Individuum seine Ausdifferenzierung, seine Organisation mit

einer größeren Trägheit. Von einer Stufe zur nächsten, in den intermediären

metastabilen Zuständen gehen ihm sozusagen Potenziale des ursprünglichen

57„[P]arfaitement cohérent avec lui-même (. . . ), appauvri et vidé de ses potentiels“ (IGP126-127).

58Vgl. IGP 227.

Page 27: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

24 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese

Zustandes verloren. Nach dieser Bilanz hat es weniger Energie für zukünf-

tige Strukturänderungen oder Operationen, die zur Aufrechterhaltung der

Homeostase dienen, zur Verfügung.

In diesem Sinn schreibt Simondon:

„[T]oute opération d’individuation dépose de la mort dans l’être indivi-

dué.“ (IGP 242)

Das Lebendige bewegt sich ständig zwischen den Extremen einer völlig undif-

ferenzierten, bloß potenziellen, und einer vollständig strukturierten Materie,

wie in der folgenden tabellarischen Gegenüberstellung veranschaulicht weden

soll.

tot stabil kontinuierlich Einheit kohärent

lebendig metastabil singulär Vielheit mehrphasig

Der Aspekt der Information

An dieser Stelle tritt das technische Paradigma des Modulators wieder auf.

Seine Anwendung auf physikalische Individuierung und die des Lebendigen

macht einen Unterschied deutlich:

„[L]’information dans l’individuation physique n’est pas distincte des

supports de l’énergie potentielle qui s’actualise dans les manifestations de

l’organisation.“ (IGP 222)

Information und Struktur werden gleichgesetzt und mit Eigenschaften der

präindividuellen Materie identifiziert. Dem Modulator entspricht die fortschrei-

tende Grenze, nicht das Individuum selber.59 Informations- und Energie-Input

kommen beide vom Material:

„ [A]u contraire, l’individuation dans le vivant serait fondée sur la distincti-

on entre les structures modulatrices et les supports de l’énergie potentielle

impliquée dans les opérations caractérisant l’individu;“ (ebd.)

Das Lebendige Individuum wird mit dem Modulator identifiziert, da es wirk-

lich die Struktur des Materie-Inputs transformiert, indem es die Materie als

etwas von sich verschiedenes inkorporiert. Das ist eine Transduktion im Sinne59Vgl. „[O]n pourrait dire que la limite entre le germe structurale et le champ structurable,

métastable, est un modulateur. C’est l’énergie de métastabilité du champ, donc de la matière,qui permet à la structure, donc à la forme, d’avancer: les potentiels résident dans la matière,et la limite entre forme et matière est un relais amplificateur .“ forme, information, potentiels,Conférence faite à la Société Française de Philosophie le 27 février 1960, S. 532).

Page 28: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen 25

des technischen Geräts „Transduktor“, das verschiedene Arten von Energie

ineinander umwandelt.60

Es enthält und verarbeitet Information durch die disparaten Größenordnungen

die es kompatibel macht, seine interne Problematik ist wie eine Nachricht (vgl.

IGP 198, 223). Nachricht sollte aber nicht im Sinne eines genetischen Codes

verstanden werden. Vielmehr ist die Information im Individuum bloß implizit

und liegt in Form von „disparaten Elementen“ (IGP 227) vor. Sie ist statt mit

einem Code, der nur auf seine Ausführung, (déroulement) wartet, eher mit noch

auszuwertenden Daten vergleichbar.61 Sie wird durch die Operationen, in

denen die Individuierung besteht, entwickelt und expliziert, und zwar als neue

Dimension von vormals inkompatiblen, disparaten Größenordnungen. 62

Topologie des Kristalls, Topologie des Organismus

In diesem Abschnitt soll nun abschließend die Topologie der Individuierung

besprochen werden, die sich für den Kristall und das Lebewesen fundamental

unterscheidet. Die Struktur eines topologischen Raums, im Gegensatz zu

metrischen Räumen wie z. B. der euklidischen Raum-Zeit, wird nicht über

Entfernungen zwischen Punkten festgelegt , sondern allein über Mengen von

Punkten und deren Eigenschaften.63

Wenn Simondon von „chronologischen und topologischen Strukturen“ spricht,

anstatt von raum-zeitlichen, scheint er diese Formulierung zu umgehen, um

einen zu engen Bezug zur euklidischen Raum-Zeit zu vermeiden. Die Fragen,

die eine solche Topologie beantworten muss, sind, wie sich das Individuum als

Bereich oder Menge definiert, was „innen“ (topologisch: zur Menge gehörend)

und „außen“ (topologisch: zu ihrem Komplement gehörend) bedeuten und

vor allem, was die Grenze oder die Oberfläche (topologisch: der Rand, Punkte

zwischen dem Inneren Menge und dem des Komplements ist, und welche Rolle60In der Einführung zu Perception et modulation spricht Simondon von einem „schème propre-

ment paradigmatique“: Der Energie-Input entspricht der Nahrung, der Input der Informationder Wahrnehmung und der Output der Aktion des Lebendigen auf sein Milieu (in Perception etmodulation (1968), Introduction, S.190).

61Vgl. Atlan 2011.62Um den epigenetischen Standpunkt, Komplexität und Selbstorganisation wird es sowohl

bei der Besprechung von Différence et répétition als auch von Mille Plateaux noch gehen.63Nur als Anmerkung soll hier vorweg geschickt werden, dass metrische Räume eine Un-

terklasse der topologischen Räume sind. Präziser müsste oben von „topologischen, nicht-metrischen, nicht Vektor-Räumen“ die Rede sein.s. auch Delanda 2002, S. 22-25 für eine allgemeine Erklärung zu topologischen Räumen und S.62 f. für ihre Anwendung zur Embryogenese. Auch wenn Delanda Simondon nicht erwähnt,befasst er sich an diesen Stellen mit dem stark von Simondon beeinflussten Teil von DeleuzesTheorie der Ontogenese.

Page 29: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

26 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese

sie spielt.

Seine Überlegungen zur Topologie des Lebendigen beginnt Simondon mit

der Vermutung, dass dessen Wesen vielleicht in einer gewissen topologischen

Anordnung liege, die man mit Physik und Chemie – sofern deren Betrachtungen

immer in euklidischen Räumen bleibt – nicht fassen kann.64

Bei komplexen Organismen ist die Struktur vor allem durch verschachtelte

Beziehungen von Innenrem und Äußerem gegeben:

„[L]’intériorité et l’extériorité sont partout dans l’être vivant.“ (IGP 144)

„Überall“ im Sinne von auf allen Größenordnungen der hierarchischen Orga-

nisation. Zunächst betrachtet Simondon daher die primitivste topologische

Struktur bzw. die niedrigste Stufe dieser Hierarchie, die Membran. Für das

Lebendige ist die Membran von fundamentaler Bedeutung, denn sie definiert

ein inneres Milieu im Verhältnis zu einem äußerlichen, indem sie selektiv Strö-

me passieren lässt und so Polaritäten erhält.65 In solchen Membranpotenzialen

sieht Simondon konkret eine Bedingung für Individuierungen oder besser or-

ganische Aktivität auf Zell-Ebene und fasst die Wichtigkeit der Grenze für die

Individuierung des Lebenden zusammen:

„On pourrait dire que le vivant vit à la limite de lui-même, sur sa limite.“ (IGP

260)

Obwohl Individuierung nach Simondons Theorie auch im physikalischen Indi-

viduum immer an der Grenze abläuft, besteht ein fundamentaler Unterschied

in der Struktur von Innerlichkeit und Äußerlichkeit. Dies hängt mit der Art des

Wachstums und der Entwicklung - sowohl in räumlicher wie auch zeitlicher

Hinsicht - zusammen, wie Simondon schon in der Einleitung bemerkt. Was

den zeitlichen Aspekt betrifft, assimiliert der Organismus, indem er durch sein

Wachsen und Verhalten vielfältiger wird.66 Der Kristall hingegen wächst durch

„Iteration der Anknüpfung von geordneten Schichten in indefiniter Anzahl“67

Während das Lebende „Zeitgenosse seiner selbst/gleichzeitig mit sich selbst in

all seinen Elementen“ ist, enthält das physikalische immer „radikal Vergange-

nes/radikale Verganhenheit“, selbst wenn es noch im Wachsen begriffen ist.68

64Vgl. IGP 259. Hierauf wird in Kapitel III anlässlich des für Mille Plateaux sehr wichtigenBegriffspaar von glattem und gekerbten Raum noch zurückzukommen sein.

65Vgl. IGP 260.66Im Original „assimile en se diversifiant“.67„[S]’accroît par l’itération d’une adjonction de couches ordonnées, en nombre indéfini“

(IGP 132).68Im Orignial „contemporain de lui-même en tous ses éléments“ und „comporte du passé

radicalement passé, même lorsqu’il est encore en train de croître“ (IGP 10).

Page 30: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

4 Vom Kristall zum Organismus - Individuierung des Lebendigen 27

Genau dies ist der Aspekt der Neotenisierung, denn das Lebende erhält überall

dort, wo es noch reaktionsfähig ist, kleine Bereiche – mit Deleuzes Worten

larvenartige Bereiche–, von denen wieder eine neue Individuierung ausgehen

kann, aufrecht.

Unterschiede in der räumlichen Struktur analysiert Simondon in dem von

Deleuze in der Rezension hoch gelobten Abschnitt über Topologie. Das physi-

kalische Individuum habe keine Innerlichkeit im strengen Sinne, da es keine

homöostatische Einheit bilde. Homöostase war oben wesentlich als Reaktions-

vermögen zum Ausgleich von Störungen bestimmt worden. Am Beispiel des

Kristalls wird anschaulich, wie die Grenze ständig fortschreitet und dabei die

stabile Phase, die nicht mehr zur Individuierung beiträgt, hinter sich lässt. Weil

dieses geometrische Innere somit genauso gut weggelassen oder ausgeschnitten

werden könnte, ohne das Kristallwachstum zu beeinflussen, wird es nicht als

eigentliches – das ist ein auf den Individuierungsprozess bezogenes – Inneres

angesehen. Das physikalische Individuum wird als „für alle Zeit exzentriert,

im Verhältnis zu sich selbst immer an der Peripherie“69 bezeichnet, da es keine

eigentliche Innerlichkeit hat und somit vom Individuierungsprozess her gese-

hen nichts als Grenze ist. Seine Individuierung ist „pelliculaire“, durch dünne

Schichten gekennzeichnet. Sie ist im Fortschreiten immer nur von einer Kris-

tallebene bis zur nächsten erhalten, ihre einzige zeitliche Charakteristik ist die

Sukzession, nicht die Dauer. Daher kann hier auch nicht von Homöostase die

Rede sein, denn selbst wenn die fortschreitende Grenze ein Hindernis umgehen

würde, geschieht dies nicht zur Erhaltung einer Einheit sondern in indifferenter

Sukzession ohne Bezug zum vorhergehenden oder folgenden Verlauf des Pro-

zesses.

Das lebendige Individuum unterscheidet sich hiervon fundamental: Seine Indi-

viduierung ist „perpétuée“, über die Dauer seiner Existenz aufrecht erhalten.

Dies ist die Dilatation oder Neotenisierung der physischen Individuierung: Was

bereits im Innern des Individuums (im eigentlichen Sinne) entstanden ist, tritt

nicht aus dem Individuierungsprozess aus, sondern verbleibt in einem meta-

stabilen Zustand und somit in (topologischem) Kontakt zum präindividuellen

Milieu und in Gleichzeitigkeit mit dem Prozess:

„ [I]l y a résonance et il peut y avoir résonance parce que ce qui a été

produit par individuation dans le passé fait partie du contenu de l’espace

69„[P]erpétuellement excentré, perpétuellement périphérique par rapport à lui-même“(IGP10).

Page 31: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

28 Kapitel I. Simondons Philosophie der Ontogenese

intérieur: tout le contenu de l’espace intérieur est topologiquement en

contact avec le contenu de l’espace extérieur sur les limites du vivant : tous

les produits de l’individuation passée sont présents sans distance et sans

retard.“ (IGP 263)

Im Lebendigen besteht eine topologische und chronologische Unmittelbarkeit

zwischen allen Punkten im Innern und dem präindividuellen Milieu, da zwi-

schen dem gesamten Inneren und dem Milieu ein andauernder, transduktiver

Prozess stattfindet.70

Ganz allgemein gesagt, ob physikalisches oder lebendiges Individuum, die

Individuierung gründet immer in einem In-Relation-Setzen von disparaten Grö-

ßenordnungen, prä-individuellen und individuellen Phasen, mikroskopisch

und makroskopisch, Innen oder Außen. Daher ist die Grenze als Konzept so

wichtig für Simondons Ontologie.

Vor der Individuierung gab es Innerlichkeit und Äußerlichkeit nicht, das Indi-

viduum entsteht durch, mit und an der Grenze zu sich selbst: „il se constitue

à la limite de lui-même et existe à la limite de lui-même“ (IGP 68). In diesem

Sinne erhält die Relation Realität, das Individuum ist „Realität einer konstitu-ierenden Relation, nicht Innerlichkeit eines konstituierten Terms“.71 Es definiert

sich nicht darüber, dass es abgeschlossen ist, sich im Innern eines Bereiches

aufhält, sondern darüber, dass es zu Strukturtransformationen fähig ist – Äu-

ßeres kann zu Innerem werden. Muriel Combes nimmt in ihrer Analyse von

Simondons Philosophie der Individuierung eine Identifikation von der Relation

und der Grenze vor: „On dira alors que la relation, dans la mesure où elle est

constituante, existe comme limite.“72 Sie betont, dass es sich darin um eine –

oder um die zentrale Aussage von Simondons Ontologie handelt: „Que les

êtres consistent en relations, que la relation, par là, ait rang d’être et constitue

de l’être“.73 Dies verdeutlicht, wie zentral die Passagen über Topologie des

Lebendigen, d. h. über die Eigenschaften der Grenze für das Individuum, für

das gesamte Projekt der Allagmatik sind. Auch für Deleuzes, bzw. Deleuze

und Guattaris Theorie des Organischen oder des Lebendigen allgemein werden

diese Konzepte von großer Bedeutung sein.

70Der Vollständigkeit halber müsste das „tous les produits de l’individuation“ allerdings et-was eingeschränkt werden, da der „Rest“ der Individuierungsprozesse, wie oben angesprochenwurde, als „poids mort“ nicht mehr beitragen kann, sondern ihn behindert. (vgl.IGP 141-142).

71Im Original „réalité d’une relation constituante, non intériorité d’un terme constitué“ (ebd.).72Combes 1999, S. 18.73Ebd. S. 19.

Page 32: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

Kapitel II

„La cinématique de l’œuf“–

Ontologie und Ontogenese des

Lebendigen in Deleuzes Schriften

der 1960er Jahre

Vorbemerkung

Deleuze verwendet nicht nur mathematische, physikalische und biologische

Konzepte, er entwendet sie. So steht sein Verständnis dieser Konzepte zwar

nicht im Widerspruch zur ursprünglichen Anwendung, aber verwischt manch-

mal – im Vergleich zum rigorosen mathematischen oder naturwissenschaftli-

chen Gebrauch – die Nuancen und bringt Anwendungsgebiete zusammen, die

eigentlich nicht zusammengehören. Dennoch ist eine gewisse Erklärung zu den

Grundlagen sinnvoll, um zu sehen, wohin Deleuze die Konzepte schließlich

zusammenführt und dort neu anwendet.

1 Virtuelle Mannigfaltigkeiten und Differenzphilo-

sophie

Das Konzept der multiplicité zieht sich durch Deleuzes gesamtes Werk. Von

Bergson und Spinoza, wie auch Gauss und Riemann inspiriert, ist es von großer

Bedeutung. In deutschen Ausgaben wird es sowohl mit „Vielheit“ als auch

„Mannigfaltigkeit“ übersetzt. In dieser Arbeit wird daher auch „multiplicité“

Page 33: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

30 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

mit „Mannigfaltigkeit“ übersetzt.1 Die Mannigfaltigkeit ist ein in der Differenti-

algeometrie des 19. Jahrhunderts entstandene Verallgemeinerung der Fläche.

Zunächst wurde nur der Spezialfall von in den dreidimensionalen Raum ein-

gebetteten Flächen betrachtet. Schließlich wurde der Begriff von Riemann zu

dem der nicht-eingebetteten, n-dimensionalen Mannigfaltigkeit erweitert – ein

Raum, der a priori nicht mehr als Teil eines umgebenden Raumes gesehen

werden kann und dessen geometrische Eigenschaften ebenfalls von denen des

euklidischen Raums abweichen können. Damit ein Raum als topologische

Mannigfaltigkeit bezeichnet werden kann, wird lediglich gefordert, dass es

für jeden Punkt auf der Mannigfaltigkeit eine (offene) Umgebung gibt, die

umkehrbar, eindeutig und stetig auf eine (offene) Teilmenge im euklidischen

Raum abgebildet werden kann.2 Diese Abbildungen werden Karten genannt.

Liegt eine Sammlung von Karten derart vor, dass jeder Punkt der Mannigfal-

tigkeit mindestens auf einer Karte vorkommt, spricht man von einem Atlas.

Um auf einer Mannigfaltigkeit - bzw. auf den Bildern von den Karten - Diffe-

rentialrechnung zu betreiben, muss sie eine gewisse strukturelle Bedingung

erfüllen – die Abbildung, um von einer Karte zu einer anderen zu wechseln

muss differenzierbar3 sein. Mit einer solchen Struktur kann dann von diffe-

renzierbaren oder „glatten“ Funktionen auf der Mannigfaltigkeit gesprochen

werden. Auf einer riemannschen Mannigfaltigkeit können zusätzlich noch über

den metrischen Tensor Abstände, die Geodäten als kürzeste Kurve zwischen

zwei Punkten, definiert werden (metrische Struktur).4

Problem und Idee

Kants Ideen als wesentlich „problematische und problematisierende“ (DR 209),

Simondons präindividuellen Potenziale und Bergsons Virtuelles finden sich in

1Zumal „multiplicité“, deutsch Multiplizität als mathematischer Ausdruck eine andere Artvon Mengen bezeichnet.

2Mathematisch präziser: ín, da der euklidische Raum der ín zusammen mit der eukli-dischen Metrik ist. Um metrische Räume wird es in Kapitel III noch gehen. Die allgemeineDefinition von Mannigfaltigkeit (Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, Mannheim 1991): „dieVerallgemeinerung des Flächenbegriffs: Ein topolog. Raum T wird als eine M. der Dimensionn oder als n-dimensionale M. bezeichnet, wenn jeder seiner Punkte eine Umgebung besitzt,die homöomorph [ Homöomorphismus: Umkehrbare, eindeutige und stetige Abbildung] zumInnern der n-dimensionalen Einheitskugel [Kugel im ín mit Radius 1] (. . . ) ist. Flächen sind indiesem Sinne zweidimensionale Mannigfaltigkeiten.“.

3Präziser „unendlich oft differenzierbar“.4Vgl. CRC Encyclopedia of Mathematics.

Für eine Mathematik-historische (wenn auch wenig präzise) Diskussion des Terms „manifold“,Mannigfaltigkeit mit Blick auf Deleuzes Konzept der „multiplicity“, Vielheit s. Delanda 2002,Kapitel 1: The Mathematics of the Virtual.

Page 34: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

1 Virtuelle Mannigfaltigkeiten und Differenzphilosophie 31

Deleuzes Konzept der Idee als virtuelle Mannigfaltigkeit wieder. 5

Deleuze betont die Verbindung von Idee und Problem bei Kant. Die kantischen

Ideen seien die „wahren Probleme“ oder „Probleme ohne Lösung“, da sie als

Feld, aus dem und durch das die Lösung erst entstehen kann, diese überdauern.

Das Problem wird als „systematisches und einheitliches Feld“ (champ systémati-que et unitaire) verstanden, als notwendige Bedingung der Lösung (immanenter

Charakter des Problems). Die Begriffe des Verstandes dagegen müssen zu den

Ideen als „ideale Brennpunkte“ konvergieren oder sich an ihnen als „Horizon-

te“ reflektieren (transzendenter Charakter des Problems) (DR 219). Dennoch

spricht Deleuze von einem kantischen „Extrinsizismus“, da Kant die Lösbarkeit

eines Problems als ihm äußerlich, die Determinierbarkeit einer Idee als nur

durch Verstandesbegriffe ermöglicht, verstanden habe (DR 221, 233). Deleuze

fordert, dass die Idee bzw. das Problem nicht wie bei Kant einem Vermögen,

der Vernunft, zugehöre, sondern dass sie das gesamte Denken und somit „alle

Vermögen durchläuft und betrifft “ (DR 249), .

Ein solches Verhältnis von Problem und Lösung sieht Deleuze in der Theorie

der algebraischen Gleichungen, die von Abel und Galois begründet wurde; die

wahre Immanenz des Problems sei erst gegeben, wenn die Lösbarkeit aus der

Form des Problems selbst hervortrete (découle), wenn die Lösung als Aktuali-

sierung der ideellen Verhältnisse, aus denen das Problem als solches besteht,

verstanden wird. Die Neuerung, die Galois gebracht hat, war vor allem, dass

der Blick hin zum Verhältnis der Lösungen untereinander statt auf explizite

Formulierung der Nullstellen eines Polynoms gerichtet wurde.6

Dieser immanente Charakter des Problems erinnert an Simondons Konzept der

Transduktion, als der Dialektik, wie auch der Induktion und der Deduktion

gegenübergestellt. Auch hier ging es um die immanente Lösung eines Problems

von der Mitte aus. Disparate Größenordnungen werden in Kommunikation

gesetzt, indem eine Spannung oder ein Problem als positives Charakteristi-

kum des Systems genutzt wird. Deleuze geht an dieser Stelle allerdings noch

einen Schritt weiter, indem er nicht das Problem mit der Spannung zwischen

zwei Phasen, zwei Größenordnungen und seine Lösung mit der Transduktion

identifiziert, sondern das Problem (oder die Idee) als Mannigfaltigkeit, als wim-

melnden Ameisenhaufen (fourmillement) sieht (DR 220). Und wo bei Simondon

die Potenzialdifferenz, die Relation, methodisch an die Stelle des Negativen

in der Dialektik tritt, setzt Deleuze die abstrakte Differenz, das Differential dx5Vgl. Montebello 2008, S.148.6Für eine Diskussion und weitere Literatur s. Delanda 2002, S. 181-186.

Page 35: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

32 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

(DR 221) und bricht damit die Dualität der Dialektik hin zu einer Vielheit der

Pole und Elemente auf.7 Dies nennt Deleuze eine mathesis universalis, Theorie

der Ideen als Mannigfaltigkeiten, charakterisiert durch differentielle Verhält-

nisse und Verteilungen von Singularitäten als Antwort auf eine Universalität

der Dialektik (DR 235). Gewissermaßen hat Deleuze Simondons Theorie von

einem Raum der Individuierung mit einem eindimensionalen Parameter, den

Potenzialen darauf, auf einen viel abstrakteren n-dimensionalen Raum verall-

gemeinert, in dem der paradigmatische Raum nicht mehr der der Physik der

Phasenübergänge mit einem ausgezeichneten Ordnungsparameter ist, sondern

die abstrakten Mannigfaltigkeiten der Differentialgeometrie.8

Die Idee als virtuelle Mannigfaltigkeit

Als Kernbegriff von Différence et répétition ist die Mannigfaltigkeit Inbegriff des

Vielen, das sich nicht vom Einen ableitet. Statt ein festes Gefüge von Punkten

zu sein, ist sie ein Raum für sich, ein Wimmeln von Differenzen. Die Fragen

der Differenzphilosophie müssen sein: Wieviel? Wie? Für welche Fälle? und

nicht mehr Was? und Zu welchem Zweck?, denn auf der Mannigfaltigkeit ist

alles veränderbar, im Fluss und im Werden begriffen. Ein erstes Hauptmerkmal

der Idee sind die „Differentialverhältnisse zwischen Elementen ohne sinnliche

Form und ohne Funktion“.9 Das Verhältnis von Elementen ist wichtiger als

die Elemente selber, diese existieren sogar nur durch ihre Beziehung zuein-

ander. Ein ideelles Element ist daher nur „in einem Netz von differentiellen

7Bei der Schreibweise verwende ich im Sinne von Deleuzes Konzept der Differen zt ierung

(s. Abschnitt 2 dieses Kapitels) je nach Kontext die Schreibweise „Differential-“, „differentiell“oder „Differenzial-“, „differenziell“.

8Diese Darstellung des Unterschieds zwischen Simondons Transduktion und DeleuzesDifferenzphilosophie ist zum Teil aus Deleuze – L’empirisme Transcendental übernommen. Aller-dings stellt Anne Sauvagnargues dort multiplicité und transduction gegenüber und sieht einenfundamentalen Unterschied darin, dass Simondon das „Viele“ durch Komplikation des „Einen“erhalte indem er die Individuierung als transduktiven Übergang zwischen Phasen verstehe.Nach meiner Ansicht ist diese Darstellung von Simondons System etwas zu vereinfacht. Ichsehe die Entsprechung eher zwischen Deleuze virtueller Mannigfaltigkeit und Simondons me-tastabiler präindividueller Phase. Wenn Simondon die präindividuelle Phase als monophasigund das Lebewesen als polyphasig bezeichnet, ist das mehr als vereinfachende Erklärung desVerhältnisses des Individuierten zum Präindividuellen zu verstehen. Streng genommen hatteSimondon die präindividuelle Phase vor der Identität und vor der Einheit situiert, da sie durchihre Potenziale und Polaritäten durchaus komplexer ist als der heterogene, einheitliche Raum.Einen weiteren Unterschied sieht sie im Begriff der Differenz: „Simondon continue à poserla différence en termes de non-identité“. Dabei ist Simondons Begriff der Potenzialdifferenzgerade als positive Größe, als Reservoir an Energie gedacht und lässt sich außerdem, aufgefasstals ein Feldes aus Potenzialgradienten direkt zu Deleuze weiterdenken. (s. Sauvagnargues2009, S. 256).

9Vgl. Die Methode der Dramatisierung, S.146.

Page 36: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

1 Virtuelle Mannigfaltigkeiten und Differenzphilosophie 33

Verhältnissen reziprok bestimmbar“ (DR 356). Beispiele hierfür sieht Deleuze

in physikalischen Teilchen und biologischen Genen – Entitäten, die konzeptuell

über ihre ideellen Beziehungen und Wirkungen in einem theoretischen Modell

definiert werden.10

Sie sind untrennbar von einem Potenzial oder einer Virtualität und zeugen

von keiner vorläufigen Identität (identité préalable). In dieser Indeterminiert-

heit haben Begriffe wie „Eines“ oder „Dasselbe“ keine Anwendung. So ist

die Differenz nicht mehr der Unterschied von einer Entität zu einer anderen,

sondern hat schon als bloßes Potenzial eine volle Realität (vgl. DR 237) – dies

war auch Simondons Postulat der Realität der Relation.Ein zweites Merkmal ist

der immanente Charakter der Mannigfaltigkeit. Sie ist „nicht-eingebettet“, ist

Raum für sich, ohne von einem übergeordneten System abzuhängen:

„Mais toujours la multiplicité est définie de manière intrinsèque, sans en

sortir, ni recourir à un espace uniforme dans lequel elle serait plongée.“

(DR 237)

Drittens besteht ein Zusammenhang zwischen Idee, Struktur und Genese. Jedes

Ding, insofern es Inkarnation einer Idee ist, wird selber zur Mannigfaltigkeit.

Die differentiellen Verhältnisse aktualisieren sich in den raum-zeitlichen Be-

ziehungen, die Elemente der virtuellen Mannigfaltigkeit in deren Termen und

Formen. Die Idee kann so als Struktur gesehen werden:

„La structure, l’Idée, c’est le «thème complexe», une multiplicité interne,

c’est-à-dire un système de liaison multiple non localisable entre éléments

différentiels, qui s’incarne dans des relations réelles et des termes actuels.“

(DR 237)

In diesem „Strukturalismus“ sieht Deleuze die Versöhnung von Struktur und

Genese. Die Ontogenese verläuft „vom Virtuellen zu seiner Aktualisierung,

d. h. von der Struktur zur Inkarnation, von den Bedingungen der Probleme zu

den Fällen der Lösung, von differentiellen Elementen und ihren idealen Bindun-

gen zu den aktuellen Termen und zu den verschiedenen realen Relationen“.11

Sie ist nicht in den Termen von Möglichkeit oder Ähnlichkeit zu denken, das

Virtuelle ist wirklich, ohne das Ur- oder Abbild des Wirklichen zu sein.10Die Teilchen des Standardmodells der Physik zum Beispiel, sind lange vor ihrem experi-

mentellen Nachweis aus rein theoretischen Betrachtungen zu Symmetriegruppen „entdeckt“worden.

11„[D]u virtuel à son actualisation, c’est-à-dire de la structure à son incarnation, des conditionsde problème au cas de solution, des éléments différentiels et de leurs liaisons idéales au termesactuels et aux relations réelles diverses “ (DR 238).

Page 37: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

34 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

„Le virtuel ne s’oppose pas au réel, mais seulement à l’actuel. Le virtuel

possède une pleine réalité, en tant que virtuel. ( (DR269) “

Zwischen den beiden Stadien, dem virtuellen und dem aktuellen, besteht kein

Verhältnis der Ähnlichkeit (ressemblance), ihr Verhältnis ist das der Entsprechung

(correspondance). Im Gegensatz dazu ähnelt das Wirkliche dem Möglichen, es ist

sein Abbild.12 Die Abbildrelation gilt aber auch in der anderen Richtung, denn

das Mögliche ist ontologisch nicht vom Aktuellen unterscheidbar, es ähnelt

ihm, weil es „après coup“, im Nachhinein, entstanden ist (DR273).

Singularität, Struktur und Determiniertheit

Bisher ist die Idee als virtuelle Mannigfaltigkeit von Deleuze nur allgemein über

ihre differentiellen Verhältnisse bestimmt worden. Zur ihrer Struktur gehören

aber ebenso sogenannte „singuläre“ Punkte und deren Verteilung.

„[L’idée] subsume la distribution des points remarquables ou singuliers;

toute sa distinction, c’est-à-dire le distinct comme caractère de l’idée, con-

siste précisément à répartir l’ordinaire et le remarquable, le singulier et

le régulier, et à prolonger le singulier sur les points réguliers jusqu’au

voisinage d’une autre singularité.“ (DR 228)13

Deleuze entnimmt den Begriff der Singularität ebenfalls der Mathematik. Ganz

grob kann gesagt werden, dass Singularitäten oder singuläre Punkte, ausge-

zeichnete und ungewöhnliche Punkte, Stellen der Divergenz, der Diskontinuität

in einem Kontinuum sind.

„In general, a singularity is a point at which an equation, surface, etc.,

blows up or becomes DEGENERATE.“14

Anschauliche einfache Fälle für Singularitäten der Mannigfaltigkeit selber wä-

ren dies unter anderem Knicke oder Falten auf Flächen.

Eine genaue Erklärung dessen, was eine Singularität ist, hängt immer vom

Kontext ab: „Singularität von. . . “. Deleuze legt, in dem er von Reihen und

ihren Fortsetzungen spricht, nahe, dass es um die Singularitäten in Beziehung

12Vgl. Bergson, S. 123.13Singularitäten, „[Verteilungen] ausgezeichneter Punkte und gewöhnlicher Punkte, derart,

daß ein ausgezeichneter Punkt eine Reihe erzeugt, die sich über alle gewöhnlichen Punkte biszur Nachbarschaft einer anderen Singularität fortsetzen läßt.“ Die Methode der Dramatisierung,S.147

14CRC Encyclopedia of mathematics, S.3594.

Page 38: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

1 Virtuelle Mannigfaltigkeiten und Differenzphilosophie 35

auf „Reihen“, bzw. die Entwicklung (oder Annäherung) von Funktionen in

Reihen geht. Funktionen auf einer Mannigfaltigkeit allgemein können sehr

kompliziert sein und werden daher zur Betrachtung lokal durch Reihenent-

wicklungen angenähert. Dabei ist eine Reihe eine besonders einfache Funktion.

Eine Singularität tritt dann in einem Punkt auf, in dem die Reihenentwicklung

abbricht. Die Fortsetzung der Funktion ist nicht mehr möglich. Singularitäten

als Stellen der Divergenz, der Oszillation oder sonstigem nicht wohldefinierten

Verhaltens begrenzen den Bereich der Konvergenz von Reihendarstellungen.

In diesem Sinne spricht Deleuze von Reihen, die von Singularität zu Singularität

fortgesetzt werden. Die Singularität wird als Punkt der Divergenz aufgefasst,

in dem die beliebig kleine Differenz der Differentierung zur beliebig großen

Divergenz wird.

In der Struktur allgemein, d. h. in den differentiellen Verhältnissen und den

Verteilungen von Singularitäten, liegt für Deleuze die Realität des Virtuellen.

Anne Sauvagnargues paraphrasiert dies mit kantischer Terminologie, indem

sie die Struktur die „transzendentale Bedingung des Empirischen“ nennt.15 In

La logique du sens spricht auch Deleuze von einem transzendentalen Feld der

präindividuellen Singularitäten:

„Quand s’ouvre le monde fourmillant des singularités anonymes et noma-

des, impersonnelles, pré-individuelles, nous foulons enfin le champ du

transcendantal.“ (LS 124)

An dieser Passage wird besonders die oben angesprochene „Kreuzung“ von

Kants und Simondons Terminologien deutlich: Sowohl das Transzendentale

als Struktur, die der Erfahrung zu Grunde liegt, ohne, dass sich ihr Verhältnis

auf das von Ursache und Wirkung reduzieren ließe als auch Simondons präin-

dividuelles Milieu finden sich in Deleuzes virtueller Mannigfaltigkeit wieder.

Anne Sauvagnargues identifiziert Simondons potenzielle Energie mit der „tran-

szendentalen Differenz“ und die Individuierung mit der „Aktualisierung in

einer gegebenen empirischen Form“.16 Die Alternative zwischen dem bereits

Individuierten, dem statischen Individuum und dem ungeformten, völlig ho-

mogenen und undifferenzierten Präindividuellen verwirft Deleuze und setzt

ihr die „nomadische“ und „wimmelnde“ Verteilung von Singularitäten entge-

gen. Nomadisch ist hier „gefestigt“ entgegengesetzt und betont den variablen,15Sauvagnargues 2009, S. 186, „La structure s’avère la condition transcendentale de

l’empirique. Immanente et pure, elle coexiste avec l’actualisation empirique sans se réduire àelle.“

16Sauvagnargues 2009, S.291.

Page 39: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

36 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

fluiden Charakter der Struktur des Virtuellen. Die nomadischen Singularitäten

befreien sich sowohl von der Opposition zwischen dem undifferenzierten Ab-

grund und den fertigen Individuen (vg. LS 124), als auch von der Opposition

zwischen dem begrenzten, menschlichen und dem unendlichen, göttlichen

Verstand:

„Des singularités nomades qui ne sont plus emprisonnées dans l’individualité

fixe de l’Être infini (la fameuse immuabilité de Dieu) ni dans les bornes

sédentaires du sujet fini (les fameuse limites de la connaissance).“ (LS 130)

Dem Begriff des „Nomadischen“ wird in Mille Plateaux eine zentrale Bedeutung

zukommen.17

Differentierung, Integration und Differenzt ierung

Die Idee ist nicht der „undifferenzierte Abgrund“ (LS 124), oben war sie be-

reits durch ihre Struktur als distinkt bezeichnet worden. Aber distinkt kommt

nicht wie in Descartes’ Meditationen immer gepaart mit „klar“ (einen Sach-

verhalt clare et distincte einsehen), sondern Deleuze sieht zwischen den beiden

einen Wesensunterschied. So kann klar mit verworren (clair-confus) und dun-

kel mit distinkt (distinct-obscur) zusammenkommen.18 Als Beispiel nimmt er

Leibniz’ Bild des Meeresrauschens aus den Nouveaux Essais. Die unbemerkbar

kleinen und unbewussten petites perceptions in einer Monade nennt Deleuze

distinct-obscur. Sie sind dunkel, da noch nicht durch bewusste Wahrnehmung

beleuchtet und ausdifferenziert, aber distinkt, da es sehr wohl eine Struktur

von Einzelbewegungen – in Deleuzes Worten von differentiellen Verhältnissen

und Singularitäten – gibt. Dagegen ist die Apperzeption clair-confus: Sie ist

aktualisierte Wahrnehmung des Meeresrauschens. Zum einen ist sie daher

klar, zum anderen verworren, weil zu viele Verhältnisse und Singularitäten –

Strömungen, Geschwindigkeiten, Teilchen – in der Wahrnehmung aktualisiert

werden, gewissermaßen ans Licht kommen (DR 275-276).

So ist auch die Idee distinct-obscur, als virtuelle ist sie real ohne aktuell zu sein,

differentiert ohne differenziert zu sein („différentiée sans être différenciée“). Diese

subtile Unterscheidung zwischen den zwei Arten von Differenz ist der Schlüssel

zur Beschreibung des Virtuellen in Beziehung zum Aktuellen. Sowohl die Idee

17S. Kapitel III.1 dieser Arbeit.18Das französische „clair“ kann auch mit „hell“ übersetzt werden und ist so „dunkel“ (sombre,

obscur) entgegengesetzt.

Page 40: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

1 Virtuelle Mannigfaltigkeiten und Differenzphilosophie 37

als auch ihre Inkarnation hat eine Struktur, nur ist die eine klar, die andere

dunkel.

„En elle-même et dans sa virtualité, elle est donc tout à fait indifférenciée.

Pourtant, elle n’est nullement indéterminée: elle est, au contraire, com-

plètement différentiée.“ (DR 358)

Die Idee ist undifferenziert, ohne unbestimmt zu sein. Undifferenziert, weil

ihre Struktur, ihre differentiellen Verhältnisse und Singularitäten sich noch

nicht in aktuellen oder sinnlichen Dingen bzw. in deren Qualitäten und Teilen

inkarniert bzw. verfestigt hat, wie oben zu den „nomadischen Singularitäten“

angemerkt. Es ist, als ob jedes Ding konzeptuell in „ideelle“ (bestehend aus

Differentialverhältnissen und Singularitäten) und „aktuelle“ (bestehend aus

Qualitäten und Teilen) „Hälfte“ geteilt sei, ohne dass sich diese beiden Hälften

ähneln.19

In diesen zwei Hälften der Dinge finden sich Simondons Phasen wieder. Si-

mondon sieht das Individuum als polyphasisches, als Träger von präindivi-

duellen Potenzialen und ausdifferenzierten, individuierten Aspekten. Wie

Simondon spricht auch Deleuze von einer „Verschachtelung“ (emboîtement, DR

358) der Hälften bzw. Phasen, so dass der Übergang weder in räumlicher

noch zeitlicher Hinsicht einfach ist. Das z und das t als zwei „Phasen der

Differenz“20 fasst Deleuze mit einem Bruchstrich zusammen und nennt die

Differen zt ierung ein mathematiko-biologisches System. Differenzierung als bio-

logischer Terminus, über die Spezifizierung und Formung eines Organismus,

und Differentierung als mathematischer, als Struktur einer differentierbaren

Mannigfaltigkeit, die inden Dingen zur Inkarnation kommt.21 Mathematik und

Biologie sind hier technische Modelle um die zwei Hälften der Differenz zu

beleuchten, die dialektische (t), ideelle, virtuelle Realität, und die ästhetische

(z), empirische, aktuelle Realität (DR 285).

Obwohl die Differntierung nur eine „Hälfte“ des Dinges ausmacht, nennt De-

leuze die Idee auf zwei Arten progressiv bestimmbar. Zum einen ist sie über

ihre differentiellen Verhältnisse reziprok bestimmbar, zum anderen vollständig

bestimmbar über die Verteilung der singulären Punkte (DR 227-228). Unvoll-

ständig ist sie nur im Hinblick auf die aktuelle Existenz. Die Idee aktualisiert

sich durch Differenzierung:

19Vgl. Die Methode der Dramatisierung, S.148.20Sauvagnargues 2009, S. 195.21Die biologische Seite wird in Abschnitt 3 dieses Kapitels noch genauer diskutiert werden.

Page 41: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

38 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

„Tandis que la différentiation détermine le contenu virtuel de l’idée com-

me problème, la différenciation exprime l’actualisation de ce virtuel et la

constitution des solutions.“ (DR 270)

Die Idee als Problem, als Differentialgleichung kommt in der Aktualisierung

zu ihrer Lösung. Wie im einfachsten Fall Differentialgleichungen durch Inte-

gration gelöst werden (etwa die Bewegungsgleichungen für einfache Systeme

der klassischen Physik), identifiziert Deleuze auch die Differenzierung mit der

Integration.22 So wie das Virtuelle und seine Determination, so hat auch das

Aktuelle und die Differenzierung zwei Aspekte, ist „doublement déterminé“

(DR 285): Zum einen ist es Spezifizierung von Qualitäten oder Arten (espè-

ces), indem es die differentiellen Verhältnisse aktualisiert, zum anderen legt es

Anzahl und Ausdehnung fest.23

2 Individuierung als Ereignis

Bisher wurde der zu Grunde liegende Raum von Individuierungen auf seine

Struktur hin untersucht. Zu diesen theoretischen Betrachtungen muss nun

noch die Erklärung der Individuierung als Ereignis, nämlich des Übergangs

vom Differentierten zum Differenzierten, kommen. Hierzu beruft sich Deleuze

explizit auf Simondon und gebraucht wie dieser physikalische Konzepte wie

Energie, Intensität und Metastabilität, Information, Kommunikation und Reso-

nanz.

Das intensive Feld der Individuierung und die Disparation

Der Individuierungsprozess nach Deleuze lässt sich in etwa so zusammenfassen:

Ausgehend von der Idee als purer Virtualität, entsteht ein Individuierungsfeld,

Spannungen und Resonanzen zwischen den Reihen auf der Mannigfaltigkeit

(vgl. DR 357).

„L’individuation, c’est l’acte de l’intensité qui détermine les rapports

différentiels à s’actualiser, d’après des lignes de différenciation (. . . ). Aussi

bien la notion totale est-elle celle de: indi-différen tc iation (. . . ). (DR 317)“

22Für eine detailierte Diskussion der Integration angewendet auf Trajektorien im Phasenraums. Delanda 2002, S. 33-41 und S.179-188.

23Vgl. DR 271, 281, 285, Die Methode der Dramatisierung, S.146.

Page 42: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Individuierung als Ereignis 39

Zu den zwei Momenten der Differenz, Differentierung als Struktur des Virtuel-

len und Differenzierung als Struktur des Aktuellen, tritt nun noch das dritte

Moment, die Individuierung als Bindeglied zwischen Virtuellen und Aktuellem

und somit transzendentales Prinzip.24 Dies bedeutet, dass das Individuie-

rungsfeld Voraussetzung der Differenzierung ist, sie „provoziert“ (DR 318).

Individuieren ist weder organisieren noch aufteilen noch spezifizieren, sondern

der Vorgang, der Partitionen, Organisationen und Spezifikationen erst möglich

macht.

„C’est sous l’action du champ d’individuation que tels rapports différen-

tiels et tels points remarquables (champ pré-individuel), s’actualisent, c’est-

à-dire s’organisent (. . . ) en suivant des lignes différenciées par rapport à

d’autres lignes.“ (DR 318)

Hier findet sich Simondons interne Resonanz wieder. Das Feld der Individu-

ierung entspricht dem metastabilen Zustand oder der übersättigten Lösung.

Auf diesem Feld sind überall Differenzen und Potenziale verteilt. Es ist eine

„informelle und potenzielle Mannigfaltigkeit“ (DR 71) – zum einen informell,

da es im simondonschen Sinne vor der hylemorphistischen Dyade von Form

und Materie liegt, zum anderen potenziell, da die Kräfte, die zum Individuie-

rungsprozess gehören, noch nicht wirken. Wie in Simondons Begriffssystem

das Problematische, die Disparität und die Transduktion an die Stelle des Nega-

tiven in der Dialektik traten, setzt Deleuze die Intensität als „Affirmation“ der

Differenz (DR 302) dem Negativen entgegen, um das Feld der Individuierung

zu erhalten

„Il ne s’agit pas d’abord de résoudre des tensions dans l’identique, mais

de distribuer des disparates dans une mulitplicité.“ (DR71)

Die Illusion des Negativen entstehe, wenn die Differenz von ihrer Aktuali-

sierung her betrachtet wird. Deleuze nimmt Begriff des Disparaten auf – bei

Simondon ein System bestehend aus mehreren heterogenen und inkompatiblen

Größenordnungen – und verbindet ihn mit dem Begriff der Intensität:

„Nous appelons disparité cet état de la différence infiniment dédoublée,

résonnant à l’infini. La disparité, c’est-à-dire la différence ou l’intensité

(différence d’intensité), est la raison suffisante du phénomène, la condition

de ce qui apparaît.“ (DR 287)

24Vgl. Sauvagnargues 2009, S.310.

Page 43: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

40 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

Wo Simondon von einfachen Potenzialdifferenzen spricht, versteht Deleuze

die Intensität als unendlich widerhallend. Sie besteht zwischen Reihen, die

wiederum über die Differenzen zwischen ihren Gliedern definiert sind. Dass

z. B. eine Temperatur nicht aus anderen Temperaturen zusammengesetzt ist,

wie das bei extensiven Größen der Fall ist, liegt daran, dass jede Temperatur als

intensive Größe schon Differenz ist:

„[L]es différences ne se composent pas de différences de même ordre, mais

impliquent des séries de termes hétérogènes.“ (DR 306)

Es besteht daher kein additives Verhältnis, sondern eine Verschachtelung von

verschiedenen Ordnungen der Differenz – der zwischen Reihen und der zwi-

schen den Gliedern der Reihen. Intensive Größen erklären und bestimmen die

Aktualisierung von Virtuellem, sie sind ihre Bedingung.

„L’intensité est la forme de la différence comme raison du sensible. Toute

intensité est différentielle, différence en elle-même.“ (DR 287)

Die Phänomene, das Extensive, Entwickelte wird zur Oberfläche, das begrün-

dende Intensive wird die Tiefe (la profondeur ) oder das intensive spatium (DR

307) genannt.

„Les intensités enveloppantes (la profondeur) constituent le champ d’indi-

viduation, les différences individuantes. Les intensités enveloppées (les

distances) constituent les différences individuelles.“ (DR 326)

Die Tiefe oder, wie Deleuze selber übersetzt, der „Ungrund“ (DR 296), ist „Ma-

trix des Ausgedehnten“. Sie enthält in eingewickelter Form die Entfernungen,

die sich in der Erscheinung erklären und im Ausgedehnten entwickeln (DR

296-297).25 Individuierung wird so zur Explikation dessen, was vorher nur

implizit Vorhanden war, und zur Entwicklung der vorher bloß eingewickelten

Entfernungen.

Diese „eingewickelten“ Entfernungen sind keine extensiven Größen, sondern

sind gewissermaßen nicht vermessbar und somit auch nicht teilbar.26 Sie wer-

den insofern asymmetrisch genannt, als sie zwischen inkompatiblen und dispa-

raten Reihen bestehen. Sie entsprechen nicht dem naiven Bild der Strecke als25„[E]nvelopper“ mit „einwickeln“ zu übersetzen klingt weniger schön als das in Joseph

Vogls Übersetzung gewählte „einhüllen“, erhält dafür die auch im französischen bestehendeethymologische Verbingung zwischen einwickeln und entwickeln, envelopper und développer,aufrecht.

26Die Frage nach der Vermessbarkeit wird in Abschnitt III.1 wieder auftreten.

Page 44: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Individuierung als Ereignis 41

Entfernung zwischen zwei Punkten im Koordinatensystem.

Insofern versteht Deleuze die intensive Größe als „embryonnée“ (DR 305),

sie ist verschachtelt, schließt die Differenzen ein und enthält Entfernungen in

eingewickelter Form, d. h. als unteilbare und (noch) nicht extensive Größen.

„Différence, distance, inégalité, tels sont les caractères positifs de la profon-

deur comme spatium intensif.“ (DR 298)

Veranschaulicht wird dies durch das von Simondon genutzte Bild der visuel-

len Disparation: Im neuen, zusammengesetzten Bild von rechtem und linkem

Auge sieht Deleuze eine bloße Entwicklung der vorhergehend bereits darin

implizierten oder „eingewickelten“ ursprünglichen Tiefe:

„Partout la profondeur de la différence est première; et il ne sert de rien de

retrouver la profondeur comme troisième dimension, si on ne l’a pas mise

au début comme enveloppant des deux autres, s’enveloppant elle-même

comme troisième.“ (DR72)

Die Tiefe bzw. das intensive Spatium muss als präindividuelles Feld mit seinen

„eingewickelten und einwickelnden Intensitäten“, „individuierenden und indi-

viduierten Differenzen“, die Deleuze die „individuierenden Faktoren“ nennt

(DR 327) immer schon gegeben sein. Während die virtuelle Mannigfaltigkeit

reine Struktur war, kommt mit dem Individuierungs-Feld die Energie hinzu,

die eine Struktur aktualisieren kann. Anne Sauvagnargues spricht von einer

„transzendentalen Physik der Intensität“.27 Wird die Intensität –vereinfachend –

physikalisch als Höhen- bzw. Tiefenprofil, als Gradient, als Gefälle interpretiert,

kann das Intensive als potenzielle Ursache von Prozessen verstanden werden.

Wie z. B. ein Temperaturgefälle einen Fluss von Wärmeenergie verursacht, ist

das Intensive allgemein für Bewegungen und Strömungen verantwortlich.28

Deleuze versteht Energie im simondonschen Sinn, indem er den metastabilen

Zustand privilegiert:

„[N]ous définissons l’énergie par la différence enfouie dans cette intensité

pure. (. . . ) On évitera donc de confondre l’énergie en général avec une

énergie uniforme en repos qui rendrait impossible toute transformation.“

(DR 310)

Wie bei Simondon ist die Energie im Hinblick auf die Individuierung primär

die potenzielle Energie, die noch das präindividuelle birgt, bei Deleuze die27Sauvagnargues 2009, S. 310.28Vgl. Delanda 2002, S.69-70.

Page 45: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

42 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

darin „vergrabene“ (enfouie) Differenz. In Zustandsänderungen oder Trans-

formationen, wie die Individuierung eine ist, tendiert diese Differenz dazu,

sich zu annullieren – ähnlich Simondons Konzept der Potenzialdifferenzen, die

ausgeglichen werden.

In Différence et répétition wurde die Aktualisierung als Lösung eines Problems,

Integration einer Differentialgleichung erklärt. In La logique du sens ist der zen-

trale Begriff das Ereignis, das als „Menge von Singularitäten“ (LS67) bezeichnet

wird. Die Individuierung beschreibt Deleuze hier über die Singularitäten:

“En premier lieu, les singularités-événements correspondent à des séries

hétérogènes qui s’organisent en un système ni stable ni instable mais

«métastable», pourvu d’une énergie potentielle où se distribuent les différences

entre séries. (. . . ) En second lieu, les singularités jouissent d’un proces-

sus d’auto-unification, toujours mobile et déplacé dans la mesure où un

élément paradoxal parcourt et fait résonner les séries, enveloppant des

points singuliers correspondants dans un même point aléatoire et toutes

les émissions, tous les coups, dans un même lancer. En troisième lieu,les

singularités ou potentiels hantent la surface. Tout se passe à la surface dans

un cristal qui ne se développe que sur les bords.“ (LS 125)

Der erste Punkt beschreibt die oben besprochene Struktur des Virtuellen zusam-

men mit präindividuellen Potenzialen; das differentierte Virtuelle zusammen

mit den intensiven Differenzen zwischen den Reihen. Der zweite Punkt ist

der entscheidende Schritt in der Individuierung: die Herstellung einer Kom-

munikation oder internen Resonanz. Das Zustandekommen dieser Resonanz

ist allerdings für Deleuze komplizierter als bei Simondon, er führt es auf ein

gewisses „paradoxales Element“ zurück. An dritter Stelle steht die empirische

Realität, die Oberfläche, als dem intensiven Spatium, der Tiefe (le profond), ge-

genüber. Hier beruft sich Deleuze auf Simondons Betrachtungen zur Topologie

des Lebendigen und des Kristalls. Die Individuierung oder das Ereignis finde

immer an der Grenze, an der Oberfläche statt.

Resonanz und Dispars

Eine weitere Gemeinsamkeit mit Simdondon liegt darin, dass Deleuze Reso-

nanz und Kommunikation als konstituierend für die Individuierung, für das

Aufkommen eines Ereignisses ansieht. Die heterogenen Reihen des intensiven

Feldes müssen gekoppelt werden, in Kommunikation oder Resonanz treten,

Page 46: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Individuierung als Ereignis 43

damit die Individuierung als Ereignis auftreten kann. Deleuze verwendet

das physikalische Beispiel der erzwungenen Schwingung, indem er die zwei

„Reihen“ mit zwei Schwingern (Pendel und Erreger) vergleicht, die gekoppelt

werden und bei denen es im schlimmsten Fall zur sogenannten Resonanzkata-

strophe kommt.29

Der Unterschied zu Simondon liegt allerdings darin, wie diese Resonanz erklärt

und beschreiben wird. Hier unterscheidet sich Deleuzes Konzept der heteroge-

nen Reihe von Simondons Konzept der heterogenen Größenordnungen. Die

entscheidende Frage ist: Wie ist die Resonanz zwischen heterogenen Systemen

oder Reihen möglich? Die von Simondon betrachteten Systeme befanden sich

in einem übersättigten Zustand, so dass die auslösende Singularität und das

System gewissermaßen zusammen passten, in Deleuzes Worten eine „Ähnlich-

keit“ aufweisen. Die Resonanz zwischen den disparaten Größenordnungen

blieb dem physikalischen Paradigma der Kraftübertragung verhaftet. An dieser

Stelle weicht Deleuze deutlich von Simondon ab, wenn er über ihn schreibt:

„G. Simondon maintient une exigence de ressemblance entre séries, ou de

petitesse des différences mises en jeu.“ (DR 158 Fußnote 1)

Der Vorwurf ist Simondons Nähe zum technischen Paradigma und dem der

Nachrichtenübertragung, die eine Analogie zwischen Sender-und Empfänger-

system fordert.30 An seiner Verwendung des Paradigmas der Nachrichtenüber-

tragung und der Resonanzphänomene wirft Deleuze Simondon vor, dass dieser

die Kategorien vom Selben und der Identität einbringt: Die Erregerfrequenz w

muss nah bei der dem schwingenden System charakteristischen Resonanzfre-

quenz w0 liegen. Delanda betont, dass Deleuzes Erwähnung von gekoppelten

Pendeln und Resonanzphänomenen nicht wörtlich, sondern eher im Sinne

von „positivem Feedback“ oder „wechselseitig stimulierende Kopplung“ zu

verstehen seien.31 Deleuze stellt sich schließlich die Frage, ob ein Zuviel der

Differenz nicht die Kommunikation unmöglich macht. Er verneint dies, indem

er eine Art Operator – agent wie er es nennt – einführt. Diesen nennt er in Lalogique du sens den „quasi-kausalen Operator“, in Différence et répétition den

„dunklen Vorboten“ (précurseur sombre) oder den Dispars. Dispars, als ein aus29Vgl. DR 154.30Deleuze beruft sich auf eine Passage aus dem Kapitel über Information (IGP 254-257).31„The terms “resonance” and “forced movement” should not be taken as mere physical

metaphors. Rather, we should think about resonance as positive feedback, a generic processwhich implies one or other form of mutually stimulating couplings inducing resonances amongheterogenous elements, as well as the amplification of original differences (forced movements).“Delanda 2002, S. 205.

Page 47: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

44 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

der Disparation abgeleiteter Neologismus, ist auch im Individuierungsprozess

das konzeptuelle Bindeglied zwischen Disparatem und Individuiertem.

Das System kann nicht „von selbst“ in den Zustand der Resonanz übergehen,

sondern benötigt die Einwirkung eines „dunklen“, da selbst nicht wahrnehmba-

ren Operators, der die Kommunikation herstellt – ein transzendentaler Operator,

der den Übergang von der intensiven Tiefe zur empirischen Oberfläche erst

ermöglicht.32 Deleuze veranschaulicht diesen Vorgang mit dem Bild des Blitzes:

„La foudre éclate entre intensités différentes, mais elle est précédée par

un précurseur sombre, invisible, insensible, qui en détermine en avance le

chemin renversé comme en creux.“ (DR 156)

Hierbei entspricht der dunkle Nachthimmel dem intensiven Spatium und der

helle, sichtbare Blitz dem Ereignis der Individuierung oder dem „Zeichen“

(signe), das zwischen den Disparaten „passiert“ (im doppelten Sinne). Doch der

Blitz, die sichtbare Entladung über die Potenzialdifferenz zwischen verschiede-

nen Niveaus kann erst durch einen zunächst nicht sichtbaren Ionisierungskanal

entstehen. In der Luft als nicht-leitendem Medium muss eine Vorentladung

(preliminary breakdown) passieren, die die Moleküle teilweise ionisiert. Ein Kanal,

daher der Ausdruck „en creux“, ein Hohlraum, eine Rinne, durch die der Strom

fließen kann. Dioes ist was Deleuze den „précurseur“ nennt, English „stepped

leader channel“, wegen seiner gezackten Form. Diese Entladungen sind nicht

stark und daher unsichtbar oder „dunkel“. Sie bereiten nur als Kanal den Weg

für die Hauptentladungen, die dann, nachdem der Kontakt mit dem Boden

hergestellt worden ist, in mehreren Malen hin und zurück laufen.33

In Bezug auf die heterogenen Reihen, die selber über differentielle Verhält-

nisse definiert waren, nennt Deleuze den Dispars das „Differenzierende der

Differenzen“ (DR 157).

„Nous appelons dispars le sombre précurseur, cette différence en soi, au

second degré, qui met en rapport les séries hétérogènes ou disparates

elles-mêmes.“ (DR 157)

Der Dispars ermöglicht die Kommunikation, indem er überhaupt erst die Rei-

hen ins Verhältnis zueinander setzt, eine Differenz zwischen ihnen herausstellt.

Die Kommunikation ist konstituierend für die Individuierung, da sie Differen-

zen zu Differenzen ins Verhältnis setzt, die vorher bloß heterogen und disparat32Anne Sauvagnargues spricht in ihrer kantischen Lesart von einem „Operator des Verhält-

nisses von Sinnlichkeit und Realität“, Sauvagnargues 2009, S. S. 312.33Artikel „lightning“ in McGraw-Hill Encyclopedia of Science and Technology.

Page 48: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Individuierung als Ereignis 45

waren. Deleuze nimmt Simondons eigene ontologische Forderungen ernst,

wenn er schreibt, dass es im intensiven präindividuellen Raum keine Differenz

gibt, die „klein“ genannt werden könnte: Der dunkle Vorbote steht ontologisch

vor der als groß oder klein qualifizierten Differenz. Identität und Ähnlichkeit

sind nicht seine Bedingungen, sondern seine Wirkungen. Er ist ein Element, das

insofern paradox ist, als es dem „bon sens", dem gesunden Menschenverstand,

gegenübersteht. Die Herausforderung ist, ein Vermögen an seine Grenzen zu

bringen – das Denken bis ans Undenkbare, die Sinne bis zum „Unsinnlichen“

(insensible, DR 293).

Manuel Delanda stellt sich die Frage, mit welcher Berechtigung ein solcher

Operator angenommen werden darf und welche Indizien es für eine solche An-

nahme gibt. Genauer gehe es um die Erklärung von spontanen Übergängen, ge-

wissermaßen um die Suche nach Spuren des Virtuellen im Aktuellen.34 Er sieht

eine Veranschaulichung für den Dispars in der spontanen Kopplung von Fluk-

tuationen von verschiedenen Größen in der Nähe von Nicht-Gleichgewichts-

Phasenübergängen, wie Ilya Prigogine und Grégoire Nicolis sie beschreiben. In

einem makroskopischen System, das statistischen Gesetzen unterliegt, gibt es

immer Fluktuationen, die normalerweise ungeordnet verlaufen. So gleichen sie

sich global gesehen aus, die Gesamtheit von Fluktuationen und Reaktionen im

System erhält es in einem „dynamischen Gleichgewicht“. Dagegen können in

einem instabilen System, das nicht mehr im Gleichgewicht ist, diese Fluktuatio-

nen so koppeln und verstärkt werden, dass beobachtbare Effekte und eine neue

Struktur entstehen.35

Inwieweit dieses Beispiel Deleuzes Konzept des Dispars erklärt, wird meiner

Meinung nach nicht klar. Hier könnte nämlich die Korrelation, die Kopplung

und Verstärkung der Fluktuationen auch so interpretiert werden, dass sie genau

dem entspricht, was sowohl Simondon, als auch Deleuze Resonanz nennen,

zumal der von für Simondon zentrale Begriff der Verstärkung auftritt. Gesucht

waren die „paradoxalen“ Prozesse, die die Resonanz vorbereiten und ermögli-

chen.

Gleichzeitig scheint Deleuzes Annahme eines „dunklen Vorboten“ als paradoxa-

les Element gerade ein Schritt weg vom physikalischen Paradigma zu sein. Wie

oben bereits angemerkt, handelt es sich um einen entwendeten Begriff, der dann

in andere Bereiche überführt wird. Deleuze führt zur Erklärung des Dispars

34DeLanda 2002, S.85 „But what evidence do we have that there are intensive processes whichcan spontaneously perform information transmission operations?“

35Vgl. Prigogine/Nicolis 1989, S.168-185.

Page 49: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

46 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

literarische Beispiele an, z. B. die Resonanz zwischen verschiedenen Reihen

– der gegenwärtigen und der der Kindheit in Marcel Prousts Suche nach derverlorenen Zeit. Es geht um die Erklärung eines Ereignisses, das eigentlich nicht

passieren könnte, das aber, durch ein „Objekt = x“, das irgendwie in der Tiefe –

bei Proust die „singuläre Tiefe“ der Erinnerung – impliziert ist, hervorgerufen

wird (DR 160, Fußnote).36

3 Embryogenese und Organismus

Deleuze teilt das System der Individuierung in sieben Stufen ein37:

1. Die Tiefe, das Spatium, der zu Grunde liegende Raum

2. Disparate und heterogene Reihen und Individuierungs-Felder

3. Der dunkle Vorbote, der die Kommunikation herstellt

4. Kopplungen und Resonanzen

5. Pure raum-zeitliche Dynamiken, passive Ichs und Larvensubjekte

6. Die zwei Aspekte der Differenzierung

7. Präindividuelle Faktoren und „Zentren der Einwicklung“38

Stufe 1 bis 4 wurden in den vorangegangenen Abschnitten beschrieben. Hier

waren die Konzepte der Mathematik und Physik entliehen bzw. entwendet.

Die Frage ist nun, wie ausgehend von den Ideen als virtuelle Mannigfaltigkeit

und dem präindividuellen Feld der Intensitäten ein Organismus entsteht oder

allgemeiner, wie die Differenzierung genau vor sich geht. Hier soll es nur um

den biologischen Aspekt des Organismus gehen, daher wird der psychologische

Aspekt und die Frage der Subjektivität nicht behandelt.

36Nichtsdestotrotz wäre ein mögliches naturwissenschaftliches bzw. wissenschaftsgeschicht-liches Besipiel zur Erhellung von Deleuzes Annahme des dunklen Vorboten vielleicht PaulisHypothese der Existenz des Neutrinos zur Erklärung der vermeintlichen Verletzung des Ener-gieerhaltungssatzes bei der b-Strahlung. Ein ungeladenes und, so zunächst angenommen,masseloses Teilchen, wird ohne die Möglichkeit eines experimentellen Nachweises (dieserfand erst 30 Jahre später statt) postuliert damit die Bilanz des beschreibenden Modells passt.Ein vorbereitendes, unmerkbares Ereignis, das das eigentliche Ereignis - die Emission einesElektrons - erst ermöglicht. (Spektrum Lexikon der Physik, Heidelberg, 2000).

37Vgl. DR 355-6. Er nennt es eigentlich das System des Ebenbildes simulacre.Da dieser Begriffaber in Différence et répétition keine zentrale Rolle spielt und auch in von Deleuze später selberverworfen wurde, sei dies hier nur am Rande bemerkt (Vgl. Sauvagnargues 2009, S. 314).

38„[C]entres d’enveloppement“.

Page 50: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Embryogenese und Organismus 47

Ei, Drama und Larvensubjekt

Larve und Embryo

Deleuze beschreibt die Prozesse, die folgen, wenn die Kommunikation zwischen

den disparaten Reihen hergestellt ist, wie folgt:

„Des dynamismes spatio-temporels remplissent le système, exprimant à la

fois la résonance des séries couplées et l’amplitude du mouvement forcé

qui les débordent.39 Des sujets peuplent le système, à la fois sujets larvaires

et mois passifs.“ (DR155)

Die Dynamik in dieser Phase ist gezeichnet von erzwungenen Schwingungen

und Resonanzkatastrophen.In dem Milieu dieser extremen Bewegungen und

Flüsse sind die „Subjekte“ oder allgemeiner Individuen, die auf den Plan treten,

gewissermaßen provisorisch, da noch nicht ausdifferenziert. Deleuze bezeich-

net sie als Embryonen oder Larven. Sie sind die passivsten und abhängigsten

lebenden Individuen „am äußersten Rand des Lebbaren“ (à la pointe du vivable)

und damit die einzigen, die eine solche Dynamik überhaupt erleiden können.

Jedes gut konstituierte oder organisierte Individuum würde daran sterben.

„La vérité de l’embryologie, déjà, c’est qu’il y a des mouvements vitaux

systématiques, des glissements, des torsions, que seul l’embryon peut

supporter : l’adulte en sortirait déchiré. (...) L’évolution ne se fait pas à

l’air libre et seul l’involué évolue.“ (DR 155-156)

Für die Entwicklung sind die „eingewickelten“ Größen, wie sie im intensiven

Spatium zu finden sind, unerlässlich. Daher ist die intensive Größe auch

als „embryonniert“ (embryonné) charakterisiert worden. Für das Individuum

bedeutet dies, dass die Entwicklung nur im Ei stattfinden kann: Nur ein noch

nicht voll ausdifferenziertes Lebewesen – der Embryo, die Larve – kann sich

entwickeln. Das Feld der Individuierung als Milieu wird unerlässlich. Hier

findet sich das auch von Simondon verwendete Konzept der Neotenie wieder:

Larvenhafte Züge werden konserviert, damit auch Potenziale für Entwicklung,

Wandel und Aktivität konserviert werden können. Wie für Simondon ist für

Deleuze das wahre Individuum genau ein solches, das gerade im Prozess seiner

Individuierung begriffen ist:

„Et l’embryon, c’est l’individu comme tel, directement pris dans le champ

de son individuation.“ (DR 322)

39Es müsste meiner Meinung nach „déborde“ heißen, da es sich auf „l’amplitude“ bezieht.

Page 51: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

48 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

Das Ei als Feld der Individuierung. Das differenziertere Individuum wird später

von einem Milieu umgeben sein, das nicht mehr bloß Feld der Individuierung

ist. Dieses Verständnis vom wahren Individuum oder Individuum als solchem

erinnert an Simondons Konzept der „kleinen Gewichte und Residuen“, die

durch jede individuierende Operation im Individuierten zurückbleiben.40

Das Drama

Deleuze bezeichnet diese Dynamischen Prozesse als Dramen. Sie bestimmen die

Aktualisierung der Idee, „dramatisieren“ sie. Das bedeutet: sie räumlich und

zeitlich inszenieren. Das Ei selbst wird zum Theater, indem seinen pluripoten-

ten Bestandteilen gemäß eines „strukturellen Themas“ eine Rolle zukommt (DR

279). So „inkarniert“ sich ein differentielles Verhältnis über die raum-zeitlichen

Dynamiken in Qualitäten und Ausdehnungen. Die Dramatisierung ist so einer-

seits räumlich – eine „Szenographie“, in der die dynamischen Prozesse über

Achsen der Aktualisierung einen der Aktualisierung eigenen Raum erzeugen,

der der virtuellen Struktur entspricht. Über differentielle Geschwindigkeiten

und Rhythmen wird andererseits eine der Aktualisierung eigene Zeitlichkeit

erzeugt (DR 277-280). Auch Simondon spricht an einigen Stellen von einem

„Theater“:

„Le vivant est agent et théâtre d’individuation.“ (IGP12)

Das Lebewesen als Problematisches, das durch einen Prozess gekennzeichnet

ist, der von der Mitte her verstanden wird.

Das Ei

In der Embryogenese findet Deleuze die Veranschaulichung der Indiviuierungs-

und Differenzierungs-Mechanismen, das Ei wird zum Modell der Welt. Die

Vielheit an Polaritäten und Strömen im Ei sind es, die zur Individuierung und

zur Differenzierung führen.

„ Le monde est un œuf. Et l’œuf nous donne, en effet, le modèle de l’ordre

des raisons : différentiation-individuation-dramatisation-différenciation

(spécifique et organique).“ (DR 323)

Aus Albert Dalcqs Arbeiten zur Embryologie, speziell zu den Dynamiken im

Ei, entnimmt Deleuze Begriffe wie das „morphogenetische Potenzial“ und die

40Vgl. IGP 241-242.

Page 52: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Embryogenese und Organismus 49

„Feld-Gradienten Schwelle“ und interpretiert sie im Sinne seiner Theorie der

Intensität als Individuierende Größe. Die Struktur der Intensitäten im Ei drückt

zunächst die virtuellen Verhältnisse, die zu aktualisieren sind, aus (das Feld der

Individuierung). Dieses Intensitätsprofil ruft Dynamiken und Flüsse hervor

(die Dramatisierung), die dann zur Formung von Arten und organischen Teilen

führen, die Differenz wird so im Differenzierten manifest und verfestigt.

Embryogenese, Epigenese und Präformismus

Das Ei als Feld der Individuierung wird gegen das Modell der Ähnlichkeit

gestellt, so dass der Opposition von Präformismus und Epigenese eine neue

Bedeutung bekommt. Es ist nach diesem Modell nicht mehr sinnvoll zu fragen,

ob im Ei alles schon als ein „durch Vererbung vorgeschriebenes Programm“

enthalten und festgelegt ist und nur auf seine Aktivierung wartet, wie es der

Präformismus tut.41 Deleuze spricht zwar von „Präformationen“, aber diese

sind „eingewickelt und intensiv“ und verhalten sich zu den „entwickelten,

qualitativen und extensiven Formationen“ so, wie das Virtuelle zum Aktuellen:

Sie ähneln ihnen nicht (DR 324).

Mit diesem sehr schwachen Begriff von Präformismus steht nun Deleuzes epi-

genetischer Standpunkt nicht mehr im Widerspruch. Deleuze ersetzt so die

„genetische“ durch eine „ökologische“ Bestimmung des Lebewesens: Die Pro-

zesse und Bewegungen im Milieu spielen neben der genetischen Information

bei der Entstehung und Formung des Individuums eine ebenso wichtige Rolle

(DR 280). Epigenetische Information ist zum Beispiel die Zell-Polarität, da sie

sich nicht auf die in der DNA enthaltene Information zurückführen lässt. Allge-

mein betont der epigenetische Standpunkt die Wichtigkeit der Wechselwirkung

der Teile des sich entwickelnden Embryos. Er räumt die Möglichkeit ein, dass

Signale von außerhalb der Zelle oder aus dem Cytoplasma die Aktivität von

spezifischen Genen beeinflussen oder steuern können.42

Wie Simondon von „impliziter Information“ spricht (IGP 227), schreibt Deleuze

in Anlehnung an Dalcq, dass der Zellkern und die Gene nur die „differentierte

Materie“ darstellen (DR 323). Hier liegen die differentiellen Verhältnisse, Struk-

tur des prä-individuellen Feldes, die zu aktualisieren ist. Die Aktualisierung

selbst werde dann durch das Zytoplasma, den restlichen Teil der Zelle mit

41Jacob 1971 S.10, „L’organisme devient ainsi la réalisation d’un programme prescrit parl’hérédité.“

42Vgl. Eintrag „Epigenese“, Spektrum Lexikon der Biologie, Band 5.

Page 53: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

50 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

seinen Konzentrationsgradienten bestimmt.

Weg von der Metapher des genetischen Codes

Wie nah Deleuzes Theorie hier biologischen Theorien der Selbstorganisation

steht zeigt der informationstheoretische Standpunkt, den Henri Atlan in Levivant post-génomique – Ou qu’est-ce que l’auto-organisation? vertritt. Henri Atlan

wehrt sich gegen das Dogma des genetischen Codes, der den Ablauf eines

finalisierten oder teleologischen Prozesses voraussetzt. Mit seiner provokativen

Formulierung: „Das Genetische ist nicht im Gen“43 betont er, dass das Gen, vom

Dogma der Molekularbiologie gesehen, keinen dynamischen Prozess erklären

kann. Es sei nur ein Stück unbelebte Materie und habe die ursprüngliche

Bedeutung von „genetisch“, d. h. „eine Genese produzierend“, nicht. Inspiriert

von der Theorie der Selbstorganisation, künstlicher Intelligenz und artificial life,

schlägt er die alternative Metapher von Programm und Daten vor:

„[L]es déterminisme génétiques résultant de la structure séquentielle des

ADN fonctionnent donc non pas comme un programme, mais comme des

données mémorisées, traitées et utilisées dans un processus dynamique qui,

lui joue le rôle d’un programme. Ce processus est produit par l’ensemble

des réactions biochimiques couplées du métabolisme cellulaire.“44

Der gesamte Stoffwechsel der Zelle wird als Programm gesehen, die Gene, oder

die in der DNA enthaltenen genetische Information als Daten, die von diesem

„Programm“ verarbeitet werden.45 Die Zelle wird inspiriert von von Neumanns

cellular automaton zum „epigenetischen Automaten“.46 Schon die extrem einfa-

chen „Spielzeugmodelle“ der Zellautomaten zeigen, wie ein immer gleiches,

extrem einfaches Programm aus minimal voneinander abweichenden, sehr ein-

fachen Anfangszuständen variable und komplexe Endzustände hervorbringen

kann. Der Anfangszustand als Keim (germe) entspricht den Daten, wird durch

die Regeln weiterverarbeitet. Eine „wenig spezifische zelluläre Maschinerie“

43Im Original „le génétique n’est pas dans le gène“, Atlan 2011, S. 55-56.44S.Atlan 2011, S.67.45Wieners Ansatz das Gehirn als Maschine zu sehen ging auch schon in diese Richtung:

Vergleich mit der Rechenmaschine: „it is not the empty physical structure of the computingmachine that corresponds to the brain (...) but the combination of this structure with theinstructions given it at the beginning of a chain of operations and with all the additionalinformation stored and gained from outside in the course of this chain.“ Wiener 1954, S.171.

46Atlan 2011, S. 99.

Page 54: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Embryogenese und Organismus 51

spielt die Rolle eines „parallel laufenden Programmes“.47 Angewendet auf die

Embryogenese kommt auch Henri Atlan zu einer „ökologischen“ Bestimmtheit

des Lebewesens: Der Entwicklungsprozess läuft nach und nach ab. Das Pro-

gramm der Entwicklung ist völlig delokalisiert und kommt der Gesamtheit der

physiko-chemischen Zwangsbedingungen, der die Prozesse des Austauschs

mit anderen Teilen und Zellen unterliegen, gleich.48

Differenzierung und Strukturalismus in der Biologie

(Geoffroy Saint-Hilaire)

Strukturalismus in der Biologie bevorzugt allgemeine Form- und Strukturge-

setze vor Betrachtungen zu Funktionen.49 Einer der frühen Vertreter dieser

Theorie ist Etienne Geoffroy Saint-Hilaire.50 Deleuze zieht Geoffroy und den

Streit zwischen Geoffroy und Cuvier heran, um seine Auffassung von Struk-

turalismus – dass die Individuierung und Differenzierung nicht von einem

aktuellen Term zum nächsten, sondern von einer virtuellen Struktur zu ihrer

Aktualisierung gehen – am Organismus als biologische Idee zu veranschauli-

chen und beschreibt, wie genau eine virtuelle Struktur in einem Organismus

aktualisiert ist.

„Un organisme est un ensemble de termes et de relations réelles (dimensi-

on, position, nombre) qui actualise pour son compte, à tel ou tel degré de

développement, les rapports entre éléments différentiels (. . . ). La genèse ou

le développement des organismes doivent donc être conçus comme actuali-

sation de l’essence, suivant des vitesses et des raisons variées déterminées

par le milieu, suivant des accélérations ou des arrêts, mais indépendam-

ment de tout passage transformiste d’un terme actuel à un autre terme

actuel.“ (DR 239-240)

In dieser Beschreibung des Organismus finden sich sowohl Simondons Konzept

der Realität der Relation, in dem der Organismus als Aktualisierung seiner vir-47Im Original „programme distribué“, „machinerie cellulaire peu spécifique“, Atlan 2011

S.171-172.48Atlan 2011, S. 118-122.49Vgl. Spektrum Lexikon der Biologie, Band 13.50„Geoffroy Saint-Hilaire (1772-1844) versuchte den Körperbau der Wirbeltiere und Wirbello-

sen zu analogisieren und gelangte so zu einer Theorie der „Einheit des Bauplans“ (unité deplan), zu einer „Theorie von den Analogien“ (heute als Homologien bezeichnet), woraus erschloß, daß die Entwicklung der Lebewesen von einem einzigen Bauplan hergeleitet werdenkönne; geriet hierüber mit G. de Cuvier (1769-1832), der eine Aufspaltung in vier unabhängigeZweige mit unabhängigen Bauplänen postulierte, in Streit („Pariser Akademiestreit“, 1830-32(. . . )).“ aus: Spektrum Lexikon der Biologie, Band 6. S. auch Kapitel III.3 dieser Arbeit für eineweitere Diskussion.

Page 55: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

52 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

tuellen Struktur definiert wird, als auch das der Neotenie wieder. Der Prozess

dieser Aktualisierung ist wesentlich dynamisch, hängt von Wechselwirkungen

mit dem Milieu ab und wird je nach Ablaufgeschwindigkeit ein anderes Er-

gebnis hervorbringen. Dies ist das Konzept der Neotenie, das bei Simondon

der Übergang von einer Art der Individuierung zu einer anderen war und

ebenso bei Geoffroy eine Rolle spielt. Wenn die Entwicklung auf einer gewissen

Stufe anhält, werden die Unterschiede der Strukturen durch unterschiedliche

Entwickungsdauern, nicht durch unterschiedliche Pläne, erreicht.

„Même l’arrêt prend l’aspect d’une actualisation créatrice dans la néoténie.“

(DR 279)

Es ist Geoffroys Konzept von Homologie (Entsprechung der Strukturen) bzw.

der Isomorphie, das gewährleisten soll, dass zwischen den Arten ein (zumin-

dest konzeptueller Übergang) durch Faltung (pliage) möglich ist. Deshalb sieht

Deleuze in Geoffroy gewissermaßen einen Vorläufer der „Bio-Topologie“ und

der Gene als virtuelle Träger von biologischer Information. Alles hängt von

differentiellen Verhältnissen ab, die Chromosomen als Loci, nicht kartesische

Koordinaten, sondern „Komplexe von Nachbarschaftsverhältnissen“.51 Die

Gene drücken differentielle Elemente aus, ihre Gesamtheit bildet ein Virtuelles,

ein Potenzielles, das sich in aktuellen Organismen inkarniert (vgl. DR 240).

Das Gen bestimmt verschiedene Charakteristika (Singularitäten) und operiert

immer in Verhältnis zu anderen Genen (differentielle Verhältnissse), inkarniert

sich in der Spezifiizerung der Arten und in der Organisation und dem Zusam-

menspiel der Teile eines ausdifferenzierten Individuums. Die Differenzierung

hat so allgemein immer zwei Aspekte, so, wie die virtuelle Mannigfaltigkeit

die beiden Aspekte der differentiellen Verhältnisse und der Singularitäten,

Reziproke und Vollständige Bestimmtheit hatte:

„La différenciation est toujours simultanément différenciaiton d’espèces et

de parties, de qualités et d’étendues: qualification ou spécificaiton, mais

aussi partition ou organisation.“ (DR 271)52

Für das biologische System bedeutet dies Organisation und Spezifizierung, für

das physikalische System Aufteilung und qualitative Bestimmung.

51Im Original „des complexes de rapport de voisinage“.52Dies war der sechste Punkt der „ontologischen Liste“ am Anfang dieses Abschnittes.

Page 56: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Embryogenese und Organismus 53

Die Komplexität in biologischen Systemen

Auch Deleuze kommt zu einer allgemeinen Unterscheidung von physikalischen

und biologischen Systemen, entsprechend den verschiedenen Ebenen, die er

eingeführt hat. Zunächst unterscheiden sich physikalische und biologische Sys-

teme auf der Ebene der Ideen, der virtuellen Struktur. Deleuze schreibt: „par

l’ordre des idées qu’ils incarnent ou actualisent: différentiels de tel ou tel ordre.“

(DR 328). Diese „Ordnung der Differentierung“ entspricht Simondons Verständ-

nis der komplexen Organismen als hierarchisiert, insofern sie die Transduktion

immer auf verschiedenen Ebenen als Komplexes Verhältnis von Integration und

Differenzierung vollziehen. Im Sinne von Deleuzes mathematischen Konzepten

könnte „von höherer Ordnung“ als „beschreibbar durch eine größere Zahl von

Parametern“ interpretiert werden.53

Ein zweites Kriterium liegt auf der Ebene der individuierenden Dynamiken und

ist direkt von Simondons topologischem Kriterium übernommen. Die Prozesse

im Lebendigen sind überall von relativen Innerlichkeiten und Äußerlichkeiten

durchzogen, während im Kristall nur ein Inneres und ein Äußeres bestehen.

Schließlich unterscheiden sich physikalische und biologische Systeme auf der

Ebene des Aktuellen, die „Figuren der Differenzierung“ betreffend: Während

im biologischen Spezifizierung und Organisation vorliegen, seien es im physi-

kalischen bloß Qualifikation und Partition.

Alle Kriterien haben eine Unterscheidung von komplexen und weniger kom-

plexen Systemen gemeinsam. So kommt Deleuze zur Beschreibung eines kom-

plexen Systems:

„Plus un système est complexe, plus y apparaissent des valeurs propres

d’implication. C’est la présence de ces valeurs qui permet de juger de

la complexité ou de la complication d’un système, et qui détermine les

caractères précédents du système biologique. Les valeurs d’implication

sont les centres d’enveloppement. Ces facteurs ne sont pas les facteurs

intensifs individuants eux-mêmes; mais ils en sont les représentants dans

un ensemble complexe, en voie d’explication.“ (DR 329)

Diese „Zentren der Einwicklung“ werden als kleine Inseln der Negentropie,

die dem komplexen System (meist dem lebenden System) erlauben gegen die

allgemeine Degradierung und Gleichmachung der Potenziale anzugehen. Sie53Anhand des Bildes der Entwicklung einer Funktion in Potenzreihen, wäre das System der

niedrigsten Ordnung eine konstante Funktion, ausgedrückt durch eine Reihen die nach der„null-ten Ordnung“ abbricht. Dann der lineare Fall, der bis zur ersten Ordnung geht, bis hin zuden Funktionen, deren Reihendarstellung unendlich viele Terme hat.

Page 57: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

54 Kapitel II. „La cinématique de l’œuf“

verhalten sich zu den individuierenden Faktoren des präindividuellen Feldes

wie das Phänomen zum Noumenon, wie die Erscheinung zu den an sich nicht

wahrnehmbaren Intensitäten. In diesem Sinne nennt Deleuze die Intensitäten

„interiorisiert“:

„[L]es systèmes complexes tendent de plus en plus d’intérioriser leurs

différences constituantes.“ (DR 329)

Wie bei Simondon der komplexe Organismus zwischen seinen verschiedenen

hierarchischen Niveaus differenzierende und integrierende Operationen aus-

führt und dazu immer auch präindividuelle metastabile Potenziale aufrecht

erhalten muss, enthält bei Deleuze das komplexe System – nicht unbedingt in

Form des Organismus – immer noch eine Disparität.

Was Deleuze hier beschreibt, könnte eine Metaphysik der Selbstorganisation ge-

nannt werden. Es geht um die Eigenschaften eines Systems, das komplexes

Verhalten und emergente Strukturen und Funktionen aufweist. H. Atlan de-

finiert die Selbstorganisation als „émergence de structures globales à partir

d’interactions locales“.54 Wird „lokal“ mit „mikroskopisch“ und „global“ mit

„makroskopisch“ identifiziert, läuft das Ganze auf Simondons Begriff der Indi-

viduierung hinaus. Emergenz von Strukturen ließe sich aber auch auf Deleuzes

Aktualisierung virtueller Strukturen über die „eingewickelten“ intensiven Grö-

ßen übertragen.

Sowohl Deleuze als auch Simondon nehmen mit der Betonung des Prozesses

der Individuierung und der epigenetischen Faktoren eine Tendenz in der moder-

nen Biologie gewissermaßen vorweg.55 Die Tendenz geht fort von funktionellen

und energetischen Betrachtungen hin zu geometrischen und topologischen –

allgemein strukturellen – Betrachtungen, die auch die dynamischen Relationen

zwischen Objekten und deren Kontrollparameter mit einbezieht:

„[L]es propriétés de la matière vivante se manifestent comme le maintient,

l’auto-entretien de certaines situations topologiques bien plus que comme

des conditions énergétiques et fonctionnelles pures.“56

Gegen die genetische Determiniertheit und die mechanistische Auffassung der

Molekularbiologie gewinnen mathematische Ausdrücke wie Stabilität, Äquiva-

54Atlan 2011, S.9.55S. auch Ansell-Pearson 1999 S.145f. für eine Diskussion der Selbstorganisation in der

modernen Biologie.56Boï 2003, S.163.

Page 58: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Embryogenese und Organismus 55

lenzklasse, Deformation an Bedeutung. Die Wichtigkeit von „nanoskopischen“

Faltungen und Immersionen von Räumen veranschaulicht dies. 57

Henri Atlan spricht von einer „post-genomischen Ära“: Es gehe darum, die den

biologischen Funktionen unterliegenden Mechanismen zu verstehen und nicht

mehr dreidimensionale Proteinstrukturen auf lineare DNA-Sequenzen zu redu-

zieren. So, wie er das System „Zelle“ als komplexen Automaten mit hunderten

von chemischen Prozessen versteht, bemerkt er, dass es Variationen in der DNA

geben kann, auch wenn die Moleküle die gleiche chemische Natur haben, dass

Proteine je nachdem, wie sie sich im Raum falten, unterschiedliche Funktionen

im Prozess haben, und dass ein einzelnes Molekül oder Fragment der DNA

schon durch seine An-oder Abwesenheit beobachtbare Effekte auf makroskopi-

schem Niveau hervorrufen kann.58 All dies sind Beispiele für die Komplexität

in der Biologie: Kleine strukturelle Variationen rufen große Wirkungen her-

vor. Henri Atlan bemerkt ganz allgemein, dass nach einigen Jahrzehnten des

molekularbiologischen Dogmas vom genetischen Programm „die Differenzen

in den Vordergrund zurückgekehrt sind“.59 Hier ist die Parallele zu Deleuzes

„vergrabenen Differenzen“ oder „Zentren der Einwicklung“ offensichtlich.

57Vgl. Boï 2003, S.167-170. Manuel Delanda diskutiert Migration und Faltung anhand vonGerald M. Edelmanns „Topobiology“ (s. Delanda 2002, S.62-67).

58Atlan 2011, S. 29-30, 146.59„[L]es différences sont revenues sur le devant de la scène“, Atlan 2011, S.148.

Page 59: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

Kapitel III

Deleuze und Guattari zum

Organischen und

Nicht-Organischen

Vorbemerkung

„En aucun cas nous prétendons au titre d’une science. Nous ne connaissons

pas plus de scientificité que de l’idéologie, mais seulement des agence-

ments.“ (MP 33)

Es ist schwierig, über ein Buch zu schreiben, das von „einer Menge Leute“ („be-

aucoup de monde“, MP9) als ein Rhizom – ein Wurzelgefüge – geschrieben ist,

und das an Stelle von Kapiteln Plateaus hat. Anstatt sich in feste Definitionen

einzufügen, „fließen“ die Konzepte von Plateau zu Plateau und durchsetzen

sich dabei gegenseitig. Wie bei den im vorherigen Kapitel angesprochenen

Karten auf der Mannigfaltigkeit ist es sinnlos, globale Betrachtungen anzu-

stellen, die über einen lokalen Bereich, ein Plateau hinausgehen. So soll es

hier vorrangig um die „biologische“ Dimension – unter Ausklammerung der

psychologischen, der politischen, der literarischen soweit wie möglich – gehen.

Und zwar entlang der Linien, Zusammenhänge, Ähnlichkeiten und Unterschie-

de zu Différence et répétition und Simondons Theorie der Ontogenese.1

Zu den schon in Différence et répétition zentralen Konzepten wie der Mannigfal-

tigkeit, des Virtuellen und des Prä-Individuellen oder Prä-Organischen gesellen

sich neue, die von Guattari oder von der Zusammenarbeit mit Guattari stam-

1Somit findet auch der erste Band von Capitalisme et schizophrénie, L’Anti-Œdipe hier nuram Rande Beachtung, da es dort vorrangig um die psychologischen und sozialen Aspekte derMaschine geht.

Page 60: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux 57

men: Die Maschine oder das maschinische Gefüge, die Deterritorialisierung

und das Ritornell.

Ein besonders wichtiger Warnhinweis zur Vermeidung der Dualismus-Falle ist,

dass alle Antagonismen und Gegenüberstellungen, von denen Mille Plateauxbuchstäblich wimmelt, nichts als „abstrakte Pole“ (MP 331), Grenzwerte von

fließenden Linien und von Prozessen sind. Was daher wirklich auftritt sind

Mischfälle und keine Dualismen von festen Dingen. Hierzu der gute Rat von

Mark Bonta und John Protevi: „As good Deleuzoguattarians we should not

stay on the level of products.“2

1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux

Was in Différence et répétition die Mannigfaltigkeit (multiplicité) als virtuelle

Struktur war, spaltet sich in Mille Plateaux vielfältig auf. Das Rhizom, der glatte

Raum und die Immanenzebene führen zu einem allgemeineren oder besser

„aufgelösten“ Verständnis von Struktur und Raum.

Das Rhizom, auch gleichzeitig Titel der Einleitung, wird zum methodischen

Modell von Mille Plateaux und dem Denken der Vielheiten oder Populationen.

Der glatte Raum, im ständigen Widerstreit mit dem gekerbten Raum, ist sowohl

mathematisch als auch geographisch inspiriert. Er bildet die geographische oder

geometrische Grundlage für die nachfolgenden Theorien von der Organisation

und dem Aufbrechen von Organisiertem.

Die spinozistische Immanenzebene ist schließlich ein metaphysisches Konzept,

das sich durch alle anderen durchzieht und sie umfasst.

Das Rhizom als Modell

„L’arbre impose le verbe «être», mais le rhizome a pour tissu la conjonction

«et. . . et. . . et. . . ».“ (MP 31)

Gemäß Simondons methodischem Postulat, wird der Relation vor den Termen,

zwischen denen sie besteht, der Vorzug gewährt, d. h. Dynamiken und Netzen

vor Statik und Hierarchie. Das Bild hierfür wird das Rhizom, eine Wurzelart, die

nicht einen zentralen Strang hat, der sich nach unten binär verzweigt, sondern

von einem Zentrum aus Seitenarme bildet.3 Dieses System haben Deleuze und

2Vgl. Bonta/Protevi 2004, S.151.3Ein anschauliches Beispiel ist der Ingwer.

Page 61: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

58 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

Guattari in Mille Plateaux als Paradigma für die Vielheit und als Modell für das

Buch selbst gewählt.

Deleuze und Guattari geben Prinzipien des Rhizoms an:

1. und 2. Das Prinzip der Verbundenheit oder Zusammenhang (connexion)

und der Heterogenität: Jeder Punkt kann von jedem anderen aus erreicht wer-

den. In einem rhizomatischen System verbinden sich Ketten (chaînons) von

sehr verschiedener Art. Sie können semiotischer, biologischer, politischer, öko-

nomischer oder anderer Natur sein. Eine rhizomatische Methode ist daher

interdisziplinär und muss immer diese verschiedenen „Register“ oder „Dimen-

sionen“ gemeinsam betrachten.

3. Das Prinzip der Mannigfaltigkeit oder Vielheit (multiplicité): Gemäß der

Definition der Mannigfaltigkeit in Différence et répétition 4 braucht das Viele

das Eine nicht für seine Formulierung, weder als Subjekt noch als Objekt. So

wie die Mannigfaltigkeit in Différence et répétition singuläre Punkte und Reihen

von Punkten, die sich durch ihre differentiellen Verhältnisse bestimmten, als

Struktur hatte, hat das Rhizom „nichts als Linien.“ (MP 15).5

„Le rhizome (. . . ) n’est pas fait d’unités mais de dimensions, ou plutôt de

directions mouvantes.“ (MP 31)

Diesen Dimensionen oder Richtungen werden die Linien zugeordnet.6 Dabei

kann eine Linie, je nach Art des Rhizoms oder der Mannigfaltigkeit alles mögli-

che sein: ein Stratum (geologische Schicht), eine Fluchtlinie (ligne de fuite), die

solche Schichten durchbricht, eine Kette von Molekülen, der Konvergenzkreis

einer Reihe, oder andere Systeme. Es gibt kein transzendentes Prinzip, keinen

einbettenden Raum, keinen globalen Code (surcodage). Die Anzahl der Linien

ist die Dimension, darüber hinaus gibt es keine weitere Dimension. In diesem

Sinne nennen Deleuze und Guattari die Mannigfaltigkeiten „platt“ oder „flach“

(MP 15).7 Rhizomatische Mannigfaltigkeiten können untereinander Gefüge

bilden, d. h. Verbindungen eingehen. Dabei ändern sie ihre „Natur“, da die

Anzahl der Linien sich ändert: Linien werden zusammengefügt oder existieren

nebeneinander, es gibt Verbindungen, die in den Einzelsystemen vorher nicht

enthalten waren.4DR 236.5„Il n’y a que des lignes.“6Deleuze und Guattari gebrauchen das Wort „attaché“, das sowohl „angeklebt“, „festge-

macht“ als auch „beigeordnet“ bedeuten kann.7Dies wird päter ander Gegenüberstellung von Konsistenzebene und Organisationsplan

noch deutlicher werden.

Page 62: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux 59

4. Das Prinzip des „asignifikanten Bruches“: Im Gegensatz zu einem Kristall,

der feste Achsen als für seine Struktur „signifikante Schnitte“ aufweist, entlang

derer er zerbrechen kann, gibt es beim rhizomatischem System verschiedene

Linien, die mehr oder weniger in Bewegung sind. Zwar gibt es die Linien

der Organisation8, die eine Struktur herstellen, es gibt aber auch immer die

„Linien der Deterritorialisation“, die die ersteren durch- und zersetzen und der

Struktur als „Fluchtlinien“ entkommen (MP 16). Deleuze und Guattari spre-

chen von der „Explosion heterogener Reihen in der Fluchtlinie“. Hier liegt ein

wichtiger Schritt weg vom Individuum und vom Organismus.9 In Différence etrépétition und bei Simondon wurden Individuierung und Differenzierung durch

die Verbindung der disparaten Reihen bzw. die individuierende Resonanz

erklärt. Die hier angesprochene „Explosion“ dagegen fügt sich dem Schema als

zersetzende an – Strukturen und Individuen werden zu einem gewissen Grad

aufgelöst. Als Beispiel führen Deleuze und Guattari einen Virus an, der im

Übergang von einer Art zur nächsten genetische Information überträgt. Dieser

Prozess ist nicht mehr individuierend in Simondons Sinn. Entlang oder bes-

ser durch der Fluchtlinie brechen Kristall, Organismus und Gesellschaft – die

Individuen, die Simondon betrachtet hatte – auf, um offenere Verbindungen, so-

genannte Gefüge (agencements) einzugehen. In dem von Deleuze und Guattari

angeführten Beispiel das „Pavian-Virus-Katze-Gefüge“, in dem der Virus „von

einer bereits differenzierten Linie zur nächsten springt“ (MP 17).10 Das Rhi-

zom ist ein dynamisches Modell gegenüber dem statischen der kristallisierten

Organisationen.

5. und 6. Das Prinzip der Kartographie und der “Dekalkomanie“: Wie das Aktu-

elle keine Kopie, kein Abgepaustes (calque11) – in Différence et répétition benutzte

Deleuze eher die Wörter Bild oder Repräsentation – des Virtuellen war, wird

auch das rhizomatische System, wenn es sich ausbreitet und verändert, keine

Kopie seiner vorherigen Struktur. Die Fortpflanzung des Rhizoms ist nicht Re-

produktion, sondern „Variation, Expansion, Eroberung, Gefangennahme“ (MP

32). Statt eines unveränderlichen Entwurfs oder einer universellen Blaupause

gibt es für das Rhizom als sich verändernde Mannigfaltigkeit nur eine Samm-

8Allgemeiner als Linien der Stratifikation bezeichnet, dies wird in Abschnitt 2 dieses Kapitelserläutert werden.

9Diesem Aspekt ist Abschnitt 3 dieses Kapitels gewidmet.10„Nos virus nous font faire rhizome avec d’autres bêtes.“ ebd.11Hat auch die pejorative Bedeutung von „Abklatsch“.

Page 63: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

60 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

lung von Karten, einen Atlas, der sich immer mit verändern muss.12 Die Kopie

ist ein sehr begrenzter Spezialfall der Karte, die einfachste Abbildungsrelation:

„Il faut toujours reporter la calque sur la carte.“ (MP 21)

Auch der euklidische Raum ist eine differenzierbare Mannigfaltigkeit, wenn

auch ein triviales Beispiel: Sein Atlas besteht aus nur einer Karte, abgebildet

durch die Identität, und alle Karten-„Wechsel“ sind nichts als Identität. Selbst

für die Projektion einer Sphäre aus dem dreidimensionalen Raum auf den zwei-

dimensionalen werden immer mindestens zwei Karten benötigt – auf einer

Karte fehlt immer mindestens ein Punkt.

Mark Bonta und John Protevi sehen die „Dekalkomanie“ als Folge eines „rigi-

den Strukturalismus“, oder der Meinung, dass Codes zwischen verschiedenen

Medien oder Systemen transferiert werden können, ohne sich dabei zu verän-

dern. Ein Beispiel aus der Biologie wäre der Gentransfer durch Klonen, erstellen

einer genetischen Kopie, im Gegensatz zur viralen Informationsübertragung

durch Transduktion.13

Der glatte und der gekerbte Raum

Die zwei antagonistischen Modelle des Raums – oder Pole der Beschreibung

von Räumen – in Mille Plateaux erklären sich weniger aus einer Wissenschaft

als aus einem Gefüge von Disziplinen. In den Plateaus 12 Traité de nomadologieund 14 Le lisse et le strié durchlaufen die Konzepte von glattem und gekerbten

Raum sehr vielfältige Bereiche oder Ebenen: politisch, ethnologisch, wissen-

schaftstheoretisch, philosophisch (oder „noologisch“, die Lehre vom Denken

betreffend), technologisch, musikalisch, geo- und ozeanographisch, differential-

geometrisch, physikalisch, ästhetisch – und wird schließlich eine wichtige Rolle

bei der Gegenüberstellung von Organismus und Körper ohne Organe spielen.14

Mathematik

Zunächst hat der Begriff „lisse“, glatt, smooth auch eine mathematische Anwen-

dung als „hinreichend oft differenzierbare Funktion“15. Die differenzierbare

Mannigfaltigkeit ist in diesem Sinne „glatt“, d. h. ein Raum, der so in Karten

12Vgl. Abschnitt II.1 dieser Arbeit.13Vgl. Bonta/Protevi 2004, S. 75.14S. Abschnitt 2 dieses Kapitels.15Spektrum Lexikon der Mathematik.

Page 64: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux 61

dargestellt werden kann, dass zwischen zwei Karten desselben Bereiches immer

ein „glatter“ Übergang möglich ist.

Was Deleuze und Guattari über den Filz bzw. mit einem Zitat von Albert

Lautmann als glatten Raum sagen lässt sich in diese Richtung interpretieren:

„C’est une collection amorphe de morceaux juxtaposés, dont le racorde-

ment peut se faire d’une infinité de manières.“ (MP 595 und 606)

Mit dieser amorphen Sammlung ist der Atlas der Mannigfaltigkeit gemeint.16

Dagegen ist „gekerbt“ (strié) kein mathematischer Ausdruck. Es liegt aber

nahe, das Gekerbte als charakteristische Eigenschaft des euklidischen Raums

zu interpretieren. Dieser trägt sein eindeutiges Koordinatensystem fest in sich

und sein Atlas besteht nur aus einer einzigen trivialen Karte, der Identität.

In diesem Sinne ist nicht, wie es vielleicht zunächst wegen der Bezeichnung

scheinen könnte, der glatte Raum der homogene Raum, sondern der gekerbte

(MP 595).17

Nomadische und königliche Wissenschaft

Der Raum wird erst durch eine vollständige Kerbung homogen und damit

geeignet, die Phänomene der „königlichen“ Wissenschaft in sich aufzunehmen:

„Il est strié par la chute des corps, les verticales de pesanteur, la distribution

de la matière en tranches parallèles, l’écoulement lamellaire ou laminaire

de ce qui est flux.“ (MP 458)

16Im Allgemeinen lässt sich „glatt“ allerdings in Deleuze und Guattaris Sinn nicht auf denmathematischen Terminus beschränken, sondern ist je nach Kontext und Anwendungsgebietzu verstehen. Im Gegensatz zu Différence et répétition spielen die Differentierung und dieDifferenzen keine zentrale Rolle mehr.

17„Homogen“ ist hier im Sinne von „überall gleich strukturiert in Bezug auf die Phänomene,die darin stattfinden“ zu verstehen. Am Rande soll hier angemerkt werden, dass die Gleich-setzung von „glatt“ und „nicht-metrisch“, die Deleuze und Guattari gelegentlich nahelegenirreführend ist (z. B. MP 605). Das Missverständnis ist die Gleichsetzung von „metrischen“und Räumen mit euklidischer Metrik. Die riemannschen Mannigfaltigkeiten, die im Plateau14 als „lisse ou non metrique“ bezeichnet werden, sind nun aber auch metrische Räume. DerUnterschied liegt darin, dass die „Abstände“ dort ortsabhängig und nicht mehr wie im eu-klidischen Raum überall von der gleichen Form sind, der Raum ist in Beziehung auf seineMetrik nicht homogen. Das Problem ist wahrscheinlich nur ein begriffliches Missverständnis,die Verwechslung von Metrik und Koordinatensystem. In diesem Sinne wäre die Verwirrungzu beheben, wenn an dieser Stelle „nicht-metrischer Raum“ durch „Raum ohne globales Koor-dinatensystem“ ersetzt würde. Die Sekundärliteratur ist in diesen Punkten auch oft ungenau.So legt Delanda in Intensive Science and virtual philosophy auch meist eine ausschließende Gegen-überstellung von glatt und metrisch nahe (z. B. Delanda 2002, S.62-63) und in Daniel W. Smithsbezeichnet in Mathematics and the Theory of Multiplicities sogar den Riemannschen Raum als„non-metric“ (Smith, D. W. (2003), Mathematics and the Theory of Multiplicities: Badiou andDeleuze Revisited. The Southern Journal of Philosophy, 41: 411–449).

Page 65: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

62 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

Newton wird hier zur Schlüsselfigur der königlichen Physik. Gerade und be-

rechenbare Linien kerben den Raum und zeichnen den Weg der Phänomene

vor - den Fall der Körper im (newtonschen) Gravitationsfeld oder das Ge-

schwindigkeitsspektrum in einer laminar strömenden Flüssigkeit. Die new-

tonsche Gravitationstheorie ist im euklidischen Ruam verankert, die exakte

Fluiddynamik braucht die idealisierte Näherung der geordneten oder lamina-

ren Strömung, d. h. eine Strömung, die in voneinander konzeptuell trennbaren

Schichten strömt und in der keine Wirbel entstehen.

Die allgemeine Fluiddynamik (z. B. nach Navier-Stokes) ist dagegen ein Beispiel

der sogenannten nomadischen Wissenschaft. Für den Fall der turbulenten Strö-

mung sind allgemeine analytische Lösungen der das System beschreibenden

Differentialgleichung nicht mehr möglich, so dass sich die Berechnung nur auf

numerische Approximationen und empirische Parameter stützen kann.18

Die königliche Wissenschaft wird als hylemorphistisch bezeichnet, beherrscht

vom „statischen Verhältnis Form-Materie“ (MP 451). Der homogene oder ge-

kerbte Raum verhält sich zu den unveränderlichen und idealisierten Gesetzen

wie die amorphe Materie zur Form im hylemorphistischen Modell. Dagegen

legen Deleuze und Guattari der nomadischen Wissenschaft – unter Berufung

aus Simondons Hylemorphismuskritik – das „dynamische Verhältnis Material

– Kräfte“ (MP 451) zu Grunde. Der Raum wird inhomogen, die Gesetze nicht

mehr universal anwendbar. Hier tritt die Singularität im simondonschen Sinn

als „Keim der Individuierung“ und Struktur einer nicht mehr bloß passiven

Materie auf. Wie in Simondons Kritik des hylemorphistischen Modells des

Ziegels und des Tons betonen Deleuze und Guattari :

„[P]our la science nomade la matière n’est jamais une matière préparée,

donc homogénéisée, mais essentiellement porteuse de singularités.“ (MP

457)

Die Materie, oder der Raum, der der Materie zu Grunde liegt, ist nicht gekerbt

und somit überschaubar strukturiert, sondern birgt Singularitäten, die sich a

priori nicht absehen oder vermessen lassen. Der glatte Raum gehöre zu einer

gewissen Art von Mannigfaltigkeit, die einen Raum einnehmen ohne ihn zu

zählen (occuper sans compter), und die nur durch Abschreiten zu erkunden sei.19

Unter „compter“ kann „global vermessen“ oder „mit einem global-einheitlichen18Vgl. McGraw Hill Encyclopedia of Science and Technology, Artikel „Navier-Stokes Equa-

tion“: „A significant limitation of Navier-Stokes theory is the lack of any proof regardinguniqueness or existence of solutions (. . . ) for given boundary and initial conditions.“

19Im Original „explorer en cheminant sur elles“, (MP 460).

Page 66: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux 63

Koordinatensystem versehen“ verstanden werden. Der gekerbte Raum als ge-

zählter hat somit eine a priori global bekannte Struktur oder eine Karte, die

überall gültig und einheitlich ist. Der glatte Raum dagegen muss Bereich für

Bereich „abgeschritten“ werden. Dabei weist die Materie als mit Singularitäten

strukturiert der Form den Weg, statt dass die Formen die Materie organisie-

ren.20

An dieser Stelle lässt sich eine Verbindung zu den Singularitäten als Diskon-

tinuitäten im Virtuellen aus Différence et répétition oder als „nomadischen

Singularitäten“ (LS 124) im transzendentalen Feld aus La logique du sens ziehen.

Um die Struktur der virtuellen Mannigfaltigkeit – die Eigenschaften von Funk-

tionen – herauszufinden, muss die Mannigfaltigkeit erst durch Reihenentwick-

lungen der Funktionen in kleinen Bereichen, von Singularität zu Singularität

der Reihenentwicklung „entlang gewandert“ werden – dies waren die Reihen,

die sich von Singularität zu Singularität fortsetzen, die in Différence et répétitionzur Struktur des Virtuellen gehörten. Hierbei richtet sich der Weg, die Form des

Weges nicht nach im Voraus bekannten Zielen, sondern wird durch die Singula-

ritäten als lokale Eigenschaften der Funktionen und somit auch als intrinsische

Eigenschaften des Raumes bestimmt.

Indem das Abschreiten eines Raumes nicht mehr auf einen Punkt als Ziel

gerichtet ist, gewinnt der Weg selbst vor den Endpunkten an Bedeutung:

„Or, dans l’espace strié, les trajets sont subordonnés aux points : on va d’un

point à un autre. Dans le lisse, c’est l’inverse : les points sont subordonnés

au trajet.“ (MP 597)

Im gekerbten Raum mit seinem globalen Koordinatensystem ist durch die Koor-

dinaten von zwei Punkten auch direkt ihre Entfernung mit gegeben. Außerdem

ändert sich diese nicht, wenn man die beiden Punkte, ohne sie relativ zueinan-

der zu bewegen, verschiebt (Homogenität).

Auf der riemannschen Mannigfaltigkeit dagegen hängt die Form und Länge

der kürzesten Verbindungsstrecke zwischen zwei Punkten, die Geodäte, immer

von der Krümmung des Raumes ab. Um eine Geodäte zu bestimmen wird die

volle geometrische Struktur des Raumes benötigt. So ist es zu verstehen, wenn

Deleuze und Guattari schreiben:

„Un trajet est toujours entre deux points, mais l’entre-deux a pris toute la

consistance, et jouit d’une autonomie comme d’une direction propre.“ (MP

471)20Vgl. MP 598.

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64 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

An dieser Stelle kommt das intensive Spatium aus Différence et répétition wieder:

Es gibt Entfernungen, aber keinen universellen Maßstab dafür. Der glatte Raum

ist so, im Sinne der Verwendung des Begriffs in Différence et répétition , intensiv,

die Entfernungen sind „eingewickelt“ („enveloppées“, MP 598). In Bezug auf

das Beispiel der riemannschen Mannigfaltigkeit bedeutet dies, dass dass die

Geodäten gewissermaßen in der Krümmung verborgen sind, sie müssen erst,

unter Kenntnis der geometrischen Struktur ausgerechnet werden. Diese Berech-

nung kann außerdem immer nur lokal erfolgen, denn die geometrische Struktur

des Raumes ist ortsabhängig: „[L]a situation même de deux déterminations

exclut leur comparaison.“ (MP 606)

Das darauf folgende Zitat aus einem Text von Albert Lautmann legt nahe, dass

mit „déterminations“ „Entfernung“ gemeint ist. Deutlicher wird dies durch

ein Beispiel der physikalischen Anwendung von riemannscher Geometrie in

Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie. Die „Geschwindigkeit“, in der die

Zeit verstreicht (Größe eines Zeitintervalls) hängt von der Verteilung der Masse

im Raum ab, da die Masse den Raum und somit den Weg des Lichts deformiert

– die Masse krümmt die Linien des Lichts.21

Bislang wurde meist die riemannsche Mannigfaltigkeit als Beispiel für den glat-

ten Raum genannt. Dies könnte den Eindruck entstehen lassen, dass sich glatter

und gekerbter Raum als Kontrahenten immer ausschließen. Bei einem anderen

Aspekt des Gegensatzes von glatt und gekerbt, nämlich dem Paar topologischer

und metrischer Raum ist dies gerade nicht der Fall. Der metrische Raum ist ein

topologischer Raum mit einer zusätzlichen Struktur. So kann das Hinzufügen

einer Metrik auf einem topologischen Raum als Kerbung betrachtet werden.

Wie Simondon in seiner Analyse über die Topologie des Lebendigen eine Be-

schreibung in einem euklidischen Raum von der in einem topologischen ab-

grenzte22, ist auch in Mille Plateaux , wenn es um Biologie geht, das Paar

glatt-gekerbt das von topologischem und euklidischem Raum.

Wie schon im Kapitel zu Simondon ist die Verwendung von „topologisch“

hier nicht streng mathematisch zu verstehen. Deleuze und Guattari auf die

im vorhergehenden Kapitel angesprochene Kontroverse zwischen Geoffroy

21Hier lässt sich am Rande die Frage stellen, warum Deleuze und Guattari der Opposition„Riemann – Euklid“ nicht die von „Einstein – Newton“ zur Seite stellen. Interessanter alsderen Beantwortung ist aber vielleicht die Bemerkung, dass die allgemeine Relativitätstheorieden hylemorphistischen Aspekt der nomadischen Wissenschaft veranschaulicht: das Feld (alsForm), das in einem homogenen Raum (als amorphe Materie) auftritt wird durch das Konzepteines intrinsisch gekrümmten Raums (riemannsche Mannigfaltigkeit als glatter Raum) abgelöst.(Vgl. McGraw Hill Encyclopedia of Scienceand Technology, Artikel „Relativity“).

22Vgl. IGP 259.

Page 68: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux 65

und Cuvier zurück. Cuvier wird der königlichen, Geoffroy der nomadischen

Wissenschaft zugeordnet. Der eine erkläre die Organisation der Lebewesen in

rigiden Funktionen und denkt in euklidischen Strukturen, der andere nehme

einen einzigen Bauplan der Lebewesen als topologischen Raum an, in dem der

Übergang von einer Art zu einer anderen durch Transformationen23 geschieht.

Wie bei Simondon geht es um den Standpunkt, dass die Frage nach Bereichen,

Rändern, Innen und Außen wichtiger ist, als die Form, die geometrische Struk-

tur und die Funktion. In diesem Sinn ist auch die Assoziation von Cuvier mit

dem euklidischen Raum zu verstehen. Das in populärwissenschaftlichen Dar-

stellungen zur Topologie beliebte Beispiel von der Tasse und vom Doughnut

veranschaulicht diese Unterschiede im Denken: im Hinblick auf ihre topologischeStruktur sind die Oberfläche einer Tasse und der eines Doughnuts äquivalent24,

auch wenn sich die Abstände zwischen Punkten und mit ihnen Form und

Funktion des Objekts bei dem Übergang ändern.25

Geographie

Das ständige Zusammenspiel von glatten und gekerbten Räumen wird in der

„Geo-Philosophie“ am deutlichsten: Verschiedene Formen von Räumen durch-

setzen und widerstreiten sich.26 Daher ist eigentlich weniger die Rede von demglatten und dem gekerbten Raum, sondern von kerbenden und glättenden Kräf-

ten, die in Räumen agieren.27 Dies sind zum Beispiel die Steppe die Wüste der

Nomaden, in der nur Pfade (Linien) der nomadischen Wanderung existieren

(sogar die Linien der Dünen wandern) im Gegensatz zu den Räumen der Sess-

haften – zum einen Wald und Acker, gekerbt durch zur Oberfläche senkrechte

Linien der Bäume und die Linien der Ackergrenzen auf der Oberfläche (MP

477), zum anderen die Stadt, als Raum gekerbt durch feste Gebäude Mauern

und Zäune (MP 472).

Das Meer dagegen ist das prinzipielle Beispiel oder der Archetyp des glatten

23Sogenannte Isomorphismen, s. nächster Abschnitt.24Die von beiden Flächen berandeten Körper haben ein Loch, ein kontinuierlicher Übergang,

bei dem keine weiteren Löcher entstehen, ist möglich.25Die Kontroverse zwischen Geoffroy und Cuvier und die Frage der Einheit des Bauplans

und die Organisation allgemein wird im nächsten Abschnitt diskutiert.26In Qu’est-ce que la philosophie? widmen Deleuze und Guattari diesem Begriff ein ganzes

Kapitel und schreiben ganz allgemein: „Penser se fait plutôt dans le rapport du territoire etde la terre.“(QP 82 f.). In diesem Sinne ist auch Mille Plateaux im Grunde genommen schongeophilosophisch. S. auch Bonta/Protevi 2004 zum Begriff der Geophilosophie in Mille Plateaux .

27Vgl. Bonta/Protevi 2004, S.151.

Page 69: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

66 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

Raums, da es gleichzeitig auch ein Bild für die ständigen Bestrebungen ist, den

glatten Raum zu kerben.

„Car la mer est l’espace lisse pas excéllence, et pourtant celui qui s’est

trouvé le plus tôt confronté aux exigences d’un striage de plus en plus

stricte.“ (MP 598)

Die geometrischen und astronomischen Errungenschaften der königlichen

Wissenschaft haben zur allgemeinen Navigation, der Erstellung von präzi-

sen Karten und somit zur Kerbung des Meeres durch die Erfassung in einem

exakten Koordinatensystem beigetragen. Dagegen war die nomadische Na-

vigation zunächst nur empirisch und immer im Einzelfall anwendbar, dann

„prä-astronomisch“, die Linien und Richtungen benutzte, aber in Ermangelung

keines übergeordneten Referenz-Systems keine Orte angeben und daher auch

keine präzisen und allgemeinen Karten erstellen konnte.

Konsistenz- oder Immanenzebene

Die Konsistenzebene (plan de consistance) nennen Deleuze und Guattari manch-

mal auch Kompositionsebene, Ebene der Univozität, der Natur, des Lebens

oder, nach Spinoza, Immanenzebene. Das französische „plan“ hat die drei Be-

deutungen: „Plan“ – sowohl als „Absicht“ als auch als „Karte“ – und „Ebene“.

Die erste ist teleologisch oder theologisch, die zweite geographisch, die dritte

geometrisch, wobei die zweite und dritte, wie im vorigen Abschnitt angedeu-

tet wurde, auch zusammengenommen werden können. Im Falle des plan deconsistance ist es die dritte (bzw. zweite) Bedeutung. In Spinoza et nous28 nennt

Deleuze die Immanenzebene (plan d’immanence) „eine Ebene im geometrischen

Sinn, Schnitt, Schnittmenge, Diagramm“.29 In diesem Sinne werden auch Bau-

plan (plan d’organisation) und Konsistenzebene gegenübergestellt, worum es im

nächsten Abschnitt gehen wird.

Um zu zeigen, was es heißt, Körper – und zwar „im allgemeinsten Sinne des

Wortes“ (MP 102), das kann auch ein Gesellschaftsköprer oder sogar eine Seele

sein – auf der Immanenzebene zu beschreiben, geht Deleuze vom ersten Prinzip

Spinozas aus: eine einzige Substanz für alle Attribute. Hierauf werden Körper

auf zwei Arten definiert, kinetisch und dynamisch. So ist ein Körper weder über28Aufsatz erschienen in Revue de synthèse, Jan-Sept. 1978, S.271-277, teilweise wieder aufge-

nommen in den beiden Abschnitten „Souvenirs d’un Spinoziste im Plateau 10, Devenir-intense,devenir-animal, devenir-imperceptible. Im Folgenden als Spinoza et nous zitiert.

29Im Original „un plan au sens géométrique, section, intersection, diagramme“, in Spinoza etnous, S.271.

Page 70: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

1 Aspekte der Vielheit in Mille Plateaux 67

Formen, Funktionen oder Organe noch als Subjekt definiert, sondern zum Einen

über die differentiellen Verhältnisse von Ruhe und Bewegung zwischen seinen

unendlich vielen Teilchen, zum Anderen durch das Vermögen, einen anderen

Körper zu affizieren.30

Diese zwei Aspekte der Bestimmung von „Körpern“ führen zu einer spinozisti-

schen Kartographie, nach Längen- und Breitengrad.

„Nous appelons longitude d’un corps quelconque l’ensemble des rapports

de vitesse et de lenteur, de repos et de mouvements entre particules qui

le composent de ce point de vue. Nous appelons latitude d’un corps

l’ensemble des affects qui remplissent un corps à chaque moment, sous le

double aspect de son pouvoir d’affecter et d’être affecté.“31

Die zwei Arten von Koordinaten oder Dimensionen der Immanenzebene als

„Karte“ (die zweite Bedeutung von plan) sind die differentiellen Bewegungs-

größen und die dynamischen Verhältnisse zwischen verschiedenen Körpern.

Dieses Bild ist komplex: Diese „Karte“ eines Körpers ist nicht zweidimensional

und unveränderlich wie eine Weltkarte, sondern ihr „Längengrad“ hat für sich

schon so viele Dimensionen, wie die Teile und Teilchen des Körpers untereinan-

der relative Geschwindigkeiten haben und ändern sich wie diese mit der Zeit.

Ihr Breitengrad dagegen ist so vielfältig wie die Wechselwirkungen zwischen

den „Körpern“, und dies sowohl in ihrer Art (und damit sind alle Affekte,

nicht nur materielle, gemeint) als auch in ihrer Anzahl und Intensität.32 In

Mille Plateaux wird die Latitüde auch „die Gesamtheit der intensiven Affekte“33

genannt.

Uexkülls Milieutheorie gibt ein Beispiel für eine solche Karte der Affekte – die

Zecke als bestimmt durch drei Affekte: das Licht, um auf einen Baum zu klet-

tern, der Geruchssinn, um vorbeigehende Säugetiere auszumachen und der

Wärmesinn, um die Stelle, an der sie sich festsetzt, zu finden.34

Zusammengenommen bilden die Bestimmungen nach differentiellen Geschwin-

digkeiten und intensiven Affekten ein Gefüge (agencement).Die „Dinge“ auf der Konsistenzebene haben daher eine sehr eigene Weise der

Individuierung, radikal verschieden von der Einheit stiftenden Individualität30Vgl. Spinoza et nous, S.272-274.31Ebd., S.274, wieder aufgenommen in MP 318.32Ein einfacheres Beispiel für eine solche Art von Raum wäre der physikalischen Phasenraums

eines Ensembles von n Teilchen: auf beiden Achsen gibt es 3n Variablen, jeweils 3 für Orts- und3 für den Impulsvektor jedes Teilchens. Betrachtungen hierzu stellt Delanda in Deleuze in phasespace an, auch wenn er dort nicht auf die spinozistische Kartographie eingeht.

33„[L]’ensemble des affects intensifs“, MP 318.34Vgl. Spinoza et nous, S.273, auch MP 67-68.

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68 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

eines Subjektes, das „Ich“ sagt oder von einer über ihren Zweck oder auch nur

über ihre selbst-erhaltende Organisation definierten Maschine:

„Il y a un mode d’individuation très différent de celui d’une personne,

d’un sujet, d’une chose ou d’une substance. Nous lui réservons le nom

d’heccéité.“ (MP 318)

Statt ein System zu sein, das individuiert ist, insofern es sich von seiner Umge-

bung als geschlossene Einheit abgrenzt, sind diese Haecceitäten immer Gefüge

von sich kreuzenden Linien. Die Haecceitäten sind individuiert insofern sie

„agencés“, ein Zusammengefügtes sind. Sie haben aber kein vereinheitlichen-

des Prinzip wie die Substanz eine Essenz, wie ein Subjekt ein Bewusstsein hat.

Die Haecceität hat rhizomatsiche Struktur, denn sie besteht aus Linien, die

Geschwindigkeiten und Wechselwirkungen markieren.35

Ihre Individualität ist immer durch Prozesse, relativ zu den anderen Haecceitä-

ten als offenes System auf der Konsistenzebene bestimmt.

In der Bestimmung der Körper über differentielle Geschwindigkeiten kehrt der

differentielle Aspekt aus Différence et répétition zurück. Die intensiven Größen

als „eingewickelte“, Differenzen von Differenzen finden sich in den Affekten als

Wechselwirkungen zwischen den Körpern wieder. Allerdings befindet sich die

konzeptuelle Trennlinie nicht mehr zwischen virtuell und aktuell; das kantische

Verhältnis vom Virtuellen als transzendental zum Aktuellen wird zu einer

spinozistischen Immanenzebene, als einer Ebene, aus der sich dynamisch die

Strukturen erst herausbilden.

2 Die Organisation

Der Immanenz- oder Konsistenzebene setzen sich verschiedene Formen oder

Prozesse der Organisation entgegen. Zum einen ist das der Organisations- oder

Bauplan, der als transzendentes oder teleologisches Prinzip über oder jenseits

der Immanenzebene liegt. Zum anderen sind es die nach dem geologischen

Term benannten Prozesse der Stratifizierung, die aber ganz allgemein in der

Bildung von mehr oder weniger rigiden Strukturen ausgehend von der Konsis-

tenzebene bestehen. Schließlich werden das Ei oder der sogenannte Körper ohneOrgane Veranschaulichungen für diesen Widerstreit.

35Vgl. MP 321.

Page 72: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Die Organisation 69

„Les deux plans“ oder Konsistenzebene und Bauplan

In dem Abschnitt Souvenirs d’un planificateur im Plateau Devenir-intense, devenir-animal, devenir-imperceptible wird die Immanenzebene dem Organisations- oder

Bauplan (plan d’organisation) gegenübergestellt. Dieser ist ein verstecktes Prin-

zip, das bewirkt, dass das Gegebene gegeben ist, kann aber selber nur durch

Schlüsse ausgehend von dem Gegebenen gefolgert oder erraten werden.

„Un tel plan, il est structural ou génétique et les deux à la fois, struc-

ture et genèse, plan structural des organisations formées avec leurs dé-

veloppements, plan génétique des développements évolutifs avec leurs

organisaitons.“ (MP 325)

Er ist nicht gegeben, sondern „lebt“ in einer höheren Dimension zum Gegebe-

nen (immer n+1 zu n) und ist so ein Plan der Transzendenz oder der Analogie.

Er ist teleologisch oder theologisch und enthält eine Absicht oder ein mentales

Prinzip. Der Präformismus stützt sich auf einen solchen versteckten Organi-

sationsplan, selbst wenn dieser als dem System immanent bezeichnet wird

(z. B. der Baum im Keim). Eine Form oder eine Struktur wird aus einem solchen

Plan heraus auf eine Funktion hin „entwickelt“.

Die Immanenzebene dagegen hat keine zusätzliche Dimension, sie ist immer

immanent mit dem, was sie enthält, gegeben. Die Immanenzebene heißt auch

Kompositionsebene, da sie immer schon mit dem, was sie enthält mitgegeben

ist. Die Komposition in der Ebene geschieht durch Gruppierungen oder Zu-

sammenfügungen von Dingen auf der Ebene, und dies nicht indem sie eine

übercodierende Struktur verwirklicht.

„[L]e processus de composition doit être entendu pour lui-même, marqué

dans ce qu’il donne, immanent à ce qu’il donne (. . . ) c’est un plan qui se

construit morceau par morceau.“ 36

Was oben über die Karten des glatten Raums, die Linien des Rhizoms gesagt

wurde gilt auch hier: auf der Immanenzebene gibt es keinen globalen Organisa-

tionsplan, alles wird Stück für Stück erschlossen.

Als Beispiele aus der Komposition im Wortsinn, nennen Deleuze und Guattari

einige Komponisten ihrer Zeit – Pierre Boulez, John Cage und die minimal musicvon Steve Reich und Philip Glass, die alle, anstatt sich in eine vor-pulsierte Zeit

als Tempo einzugliedern, die Komposition selbst frei in einer „dahin treibende

Zeit“ (temps flottant, „Aiôn“) ihre eigene Zeit markieren lassen.36Spinoza et nous, S.275.

Page 73: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

70 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

Zurück zu Geoffroy Saint-Hilaire und Cuvier

Im Abschnitt über den glatten und den gekerbten Raum wurden Geoffroy

und Cuvier der nomadischen und der königlichen Wissenschaft bzw. dem

euklidischen und dem topologischen Raum zugeordnet. In Geoffroys Theorie –

oder genauer gesagt, in der Theorie, die Deleuze und Guattari ihm über den

fiktiven Vortrag von Professor Challenger im Plateau La géologie de la moralein den Mund legen – wird die Natur als Konsistenzebene gesehen, auf der

sich die Übergänge zwischen den Arten entlang der Linien eines Rhizoms als

Isomorphismen oder Homologien vollziehen.

„L’important, c’était le principe de l’unité et de la variété: isomorphisme

des formes sans correspondance, identités des éléments ou composants

sans identité des substances composées.“ (MP 61)

In diesem Modell ist die Einheit des „Materials“ für alle Arten zentral. Auf

dieser Ebene, dieser einzigen Mannigfaltigkeit oder Varietät, kann zwischen

beliebigen Lebewesen ein Übergang bzw. eine Transformation durch einen Iso-

morphismus stattfinden, ohne dass eine Entsprechung zwischen den Formen

erkennbar sein muss. So sind sie Seinsweisen oder „Modi“ (frz. modes) die-

ses einzigen „abstrakten Tieres“ und unterscheiden sich durch den Grad ihrer

Entwicklung. Das französische mode erlaubt auch die deutsche Übersetzung

„Mode“, so dass sich die Ausführung des abstrakten Tieres mit der Obertonreihe

zu einem Grundton veranschaulichen lässt. In einem beliebigen Ton schwingt

immer schon seine Obertonreihe, deren Spektrum – oder auf „deleuzoguatta-

risch“ Oberton-Gefüge – den Klang des Tons bestimmt, mit.

Die Frage nach den Variationen der Arten und den Funktionen der verschiede-

nen Organe ist daher eine Frage der Komposition und des Gefüges ausgehend

von einer einheitlichen Konsistenzebene, und keine Frage nach der Organisa-

tion nach Funktionen oder Prinzipien. Es geht dabei nicht um Entwicklung

oder Differenzierung, sondern um Zusammen- oder Auseinanderlaufen von

Bestandteilen in Verhältnissen, die durch relative Geschwindigkeit oder Ruhe

gekennzeichnet sind.37 Wie oben in der spinozistischen Kartographie, sind

alle Variationen und Unterschiede auf Geschwindigkeiten und Wechselwirkun-

gen auf der Konsistenzebene, wo die ungeformten Elemente und Materialien

„tanzen“, zurückführbar. Dies ist die Rolle der Umgebung und des Milieus.38

37Vgl. MP 312.38Vgl. MP 62 und MP 312.

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2 Die Organisation 71

Die verschiedenen Arten und Differenzierungen in verschiedene Organe mit

verschiedenen Funktionen, die durch diese Variationen entstehen werden als

„Ausführungen“ desselben abstrakten Tieres verstanden.39 Es ist Geoffroys

Konzept der Isomorphie (MP 61), das gewährleisten soll, dass zwischen den

Arten ein (zumindest konzeptueller) Übergang durch Faltung (pliage) möglich

ist. Ein Isomorphismus ist in der Mathematik eine Abbildung, welche die

Verknüpfung zwischen Elementen beim Übergang vom Urbild zum Bild erhält

(Homomorphimus), und außerdem eindeutig jedem Element des Urbildes ein

Element im Bild zuordnet und umkehrbar ist.40 In Bezug auf Geoffroys Theorie

handelt es sich um einen Übergang von einer Struktur zu einer anderen, ohne

dass Formen oder Funktionen erhalten bleiben.

„Quels que soient les changements de forme, de volume, de position que

subit une pièce anatomique, elle conserve toujours les mêmes relations de

voisinage.“41

Es geht nur um Nachbarschaftsrelationen, oder genauer, um die Erhaltung einer

gewissen Erreichbarkeit zwischen Punkten.42

Cuvier dagegen – oder die Marionette, die Professor Challenger Cuvier spielen

lässt – muss zur Erklärung auf Funktionen zurückgreifen, die, ob theologisch,

teleologisch oder teleonomisch43, in jedem Fall transzendent zur Ebene der

materiellen Vorgänge auf der organischen Ebene der Lebewesen sind – die

Immanenzebene der Natur muss verlassen werden. Entscheidend sind hier

Analogien (Entsprechung von Funktionen) zwischen den Arten:

„C’est leur organisation fonctionnelle qui sous-tend les classes, qui rappro-

che certains organismes et en éloigne d’autres.“44

Bei der Klassifikation der Arten nach funktionellen Organisationen (auf einer

Organisationsebene) werden daher automatisch einige Gebiete oder „Äste“ von

anderen abgetrennt und sind nicht mehr erreichbar – hier verortet sich auch in

39„Un seul Animal abstrait pour tout les agencements qui l’effectuent.“ (MP 312).40Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim 1989.41Jacob 1970, S.117.42Wie beim obigen Beispiel von der Tasse und dem Doughnut – Wahrscheinlich waren es

daher die Mathematiker, die noch am längsten Professor Challengers fiktivem Vortrag in Lagéologie de la Morale zuhörten – „gewöhnt an ganz andere Verrücktheiten“ (MP 74) als denÜbergang vom Elefant zur Qualle, den die Marionette, die Cuvier in diesem Stück spielt,erwähnt.

43Der Unterschied zwischen teleologisch und teleonomisch wird in Abschnitt 3 dieses Kapi-tels genauer erläutert.

44Jacob 1970, S.121.

Page 75: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

72 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

Baers Annahme der vier Grundtypen von Embryonen, deren Entwicklungen

nicht aufeinander zurückführbar sind.45

„Selon [Cuvier], l’unité du plan ne peut être qu’une unité d’analogie, donc

transcendante, qui ne se réalise qu’en se fragmentant dans des embranche-

ments distincts, suivant des compositions hétérogènes, infranchissables,

irréductibles.“ (MP 311)

In diesem festen Schema verläuft die Einteilung nach „Ähnlichkeitsrelationen

zwischen Organen und Analogien der Formen“46

Vom Blickwinkel der Einteilung in königliche und nomadische, über- und

unter-geordnete, voll- und minderwertige, Haupt- und Neben- Wissenschaft47,

hylemorphistische Konzepte und solche von Energie und Geschwindigkeit,

ist Cuviers Typ fest und übergeordnet, externe Formgebung (moule), während

Geoffroys kontinuierliche Übergänge aus den Variationen der Geschwindigkeit

und Intensität immanent entstehen.48 Auch in Différence et répétition war die

Rede von Geschwindigkeiten der Entwicklung, von einer Genese von virtuell

zu aktuell statt von einem aktuellen Term zu einem anderen. Cuviers Organe

und Funktionen sind solche aktuellen Terme, daher entsteht auch der Streit,

da unter der Voraussetzung von Übergängen zwischen aktuellen Termen und

einem Primat der Ähnlichkeit, Geoffroys universeller Bauplan nicht vorstellbar

ist. Geoffroys Kompositionsebene der Natur dagegen mit ihren ungeformten

Materialien und Elementen entspricht dem Virtuellen.49

Von Simondon zur Geologie – Die Stratifizierung

Stratifizierung und doppelte Artikulation

Wie in Différence et répétition die Aktualisierung der virtuellen Mannigfal-

tigkeiten erklärt werden musste, muss in Mille Plateaux nun die Frage, wie

Organisation und Struktur auf der einen und die Konsistenzebene auf der

45Karl Ernst von Baer (1792-1819), „Begründer der modernen Embryologie, Entdecker desSäugetier-Eies (1826) und der Chorda dorsalis in der Entwicklung der Wirbeltiere; Anhängerder Typenlehre von G. de Cuvier (. . . ) wies so auf die später von F. Müller und E. Haeckelaufgestellte biogenetische Grundregel hin („Gesetz der Embryonenähnlichkeit“)“, SpektrumLexikon der Biologie, Band 2.

46„[D]es ressemblances d’organes et des analogies de formes“ (MP 61).47Das französische Begriffspaar majeure et mineure hat im Deutschen zu viele Bedeutungen,

als dass hier wirklich von einer Übersetzung zu sprechen wäre.48Diese Betonung auf den hylemorphistischen Aspekt findet sich auch in Sauvagnargues

2004, S.141-143.49Vgl. DR 239.

Page 76: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Die Organisation 73

anderen Seite zusammen spielen. Wie glatter und gekerbter Raum können

Organisationsplan und Konsistenzebene eine gewisse Zeit lang wie bisher als

abstrakte Pole gegenübergestellt und voneinander abgegrenzt werden. Deleuze

und Guattari nennen dies eine „wohlbegründete Abstraktion“. Andererseits

sind die beiden aber immer in Wechselwirkung:

„Si bien que le plan d’organisation ne cesse de travailler sur le plan de

consistance, en essayant toujours de boucher les lignes de fuite, de stopper

ou d’interrompre les mouvements de déterritorialisation, de les lester, de

les restratifier, de reconstituer des sujets et des formes en profondeur. Et,

inversement, le plan de consistance ne cesse pas de s’extraire du plan

d’organisation, de faire filer des particules hors strates, de brouiller les

formes à coup de vitesse ou de lenteur, de casser les fonctions à force

d’agencements, de micro-agencements.“ (MP 330)

Nachdem bisher eher von Geographie-Philosophie die Rede war – Fragen der Kar-

tographie, der Ebene der Beschreibung – kommt nun der Geologie-philosophischeAspekt hinzu. Den Konzepten der „Strata“ (Schichten), der „Stratifizierung“

und „Destratifizierung“, der „Territorialisierung“ und der „Deterritorialisie-

rung“ – Geologie der Dinge ist das Plateau La géologie de la morale gewidmet. Wie

oben bereits angemerkt, ist dieses Plateau als fiktiver Vortrag von Conan Doyles

Professor Challenger geschrieben.50 Dieser eröffnet mit der Gegenüberstellung

der Welt als Konsistenzebene – „mit instabiler und ungeformter Materie, Ströme

in alle Richtungen, freie Intensitäten oder nomadische Singularitäten“– und

dem „sehr wichtigen, unvermeidlichen, in gewisser Hinsicht gutartigen, in

vielerlei Hinsicht bedauerlichen“ Phänomen der Stratifizierung.51 Was geht bei

der Stratifizierung vor sich, was „tun“ die Strata?

„Les strates (. . . ) consistaient à former des matières, à emprisonner des

intensités ou à fixer des singularités dans des systèmes de résonance et de

redondance, à constituer des molécules plus ou moins grandes sur le corps

de la terre, et à faire entrer ces molécules dans des ensembles molaires.“

(MP 54)

An dieser Passage wird Simondons Einfluss deutlich. Die Stratifizierung ist

ein Resonanzphänomen zwischen Größenordnungen. Aus dem Mikroskopi-50Vielleicht ist es auch deshalb eins der kryptischsten. Hier besonders bemerkenswert

die ausführliche, klare und verständliche Darstellung von Pierre Montebello in Deleueze, s.Montebello 2008, Kapitel IV, Le paradoxe de la nature.

51Im Original „un phénomène très important, inévitable, bénéfique à certains égards, regret-table à beaucoup d’autres: la stratification“.

Page 77: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

74 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

schen – bei Deleuze und Guattari das Molekulare genannt – entsteht durch

Verstärkung eine globale oder makroskopische Struktur, Deleuze und Guattari

nennen sie „molar“. Diese Struktur wird insofern „redundant“ genannt, als sie

geordnet und codiert d. h. zu einem gewissen Grad repetitiv oder regelmäßig

ist und dem prä-individuellen oder prä-stratifizierten Chaos entgegensteht.

Der Unterschied zu Simondon und auch zu Différence et répétition liegt in der

Betonung des „territorialen“ Aspekts. In der ordnenden Strukturierung von

Strömen und Teilchen der Konsistenzebene durch Resonanz geschieht auch

eine „Gefangennahme“ (capture, emprisonnement) des deterritorialisierten in ei-

nem Territorium. Hier dominiert das Bild der Resonanz von Schwingungen in

einem Hohlraum – durch die „Einsperrung“ einer Welle tritt die Struktur der

diskreten Eigenschwingungen des Raumes auf.

„Elles opéraient par codage et par territorialisation sur la terre, elles

procédaient simultanément par code et par territorialité.“ (MP 54)

Die Haecceitäten der Immanenzebene werden bei der Stratifizierung in zwei

Hinsichten oder in zwei Dimensionen – der Oberfläche und der Tiefe – einge-

fangen: Die differentiellen Geschwindigkeiten oder Flüsse von unorganisierten

Teilchen werden „territorialisiert“ und die Affekte oder Flüsse von Intensitäten

werden in festen Schichten „versteinert“ oder codiert.

Die geologische Ausdrucksweise weist nicht auf Metaphern, sondern auf die

Verwendung eines Paradigmas im simondonschen Sinn hin – Stratifizierung

als Paradigma für die Formung von Organismen und anderen Formen der

Organisation. Eine der Hauptfragen dieses Plateaus ist die Organisation des

Lebendigen („stratification organique“) oder das Problem, wie ein Organismus

aus dem Körper „gemacht“ wird.52 Die Frage ist auch, inwiefern dieser Vorgang

und sein Ergebnis „gutartig“ und inwiefern sie „bedauerlich“ („bénéfique“ und

“regrettable“) sind.

Zunächst geht es darum, den Vorgang der Stratifizierung genauer zu fassen.

Deleuze und Guattari beschreiben ihn durch das Konzept der doppelten Arti-

kulation – maßgeblich beeinflusst vom indie Linguisten Louis Hjelmslev und

Simondons Hylemorphismuskritik.

Das Plateau beginnt mit dem Bild eines Hummers mit der Unterschrift „doublearticulation“, was in Bezug auf die beiden Zangen des Hummers soviel wie „Ge-

lenk“ bedeutet. Dann aber bezieht sich die articulation bald – frei inspiriert von

52Vgl. MP 55.

Page 78: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Die Organisation 75

Hjelmslevs Theorie – auf Inhalt und Ausdruck, so dass die andere Bedeutung,

Artikulation als Explizit-Machen von etwas Impliziten oder als Strukturierung

von Unstrukturiertem es besser auf den Punkt trifft.53

Das Paar Inhalt und Ausdruck wurde in Abgrenzung vom Paar „Bedeutendes –

Zeichen“ (signifiant – signe) gewählt.

„Une forme de contenu n’est pas du signifié, pas plus qu’une forme

d’expression n’est du signifiant.“ (MP 85)54

Es geht nicht um eine übergeordnete Bedeutung, die wie eine transzendente

Absicht über den Strata schwebt, sondern nur um das Verhältnis der Strata

zur Immanenzebene. Die erste Beschreibung der doppelten Artikulation ist in

folgendem Schema dargestellt.55

Inhalt (molekular/mikroskopisch) Ausdruck (molar/makroskopisch)V

1V

2Substanz1 & Form1 Substanz2 & Form2

in- oder metastabile Ströme oder Moleküle molare, zusammengesetzte Dinge& ihre statistische Verteilung & ihre stabile und funktionale Struktur

Dabei unterscheiden sich die beiden Artikulationen (^) dadurch, dass die erste

den Inhalt und die zweite den Ausdruck betrifft. Das Ergebnis sind zwei

Mannigfaltigkeiten, eine des Inhalts, eine des Ausdrucks. Im einfachsten Fall ist

der Inhalt molekular und der Ausdruck molar. Bei der ersten Artikulation mit

ihrer bloß statistischen Ordnung gibt es keinen globalen Code, der Code muss

so lang sein wie die Liste der molekularen Bestandteile und ihrer Interaktionen.

Bei der zweiten Artikulation dagegen, als durchstrukturiert und organisiert,

gibt es einen „Übercode“, surcodage. Der ersten entspricht eine Mannigfaltigkeit,

die „biegsam, eher molekular und bloß geordnet“ ist, der zweiten eine „festere,

molare und organisierte“.56

Deleuze und Guattari geben mehrere Beispiele auf verschiedenen Ebenen –

Moleküle und Makromoleküle, Nukleinsäuren und Proteine. Hierbei wird

deutlich, dass es Artikulationen von Inhalt und Ausdruck auf vielfältigen

53Deleuze und Guattari betonen: „évidamment, réduire la relation articulaire aux os n’étaitqu’une manière de parler.“ (MP 56).

54Für eine Diskussion des linguistischen und gesellschaftlichen Aspekts s. Montebello 2008,S.157-169.

55Vgl. MP 55.56Im Original „souple et seulement ordonné“, „plus dur, molaire et organisé“, (MP 55).

Hier ist nicht klar, warum das erste Ensemble als geordnet bezeichnet wird, wo eigentlichalle Erklärungen eine maximale, molekulare Unordnung nahelegen. Wahrscheinlich ist unter„Ordnung“ hier „Struktur“ in einem minimalen Sinn zu verstehen.

Page 79: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

76 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

Ebenen, die auch ineinander verschachtelt sind, gibt: die molekulare Ebene,

die makromolekulare Ebene, die Unterscheidung in DNA und Proteine und

schließlich die funktionale Unterscheidung der Proteine je nachdem, wie sie

gefaltet sind. 57

Hier wird nur die Ebene der Zellchemie, in deren Darstellung sich Deleuze

und Guattari eng an François Jacob orientieren und deshalb verhältnismäßig

verständlich sind, zur Veranschaulichung erwähnt.58 Die Doppelartikulation

der Zellchemie besteht aus zwei Vorgängen. Der erste liefert die chemischen

Motive („Buchstaben“ der chemischen Sequenz eines Proteins/DNA Makro-

moleküls), der zweite ist die Polymerisierung und liefert die Makromoleküle

selber.59

In Bezug zu Simondons Hylemorphismuskritik gesetzt entspricht der Inhalt

(contenu) der mit Singularitäten und Haecceitäten (in Simondons Sinn, IGP

58) versehenen Materie (übersättigte Lösung oder formbarer Lehm) und der

Ausdruck (expression) der individuierten Struktur (Kristall oder Ziegel) – auf

beiden Ebenen gibt es Form und Substanz. Simondons präindividueller Phase

entspricht hier die Konsistenzebene,

„c’est-à-dire le corps non formé, non-organisé, non stratifié ou déstratifié,

et tout ce qui coulait sur un tel corps, particules submoléculaires et suba-

tomiques, intensités pures, singularités libres préphysiques et prévitales“

(MP 58).

Diese umfasst all die Materialien, die in Bezug auf das betrachtete Stratum

noch nicht zur Substanz oder gefestigt worden sind. Der Raum für Geoffroys

Isomorphien ist eigentlich das organische Stratum. Die Arten als Ausführung

desselben abstrakten Tieres sind alle Teil des organischen Stratums, gebildet

durch Stratifizierung der Konsistenzebene.

„Ainsi la strate organique n’avait aucune matière vitale spécifique, puisque

la matière était la même pour toutes les strates, mais elle avait une unité

spécifique de composition, un seul et même Animal abstrait, une seule

57Was den genetischen Code angeht, sind die Erklärungen von Deleuze und Guattari aller-dings sehr kryptisch und wenig hilfreich. So ist nicht klar, warum die Proteine dem Inhalt unddie DNA dem Ausdruck entsprechen sollten, da es die DNA ist, die Ursprung der Codierungder Proteine ist. Proteine könnten als Ausdruck der in der DNA enthaltenen genetischenInformation bezeichnet werden (s. MP 57 und MP 59 f.). Hier ist aber gleichzeitig ein gewissesMaß an Selbstironie zu erkennen, Deleuze und Guattari nennen Challengers Vortrag im selbenAtemzug „vermasselt“ (loupé) oder „stupide Popularisierung“ (vulgarisation stupide).

58S. Bonta/Protevi 2004, S.152-153 für eine tabellarische Übersicht zur Klassifizierung derverschiedenen Niveaus und Arten von Strata.

59Deleuze und Guattari zitieren Jacob 1970, S.289-290.

Page 80: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Die Organisation 77

et même machine abstraite prise dans la strate, et présentait les mêmes

matériaux moléculaires, les mêmes éléments ou composants anatomiques

d’organes, les mêmes connexions formelles .“ (MP 61)

Dies war auch Simondons Ansatz: Das Lebendige besteht nicht aus einer beson-

deren Sorte von Stoff oder Materie und zeichnet sich nicht durch verborgene

vitalistische Kräfte oder Energien aus, sondern der Unterschied von Leben-

digem zu Nicht-belebtem entscheidet sich allein aufgrund der Vorgänge und

Operationen, die zwischen den Bestandteilen ablaufen.60

So erklärt sich Geoffroys „animal abstrait“ als eine auf dem organischen Stratum

gefangene abstrakte Maschine, die aber dennoch von der allgemeinen Konsisten-

zebene als Ebene der Dinge herrührt.61

Die Dynamik der Strata – Der Einfluss Simondons Betrachtungen zu Milieu

und Transduktion

Oben war zum Inhalt gesagt worden, dass er wie eine mit Haecceitäten (im

simondonschen Sinn) versehene Materie ist – in Bezug auf die Dynamik in-

nerhalb des Stratums heißt dies dann „Substratum“62 – Produkt einer ersten

Stratifizierung, Ausgang von weiteren.

„Les matériaux n’étaient pas la matière non formée du plan de consistance,

ils étaient déjà stratifiés et venaient des «substrates».“ (MP 65)

Diese Materie sei zwar einfacher als die in den molaren Strukturen organisierte

des Ausdrucks, aber ihre Organisation sei nicht weniger komplex als der mo-

laren Organisation auf dem eigentlichen Stratum. Diese Bemerkung soll die

Bevorzugung des Organisierten und Strukturierten vor den bloß statistischen

Ensembles der Substrata vermeiden. Die Differenzierung und die Organisation

wird ausdrücklich nicht mehr als evolutives Fortschreiten angesehen. Diese

Substrata werden in Anlehnung an Simondons Betrachtungen zur Kristallisie-

rung auch „äußeres Milieu“ (milieu extérieur) genannt. Bei Simondon war die

amorphe, übersättigte Lösung das Milieu, in dem sich die kristalline Struktur

bilden konnte. So war die Struktur „das Innere“ und das Milieu „das Äuße-

re“, die Kristallisaiton wird als Interiorisierung des äußeren Milieus verstanden.60„Vie et matière non vivante peuvent en un certain sens être traitées comme deux vitesse

d’évolution du réel.“ (IGP 279).61Der Begriff der abstrakten Maschine wie auch ihr Zusammenhang mit den Strata, der

Konsistenzebene und den virtuellen Mannigfaltigkeiten aus Différence et répétition wird inAbschnitt 3 dieses Kapitels betrachtet werden.

62Nicht zu verwechseln mit einem Substrat – la substrate und nicht le substrat.

Page 81: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

78 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

In Bezug auf die Ontogenese des Organismus wäre dieses äußere Milieu die

„berühmte prä-biotische Suppe“ („la fameuse soupe prébiotique, MP 67), aus

der die Einzeller als die ersten primitiven Organisationsformen hervorgehen.

Die Gesamtheit des ontogenetischen Vorgangs besteht daher immer aus Milieu

(relativ außen), geformten oder individuierten Bereichen (relativ innen) und

zwischen ihnen die Grenze oder die Membran (Relation). So nennen auch

Deleuze und Guattari dieses Tripel „zentrale Schicht“ („couche centrale“) oder

„zentralen Ring“ („anneau central“) eines Stratums.63

„Bref, l’intérieur et l’extérieur sont l’un comme l’autre intérieur à la strate.“

(MP 65)

Dies ist aber nur die einfachste Einheit, gewissermaßen als isolierte Moment-

aufnahme des Stratums, oder genauer nur eine Schicht des Stratums. Um das

Voranschreiten des Kristalls oder die Prozesse an der Membran zu beschrei-

ben wird gewissermaßen eine Kinetik benötigt. Dies sind Bewegungen von

der zentralen Schicht hin zur Peripherie, gemäß Simondons Bemerkung, dass

das Lebewesen an seiner Grenze lebt, der Kristall zu sich selbst exzentriert ist.

Diese intermediären Milieus, gekennzeichnet durch ihre Übergangs-Zustände,

nennen Deleuze und Guattari „Epistrata“ („épistrates“). Dazu gehört alles, was

in der Peripherie der zentralen Schichten „passiert“ und fließt (Prozesse und

Ströme), so wie differentielle Intensitätsverhältnisse und die Entwicklung des

Systems an seiner Grenze.64 Das zentrale Stratum fragmentiert sich durch diese

Übergänge.

All diese Flüsse vom Zentrum zur Peripherie sind relative Deterritorialisierun-

gen, d. h. Verschiebungen und Transformationen auf dem Stratum. Wenn sich

das zentrale Stratum in intensiven Prozessen durch Ströme hin zu den Epistrata

ausbreitet, bewegt es sich in dieser Transformation doch auf ein neues Zentrum

zu, in dem dann die Reterritorialisierung geschieht.

„Il faut penser la déterritorialisation comme une puissance parfaitement

positive, qui possède ses degrés et ses seuils (épistrates), et toujours relative,

ayant un envers, ayant une complémentarité dans la reterritorialisation.“

(MP 71)

63Was bei Simondon die Arten der Individuierung (physikalisch, lebendig, inter-individuell)waren, sind bei Deleuze und Guattari verschiedene Strata der Natur (physikalisch, organisch,„alloplastisch“). Die „zentrale Schicht“ entspricht dem einzelnen Individuum bzw. der Zelle alsder primitivsten Einheit eines Organismus.

64Im Original „des taux, des rapports différentiels“, MP 69

Page 82: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Die Organisation 79

Außer den Epistrata, dem intermediären Milieu, gibt es noch die Parastrata,

auch als assoziiertes oder annektiertes Milieu bezeichnet. Hier findet durch

Energieaufnahme, Wahrnehmung und Reaktion der Austausch mit anderen

Systemen statt.

„Le Milieu associé de définissait ainsi par des captures de sources d’énergie

(. . . ), par le discernement des matériaux (. . . ) et par la fabrication ou non

des éléments ou composés correspondants.“ (MP 67)

So sind die assoziierten Milieus der Zecke zum Beispiel das des Baumes, das

des vorüberziehenden Säugetiers, mit denen sie durch Wahrnehmung und

Energieaustausch in Wechselwirkung steht. Alle Formen mit denen der Orga-

nismus in Wechselwirkung steht – das Beispiel des Spinnennetzes – sind auch

morphogenetisch, entstehen aus Wechselwirkungen zwischen Milieus. Dies

ist eine Sicht auf die Natur als spinozistische Konsistenzebene. Dieses Netz

von dynamischen Prozessen zwischen offenen Systemen (den Haecceitäten)

hat keine Struktur im Sinne eines Präformismus, sondern ist ständig in seiner

Strukturierung begriffen.65

Statt die Erhaltung einer homöostatischen Einheit zu betonen, sprechen Deleuze

und Guattari von einer Fragmentierung oder Decodierung hin zu den asso-

ziierten Milieus. Das zentrale Stratum als sogenanntes „Ökumen“ – d. h. die

im Stratum gefangene abstrakte Maschine – ist hin zu den Para- und Epistrata

fragmentiert.

„La ceinture, l’anneau idéalement continu de lastrate, l’Œcumène, défini

par l’identité des matériaux moléculaires, des éléments substantiels et les

relations formelles, n’existait que comme brisé fragmenté en épistrates et

parastrates (. . . ).“ (MP 69)

Diese Fragmentierung ist entweder eine Deterritorialisierung hin zu den inter-

mediären Milieus oder eine Dekodierung zu den assoziierten Milieus. Da diese

aber nicht einfach eine statische Struktur, sondern ein Netz von Prozessen auf

dem umfassenden Stratum sind, ist der Blickwinkel, aus dem die Para- und

Epistrata selber in Bewegung sind, ebenso möglich.

„Bref, sur l’Œcumène ou l’unité de composition d’une strate, les épistra-

tes et les parastrates ne cessent de bouger, de glisser, de se déplacer, de

changer, les unes emportées par des lignes de fuite et des mouvements de

65Vgl. MP 68.

Page 83: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

80 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

déterritorialisation, les autres par des processus de décodage ou de dérive,

les unes et les autres communiquant au croisement des Milieux.“ (MP 72)

So entsteht das Bild des allgemeinen Stratums, als dynamisches Gefüge, in

dem die zentrale Schicht, Epi- und Parastrata durch Deterritorialisierung, Re-

territorialisierung, Codierung und Decodierung in ständiger Wechselwirkung

sind.

Der Körper ohne Organe als Bild des Nicht-Organisierten

Der Begriff des Körpers ohne Organe (Corps sans organes, CsO) stammt von

Antonin Artaud:

„L’homme est malade parce qu’il est mal construit. (. . . ) il n’y a rien de

plus inutile qu’un organe. Lorsque vous l’avez fait un corps sans organes,

alors vous l’avez délivré de tous ses automatismes et rendu sa véritable

liberté.“66

Wie im Titel von Artauds Radiosendung Pour en finir avec le jugement de Dieu,67

geht es um die Befreiung von Hierarchien, Funktionen und Automatismen, in

denen das Urteil Gottes als transzendentaler Plan bestehe. Die Organisation ist

nicht mehr die „eigentliche“ oder die „gute“ Form eines Körpers, sondern eine

Prozedur, die erlitten wird.

Der Körper ohne Organe als Konsistenzebene

Der Körper ohne Organe ist so gewissermaßen der allgemeinere Körper, der

Organismus wird erst durch Organisation oder Stratifizierung aus ihm gemacht:

„L’organisme n’est pas du tout le corps, le CsO, mais une strate sur le

CsO, c’est-à-dire un phénomène d’acculmulation, de coagulation, de sé-

dimentaiton qui lui impose des formes, des fonctions, des liaisons, des

organisations dominantes et hiérarchisées, des transcendances organisées

pour en extraire un travail utile. Les strates sont des liens, des pinces“(MP

197)

So erklärt sich das Bild des Hummers zur Veranschaulichung der doppelten

Artikulation – die Stratifizierung ist wie ein Ergreifen von Intensitäten, die dann

zu Form und Substanz werden, mit Zangen.66Artaud 2003, S.61.67Gesendet auf Radio France am 1.Februar 1948.

Page 84: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Die Organisation 81

Die Stratifizierung oder das Hinzufügen eines übergeordneten Planes auf den

Körper ohne Organe transformiert ihn vom intensiven Spatium, mit Flüssen

und differentiellen Geschwindigkeiten von Teilchen, zu einer funktionalen,

bedeutsamen und subjektiven Struktur.

„Le jugement de Dieu l’arrache à son immanence, et lui fait un organisme,

une signification, un sujet.“ (MP 197)

Im Plateau Le géologie de la morale wurde die Immanenzebene oder die unge-

formte, der doppelten Artikulation und den Strata vorausgehende Materie auch

der Körper ohne Organe genannt. Deleuze und Guattari setzen den Körper

ohne Organe mit der Immanenzebene gleich:

„Le plan de consistance est le corps sans organes.“ (MP 330)

Insofern widersetzt sich der Körper ohne Organe nicht nur dem organischen

Stratum, sondern auch dem der Bedeutung und dem der Subjektivierung –

als Anti-Organisation. Er „desartikuliert“ die doppelte Artikulation, die das

Stratum ermöglicht hatte.68

Wenn sich dagegen ein Organismus deterritorialisiert und zum Körper ohne

Organe wird, heißt das nicht, dass er alle Organe verliert. Was sich verändert,

ist ihre Anordnung. Das Organ liegt auf dem Körper ohne Organe als Maschine,

statt ein in seine Funktionalität eingebundenes organon, ein Werkzeug zu sein.

„Un corps sans organes n’est pas un corps vide et dénué d’organes, mais

un corps sur lequel ce qui sert d’organes (. . . ) se distribuent d’après des

phénomènes de foule, suivant des mouvements brownoides, sous forme

de multiplicités moléculaires.“ (MP 43)69

In diesem Sinne ist auch oft vom „vollen Körper ohne Organe“ die Rede, um

zu betonen, dass dieser zwar nicht-organisiert ist, aber dennoch von relativ

zueinander bewegten Teilen und Teilchen und Intensitäten in statistischen

Bewegungen wimmelt, statt eine durch einen Plan oder eine Funktion vorge-

zeichneten Trajektorie zu folgen.70 Deleuze sieht eine Veranschaulichung dieser

beiden Aspekte in Francis Bacons Malerei. In Francis Bacon ou la logique de lasensation beschreibt er die Deformationen, die die Körper in Bacons Bildern

durchlaufen, wie folgt:68Vgl.MP 197.69Vgl. „C’est que les machines organes ont beau s’accrocher sur le corps sans organes, celui-ci

n’en reste pas moins sans organes et ne redevient pas un organisme au sens habituel du mot. Ilgarde son caractère fluide et glissant.“ (AO 22).

70Um den Aspekt der Intensität wird es im folgenden Abschnitt gehen.

Page 85: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

82 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

„Et les déformations de Bacon sont rarement contraintes ou forcées, ce ne

sont pas des tortures, quoi qu’on dise: au contraire ce sont les postures les

plus naturelles d’un corps qui se regroupe en fonction de la force simple

qui s’excerce sur lui, envie de dormir, de vomir, de se retourner, de tenir

assis le plus longtemps possible etc.“ (FB 60)

So hänge alles von Verhältnissen von Kräften ab und lasse sich weder auf eine

Transformation der Form noch auf eine Auflösung in Bestandteile zurückführen.

Insofern folgt der Körper seiner „wahren“ Natur, wenn er diesen Kräften folgt,

statt durch strukturierte Organisation dagegen zu halten.

Der Aspekt des vollen Körpers ohne Organe wird an der Gegenüberstellung von

Kopf und Gesicht deutlich. Deleuze schreibt, dass Bacon in seiner Malerei das

Gesicht als „räumliche und strukturierte Organisation, die den Kopf bedeckt“71,

desorganisiert, so dass der Kopf als ein voller „Block von festem Fleisch“ (FB

31), von den Knochen als Gerüst der Organisation befreit („désossé“), sichtbar

wird.

Bisher wurde der Körper ohne Organe in seiner extremen Form als abstrak-

ter Pol betrachtet. In dem „Experiment“, sich einen Körper ohne Organe zu

machen72, darf dagegen auf keinen Fall zu voreilig alles aufgelöst werden:

„L’organisme, il faut en garder assez pour qu’il se reforme à chauqe aube.“

(MP 199)

Wie die Wechselwirkung von Immanenzebene und Bauplan oder Stratifizier-

tem, bei dem die Konsistenzebene immer auch Reservoir von Intensitäten vor

den Strata ist und die Strata der Konsistenzebene Variablen liefern, muss der

Körper ohne Organe, wenn er bestehen will, ein gewisses Maß an Organisation

aufrecht erhalten, um nicht mit einem „suizidären Einsturz“ zu enden.73 So

darf unter dem Körper ohne Organe als Projekt eher ein Akt als ein Produkt

verstanden werden, kein „mythischer Ort“, an dem eine Befreiung von allen

Strata und Strukturen erreicht ist, sondern „eine Wertschätzung der intensiven

und virtuellen Seite des Reellen“.74 Somit nimmt er die Rolle ein, die das Ei in

Différence et répétition spielte.71„[U]ne organisation spatiale structurée qui recouvre la tête“ (FB 27).72Für eine genaue Darstellung der „Funktion“ des Konzepts für Mille Plateaux und Deleuzes

Philosophie allgemein ist hier kein Platz. Eine übersichtliche Darstellung findetsich in KapitelV von Montebello 2008.

73„[E]ffondrement suicidaire“ – dieser würde wahrscheinlich so aussehen, wie das Ende, dasDeleuze und Guattari Professor Challenger zuteil werden lassen, vgl. MP 93-94.

74„Il ne s’impose pas comme un lieu mythique où nous serions enfin délivrés des strates, maiscomme un acte, valorisant la face intensive, virtuelle, en devenir de la réalité.“, Sauvagnargues2005, S. 181.

Page 86: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

2 Die Organisation 83

Der Körper ohne Organe und das Ei

Der Körper ohne Organe wurde bereits als intensives Spatium bezeichnet. Nach

den Betrachtungen zum glatten und gekerbten Raum bekommt dies noch eine

weitere Bedeutung in:

„Il n’est pas espace, ni dans l’espace, il est matière qui occupera l’espace à

tel ou tel degré — au degré qui correspond aux intensités produites.“ (MP

189)

Ein Spatium als glatter Raum, für das es nur eine Karte der Intensitäten und der

Flüsse gibt, keine Formen und Positionen. Dies entspricht der Beschreibung,

die Deleuze auch in Différence et répétition für das Ei gewählt hatte.75 Insofern,

als Stratifizierung bereits mit der Differenzierung in Différence et répétitionverglichen wurde, kann auch der Körper ohne Organe mit dem Ei verglichen

werden. Deleuze und Guattari nehmen sogar eine eine Identifizierung vor:

„Le CsO est l’œuf. Mais l’œuf n’est pas regressif: au contraire, il est

contemporain par excellence, on l’emporte toujours avec soi comme son

propre Milieu d’expérimentation, son Milieu associé. L’œuf est le Milieu

d’intensité pure, le spatium, et non l’extensio, l’intensité Zéro comme prin-

cipe de production. (. . . ) [L]’œuf désigne toujours cette réalité intensive,

non pas indifférenciée, mais où les choses, les organes se distinguent uni-

quement par des gradients, des migrations, des zones de voisinage. L’œuf

est le CsO. Le CsO n’est pas «avant» l’organisme, il y est adjacent, et ne

cesse pas de se faire.“ (MP 202)76

Diese Identifizierung ist allerdings mit Einschränkungen gültig, da das Ver-

ständnis von „Ei“ in Mille Plateaux nicht deckungsgleich mit dem in Différenceet répétition ist. In Différence et répétition wurde durch den Prozess der „Indi-

Drama-Differen zt iation“ ein gewisses Fortschreiten von virtuell zu aktuell mit

den intensiven Dynamiken im Ei als intermediär beschrieben. Hier hatte die

Metapher des Eis für die Welt noch die biologische Richtung der Entwicklung.77

In Mille Plateaux betonen Deleuze und Guattari nun die mythische Bedeutung

75Vgl. MP 189 und DR 155.76Der Ausdruck „non pas indifférencié“ wäre in Différence et répétition wahrscheinlich mit t

geschrieben worden.77Vgl. DR 323. Auch das „Larvensubjekt“ wurde gemäß des biologischen Ursprungs des Wor-

tes als Vorstufe zum differnezierten Erwachsenen gesehen: „Il y a donc bien des acteurs, maisce sont des larves, parce qu’elles sont seules capables de supporter les tracés, les glissementsetrotations. C’est trop tard ensuite.“ (DR 283).

Page 87: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

84 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

des Eis als „kosmisches oder psychisches“, als ein umgebendes Milieu der Po-

tenziale, aus denen noch Werden hervorgehen kann, und zwar ganz besonders

ohne eine virtuelle Struktur zu aktualisieren, wie das Beispiel des Gewebes der

Tumore, des Krebsbefalls zeigt:

„[I]l y a aussi un CsO de l’organisme, appartenant à cette strate-là.“ (MP

201)

In diesem Fall besteht der Körper ohne Organe in dem degenerierten Wachstum

des Tumors auf dem Organ bzw. in dem Organismus. Dieser intrinsische

Körper ohne Organe verfolgt ein intensives Werden jenseits der bestehenden

Funktionalität, er zersetzt sie sogar.78 Der Körper ohne Organe als „kosmisches

Ei“79 hat die Möglichkeit einer Entwicklung in zwei Richtungen und das, ohne

dass die „Rückrichtung“, vom Organisierten zum Unorganisierten als Regress

verstanden würde. In diesem Punkt ist der Begriff des Körpers ohne Organe

passender als der des Eis, da er a priori keine Richtung hat. Er kann als Ei (im

biologischen Sinn) gesehen werden, als Konsistenzebene vor der Stratifizierung,

aber auch als Produkt einer Destratifizierung, keine der beiden Richtungen ist

ausgezeichnet.

„Il n’y a pas du tout organes morcelés par rapport à une unité perdue, ni

retour à l’indifférencié par rapport à une totalité différenciable.“ (MP 203)

Das intensive, nicht differenzierte da nicht in einer organischen Repräsentation

gefasste intensive Germen ist der intensive „Grund“ (raison) der Organe mit

ihren „unbestimmten und positiven“ Artikeln und der Gefüge, die sie eingehen,

ohne jede Spur von Präformismus.

Da es bloß intensiv ist, im Sinne von Différence et répétition „eingewickelt“, gibt

es keine Evolution, Entwicklung eines Plans, sondern nur intensive Vorgänge

der Involution.

3 Universeller Maschinismus und nicht-organische

Vitalität

Auf die Diskussion der durch Stratifizierung und der Dynamiken auf den Strata

folgt die der Zersetzung und des Aufbrechens der Strata hin zur Konsistenze-

bene. Die abstrakte Maschine ist hier der Schlüsselbegriff, der gewissermaßen78Ein ähnliches Beispiel sind von Viren befallene Bakterien, die infolge dessen anstatt ihres-

gleichen zu reproduzieren (organisch) die Viren als „contre nature“ produzieren.79Vgl. AO 334.

Page 88: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 85

den der Idee als virtuelle Mannigfaltigkeit aus Différence et répétition ablöst.

Dieser Maschinismus wird schließlich dazu führen, dass das Leben nicht mehr

im organischen Stratum „gefangen“ bleibt. Die Sphäre des Organischen und

des Nicht-Organischen wird zu einem Teil der alles umfassenden Mechanosphäre,

auf der nicht-organische Vitalität möglich wird.

Weder Struktur noch Genese

In dem Kapitel La machine contre la structure seines Buches Gilles Deleuze et FélixGuattari, Biographie croisée beschreibt François Dosse die Positionen von Deleuze

und Guattari zum Strukturalismus vor bzw. zu Beginn ihrer Zusammenarbeit.

Deleuze macht vom Prinzip der Struktur in Différence et répétition und La logiquedu sens als virtuelles oder transzendentales Feld der Singularitäten Gebrauch

und sieht darin eine „Wertschätzung der Immanenzebene“.80 Er bezeichnet in

La logique du sens sogar die Struktur als Maschine: „La structure est vraiment

une machine à produire le sens incorporel.“ (LS 88)

Guattari schreibt dagegen 1969 einen Artikel mit dem Titel Machine et structure81

als Kritik zu Différence et répétition und La logique du sens, in dem er vorschlägt,

den Begriff der Struktur teilweise durch den der Maschine zu ersetzen.

Guattari zitiert drei fundamentale Eigenschaften der Struktur aus La logiquedu sens.82 In Bezug auf die Terminologie aus Différence et répétition , die im

vorigen Kapitel diskutiert wurde, sind dies die heterogene Reihen, die erstens

von Singularität zu Singularität fortgesetzt werden, und zweitens wesentlich

über die differentiellen Verhältnisse zwischen ihren Termen definiert werden.

Den dritten Punkt, nämlich, dass diese Reihen durch den Dispars als paradoxes

Element in Resonanz versetzt werden, sei keine Bestimmung der Struktur, son-

dern komme allein der Maschine zu.

In einem Artikel aus der Zeitschrift Chimères, L’an 01 des machines abstraites,

erklärt Guattari die Einführung des Begriff der abstrakten Maschine, der „in

80François Dosse schreibt „Deleuze voit dans cette orientation une libération de la transcen-dance, une valorisation du plan d’immanence et y repère la possible machinerie productivede sens qu’il souhaite voir se déployer dans une prolifération libre pour faire émerger lessingularités préindividuelles.“, Dosse 2007, S.275.

81Erschienen in Revue Change Nr.12, Seuil 1972.82„Of Deleuze’s three minimum conditions determining structure in general, I shall retain

only the first two: (1)There must be at least two heterogeneous series, one of which is definedas the signifier and the other as the signifed. (2) Each of these series is made up of terms thatexist on, through their relationship with one another. His third condition, ’two heterogeneousseries converging upon a paradoxical element that acts so as to differentiate them’, relates, onthe contrary, exclusively to the order of the machine (LS 63 )“, aus der englischen Übersetzungvon Machine et structure, in Félix Guattari, Molecular Revolution, New York 1984, S.111.

Page 89: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

86 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

Ermangelung eines Besseren“, wie er selber schreibt, so genannt wurde.83 Ziel

sei es, das semiotische Feld der Zeichen oder der „Maschinen der Zeichen“ und

das der „Maschinen der materiellen Flüsse“84 (z. B. Gleichungen in Chemie und

Physik und die materielle Wirklichkeit, die sie beschreiben) zu verbinden, ohne

auf Bedeutungen und Über-Codes zurückgreifen zu müssen.

Die Wahl des Begriffs „Maschine“, mit dem betonten Verzicht auf teleologi-

sche Konnotationen, erklärt sich daraus, dass ein gewisses Ding, ein gewisser

Operator, der gewisse Operationen vollzieht, gebraucht wird, um alle Begriffe,

die nicht rein immanent sind – und hierzu zählt Guattari auch die Begriffe der

Form und der Struktur – zur Erklärung zu umgehen.

Während also in Différence et répétition noch die differentiellen Verhältnisse und

die Singularitäten als Struktur des Virtuellen bezeichnet wurden, wird in MillePlateaux der Immanenzebene eine Struktur abgesprochen:

„Il n’y a pas plus structure que genèse.“ (MP 326)

In Différence et répétition wurden Struktur und Genese gerade durch den Pro-

zess der „Indi-Drama-Differen zt ierung“ versöhnt.85, indem ein resonanter oder

intensiver Übergang von der virtuellen Struktur zum aktuellen Individuum

stattfand. Auf der Immanenzebene gibt es dagegen keine Resonanzen und

Einheit-stiftenden Individuierungen mehr, sondern nur noch abstrakte Maschi-nen und maschinische Gefüge, die nun die Rolle der „schöpferischen“ Struktur

der virtuellen Mannigfaltigkeit übernehmen. Dies ist es, was Guattari mit

dem Begriff der maschinischen Heterogenese betonen will. Zum maschinischen

Gefüge schreibt er

„C’est un agencement de champ de possibles, de virtuels autant que

d’éléments constitués, sans notion de rapport générique ou d’espèce.“86

Die Gefüge gehen durch alle Bereiche, und es gibt keine ausgezeichnete Rich-

tung mehr von virtuell nach aktuell.

83Félix Guattari, L’an 01 des machines abstraites, aus Chimères, No. 23, 1994, S.10-11.84„Elles sont aussi bien dans le champ des signes, des machines sémiotiques que dans le

champ des machines fonctionnant sur des flux matériels.“85Vgl. DR 323.86L’hétérogenèse machinique, S.3.

Page 90: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 87

Kritik des klassischen Maschinenbegriffs: Autopoietische Ma-

schinen

Die Kritik des klassischen Verständnisses von „Maschine“ als gleichgesetzt

mit „intentionell hergestelltes Artefakt“ teilen Deleuze und Guattari mit der

sogenannten „zweiten Welle der Kybernetik“ oder „zweiten Kybernetik“.87

Während die „erste“ Kybernetik sich mit der Funktionsweise und Selbstregu-

lierung Feedback-Mechanismen von Maschinen und Organismen auseinan-

dersetzte, befasst sich die „zweite“ Kybernetik mit Selbstorganisations- und

Selbstreproduktionsprozessen. Hierzu werden vor allem von Neumanns Arbei-

ten zu selbst-reproduzierenden Automaten (1966) und Maturana und Varelas

Theorie der Autopoiese gezählt.

Diese zweite Variante geht mit einer radikalen Veränderung des Maschinen-

Bildes, das die klassische Polemik zwischen Mechanismus und Vitalismus

hervorruft, einher. Deleuze und Guattari benennen dies wie folgt:

„Une machine fonctionne suivant les liaisons préalables de sa structure et

de l’ordre de positions de ses pièces, mais ne se met pas en place elle-même

pas plus qu’elle ne se forme ou se produit.“ (AO 337)

Es ist der Ansatzpunkt von Maturana und Varela, genau diese „Unfähigkeit der

Maschine, die Formung des Organismus zu erklären“, anzuzweifeln.88

„Maschinen werden im Allgemeinen als von Menschen gemachte Artefak-

te mit vollständigen deterministischen Eigenschaften betrachtet, die sie

zumindest theoretisch völlig vorhersehbar machen.“89

Sie verfolgen ausdrücklich einen mechanistischen Ansatz, „es werden keinerlei

Kräfte oder Prinzipien herangezogen, die sich nicht im physikalischen Univer-

sum finden.“90 Genau in diesem Sinn schreiben sie:

„Wir behaupten, daß lebende Wesen Maschinen sind.“91

Wie bei Simondons Ansatz zur „universellen Kybernetik“, mit der Betonung

des Verhältnisses zwischen Operation und zwischen Operationen und Struktu-

ren, geht es Maturana und Varela nicht darum, Strukturen zu analysieren und87Vgl. Atlan 2011, S.24, Johnston 2008, S.167.88„[L]inaptitude foncière [de la machine] à rendre compte des formaitons [de l’organisme]“,

AO 337.89Maturana/Varela 1982, S.188.90Ebd. S.181.91Ebd., S.182.

Page 91: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

88 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

die Eigenschaften von Bestandteilen zu beschreiben, sondern um die Untersu-

chung der Struktur dieser „lebendigen Maschinen“ auf ihre Organisation hin,

d. h. „[d]ie Relationen, die eine Maschine als Einheit definieren, und die die

Dynamik ihrer möglichen Interaktionen und Transformationen bestimmen“.92

Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Lebewesen autopoietische Maschinen sind,

d. h. Maschinen, bei denen die Prozesse zwischen den Bestandteilen folgende

Bedingungen erfüllen:

„Eine autopoietische Maschine ist eine Maschine, die als ein Netzwerk von

Prozessen der Produktion (Transformation und Destruktion) von Bestand-

teilen organisiert (als Einheit definiert) ist, das die Bestandteile erzeugt,

welche 1. aufgrund ihrer Interaktionen und Transformationen kontinuier-

lich eben dieses Netzwerk an Prozessen (Relationen), das sie erzeugte, neu

generieren und verwirklichen, und 2. dieses Netzwerk (die Maschine) als

eine konkrete Einheit in dem Raum, in dem diese Bestandteile existieren,

konstituieren, indem sie den topologischen Bereich seiner Verwirklichung

als Netzwerk bestimmen.“93

Statt Forderungen an ein Netzwerk von Bestandteilen zu fordern, wird ge-

fordert, dass ein Netzwerk aus Prozessen zwischen bereits bestehenden oder

entstehenden Bestandteilen ein gewisses Verhalten aufweist, das dazu führt,

dass sich das Netzwerk nicht nur als Einheit erhält, sondern auch beständig

erneuert. Zu dieser Definition des Lebewesens gehört weder eine übergeordne-

te Absicht (Teleologie), noch ein ihm einbeschriebenes genetisches Programm

(Teleonomie) – es wird nicht gefordert, dass das System in einer wie auchimmer

gearteten Form darauf aus- oder abgerichtet ist, sich so zu verhalten.94 Teleolo-

gie und Teleonomie gehen nach Maturana und Varela über das „System lebende

Maschine“ hinaus und sind bloß relativ zu einem Beobachter eine Eigenschaft

der Beschreibung.

Besonders wichtig an dieser Definition des Lebewesens ist, dass es als ge-

schlossenes System „seine eigenen Grenzen im Prozeß seiner Selbsterzeugung“

erzeugt.95 Es hat weder Input noch Output in dem Sinne, dass ihm durch eine

Operation, die nicht Teil seiner eigenen Organisation ist, Energie, Information

92Ebd.93Ebd. S.184.94Der Begriff der Teleonomie ist in Monods Le hasard et la necéssité von zentraler Bedeutung.

Henri Atlan sieht ihn als die mechanistische Variante von Claude Bernards vitalistischer „idéedirectrice“ und zitiert Ernst Mayrs Definition der Teleonomie als „nonpurposeful end-seekingprocess“, im Gegensatz zur intentionellen Teleologie (vgl. Atlan 2011, S.49).

95Ebd. S.187.

Page 92: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 89

oder Materie zugeführt werden müsste.96 Hier liegt nun der Unterschied zwi-

schen Mechanismus und Maschinismus: Maturana und Varela befreien zwar die

Maschine von einer teleologischen und teleonomischen Beschreibung, aber ihre

Beschreibung bleibt – mit Deleuze und Guattaris Worten – auf einem kleinen

Bereich des organischen Stratums „territorialisiert“.

„For a machinic thinking autopoiesis fails to appreciate the extent to which

all living systems and their boundaries are caught up in machinic assembla-

ges that involve modes of transversal becoming. Although autopoiesis

grants a high degree of autonomy to a living system it ultimately posits

systems that are entropically and informationally closed.“ 97

Das Denken wird demnach erst maschinisch statt nur mechanisch, wenn genau

diese durch Organisation definierte Einheit aufgebrochen wird, und zwar hin

zur spinozistischen Konsistenzebene, auf der Maschinen mit anderen Maschi-

nen Gefüge bilden. Dem abstrakten Mechanismus mit seinen Maschinen als

„organisierten und strukturellen Einheiten“ und dem Vitalismus mit seinem

Lebewesen als „individuellen und spezifischen Einheiten“ (AO 337) setzten sie

die abstrakte Maschine und das maschinische Gefüge als offene Systeme entgegen.

Guattari schreibt, das Ziel dieses von der Einheit abgewendeten Maschinis-

mus sei es, „die Grenzen der Maschine stricto sensu hin zu der funktionellen

Gesamtheit, die sie mit dem Menschen verbindet, zu erweitern“.98

Maschinismus statt Mechanismus – Die abstrakte Maschine und

das maschinische Gefüge

Wie am Anfang dieses Abschnitts bemerkt, nimmt die abstrakte Maschine in

Mille Plateaux gewissermaßen die Rolle des Dispars aus Différence et répétitionein, d. h. die Herstellung einer Verbindung zwischen disparaten Reihen. Die ab-

strakte Maschine hatte weiter oben bei der Diskussion der Organisation bereits

kurz Erwähnung gefunden, als Geoffroys abstraktes Tier oder allgemeiner als

Ökumen, das auf dem Stratum „eingewickelt“ ist.

96Nahrungsaufnahme des Lebewesens gegenüber der Treibstoffzufuhr der „allopoietischenMaschine“.

97Ansell-Pearson 1999, S.169.98Im Original „d’élargir les limites de la machine, stricto sensu, à l’ensemble fonctionnel qui

l’associe à l’homme", L’Hétérogenèse machinique, S.3.

Page 93: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

90 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

„On pouvait même dire que les machines abstraites, qui émettaient et

combinaient les particules, avaient comme deux modes d’existence très

différents: l’œcumène et le planomène.“ (MP 73)99

Als Ökumen garantiert sie die (relative) Einheit eines Stratums durch die re-

lative Deterritorialisierung in der Verschiebung der verschiedenen Milieus

ineinander, durch die Fragmentierung des zentralen Schicht hin zu ihren Para-

und Epistrata hindurch. So wie das allen Arten gemeinsame „abstrakte Tier“

den Übergang zwischen Arten durch Isomorphismen ermöglicht, stellt die

abstrakte Maschine auf einem Stratum dessen Programm dar. Als Planomenvollzieht oder „steuert“ sie dagegen die absolute Deterritorialisierung, durch

alle verschiedenen Strata hindurch.

„Tantôt la machine abstraite traversait toutes les stratifications, se déve-

loppait unique et pour elle-même sur le plan de consistance dont elle

constituait le diagramme (. . . ).“ (MP 73, vgl. auch MP 91)

Nur in diesem Modus als Planomen auf der Konsistenzebene ist die abstrakte

Maschine entwickelt und hat ihre volle Reichweite, indem sie alle Strata, die sich

auf der Konsistenzebene formen – egal von welcher Art und von welcher Grö-

ßenordnung – durchläuft. In diesem Sinne ist von der „eigentlichen“ (véritable)

abstrakten Maschine die Rede:

„Une véritable machine abstraite n’a aucun moyen de distinguer pour

elle-même un plan d’expression et un plan de contenu, parce qu’elle trace

un seul et même plan de consistance, qui va formaliser les contenus et les

expressions d’après les strates ou les reterritorialisations.“ (MP 176)

Weiter oben war gesagt worden, dass sich die abstrakte Maschine „auf“ der

Konsistenzebene entwickelt, nun heißt es, dass sie die Konsistenzebene „zeich-

net“. Dies sind die zwei Aspekte oder Richtungen der abstrakten Maschine:

Zum Einen geht sie den Strata voraus und zeichnet erst die Ebene, auf der sich

die Strata formen werden, zum Anderen durchquert die die geformten Strata in

einer transversalen Bewegung. Indem sie als Planomen in jedem Fall außerhalb

davon liegt, operiert sie auch außerhalb der Möglichkeit von Bestimmungen

der Form, der Substanz, dem Inhalt und dem Ausdruck. Dieser Aspekt begrün-

det die Wortwahl der abstrakten Maschine. In dieser Hinsicht erinnert sie an

Simondons präindividuelle Phase oder das Virtuelle aus Différence et répétition .

99Passage im Origninal kursiv.

Page 94: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 91

Nur ist sie noch radikaler prä-individuell, da sie außerhalb jeder Struktur aus

Form und Inhalt agiert. Daher wird sie auch nicht mehr das Programm zur

Formung von Strukturen und Strata auf der Konsistenzebene genannt, sondern

konstituiert das Diagramm der Konsistenzebene. Mit dem eigentlichen Wort-

sinn von Diagramm hat diese Verwendung sehr wenig zu tun. Die Wortwahl

lässt sich vielleicht erklären, indem das Programm, die abstrakte Maschine fürein Stratum war, während das Diagramm formlos und informell alle Strata

durchläuft, sie transversal schneidet.

„[L]e diagramme n’est pas un métalangage inexpressif et sans synta-

xe, mais une expressivité-mouvement qui comporte toujours une langue

étrangère dans la langue, das catégories non linguistiques dans le langage

(. . . ).“ (MP 638)

Die Hylemorphismus-Kritik in Bezug auf die Strata stützte sich auf die Kon-

zepte von Ausdruck und Inhalt. Jenseits der Strata ist das Diagramm nicht

Ausdruck sondern „Ausdrücklichkeit“ in Bewegung, eine deterritorialisierende

Funktion oder besser ein „Deterritorialisierungs-Operator“, der die verschie-

denen und heterogenen Strata zueinander hin öffnet. In Francis Bacon – Lalogique de la sensation ist das Diagramm ein zentraler Term, was Bacon darunter

verstehe, ist eine Deterritorialisierung von Bereichen des Bildes:

„[C]’est comme si l’on changeait d’unité de mesure, et substituait aux

unités figuratives des unités micrométriques, ou au contraire, cosmiques.“

(FB 93-94)

Weg von der Repräsentaiton eines Kopfes mit Gesicht, werden dort, wo in einer

organischen Darstellung das Gesicht mit seinen vertrauten Abständen und

Formen war, andere Bereiche eingefügt, die aus ganz anderen Strata und auch

ganz anderen Größenordnungen stammen können – z. B. eine „Sahara-Zone“

oder eine mikroskopische Vergrößerung eines Stück Rhinozeros-Haut. Die

verschiedensten Größenordnungen sind so in diesem Diagramm eingewickelt.

In Mille Plateaux verwenden Deleuze und Guattari den Begriff „virtuell“ nicht.

Es liegt aber nahe, die abstrakte Maschine bzw. das Diagramm und das Phylum

dem Bereich des Virtuellen zuzuordnen. In L’hétérogenèse machinique nennt Guat-

tari das Diagramm „machine abstraite désincarnée“, die (eigentliche) abstrakte

Maschine „diagrammatische Virtualität“.100 Die aktualisierte Maschine nennt

100L’ hétérogenèse machinique, S.9.

Page 95: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

92 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

er hier „manifestiert in energetischen, raum-zeitlichen Koordinaten“, während

die abstrakte Maschine sich als virtuelles Diagramm in „zahlreicheren und de-

territorialiserteren Koordinaten entwickelt“ – d. h. auf der Konsistenzebene.101

In Différence et répétition war von „Inkarnation“ die Rede, was den Beiklang hat,

dass eine eindeutige Beziehung mit einem festen Ergebnis besteht, während

das „Manifest-Werden“ flüchtiger ist. So kann die abstrakte Maschine in einem

gewissen maschinischen Gefüge manifest werden, es aber ebenso gut wieder

auflösen.

Die abstrakte Maschine entspricht aber nicht nur dem virtuellen „Vorgänger“

einer im Gefüge aktualisierten Maschine, sie ist gleichzeitig auch der Operator,

der diese Aktualisierung als Diagramm vorzeichnet.

„Elle a plutôt un rôle pilote. C‘est qu’une machine abstraite ou diagram-

matique ne fonctionne pas pour représenter même quelque chose de réel,

mais construit un réel à venir, un nouveau type de réalité.“ (MP 177)

Demnach ist sie eine Art Operator, Johnston nennt sie „the assemblage’s piloting

function“102, auf der Konsistenzebene. Sie konstruiert, zeichnet etwas, ein

„Reales, das noch kommt“, also ein Virtuelles, aber ohne Struktur.

Die Stratifizierung ist das, was passiert, das maschinische Gefüge die abstrakte

Maschine ausführt: Formen, Subjekte, Organe und Funktionen sind auch Strata

oder Beziehungen zwischen Strata.103 Hier ist eine Gegenüberstellung der

Terminologien aus Différence et répétition und Mille Plateaux möglich. Mit der

Bildung des Gefüges entlang des unsichtbaren oder unterirdischen Weges, den

der Dispars oder die abstrakte Maschine vorgezeichnet hat, wird eine Resonanz

vollzogen. Diese „errichtet das stratifizierte System“104 oder setzt verschiedene

Strata in Verbindung miteinander – „il fallait un agencement pour que se fasse

le rapport entre deux strates.“ (MP 91). In der letzteren Funktion wird das

Gefüge Interstratum genannt (MP 93).

In der anderen Funktion des Gefüges, in der es als Metastratum (MP 93) die Stra-

ta mit der Konsistenzebene in Verbindung erhält und destratifiziert, zeigt sich

ein Unterschied zu Différence et répétition . Eine Bewegung, die vom Aktuellen

zurück zum Virtuellen geht, eine Auflösung, die oben bereits mit der „Explo-

sion heterogener Reihen in der Fluchtlinie“ oder Auflösung des Organismus101„[L]a machine manifestée dans les coordonnées énergético-spatio-temporelles“,

L’hétérogenèse machinique, S.9.102Johnston 2008, S.119.103Vgl. MP 330.104Im Original „instaure le systéme stratifié“ (MP 75).

Page 96: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 93

zum Körper ohne Organe angesprochen wurde, wurde in Différence et répétitionso nicht thematisiert.

So extrahiert die abstrakte Maschine immer aus den Strata. In diesem Sinne

schreibt Guattari, dass statt “abstrahiert“ auch „extrahiert“ für die abstrakte

Maschine gilt:

„Lorsque nous parlons de machines abstraites, par « abstrait » nous pouv-

ons aussi bien entendre « extrait » au sens d’extraire. Ce sont des montages

susceptibles de mettre en relation tous les niveaux hétérogènes qu’ils tra-

versent et que nous venons d’énumérer.“105

Die abstrakte Maschine ist demnach sowohl begründend als auch extrahiert und

extrahierend. Die heterogenen Niveaus, die sie verbindet, sind das materielle

(Materie und Energie), das organisierte (Organe und Organismen), das soziale

oder inter-individuelle (das oben erwähnte „alloplastische Stratum“).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die abstrakte Maschine und die Strata

in zwei Weisen zusammenhängen. Zum Einen geht die Immanenzebene und

die abstrakte Maschine den Strata immer schon voraus:

„Les strates sont des retombées, des épaississements sur un plan de consi-

stance partout présent, partout premier, toujours immanent.“ (MP 90)

Andererseits wirkt die Konsistenzebene, operiert die abstrakte Maschine auch

auf den bestehenden Strata in den relativen Deterritorialisierungen noch weiter.

„Mais, sous les formes et les substances des strates, le plan de consistance

(ou la machine abstraite) construit des continuums d’intensité: il crée une

continuité pour des intensités qu’il extrait de formes et de substances

distinctes.“ (MP 90)

Diese abstrakte Maschine als Diagramm aller Strata, als eine Karte der intensiven

Größen kommt so in den relativen Deterritorialisierungen immer wieder durch,

etwa wie das Lebendige bei Simondon immer metastabile Bereiche aufrecht

erhalten muss und in Différence et répétition die Zentren der eingewickelten

Intensitäten auch im Differenzierten weiter fortbestehen.

Auf der Mechanosphäre

Außer dem Diagramm als „nicht-formelle“ Funktion besteht die abstrakte

Maschine noch aus dem sogenannten Phylum als eine ungeformte Materie im105L’hétérogenèse machinique, S.3.

Page 97: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

94 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

Fluss, die allen Strata zu Grunde liegt. Dieses Phylum ist nicht einfach Inhalt

oder Materie, sondern Materialität im Sinne einer völlig abstrakten Materie:

„[L]e phylum machinique, c’est la matérialité, naturelle ou artificielle, et les

deux à la fois, la matière en mouvement, en flux, en variation, en tant que

porteuse de singularités et de traits d’expression.“ (MP 509)

Indem es die allen Strata gemeinsame abstrakte Materialität ist, stiftet das

Phylum zwischen den verschiedensten Formen und Ebenen eine Einheit.

„Ce flux opératoire et expressif est aussi bien naturel qu’artificiel: il est

comme l’unité de l’homme et de la nature.“ (MP 506)

Dieser Fluss verzweigt und differenziert sich allerdings in den konkreten Gegen-

ständen, wie sich das Virtuelle in Différence et répétition im Aktuellen inkarniert.

Diese Differenzierung der abstrakten Materie ist die „selektive Aktion der

Gefüge“:

„On appellera agencement tout ensemble de singularités et de traits prélevés

sur le flux – sélectionnés, organisés, stratifiés – de manière à converger

(consistance) artificiellement et naturellement (. . . ).“ (MP 506)

Die Gefüge werden durch Stratifizierung oder Organisation, Strukturierung

aus diesem gemeinsamen Stamm entnommen und zerschneiden ihn so gewis-

sermaßen in diskontinuierliche Strata oder Nachkommenschaften (lignées). Das

Phylum durchzieht sie dennoch alle – ob natürlich oder künstlich – verbindend

als „unterirdischer Faden“ und zeichnet so auf der Konsistenzebene die Wege

für Transcodierung und Deterritorialisierung zwischen ihnen vor.

Das, was von der abstrakten Maschine durchzogen wird, durch das maschini-

sche Phylum als Fluss oder das Diagramm als intensive Karte, ist nicht mehr

die Sphäre der Technik, der Physik, der Organismen oder der gesellschaftlich

vernetzten Individuen, sondern eine universelle Mechanosphäre:

„Il n’y a pas de biosphère, de noosphère, il n’y a partout qu’une seule et

même Mécanoshpère“(MP89)

Alle Ebenen oder Strata sind gleichermaßen von der abstrakten Maschine als

Planomen durchzogen, keine hat Vorrang vor einer anderen – es gibt keine

Hierarchie oder feste Ordnung zwischen den Strata.

„Ce que nous appelons mécanosphère, c’est l’ensemble des machines

abstraites et des agencements machiniques, à la fois hors strates, sur les

strates et interstratiques.“ (MP91)

Page 98: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 95

Die Mechanosphäre umfasst alle maschinischen Gefüge und alle abstrakten

Maschinen, ob auf den Strata oder außerhalb der Strata. So finden alle Vorgänge

darauf statt, solche auf der Immanenzebene, auf den Strata und auch stratifizie-

rende oder destratifizierende Vorgänge dazwischen. Insofern geht der Begriff

der Maschine weit über den der technischen Maschine hinaus. Die Frage an

eine konkrete Maschine als Inkarnation der abstrakten Maschine sind daher

nicht „was ist sie?“, „wofür ist sie gut?“, sondern „was tut sie?“, „in welchen

Gefügen besteht sie, welche Gefüge geht sie ein?“

„Ce n’est pas de l’animisme, pas plus que du mécanisme, mais un machi-

nisme universel: un plan de consistance occupé par une immense machine

abstraite aux agencements infinis.“ (MP 313)

Deleuze und Guattari schreiben, dass die Kinder, in dem sie solche „Maschinen-

Fragen“ stellen, eigentlich spinozistisch denken und die Dinge auf einer Kon-

sistenzebene sehen, auf der sie Gefüge miteinander eingehen. Dies ähnelt auch

der Herangehensweise der „ersten“ Kybernetik, die die vermeintliche Lücke

zwischen Organismen und Maschinen im klassischen Verständnis mit einer

ebenso pragmatischen Herangehensweise zu überbrücken versuchte:

„Cybernetics (. . . ) is a “theory of machines,” but it treats, not things but

ways of behaving. It does not ask “what is this thing?” but “what does it

do?”(. . . ) It takes as its subject-matter the domain of “all possible machines”

and is only secondarily interested if informed that some of them have not

yet been made, either by Man or by Nature. What cybernetics offers is the

framework on which all individual machines may be ordered, related and

understood.“106

Übersetzt in Deleuze und Guattaris Terminologie wären die „Arten des Verhal-

tens“ die spinozistische Koordinaten eines Dings, der „Bereich aller möglichen

Maschinen“ die Mechanosphäre der Kybernetik. Die Ordnung und Verbindung

von „individuellen“ Maschinen wäre die abstrakte Maschine, die von konkreten

maschinischen Gefügen ausgeführt wird, oder erst noch ausgeführt werden

kann. Hier muss allerdings direkt hinzugefügt werden, dass der Maschinen-

begriff der Kybernetik, wenn auch allgemeiner unf offener als der klassische,

doch noch enger und konkreter als der von Deleuze und Guattaris abstrakter

Maschine, die als zusamemngesetzt aus Phylum und Diagramm keine Struktur

hat. Was die Kybernetik liefern will ist ein Programm für alle Maschinen, ihre106Ashby 1956, S.1-2.

Page 99: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

96 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

virtuelle Maschine ähnelt den aktuellen in ihrer Struktur, während Deleuze

und Guattari betonen, dass die abstrakte Maschine ein bloßes Diagramm ohne

Struktur ist.

Die Maschine als universelles Konzept umfasst so in der einen oder anderen Art

alles Seiende. In Chaosmose spricht Guattari von „eixstenziellen Maschinen“:

„Les machines existentielles sont de plain-pied avec l’être dans sa multipli-

cité intrinsèque.“107

Diese „intrinsische Mannigfaltigkeit“ verweist auf die Konsistenzebene. Die

Konsistenzebene der Natur108 als Mechanosphäre macht keine Unterschiede

zwischen den verschiedenen Formen der Organisation, zwischen den verschie-

denen Strata. So wird sie auch Ebene der Univozität genannt.109

„Il y a donc unité d’un plan de nature, qui vaut aussi bien pour les inanimés

que pour les animés, pour les artificiels et pour les naturels. (. . . ) L’Un se

dit en un seul et même sens de tout ce qui diffère. Nous ne parlons pas

ici de l’unité de la substance, mais de l’infinité des modifications qui font

partie les unes des autres sur ce seul et même plan de vie.“ (MP 311)

Diese Definition von Dingen über ihre Affektverteilungen und Geschwindigkei-

ten auf der Immanenzebene bricht die konzeptuelle Unterscheidung zwischen

natürlichen Dingen und Artefakten auf. Die Dinge werden nur noch als Gefüge,

Ausführungen ein und derselben abstrakten Maschine, die somit wie ein Schnitt

durch alle Strata ist, gesehen.

Der „Platz des Lebens“?

Auf die Frage nach der Grenze des Belebten beginnen Deleuze und Guattari

mit der Gegenüberstellung von stratifizierten Systemen und Gesamtheiten der

Konsistenz (ensembles de consistance).

Das System der Stratifizierung erinnert teils an einen Kristall, teils an einen Or-

ganismus. Erstens gebe es nur „lineare Kausalitäten zwischen den Elementen“.

Dies verweist auf die Eigenschaft des Kristalls, die Simondon „Individuierung

in dünnen Schichten“ (individuation pelliculaire) genannt hat. Die Stratifizierung

107Chaosmose, Galilée, Paris, 1992, S.78-79.108„Natur“ wird hier auch im Original groß geschrieben.109Die Univozität ist für das gesamte Werk von Deleuze ein wichtigre Begriff. Hier wird nur

der Aspekt der Gleichberechtigung von Naturdingen und Artefakten betrachtet. Zur Univozitätallgemein s. S. 49 f. in Friedrich Balkes Einführung zu Deleuze wie auch die Aufsätze vonPierre Montebello, (Montebello 2003, 2006).

Page 100: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 97

geht so immer nur einer Schicht zu einer benachbarten Schicht vor sich und es

gibt keine Wechselwirkungen mit weiter entfernten Schichten, da das struktu-

rierte Zentrum nicht mehr teilnimmt und das außen liegende amorphe Milieu

noch nicht. Zweitens gibt es Hierarchien zwischen Anordnungen verschiede-

ner Stufen. Dies wird veranschaulicht durch den hierarchischen Aufbau eines

komplexen Organismus: von der Zelle, zum Organ, zum Gesamten. Drittens

das fortschreitende „Informieren“ der Substanzen, das Simondon allgemein

mit Transduktion bezeichnet hatte.

Die Gesamtheit der Konsistenz bricht mit all diesen Ordnungen – es gibt Kausa-

litäten, die nicht mehr linear und nicht mehr zwischen benachbarten Elementen

von der gleichen Art stattfinden, oder bei denen die Verursachung in die andere

Richtung, nämlich die eines zersetzenden Prozesses, geht. Es findet keine Struk-

turierung statt, sondern Kräfte werden freigesetzt. All diese Prozesse bleiben

nicht auf einem Stratum, sondern sind destratifizierend, transversal zu den

Strata, von denen sie ausgehen:

„[C]omme si un phylum machinique, une transversalité déstratifiante passait à

travers les éléments, les ordres, les formes et les substances, le molaire et le

moléculaire, pour libérer une matière et capter des forces.“(MP 414)

Diese Gesamtheit zeichnet sich nicht durch eine Ordnung aus, sondern durch

das maschinische Phylum als Fluss von abstrakte Materie, der die Strata durch-

setzt. Die Frage, die sich nun stellt ist: „Quelle est la «place de la vie» dans cette

distinction?“ (MP 414)

Ist das Leben ein Stratum oder in einem Stratum eingefangen, vielleicht sogar

ausschließlich im organischen? Oder muss gerade der abstrakten Maschine die

Eigenschaft, „lebendig“ zu sein, zukommen?

„[E]lle est les deux à la fois: un système de stratificaiotn particulièrement

complexe, et un ensemble de consistance bouleversant les ordres, les for-

mes et les substances.“ (MP 414)

Zum Einen zeichnen sich die Organismen eben durch ihre komplexe Organisa-

tion vom Typ „stratifiziertes System“ aus, zum Anderen könnten sie ohne die

relativen Deterritorialisierungen und Decodierungen zwischen den verschiede-

nen Milieus oder Systemen von Epi-und Parastrata nicht als lebendig betrachtet

werden. In dieser Deterritorialisierung besteht ein Zugewinn an Konsistenz, an

Destratifikation. Dieser Begriff von Leben entfernt sich von der Holistischen,

organischen Repräsentation.

Page 101: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

98 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

Deleuze und Guattaris Verständnis der Transduktion

Auch Deleuze und Guattari bezeichnen gewisse Prozesse im Lebendigen mit

„Transduktion“. Sie tun dies allerdings nur teilweise in Anlehnung an Si-

mondon, denn andererseits stützen sie sich auf die biologische Bedeutung des

Terms.

Eben weil der Kristall, wie Simondon festgestellt hatte, exzentriert und pure

Grenze ist, da seine Individuierung bloß linear, in dünnen Schichten vor sich

geht, nennen Deleuze und Guattari seine Formung nicht mehr Transduktion

sondern Induktion. Der Kristall habe durch seine globale geometrische Struk-

tur einen hohen „Index der Territorialität“ und sei somit immer nur an der

äußersten Schicht „deterritorialisierbar“ – d. h. nur dort wächst er und kann

auch in diesem Prozess auf Hindernisse reagieren (MP 78). In diesem Sinne hat

der Kristall eigentlich gar keine assoziierten Milieus – er besteht nur aus der

zentralen Schicht und der übersättigten Lösung als intermediärem Milieu.

Beim Organischen Stratum hingegen wurde bereits angemerkt, dass die Milieus

sich ständig gegeneinander verschieben. Wenn ein Lebewesen so zwischen

Milieus wechselt, oder sich Milieus ineinander schieben, mischen oder transfe-

rieren sich auch die zu dem jeweiligen Milieu gehörigen Codes – Deleuze und

Guattari identifizieren Transduktion und Transcodierung:

„Le transcodage ou transduction, c’est la manière dont un Milieu sert de

base à un autre, ou au contraire s’établit sur un autre, se dissipe ou se

constitue dans l’autre.“ (MP 384-385)

So führen Deleuze und Guattari Simondons Analyse zu dem eigenlichen Sinn

des Begriffs der Transduktion in der Biologie als Übertragung von genetischer

Information zwischen Bakterien oder anderer Einzeller durch Viren zurück,

indem sie darunter den Austausch von Materie und Information zwischen der

zentralen Schicht und ihren Para- und Epistrata verstehen.110 Mit diesem Ver-

ständnis von Natur im Sinne der Konsistenz- oder Univozitätsebene schreiben

sie:

„Les participations contre nature sont la vraie Nature qui traverse les

règnes.“ (MP 295)

110„A mechanism for the transfer of genetic matieral between cells. The material is transferredby virus particles called bacteriophages (in the case of bacteria) or phages.“ (Mc Graw HillEncyclopedia of Science & Technology).

Page 102: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 99

Diese transversale Fortpflanzung, „abscheuliche Liebschaften“ („amours abo-

minables“) oder monströse Kopplungen sind genau das deterritorialisierte

Leben, das sich hin zur Konsistenzebene öffnet. Im Vergleich zum linearen

Code des üblichen Milieus ist das, was bei einer solchen Transduktion oder

Transcodierung herauskommt, ein „Mehrwert des Codes“. Dieser äußert sich in

Kreuzungen und Mutationen; es entsteht ein neues Gefüge entlang einer Linie

des „unterirdischen Werdens“.111 Statt einer Linie der Evolution gibt es nur

noch „Blöcke des Werdens“, entstanden aus Kopplungen zwischen heterogenen

Elementen und durch „wider-natürliche“ Fortpflanzung durch Ansteckung

oder Mutation.112

„Participation contre nature, mais justement le plan de composition, le plan

de Nature, est pour de telles participations, qui ne cessent de faire et défaire

leurs agencements en employant tous les artifices.“ (MP 315)

So muss „contre nature“ eigentlich als „wider die Organisation“, „wider das

Stratifizierte“ verstanden werden und nicht als „wider die Natur“. Wird unter

„Natur“ nämlich die Konsistenzebene verstanden, so sind diese transversalen

Werdensprozesse gerade Entfaltungen der Natur in diesem Sinne.

Nicht-organischer Vitalismus

Eine abstrakte oder nomadische Linie als Fluchtlinie oder der Weg des ma-

schinischen Phylums oder des Diagramms auf der Konsistenzebene zeichnen

Übergänge zwischen den Strata und setzen so vormals in Strata gefangene

Kräfte frei – Deleuze und Guattari bezeichnen dies als „Macht des Lebens“.

Hier wandelt der Begriff „Leben“ in einer ähnlichen Weise seine Bedeutung wie

oben der der „Natur“ – von der nature eines Dinges als einem festen Gefüge

oder auf einem Stratum zur Ebene der Natur (Nature) als der Immanenzebene

aller Dinge, ob „natürlich“ (der nature) oder künstlich.

„[L]es strates organiques n’épuisent pas la Vie: l’organisme est plutôt ce

que la vie s’oppose pour se limiter, et il y a une vie d’autant plus intense,

d’autant plus puissante qu’elle est anorganique.“ (MP 628)

111Vgl. Ansell-Pearson 1999, S.105: „In A Thousand Plateaus Deleuze and Guattari do notplace the emphasis on complexification through more or less differenciation, but on forms ofcreative involution and modes of transversal communication that produce an ‘anti-nuptialnature’ (‘monstrous’ couplings) that involve subterranean becomings.“.

112Vgl. MP 292.

Page 103: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

100 Kapitel III. Der Organismus und das Nicht-Organische

Das Leben (la Vie) ist wie die abstrakte Maschine auch nur auf der Konsisten-

zebene voll entwickelt. Auf den Strata ist es begrenzt, eingesperrt, gelähmt

oder verdickt und somit weniger mächtig. Ganz allgemein hatten Deleuze und

Guattari schon in der Einleitung bemerkt, dass eine feste Strukturierung das

Wachstum einschränkt.

„[C]haque fois qu’une multiplicité se trouve prise dans une structure, sa

croissance est compensée par une réduction des lois de combinaison.“ (MP

12)

In dieser Hinsicht ist auch der Organismus eine Abwendung oder Verzerrung

(détournement) des Lebens, da er es in einer Struktur einsperrt, mit dem Ergebnis,

dass diese einerseits leistungsfähiger und funktionaler ist als die unorganisierte

abstrakte Materie der Konsistenzebene oder des Körpers ohne Organe, ande-

rerseits deren Wandlungsfähigkeit stark einschränkt ist. Diese Einschränkung

ist umso stärker je besser oder fester die Organisation aufgebaut ist. Diese

Sichtweise erinnert an Simondons Bemerkungen zum Tod, indem er einen

Zusammenhang zwischen der Ausdifferenzierung bei Lebewesen und deren

Tod herstellte:

„[L]a mort comme événement final n’est que la consommation d’un proces-

sus d’amortissement qui est contemporain de chaque opération vitale en

tant qu’opération d’individuation; toute opération d’individuation dépose

de la mort dans l’être individué“ (IGP 242)

Jede Individuierung oder Differenzierung – in Deleuze und Guattaris Worten

Stratifizierung des maschinischen Phylums – nimmt dem eigentlichen, dem

nicht-organischen Leben (la Vie) etwas von seiner Kraft, und je mehr davon

genommen wird, je schwieriger die relative Deterritorialisierung für das Lebe-

wesen wird, desto näher kommt das System dem Unbelebten.

Der entscheidende Unterschied in Bezug auf Simondons Theorie der Indivi-

duierung des Lebendigen liegt in Deleuze und Guattaris Konzept der Imma-

nenzebene. Auf den Strata werden alle Formen und Strukturen noch von dem

maschinischen Phylum durchzogen und die Stratifizierung ist nie absolut, die

Destratifizierung wird – absolut gesehen – nie unmöglich. Wenn dsa Leben

über den Organismus hinausgeht, genügt auch der Tod eines Organismus nicht,

um dieses Leben zu zerstören. In diesem Sinne sagt Deleuze in Pourparlers über

das Leben und den Vitalismus:

Page 104: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

3 Universeller Maschinismus und nicht-organische Vitalität 101

„Ce sont les organismes qui meurent, pas la Vie.“113

So wird die sich durch alle Strata ziehende Linie des maschinischen Phylums

nicht abbrechen, wenn ein Organismus sich zersetzt.

113Pourparlers, S.196.

Page 105: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

Konklusion und Ausblick

Simondon untersucht das Werden von Systemen statt das Sein von Substanzen.

Mit seinem analogistischen Parallelismus betrachtet er verschiedene Grade der

Individuierung unter der Prämisse, dass all diese Prozesse von der gleichen Art

sind. Die Unterscheidung liegt allein bei den Operationen und Prozessen, und

in der Art, wie sie im Raum ablaufen, nicht in einem Wesen oder einer Essenz.

In Différence et répétition tritt für Deleuze die Frage „Was?“ hinter die anderen

Fragen zurück – mit einer Terminologie, die von der Mathematik und auch

von Simondons physikalischen Paradigmen beeinflusst ist, bildet sich so seine

Differenzphilosophie heraus, welche die von Simondon beschriebenen Vor-

gänge durch den komplexen Begriff der „Indi-Drama-Differen zt ierung“ noch

weiter aufspaltet und detaillierter erklärt. In dem Fall, der hier betrachtet

wurde, war dies die intensive Dramatisierung von mathematisch-virtuellen

Mannigfaltigkeiten hin zu aktuellen biologischen Organismen, mit der wichti-

gen Zwischenstufe des Eis.

Sowohl für Simondons L’individu et sa genèse physico-biologique als auch für

das Modell aus Différence et répétition verläuft die konzeptuelle Grenze noch

zwischen physikalisch und biologisch. Das vormals biologisch motivierte Ei

bricht dann in Mille Plateaux zum Körper ohne Organe als „kosmisches Ei“

auf, die Differenzierung des Organismus wird zur geologischen Stratifizierung,

Fluchtlinien oder nicht-organische Linien brechen setzen die eingewickelten

Zentren der Intensität und die Macht eines nicht-organischen Lebens frei. In

der abstrakten Maschine und dem maschinischen Phylum lässt sich so eine

Neuformulierung des Problems der Artiicial Life-Theorien sehen:

„Within the frame of published ALife research, other researchers have

questioned whether life can be abstracted from one material substrate and

instantiated in another.“114

114Johnston 2008, S.200.

Page 106: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

Konklusion und Ausblick 103

Wenn das Phylum als abstrakte Materialität die verschiedenen „materiellen

Substrate“ durchläuft und verbindet, ermöglicht es gerade diese Substrat-

Unabhängigkeit, die für die Theorien von Artificial Life benötigt wird – die

technischen Maschinen werden zu unkörperlichen Systemen, um mit den Wor-

ten von Guattari zu schließen:

„Il convient ici de se dégager d’une référence unique aux machines techno-

logiques et d’élargir le concept de machine pour positionner cette adjacence

de la machine aux Univers de référence incorporels.“115

115Chaosmose, S.51.

Page 107: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

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Page 111: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

Danksagung

Zunächst möchte ich mich bei Prof. Dr. Friedrich Balke für seine Unterstützung

bei der Vorbereitung und der Strukturierung der Arbeit bedanken.

Weiterer Dank gilt Johannes Schmidt für ausgiebige Durchsicht und Diskussion

der mathematischen Inhalte, Dr. François Legoux für Erläuterungen zur Mole-

kularbiologie, Hannes Glück fürs Korrekturlesen und Anmerkungen und ganz

besonders Sven Willner sowohl für inhaltliche Diskussionen als auch für seine

große und selbstlose Hilfe bei der Formatierung der Arbeit.

108

Page 112: Die Spannung zwischen Organischem und Nicht-Organischem bei Deleuze, Guattari und Simondon

Eigenständigkeitserklärung

Ich erkläre hiermit an Eides statt, dass ich die vorliegende Magisterarbeit selbst-

ständig und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Quellen und Hilfs-

mittel erstellt habe und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich

entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.