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Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur | www.bundesstiftung-aufarbeitung.de

Veranstaltungsbericht

„Die Stimme des Gulag“: Neuer Archivbestand der Bundesstiftung Aufarbeitung 28. Oktober 2015 I 18.00 Uhr I Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur| Kronenstr. 5| 10117 Berlin Seit Ende 1989 hat der Historiker Dr. Meinhard Stark mehr als 250 ehemalige Lagerhäftlinge bzw. ihre Kinder in

Russland, Polen, Kasachstan, Litauen und Deutschland interviewt sowie vielfältige Dokumente und Überliefe-

rungen zu ihren Lebenswegen zusammengetragen. Sie berichten vom Leben und Überleben im Gulag, aber

auch davon, wie die Gulag-Haft das Leben der Familien geprägt hat. Im Rahmen eines von der Bundesstiftung

zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten Projektes der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der

Universität Bonn sind die über 1.200 Stunden umfassenden Gespräche ebenso wie die schriftlichen Unterlagen

im Umfang von mehr als 46.000 Blatt digitalisiert und in einer Datenbank erfasst worden. Aus Anlass der Über-

gabe dieses Quellenfundus an das Archiv der Bundesstiftung Aufarbeitung wurde der Bestand öffentlich vorge-

stellt.

Die Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Dr. Anna Kaminsky betonte in

ihrer Begrüßung, wie wichtig der digitalisierte Archivbestand für die Forschung und die politische Bildung sei.

Der seit einigen Jahren in der Russische Föderation am 30. Oktober begangene Gedenktag zur Erinnerung an

die Opfer politischer Repression biete einen guten Anlass, um den Bestand offiziell an die Bundesstiftung zur

Aufarbeitung der SED-Diktatur zu übergeben. Der Gulag sei zum Sinnbild für das sowjetische System der Re-

pression geworden. Viele der etwa 20 Millionen in den Lagern inhaftierten Menschen hätten den Tod gefun-

den. Dr. Anna Kaminsky verwies in diesem Zusammenhang auf eine Themenseite der Bundesstiftung zur Aufar-

beitung der SED-Diktatur, auf der nicht nur zentrale Daten und Fakten, sondern auch verschiedene Projekte zu

diesem Thema zu finden seien. Als Beispiele nannte sie unter anderem das Dokumentationsprojekt von Loretta

Walz „Im Schatten des GULAG – als Deutsche unter Stalin geboren“ sowie verschiedene Zeitzeugen-Projekte.

Prof. Dr. Dittmar Dahlmann, bis zu seiner Emeritierung Professor für osteuropäische Geschichte an der Univer-

sität Bonn, führte im Anschluss in den neuen Archivbestand ein. Neben den 250 digitalisierten und transkribier-

ten Interviews wurden über 46.000 Blatt schriftlicher Dokumente zu den Schicksalen der Befragten zusammen-

getragen worden. Der Bestand umfasst Kopien aus Akten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit und des

sowjetischen Ministeriums des Innern sowie des NKWD, persönliche Briefe und Aufzeichnungen sowie Fotos in

digitalisierter Form. Dieser Datenbestand würde in den kommenden Jahren weiter ergänzt, sei aber bereits

einsehbar und nutzbar. Damit stelle das Archiv angesichts des schwierigen Zugangs zu Überlieferungen des

Gulags einen besonders hohen Wert für Bildung und Forschung dar. Im zweiten Teil seines Vortrages würdigte

Prof. Dr. Dittmar Dahlmann die umfangreiche Forschungsleistung von Dr. Meinhard Stark. Es sei ihm bereits im

Rahmen seiner Dissertation, die sich mit den Frauen im Gulag beschäftigte, auf eindrucksvolle Weise gelungen,

die Erlebnisse der Gulag-Häftlinge textlich zu verarbeiten. Auch in der Folgezeit habe er sich die Aufarbeitung

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der Gulag-Thematik zur Aufgabe gemacht, den Archivbestand erweitert und damit eine herausragende Lebens-

leistung erbracht.

In der anschließenden Vorstellung des Archivbestandes veranschaulichte Dr. Meinhard Stark anhand einiger

Zeitzeugen-Beispiele die Nutzungsmöglichkeiten der Datenbank. Zu jedem Interview-Partner gibt es einen Da-

tensatz, der zentrale lebensgeschichtliche Informationen, Rahmendaten zur Haft, Audio- oder Videodateien der

Interviews sowie weitere Dokumente und Medien enthält. Die Interviews seien lebensgeschichtlich angelegt

und enthielten somit nicht nur Erzählungen über die Lager-Erfahrung, sondern auch Informationen über andere

biographische Prägungen. Exemplarisch spielte er zwei Mitschnitte aus seinem ersten Interview mit der Gulag-

Überlebenden Frieda Siebenaicher aus dem November 1989 an, in denen sie von ihrer Familie und von ihrer

Verhaftung erzählte. Gleichzeitig enthält ihr Datensatz private Fotos aus ihrer Kindheit und Ehe sowie ihr Haft-

Foto. Der Historiker interviewte aber auch Kinder von Häftlingen, deren Lebensgeschichten durch die Inhaftie-

rung der Eltern geprägt wurden. Als Beispiel hörte das Publikum ein Interview mit Elvira, deren Mutter Irmgard

Schünemann erst nach zehn Jahren aus dem Gulag zurückkehrte. Die Tochter schildert darin, wie sie die Ver-

haftung ihrer Mutter erlebte, aber auch wie fremd sich beide nach der Rückkehr der Mutter geworden waren.

Dr. Meinhard Stark stellte in Aussicht, weitere Interviews führen zu wollen. Zunächst bedankte er sich aber

besonders bei seinen bisherigen Gesprächspartnern, die sich ihm vertrauensvoll geöffnet hätten. Er habe ver-

sucht „durch die Zeugnisse der Überlebenden und die Hinterlassenschaften der Täter einen Einblick in das

Leben hinter dem Stacheldraht zu geben.“ Zwar könnten wir heute „nicht alles verstehen, aber wenigstens

davon wissen.“

Zu Beginn der Podiumsdiskussion resümierte Moderator Dr. Ulrich Mählert von der Bundesstiftung zur Aufar-

beitung der SED-Diktatur, dass mit dieser Datenbank Lebensschicksale dokumentiert seien, die ohne die von

Dr. Meinhard Stark in 25 Jahren geleistete Arbeit in Vergessenheit geraten wären. Auf dem Podium begrüßte er

den Zeitzeugen Horst-A. Hennig, der 1950 als Schüler in Burg bei Magdeburg wegen angeblicher Spionage ver-

haftet, im Gefängnis gefoltert und zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt worden war. Das Strafmaß seiner Mutter

betrug 15 Jahre, der Vater wurde wegen der Mitgliedschaft in der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ zum

Tode verurteilt. Mutter und Sohn kamen 1955 im Zuge der Intervention von Bundeskanzler Konrad Adenauer

frei und lebten seitdem in der Bundesrepublik. Horst-A. Hennig erzählte, wie seine Gulag-Verschleppung in der

DDR tabuisiert wurde. Er habe nach dem Mauerfall 1989 wieder Kontakt zu seiner damaligen Schule in Sach-

sen-Anhalt aufgenommen und festgestellt, dass seine Existenz dort verleugnet wurde. Im Klassenbuch sei sein

Name geschwärzt worden und ein Lehrer, der sich bei der Polizei nach seinem Verbleib erkundigt habe, sei mit

Drohungen zum Schweigen gebracht worden. Aus seiner Zeit im Lager existieren noch Erinnerungsstücke, die

er an diesem Abend dem Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur übergab. Neben einem

Schachspiel, das er dort 1953 selbst angefertigt hatte, stiftete er einen Gürtel, der ihm von Mithäftlingen 1954

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zum Geburtstag geschenkt worden war und ihm als Symbol für Verbundenheit und Fürsorge immer Trost ge-

spendet habe.

Dr. Ulrich Mählert warf die Frage auf, ob der Gulag auch vor 1989/90 in der gesellschaftlichen Diskussion West-

deutschlands eine Rolle gespielt habe. Horst-A. Hennig berichtete, dass dieses Thema für ihn nie ganz ver-

schwunden gewesen sei. Er habe aber das Gefühl gehabt, andere würden sich dafür nicht interessieren und

habe deshalb nur selten davon berichtet. Prof. Dr. Dittmar Dahlmann erklärte, dass dieses Thema in der Wis-

senschaft zwar schon in den 1970er- und 80er Jahren eine Rolle gespielt habe, etwa an der Forschungsstelle

Osteuropa der Universität Bremen. Die Beschäftigung mit dem sowjetischen Straflagersystem habe jedoch

keine zentrale Bedeutung in der Forschungslandschaft eingenommen. Er selbst habe sich auch erst seit 1990

intensiver für das Thema interessiert. Dabei sei es ihm wichtig gewesen, die Opferperspektive darzustellen. Er

stimme Dr. Meinhard Stark zu, dass es nicht immer um das vollständige Verstehen, aber um das Wissen um

diese Erfahrungen gehe. Dr. Meinhard Stark betonte, dass er mit der Dokumentation, die Lebenswege von

Gulag-Häftlingen für die Nachwelt erhalten wolle. Daran knüpfte Prof. Dr. Dittmar Dahlmann an und verwies

darauf, wie wichtig diese Dokumentation, aber auch anschauliche Gegenstände wie die von Horst-A. Hennig für

die Erforschung und Vermittlung des Themas an nachfolgende Generationen seien.

Anja Schröter