Die stoische Ethik - in fünfzig Minuten€¦ · Alles, was in der Welt vorhanden ist, ging –...

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1 Lothar Baus ********************************** Die stoische Ethik – Basiswissen in 50 Minuten Copyright © by Asclepios Edition - Lothar Baus D-66424 Homburg/Saar (Germany)

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Lothar Baus**********************************

Die stoische Ethik – Basiswissen in 50 Minuten

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Lothar Baus

Die stoische Ethik -

Basiswissen in 50 Minuten

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Zeichenerklärung:

[ ] Text in eckigen Klammern = Erläuterungen des Herausgebers[...] drei Punkte in eckigen Klammern = Auslassungen des Herausgebers

Copyright by Asclepios Edition - Lothar Baus

D-66424 Homburg/Saar

Alle Rechte der Verbreitung, insbesondere des auszugsweisen Nachdrucks, derVerbreitung durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe,

Tonträger jeder Art, auch durch Einspeicherung und Rückgewinnung inDatenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

Printed in Germany 2012

ASCLEPIOS EDITION

ISBN 978-3-935288-29-3

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Vorwort

Vergessen Sie alles, was Sie bisher über die stoische Philosophiezu wissen glaubten. Es ist garantiert falsch!

Die stoische Philosophie ist keineswegs pantheistisch oderdualistisch, sondern eine atheistische Geheim- oder Stufenphilosophieund reiner Monismus1. Nach der stoischen Physiktheorie gibt es einzigund allein nur Materie. Alles ist aus einem einzigen Urstoff, dem Aether,entstanden, auch die vier Elemente irdisches Feuer, Luft, Wasser undErde, letztendlich auch wir Menschen. Ein Sein ohne Materie, wie es sichdie Theisten vorstellen, ist nach der stoischen Physiktheorie unmöglich.

Zenon von Kition war keineswegs der Begründer der stoischenPhilosophie, sondern sie ist identisch mit der atheistischen Samkhya-Lehre. Lesen Sie dazu mein Buch >Buddhismus und Stoizismus – zweinahverwandte Philosophien und ihr gemeinsamer Ursprung in derSamkhya-Lehre<, 3. erweiterte Auflage, Homburg 2008. Der erstegriechische Philosoph, der eine Abhandlung auf der Basis der Samkhya-Lehre schrieb, mit Titel >Über die Natur<, war Heraklit von Ephesos.Seine Anhänger wurden Herakliteer genannt.

Zenon von Kition brachte die Samkhya-Philosophie des Heraklitnach Athen. Die ersten Anhänger Zenons wurden ‚Zenonier‘ genannt,später erst ‚Stoiker‘. Der Name ‚Stoiker‘ rührt meines Erachtens nichtvon der ‚stoa piokile‘ her, wie Diogenes Laertius, VII.5, vermutete,sondern der Name bezeichnet die Anhänger Zenons als ‚Elementarier‘.Nach der stoischen Physiktheorie kehren die Menschen nach ihrem Todin die ‚stoikea‘, in die Elemente zurück, aus denen sie entstanden sind.Die Stoiker erhielten ihren Namen keineswegs nach dem Ort, an dem siemanchmal anzutreffen waren, sondern nach ihrer philosophischenWeltanschauung. Zenons Physiktheorie ist mit der heraklitischenidentisch, wie die heraklitische mit der Samkhya-Lehre identisch ist. Dieursprüngliche Samkhya-Philosophie war eine atheistischeNaturphilosophie. Siehe dazu Richard Garbe >Die Samkhya-Philosophie– Eine Darstellung des indischen Rationalismus<, 2. umgearbeiteteAuflage, Leipzig 1917.

1 Siehe Ueberweg-Praechter: >Grundriss der Geschichte der Philosophie, Teil 1: DiePhilosophie des Altertums<, 12. Aufl. Berlin 1926, S. 410: ‚daß der StoizismusMaterialismus und Monismus (freilich nicht im spinozistischen Sinne) nicht Dualismusist‘.

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Zuerst einige grundsätzliche Informationen zur materialistischenstoischen Philosophie:

Die stoische Physiktheorie -Gott ist das Naturgesetz

Bevor es eine Erde und einen Kosmos gab, war das Urfeuer, Aethergenannt. Dieses Urfeuer ist gleichzeitig die Urmaterie. Also einerseits dieGrundlage der sichtbaren Welt, die Materie, die sich daraus entwickelte,und andererseits das Naturgesetz, die schöpferische Kraft, Logosgenannt. Der Aether ist also Materie und Naturgesetz gleichermaßen. DieMaterie ist passiv und das Naturgesetz - der Logos - aktiv.2

Der Aether wird mit den verschiedensten Namen benannt: als‚Grundstoff‘, als das ‚schöpferische Urfeuer‘, als ‚das Wesen‘, als‚Logos‘, als ‚Natur‘ oder ‚Naturgesetz‘, als ‚kunstverständiges Feuer‘, als‚Schicksal‘ und nicht zuletzt auch als ‚Gott‘.

Alles, was in der Welt vorhanden ist, ging – nach der stoischenPhysiktheorie - aus dem schöpferischen Urfeuer - dem Aether - mitnaturgesetzlicher, unabwendbarer Notwendigkeit hervor. Ein Teil desAethers verwandelte sich zuerst in eine dunstartige Masse, diese inwässrige Flüssigkeit, aus welcher sich durch die nachwirkende Kraft desFeuers das Wasser, die Erde und die Luft ausschieden. Aus der Luftwiederum kann Feuer hervorbrechen, wie wir es bei einem Gewittersehen. Dieses irdische Feuer ist vom Aether dadurch verschieden, da esmit Luft vermischt, also unrein ist. Es gibt demnach in der stoischenPhysiktheorie fünf verschiedene Elemente, wie in der Samkhya-Lehre,nämlich: der Aether, alias die Urmaterie, auch Urfeuer genannt, worausvier Elemente (gr. stoikeia) entstehen: irdisches Feuer, Luft, Wasser undErde. Darauf machte bereits Paul Barth, >Die Stoa<, Stuttgart 1903,aufmerksam. Am Ende dieser Entwicklung stand die Erde mit einerVielzahl von Unterelementen, Pflanzen und Lebewesen.

Alles ist materiell gedacht bei den Stoikern: die Psyche, unsereVorstellungen, die Affekte, die Tugenden, rein alles. Die stoische

2 Wir können uns dies tatsächlich so vorstellen wie die Gravitationskraft. Die Materie istan sich passiv. Jedoch große Materieansammlungen, wie Fixsterne, Planeten undSchwarze Löcher, bewirken etwas durch ihre Massenanziehungskraft: die Gravitation.Die Aether-Theorie der Samkhya-Philosophen und der Stoiker (passive Materie undaktive Kraft, die der Materie innewohnt) erscheint mir wie eine Vorahnung derGravitationskraft.

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Philosophie ist materialistisch, wie die Samkhya-Lehre. Wie konnte einePhilosophie das Prädikat ‚pantheistisch‘ erhalten, obwohl sie alles andereals theistisch ist? Oder fragen wir anders herum: Wie konnte die Stoa derVerfolgung der Theisten anscheinend mühelos entgehen, obwohl sie einematerialistische Philosophie beinhaltet? In Athen gab es seit dem Jahr432 v.u.Zr. die gesetzliche Handhabe für Asebieprozesse(Gottlosigkeitsprozesse). Religionskritische Philosophen, wie Theodorosvon Kyrene, Diagoras von Melos, Anaxagoras, Diogenes von Apollonia,Protagoras, Kritias, Sokrates, Antisthenes, Demokritos und viele anderewurden der Gottlosigkeit angeklagt und günstigenfalls des Landesverwiesen.3 Zenon von Kition könnte durchaus die Asebieprozesse gegenDemades und Aristoteles, die beide Anhänger Alexanders des Großenwaren, gegen Theophrast und vor allem gegen Stilpon von Megara, einenKyniker und Schüler des Diogenes, unmittelbar miterlebt haben.4 Ihmund seinen Nachfolgern blieb daher nichts anderes übrig, als ihrermaterialistischen Philosophie zumindest den Schleier eines theistischenSystems umzuhängen.

Diogenes Laertius schrieb in seinem Werk >Leben und Lehrenberühmter Philosophen<, VII, 68: „[Nach Ansicht der Stoiker] ist alleseines und dasselbe: Gottheit und Logos, Schicksal und Zeus; und dieser[gemeint ist Zeus, der oberste Gott der Griechen] werde noch mit vielenanderen Namen [darunter auch mit dem Namen Aether, Natur oderNaturgesetz] bezeichnet.“

Aber wenn Gott gleich Aether ist und Aether gleich Vernunft undVernunft gleich Schicksal und Schicksal gleich Naturgesetz, dann istauch Gott gleich Naturgesetz. Und das ist nichts anderes als – Atheismus.

Diogenes Laertius VII, 84:„Die Stoiker sagen, Gott [alias der Aether] ist ein intelligentes,

kunstverständiges Feuer (gr. pyr technikòn), welches methodisch zurEntstehung voran schreitet ...“

Der absolute Beweis für die sogenannte Stufen- oderGeheimphilosophie der Stoiker ist diese Äußerung des Chrysippos:

„Chrysippos sagt, dass die Lehren von den Göttern ganz mit Rechtals teletê [Einweihungen] bezeichnet werden. Sie müssten nämlich

3 Vgl. Marek Winiarczyk, >Wer galt im Altertum als Atheist?<, in Philologus -Zeitschrift für klassische Philologie, Band 128, Akademie-Verlag, Berlin 1984.4 Vgl. Peter Fischer, >Die Asebieklage des attischen Rechts<, Inaugural-Dissertation,Erlangen 1967.

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teleutaioi [als letzte] und im Anschluss an alles andere gelehrt werden,wenn die Psyche eine Stütze habe, gestärkt sei und gegenüber denUneingeweihten zu schweigen vermöge. Denn über die Götter einrichtiges Verständnis zu gewinnen und ihrer mächtig zu werden, das seieine große [intellektuelle] Anstrengung.“5

Erst wenn die Psyche eines Neulings stark genug war, um dieWahrheit - d. h. die Gewissheit der Endlichkeit des Lebens - ertragen zukönnen, erst dann durfte er in die atheistische Geheimphilosophieeingeweiht werden. Außerdem musste gewährleistet sein, dass ergegenüber den fanatischen Andersdenkenden - den Theisten - zuschweigen verstand, denn man musste sehr vorsichtig sein, um die eigeneExistenz und die der Gleichgesinnten nicht zu gefährden.

Einen weiteren klaren und eindeutigen Beweis für die Stufen- undGeheimphilosophie der Stoiker fand ich bei Klemens von Alexandria. Indem Werk >Die Teppiche< (stromateis)6, II. Buch, § 58,2 lesen wir:

„Ja auch die Stoiker sagen, dass Zenon der Erste [Zenon vonKition] manches geschrieben habe, was sie nicht leicht [im Sinne von:nicht ohne besondere Vorsichtsmaßnahmen] den Schülern zu lesengestatten, ohne dass sie zuerst eine Prüfung darüber bestanden haben, obsie in rechter Weise philosophieren.“

Diese Vorsichtsmaßnahme diente natürlich einzig und allein zumSchutz der Anhänger der stoischen Philosophie vor den Angriffentheistischer Fanatiker.

Wenn also in der Abhandlung eines antiken Stoikers von Gott dieRede war, dann wusste ein in die stoische Physiktheorie Eingeweihternatürlich sofort, dass der Autor anstatt ‚Gott‘ eigentlich ‚Aether‘, alias‚Naturgesetz‘ meinte. Aether, alias Naturgesetz, ist synonym für Gott zusetzen.

Die Stoiker in der Antike waren unbezweifelbar der Überzeugung,dass der Gott der Schöpfung der Aether, das heißt ein kunstverständigesFeuer (gr. pyr technikòn) sei. Sie hielten den Aether für erschaffend, sienannten ihn ‚kunstverständig‘, der methodisch zur Entstehung derbelebten und unbelebten Natur voranschreitet und der all dieSamenprinzipien (gr. logoi spermatikoi) enthält, nach dem alles in der

5 Quelle: Karlheinz Hülser, >Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker<, Nr. 650:Etymologicum Magnum s. v. teletê, p. 751, 16 - 22; Ed. Gaisford col. 2108.6 In der Übersetzung von Franz Overbeck.

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Welt entsteht und wieder vergeht. Es ist evident, dass die Samkhyin unddie Stoiker damit die Evolution zu erklären versuchten. Der Aether warm. E. eine Vorahnung der Gravitationskraft, denn die Drehbewegung derSterne und Planeten war den antiken Naturphilosophen durchausbekannt, jedoch physikalisch unerklärlich.

Über die materialistische Physiktheorie der Stoiker finden wir nochfolgende eindeutige Aussagen und Zeugnisse:

Diogenes Laertius, VII. 135 - 137:(135) [...] Alles sei eines und dasselbe: Gottheit und Logos,

Schicksal und Zeus; und dieser werde noch mit vielen anderen Namen[darunter auch mit dem Namen Aether, Natur oder Naturgesetz]bezeichnet.

(136) Dieser [der Logos] sei anfangs allein gewesen und habe allesWesen durch die Luft in Wasser verwandelt. Und wie auch bei derZeugung der Samen wirksam sei, so sei auch der Logos gleichsam derSamen in der Welt. Er habe den Samen im Wasser zurück gelassen unddadurch die Materie wirksam [fruchtbar] gemacht, so dass alles nachder Reihenfolge entstanden ist. Die Materie habe zuerst die vierGrundstoffe erzeugt: das [irdische] Feuer, Luft, Wasser und Erde. Daserklärt Zenon in der Schrift >Über das All<, Chrysipp im ersten Buch>Über die Physik< und Archedemos in dem Werk >Über dieGrundstoffe<.

Ein Grundstoff ist, woraus das, was zum Dasein kommt, zuersterzeugt wird und worin es zuletzt wieder aufgelöst wird.

(137) Die vier Grundstoffe [irdisches Feuer, Luft, Wasser, Erde]zusammen stellen die passive Materie dar. In der höchsten Region seidas reine Feuer, der Aether, in welchem sich die Fixsterne und Planetenbefinden. Darauf folge die Luft, darauf das Wasser und dann die Erde.Das irdische Feuer sei in der Luft enthalten [was durch die Blitzeerkennbar ist].

Cicero, >Über das Wesen der Götter<, II. 57-58:Zenon gibt von der Natur folgende Definition: Die Natur ist ein

künstlerisches Feuer [gr. pyr technikòn], das planmäßig auf Zeugungvorwärts schreitet. Erschaffen und erzeugen, meint er, sei daseigentlichste Wesen der Kunst; und was bei unseren Kunstwerken dieHand vollbringe, das vollbringe weit kunstreicher die Natur, das heißt,wie gesagt, das künstlerische Feuer, der Lehrmeister aller Künste. Undinsofern ist die ganze Natur künstlerisch tätig, als sie gleichsam einenWeg und eine Verfahrensweise hat, die sie befolgt. [58] Die Natur der

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Welt selbst, die in ihrem Bereich alles umschließt und zusammenhält,nennt derselbe Zenon nicht allein künstlerisch, sondern geradezu eineKünstlerin, Beraterin und Vorsorgerin alles Nützlichen undZweckmäßigen. Und so wie die übrigen Naturen jede aus ihrem Samenentspringen, wachsen und bestehen, so hat die Weltnatur hingegen nurfreiwillige Bewegungen, Bestrebungen und Bedürfnisse, welche dieGriechen >hormai< nennen; und verrichtet die diesen entsprechendenHandlungen so wie wir selbst, die wir durch den Geist und die Sinne inBewegung gesetzt werden. Da nun der Weltgeist so beschaffen ist unddeshalb mit Recht Vorsicht oder Vorsehung genannt werden kann -griechisch heißt er ‚pronoia‘ - so sorgt er dafür vorzüglich und es ist ihmbesonders angelegen, erstens dass die Welt aufs zweckmäßigste zurFortdauer eingerichtet ist, sodann dass es ihr an nichts fehle, besondersaber, dass in ihr eine ausnehmende Schönheit und jegliche Pracht sei.

Tertullianus, >De anima<, 5, 1-6:Zenon, der die Psyche als verdichteten Atem [gr. pneuma]

definiert, legt sich die Sache so zurecht: Dasjenige, nach dessen Austrittein lebendes Wesen stirbt, ist ein Körper; wenn aber der verdichteteAtem austritt, so stirbt das lebende Wesen, folglich ist der verdichteteAtem ein Körper; der verdichtete Atem ist aber die Psyche, also ist diePsyche ein Körper.

Kleanthes behauptet, dass bei den Kindern eine Ähnlichkeit mit denEltern vorhanden sei, nicht nur in den körperlichen Umrissen, sondernauch in den Eigenschaften der Psyche, im Spiegelbild des Charakters, inden Anlagen und Neigungen [...] Ebenso seien die körperlichen und dienichtkörperlichen Leiden keineswegs identisch. Nun aber leide diePsyche mit dem Körper mit; wenn er durch Schläge, Wunden, Beulenverletzt sei, so empfinde sie den Schmerz mit; und ebenso auch derKörper mit der Psyche, mit deren Leiden er bei Sorge, Angst und Liebeseinen Zusammenhang verrät durch den Verlust der entsprechendenMunterkeit, und von deren Scham und Furcht er durch sein Erröten undErbleichen Zeugnis gibt. Folglich besteht die Psyche aus Materie, weilsie die körperlichen Leiden teilt.

Chrysippos reicht ihm die Hand, indem er konstatiert, dass dasKörperliche vom Unkörperlichen durchaus nicht getrennt werden könne,weil es sonst auch nicht davon würde berührt werden. Deshalb sagt auchLukretius: „Berühren und berührt werden kann kein Ding, als nur einKörper [Materie]“; wenn die Psyche aber den Körper verlässt, soverfalle dieser dem Tode. Mithin sei die Psyche ein Körper [sie bestehtaus Materie], weil sie, wenn nicht körperlich, den Körper nicht verlassenwürde.

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Cicero, >Gespräche in Tusculum<, I. 32.79:Denn er [Panaetios] behauptet, was niemand leugnet, alles, was

entstanden sei, gehe auch unter. Nun aber entstehe die Psyche, was dieÄhnlichkeit der Kinder mit ihren Eltern - die auch im Geistigen, nicht nurim Körperlichen ersichtlich sei - hinlänglich beweise. Als zweiten Grundführt er für seine Ansicht auch an, dass nichts Schmerz empfinde, wasnicht auch erkranken könne; was aber in eine Krankheit verfalle, daswerde auch untergehen. Nun aber empfinde die Psyche Schmerz, alsogehe sie auch unter.

Philodemos von Gadara, >Über die Frömmigkeit<:7

Wenn auch die Anhänger des Zenon das Göttliche nochübrigließen, wie es die einen gar nicht, die anderen wenigstens inmancher Hinsicht getan haben, so behaupten sie doch alle, es gebe nureinen Gott [alias den Aether, alias das Urwesen]. Mag denn also dasWeltall mitsamt seiner Seele bestehen, aber das ist Täuschung, wenn sietun, als ob sie viele Götter übrigließen. So will ich denn - mögen sie [dieStoiker] sagen, was sie wollen - der Menge beweisen, dass sie sie [dieGötter] beseitigen mit ihrer Behauptung, es gebe nur einen Gott undnicht viele oder gar alle, die der allgemeine Glaube überliefert hat, unddieser eine sei das All [alias der Aether], während wir [Philodemos istEpikureer] nicht nur alle diejenigen anerkennen, von denen ganzGriechenland redet, sondern sogar noch mehr [auch die Götter derNachbarvölker]; ferner dass sie auch nicht, wie sie schreien, die Götterso lassen, wie man sie allgemein verehrt und wie auch wir [Epikureer] eszugestehen. Denn sie [die Stoiker] halten sie nicht für menschenähnlich,sondern erblicken sie in Luft und Wind und Aether. So möchte ich dennzuversichtlich behaupten, dass diese Leute [die Stoiker sind gemeint]frivoler sind als Diagoras. Denn dieser hat nur eine scherzhafte[gotteslästerliche] Schrift verfasst, wenn diese wirklich von ihm stammtund ihm nicht untergeschoben ist, wie Aristoxenos in seinen >Sitten vonMantinea< behauptet.

Die Stoiker nennen zwar die Götter in ihren Schriften, beseitigensie aber in Wirklichkeit vollständig und absichtlich und gehen mit ihrer

7 In >Herkulanische Studien<, von Theodor Gomperz, Teil 2: Philodemos (PHerc.1428), >Über die Frömmigkeit<, Leipzig 1866; übersetzt von Wilhelm Nestle, in >DieNachsokratiker<, 1. Band, Jena 1923. Der Text aus dem Papyrus Herculanensis Nr.1428 ist von Albert Henrichs erneut und in weiteren Columnen übersetzt worden und in>Cronache ercolanesi – bollettino del Centro Internazionale per lo Studio del PapiriErcolanesi<, Band 4, Napoli 1974, Seite 5 – 32 unter dem Titel >Die Kritik derstoischen Theologie< ediert.

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unvornehmen Haltung noch über Philippos und andere hinaus, welchedie Götter schlechtweg beseitigen.

Philodemos von Gadara, >Über die Götter<, III. Buch:8

Der Satz „Erfüllt wird immer, was ein Gott zu tun gedenkt“, steht,wie man sieht, keineswegs im Widerspruch mit dem Satz, dass es aucheinem Gott nicht möglich ist, alles zu tun. Denn könnte er das, so hätte erauch die Macht, alle Menschen weise und glücklich zu machen und keineÜbel zuzulassen. Eine solche Annahme verbindet aber mit demmächtigsten [göttlichen] Wesen eine Art Schwäche und Mangelhaftigkeit.Und doch geben sie [die Stoiker] dies häufig zu, wodurch sie den Begriffdes Gottes aufheben. So z.B. Chrysippos, der in seiner Schrift >Über dieMantik< sagt, Gott könne nicht alles wissen, weil dies unmöglich sei.

Plutarch von Chaironeia, >Über die Widersprüche der Stoiker<9,9. These [Plutarch ist Gegner der Stoiker]:Nach Ansicht des Chrysippos sollen die jungen Leute zuerst die

Logik, dann die Ethik, zuletzt die Physik hören und in dieser wiederumdie Lehre von den Göttern zuletzt kennen lernen. Von den unzähligenStellen, wo er dies sagt, mag es genügen, die einzige aus dem viertenBuch >Über die Berufsarten< herzusetzen, die wörtlich so lautet: „Fürserste gibt es meines Erachtens nach der richtigen Einteilung der Altendrei Gattungen philosophischer Lehrsätze: die logischen, die ethischenund die physikalischen. Unter diesen müssen die logischen die erste, dieethischen die zweite, die physikalischen die letzte Stelle einnehmen; vonden physikalischen muss die Lehre von den Göttern die letzte sein.Deshalb nannten sie auch den Unterricht in diesen [Lehrsätzen]Teletae10.“

Allein gerade diese Lehre, welche den Schluss bilden soll - die vonden Göttern – schickt er der Ethik voran und behandelt sie vor jederethischen Untersuchung. Denn über die höchsten Endzwecke, über dieGerechtigkeit, über das Ethischgute und -schlechte, über Ehe undErziehung, über Gesetz und Verfassung sagt er nicht ein Wort, ohne dasser - wie die Urheber von Volksbeschlüssen ihren Anträgen[Gesetzesentwürfen] die Worte voransetzen „Zu gutem Glück“ - denZeus, das Verhängnis, die Vorsehung und den Satz voranstellt, dass dieeinzige und begrenzte Welt von einer einzigen Kraft zusammen gehalten

8 Philodemos, >Über die Götter<, 1. und 3. Buch, hrsg. von H. A. Diels, Berlin 1916,übersetzt von Wilhelm Nestle, >Die Nachsokratiker<, 1. Band, Jena 1923.9 Plutarch, >Moralische Schriften<, 24. Band, übersetzt von G. Fr. Schnitzer, 1861.10 Teletae hieß die Einweihung in die Mysterien als das Höchste aller Mitteilung.

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werde; alles Dinge, von denen man sich nicht überzeugen kann, ohne indie Lehren der Physik [in die stoische Physiktheorie] tiefer eingedrungenzu sein.

Man höre, was er im dritten Buch >Über die Götter< hierübersagt: „Es lässt sich kein anderes Prinzip, kein anderer Ursprung derGerechtigkeit denken, als der aus Zeus [alias dem Aether] und derallgemeinen Natur [dem Naturgesetz]. Denn daher muss alles seinenUrsprung haben, wenn wir vom Ethischguten [den Glücks-Gütern] undvom Ethischschlechten [von den Übel] reden wollen.“ Ferner in den>Physikalischen Sätzen<: „Man kann auf keine andere oderschicklichere Weise zur Lehre vom Ethischguten und -schlechten, zu denTugenden, zum Begriff des Glücks gelangen, als von der allgemeinenNatur und von der Weltregierung aus.“

Und weiterhin: „Hiermit muss man die Lehre vom Guten [von denGlücks-Gütern] und vom Schlechten [den Übel] verbinden, weil es keinbesseres Prinzip, keine schicklichere Beziehung für dieselbe gibt undweil die Naturbetrachtung keinen anderen Zweck haben kann als dieUnterscheidung des Ethischguten vom -schlechten.“ So kommt nachChrysipp die Naturlehre zugleich vor und nach der Ethik zu stehen; ja esist eine ganz unbegreifliche Verkehrung der Ordnung, wenn diejenigeLehre zuletzt stehen soll, ohne welche man das Übrige nicht begreifenkann; und es ist ein handgreiflicher Widerspruch, wenn er die Physikzum Prinzip der Lehre vom Ethischguten und -schlechten macht unddoch verlangt, dass sie nicht früher, sondern nach jener vorgetragenwerde.

Will jemand einwenden, Chrysipp habe in der Schrift >Über denVernunftgebrauch< gesagt: „Wer die Logik zuerst studiert, darf dieanderen Teile der Philosophie nicht ganz bei Seite lassen, sondern ermuss auch sie so viel als möglich mitnehmen“, so ist dies zwar richtig,bestätigt aber nur den gemachten Vorwurf. Denn er ist im Widerspruchmit sich selbst, wenn er das eine Mal empfiehlt, die Lehre von derGottheit zuletzt und am Ende vorzunehmen, weshalb sie auch Teletaeheiße, das andere Mal sagt, man müsse auch sie mit dem ersten Teilzugleich mitnehmen.

Es ist um die Ordnung geschehen. wenn man alles durcheinanderlernen soll. Und was noch mehr sagen will, während er die Lehre von derGottheit zum Prinzip der Lehre vom Ethischguten und -schlechten macht,verlangt er doch, dass man das Studium der Ethik nicht mit jenerbeginne, sondern bei demselben die Lehre von der Gottheit nachMöglichkeit mitnehme, dann erst von der Ethik zu der Lehre von derGottheit übergehe, ohne welche doch die Ethik kein Prinzip und keinenEingang haben soll.

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Die Werke >Über die Widersprüche der Stoiker< und >Über dieallgemeinen Begriffe< des Plutarch erscheinen mir wie eine Sammlungvon Anklagepunkten, um einen Asebieprozess gegen die Stoikeranstrengen zu können. Der Vielschreiber Chrysipp scheint sich in seinemÜbereifer tatsächlich des öfteren in widersprüchlichen Aussagenverfangen zu haben. Vor den Uneingeweihten spricht Chrysippos nochvon Göttern als real existierenden göttlichen Wesen, andererseitswiderlegt er sich selber, wenn er behauptet, dass „die Götter denMenschen nicht mehr nützen können als diese ihnen“ und sie außerdemfür vergänglich erklärt, außer dem Aether-Zeus, alias dem Urfeuer.

Die Theorie von der Psyche

Nach der materialistischen Physiktheorie der Stoiker ist die Psychedes Menschen ihrer Beschaffenheit nach ein warmer Hauch (gr. pneuma),demnach körperlich wie alles in der Welt. Sie ist ein Strahl und Ablegerdes Urfeuers, alias des Aethers. Das Pneuma ist an das Blut gebundenund nährt sich von den Ausdünstungen desselben, wie die Aether-Sonneund die anderen Gestirne angeblich von den Ausdünstungen der Erdeihre Energie beziehen. Die Stoiker vermuteten den Sitz der Psyche imHerzen, denn hier ist die Hauptsammelstätte des Blutes. Diogenes vonBabylon hielt die arterielle Höhlung des Herzens für den Sitz derherrschenden Vernunft.11 Hippokrates berichtet in seiner Schrift >Überdas Herz<, Ausgabe von Littré, IX, 88, der Sitz des Hegemonikons sei inder linken Herzkammer.

Die Stoiker unterscheiden acht Vermögen der Psyche: dieherrschende Vernunft (gr. hegemonikon), die fünf Sinne, dasSprachvermögen und die Zeugungskraft. Das Hegemonikon, alias dieDenk- oder Vernunftkraft, beinhaltet die gesamte Persönlichkeit.

Die Psyche wird nicht für jedes Kind neu geschaffen, sondern vonden Eltern bei der Zeugung übertragen. Der Fötus besitzt anfänglich nureine unvollkommene Psyche, ähnlich der einer Pflanze; erst nach derGeburt wird diese pflanzenähnliche Psyche durch Aufnahme von Feuer-,bzw. Aetherteilen aus der Luft allmählich zur menschlichen ergänzt.

Einige Stoiker nahmen an, dass die Psyche des Menschen nicht mitdem Körper sterben, sondern einige Zeit getrennt fortleben würde, aberwie die Gestirne nicht auf ewige Zeit. Wenn der vom Schicksalbestimmte Augenblick gekommen ist, zehrt das Urwesen, alias die feurig

11 Siehe Jahrbuch f. klass. Philologie, 1881, S. 508 ff, Artikel von Dr. Georg P.Weygoldt.

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heiße Aether-Sonne, die vier Elemente, die sie bei der Entstehung derWelt von sich ausgesondert hat, darunter auch die menschlichen Psychen,allmählich wieder auf, bis am Ende dieser Entwicklung ein allgemeinerWeltenbrand alle Dinge in den Urzustand zurückführt, in welchem dasAbgeleitete aufgehört hat und nur noch das Urfeuer - der Aether - inseiner ursprünglichen Reinheit übrig bleibt.12 Danach beginnt der ganzeSchöpfungsprozess wieder von vorne.13

Hier einige Belege über die Theorie der Stoiker bezüglich dermenschlichen Psyche:

Quelle: Tertullian, de an. 5Übers. von Wilhelm Nestle, in: >Die Nachsokratiker<, Bd. 2, S. 7:Das Wesen, nach dessen Ausscheiden ein lebendes Wesen stirbt, ist

ein Körper. Ein lebendes Wesen stirbt aber, wenn der ihm eingepflanzteHauch [gr. pneuma] ausscheidet. Also ist der eingepflanzte Hauch einKörper. Der eingepflanzte Hauch ist aber die Psyche. Also ist die Psycheein Körper.

Quelle: Chalcid., ad Tim. 220Übers. von Wilhelm Nestle, in: >Die Nachsokratiker<, Bd. 2, S.

38-39: [Ebenso Chrysippos:] Es ist gewiss, dass es ein und dieselbeSubstanz ist, durch die wir atmen und leben. Wir atmen aber durch dennatürlichen Hauch, also leben wir auch vermöge desselben Hauches. Wirleben aber durch die Psyche; also ergibt sich, dass die Psyche einnatürlicher Hauch ist.

Sie [die Psyche] hat, wie sich findet, acht Vermögen: denn siebesteht aus dem führenden Teil [dem Hegemonikon], den fünf Sinnen,dem Sprachvermögen und der Zeugungs- oder Fortpflanzungskraft.

Quelle: Galen, hipp. et Plat. plac. 3,1Übers. von Wilhelm Nestle, in: >Die Nachsokratiker<, Bd. 2, S.

40-41: Die Psyche ist ein mit uns verwachsener Lufthauch, der sich imganzen Körper ununterbrochen verbreitet, solange die normale Atmungim lebendigen Körper stattfindet. Da nun jeder ihrer Vermögen [nachstoischen Theorie insgesamt acht] für eines seiner Organe bestimmt ist,so nennen wir den Teil von ihr, der bis in die Luftröhre reicht, Stimme;den, der zu den Augen geht, Sehvermögen; den, der zum Ohr dringt,Gehör; den, der zur Nase und Zunge führt, Geruch und Geschmack; den, 12 Zeller, >Philosophie der Griechen<, III, S. 152.13 Fußnote des Hrsg.: Dass „ganz die selben Dinge und Personen“ wiederhervorgebracht werden, wie wenn ein Spielfilm von neuem abgespielt wird, das halteich allerdings für ein groteskes Missverständnis.

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der zu den gesamten Muskeln leitet, Tastsinn; und den, der zu den Hodengeht und der wieder eine zweite solche Vernunftkraft in sich birgt,Zeugungsvermögen; den Teil aber, in dem alles dies zusammenkommtund der seinen Sitz im Herzen hat, den führenden Teil [gr.hegemonikon]. Dass die Sache so steht, ist man zwar im übrigen einig,aber über den führenden Teil der Psyche herrscht Uneinigkeit, da ihnjeder an eine andere Stelle verlegt: die einen in den Brustkorb, dieanderen in den Kopf. Und gerade hier ist man wieder uneinig, indemkeineswegs Übereinstimmung darüber herrscht, wo im Kopf und wo imBrustkorb er seinen Sitz habe. Platon behauptet, die Psyche habe dreiTeile; sagt, die Denkkraft wohne im Kopf, das Gefühl im Brustkorb unddie sinnliche Begierde im Nabel. So scheint uns also sein Sitz unbekanntzu bleiben; denn wir haben von ihm weder eine deutliche Empfindung,wie dies bei den anderen Teilen der Fall ist, noch gibt es dafürMerkmale, aus denen man einen Schluss ziehen könnte. Sonst hätte auchder Gegensatz der Meinungen hierüber bei den Ärzten und Philosophenkeinen solchen Grad erreicht.

Quelle: >Zeno[n] von Cittium und seine Lehre14< von Georg P.Weygoldt: „Gott“ [alias der Aether-Logos] ist nach Zenon, wie wirschon oben sahen, identisch mit dem Prinzip der Aktualität in der Welt.Er ist eben deshalb körperlich, aber sein soma ist das reinste, d. h. es istAether (Hippolyt. Ref. Haer. I. 21). Der Aether aber ist, wie wirgleichfalls schon bemerkten, nichts anderes als der äußerste Teil desFeuers. Folglich ist die „Gottheit“, wie schon Heraklit angenommenhatte, ihrem Wesen nach eigentlich Feuer und zwar nach Stobaeos I.538, Cicero, De nat. deorum II. 22. 5715 künstlerisches Feuer (griech.: 14 Inaugural-Dissertation von Georg. P. Weygoldt, Jena 1872, vom Herausgeber gekürztund ins Neuhochdeutsche übertragen.15 Fußnote des Hrsg.: Cicero, De nat. deorum (Vom Wesen der Götter) II.22.57: „Zenongibt von der Natur folgende Definition: Die Natur ist ein künstlerisches Feuer, dasplanmäßig auf Zeugung vorwärts schreitet. Schaffen nämlich und Zeugen, meint er, seidas eigentliche Wesen der Kunst; und was bei unseren Kunstwerken die Handvollbringe, das vollbringe weit kunstreicher die Natur; das heißt, wie gesagt, daskünstlerische Feuer, der Lehrmeister aller Künste. Und insofern ist die ganze Naturkünstlerisch, als sie gleichsam einen Weg und eine Verfahrensweise hat, die sie befolgt.(58) Die Natur der Welt selbst aber, die in ihrem Bereich alles umschließt undzusammenhält, nennt derselbe Zenon nicht allein künstlerisch, sondern geradezuKünstlerin, Beraterin und Vorsorgerin alles Nützlichen und Zweckmäßigen. Und so wiedie übrigen Naturen jede aus ihrem Samen entspringen, wachsen und bestehen, so hatdie Weltnatur hingegen lauter freiwillige Bewegungen, Bestrebungen und Begierden,welche die Griechen hormai nennen, und verrichtet die diesen entsprechendenHandlungen so wie wir selbst, die wir durch den Geist und die Sinne in Bewegunggesetzt werden. Da nun der „Weltgeist“ so beschaffen ist und deshalb mit Recht

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pyr technikòn) und als solches wohl zu unterscheiden von unseremgewöhnlichen Feuer (griech.: pyr atechnòn). Die beiden Begriffe Feuerund Vernunft zusammenfassend, definiert dann Zenon (Stobaeos, 1. 60)„Gott“ [alias der Aether-Logos] auch als die feurige Vernunft der Welt[griech.: nous pyrinos]. Diese feurige Vernunft durchdringt die ganzeErscheinungswelt (Cicero, nat. deorum I. 14) und stellt sich dar alsphysis und psyche, d. h. als organisierende Kraft in den Pflanzen undTieren (Stobaeos, I. 538); auf Grund dieser letzteren Stelle scheint Zenonin Übereinstimmung mit der ganzen späteren Stoa auch die hexis, d. h.die verbindende Kraft in der unorganisierten Welt, und den nous imMenschen für Ausflüsse der „Gottheit“ gehalten zu haben (vgl. Krischea. a. O., S. 382 ff.). „Gott“ ist also der Grund alles Zusammenhaltes undalles Lebens in der Welt; er ist der logos toy pantos, der durch die ganzehyle hindurchgeht (Stobaeos, I. 322), weshalb sich auch Tertullian desBildes bediente (ad. nat. II. 4) „Zenon lasse Gott durch die Welthindurchgehen, wie Honig durch die Waben“. Weil ferner die „Seele“,die also nach dieser Weltauffassung ein Teil der „Gottheit“ ist, vonZenon auch ein warmer Hauch genannt wird (Diogenes, 157), so muss erauch „Gott“ selbst als warmen, weil ja nämlich feurigen Hauchbezeichnet haben [griech.: pneuma pyrinon]; und es erklärt sich dannhieraus, wie Tertullian (adv. Marc. I. 12) sagen konnte, Zenon sehe dieLuft als „Gottheit“ an. „Gott“ ist das die Welt erhaltende und leitendeVernunftprinzip (Cicero, nat. deorum II. 8., III. 9); er teilt seine Vernunftan den Kosmos mit und zwar eben weil er selbst vernünftig ist, ganz sowie auch durch den männlichen Samen eine Übertragung von Vernunftauf das Erzeugte notwendig stattfindet (Sext. mth. IX. 101). Ebendeshalbist „Gott“ aber auch im höchsten Grad selbstbewusst, weil derjenige,welcher seinem Wesen nach die personifizierte Vernunft ist und welcherselbstbewusste Geschöpfe hervorruft, notwendig selbst im eminentenSinn selbstbewusst und persönlich sein muss (ibid). Ist aber „Gott“ diedie ganze Welt lenkende Vernunft, so ist er auch identisch mit denNaturgesetzen oder mit dem, was Heraklit16 logos genannt hatte(Laktanz, de vera sap. 9; Cicero, nat. deorum I. 14. 36: naturalis lexdivina est), und weil ferner das durch die Naturgesetze Bestimmtenotwendig eintreffen muss und also das Schicksal nichts anderes ist als

Vorsicht oder Vorsehung genannt werden kann - griechisch heißt er pronoia – so sorgter dafür vorzüglich und ist damit besonders beschäftigt, erstens, dass die Welt aufsZweckmäßigste zur Fortdauer eingerichtet sei, sodann dass es ihr an nichts fehle,besonders aber, dass in ihr eine ausnehmende Schönheit und jegliche Pracht vorhandensei.“16 Fußnote des Hrsg.: Heraklit war unzweifelhaft der erste Stoiker in Griechenland, d. h.er war ein Anhänger der indischen Samkhya-Philosophie.

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der nach den Gesetzen der ewigen Vernunft verlaufende Gang derEreignisse, so ist „Gott“ auch identisch mit dem Schicksal; er ist fatum,necessitas, heimarmene (Stobaeos, I. 322; Diog. 149; Laktanz, d. v. sap.9; Tertull. apolog. 21), wie schon Heraklit das Schicksal als die das Alldurchwirkende Vernunft definiert hatte (Stobaeos, I. 178): „es sei eins,„Gott“ und Vernunft, Schicksal und Zeus und er werde mit noch vielenanderen Namen benannt“, z. B. als Athene, weil seine Herrschaft imAether sich ausbreite, als Hera, weil er die Luft, als Hephäst, weil er daskünstlerische Feuer beherrsche u.s.w. (Diog. 135, 147, welche beidenStellen dem Zusammenhang nach, in dem sie stehen, noch mehr aberihrer Verwandtschaft nach mit dem bis jetzt Dargelegten zweifelsohnezenonisch sind). Ganz nahe lag es dann auch, „Gott“ mit der Vorsehungzu identifizieren, welche alles weise einrichte und geordnet verlaufenlasse (Stobaeos, I. 178).

Ein angebliches stoisches Curiosum17

Ein angebliches stoisches „Curiosum“ ist die Behauptung, dassDenken, Vernunft und Weisheit etwas Körperliches, d. h. etwasMaterielles seien. Hier die betreffende Stelle in Senecas >Briefe anLucilius<:

Seneca, 117. Brief:„Die Unsrigen [die Stoiker] behaupten: Alles, was ein Gut ist,

besteht aus Materie, weil es wirkende Kraft besitzt; denn alles, was wirkt,ist Materie. Was ein Gut ist, das nützt. Es muss aber irgendetwas wirken,um zu nützen; wenn aber etwas wirkt, so ist es Materie. Die Weisheiterklären sie [die Stoiker] für ein Gut, folglich müssen sie ihr auch dasMaterielle zusprechen.“

Cicero schrieb in den >Academici libri<, XI, genau dasselbe:„Über das Wesen der Materie erklärte sich Zenon dahingehend:

‚Das [Aether]-Feuer ist dasjenige Element, durch das alles erzeugt wird,selbst das Gefühl und das Denken.‘ Er wich auch darin von allenanderen [Philosophen] ab, da er für geradezu unmöglich hielt, dass einunkörperliches Wesen, wofür Xenokrates und die früheren Philosophendie Seele erklärt hatten, etwas hervorbringen könne. Alles, was etwas

17 Entnommen aus L. Baus, >Buddhismus und Stoizismus - zwei nahverwandtePhilosophien und ihr gemeinsamer Ursprung in der Samkhya-Lehre<, III. erweiterteAuflage, Homburg 2008.

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hervorbringt oder [selbst] hervorgebracht werde, müsse notwendig einKörper [etwas Materielles] sein.“

Zenon lehrte, „dass alle Dinge existieren [aus Materie bestehen],die am Sein teilhaben“, (Stobaeus, I.138,14-139,4 und II.54,18 = SVF3,70). Dieser Lehrsatz ist mit der Samkhya-Lehre identisch: „DemSamkhya ist alles Wirkliche [alles Reale] ein stoffliches [materielles]Sein, im Gegensatz zum absoluten Geist“, so Joseph Dahlmann18.

Wir haben bereits früher gehört: für die Stoiker ist das Weltall, derKosmos, ein einziges belebtes Wesen. Durch das bildende Feuer (pyrtechnikòn) entsteht alles Leben. Wie kamen die Stoiker und vor ihnen dieindischen Samkhyin auf diese These? Des Rätsels Lösung ist eigentlichganz einfach. Sie erkannten, dass nur durch die wärmende Kraft derSonne alles Leben existiert.

Zur Verteidigung, ja zur Rehabilitation der alten Stoiker möchte ichdie Erkenntnisse unseres Computer-Zeitalters heranziehen. Ein Computersetzt sich bekanntlich aus einer sogenannten Hardware und einerSoftware zusammen. Die Hardware besteht unbestreitbar aus Materie,aus Schaltkreisen, usw. Und was ist die Software? - Sie ist einRechenprogramm, von einem Programmierer erstellt. Ein Computerdenkt nicht, sondern er rechnet, er be-rechnet. Er bekommt von uns eineRechenaufgabe gestellt und er berechnet das wahrscheinlichste Ergebnis.

Aus was besteht eigentlich unser menschliches Gehirn? - Einerseitsaus organischen Zellverbindungen, aus etwas Materiellem, demnach istes unsere Hardware. Andererseits müssen wir auch so etwas Ähnlicheswie eine Software haben, um das erreichen zu können, was wir erstreben,nämlich ein glückliches Leben. Anstatt Software können wir auch sagen,wir besitzen eine Philosophie, die uns durch Erziehung und vermittelslanger Erfahrung auf unsere Hardware fest, d. h. wohl mehrfacheingeprägt wurde. Vielleicht ist unser Denken ebenfalls eine ArtRechenprozess, ein ständiges Addieren und Subtrahieren, ein Hin- undHerüberlegen, ein Abwägen von Vor- und Nachteilen? Denken ist ohnestoffliches Sein, egal ob Schaltkreise oder organische Nervenzellen, nichtmöglich. Unser Denken ist daher kein „absoluter Geist“. Es ist abhängigvon lebenden Nervenzellen, in denen elektrischer Strom und auchchemische Botenstoffe fließen. Einen Geist, ein geistiges Wesen,Weisheit und Vernunft ohne Materie kann es daher nicht geben.

18 Quelle: Joseph Dahlmann, >Die Samkhya-Philosophie als Naturlehre undErlösungslehre - nach dem Mahabharata<, 2. Bd, Drittes Kapitel: Samkhya und Stoa,Berlin 1902.

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Somit ist auch unsere Vernunft und unser Denken materiell,nämlich eine Software, ein Philosophieprogramm. Denn „das, wovon dieMaterie gedacht wird, ist selbst Materie“, siehe unten. Ohne Materie,ohne den Zellklumpen in unserem Kopf – Gehirn genannt – und ohneeine „Software“, eine aus Erziehung, Umwelteinflüssen undLebenserfahrung selbsterschaffene „Privat-Philosophie“, können wirnicht denken und handeln.19

Ohne die richtige Software können wir nicht das erreichen, wonachwir alle streben, nämlich ein glückliches Leben. Die stoische Philosophie- die uns zu geistiger Autonomie und damit zur Freiheit führt - ist daseinzig richtige Lebens-Programm, das uns den Weg zeigt, wie wir ingrößtmöglichem Umfang glücklich sein können.

Paul Barth schrieb in >Die Stoa<, Stuttgart 1903, II. Abschnitt, 2.Kapitel:

„Es scheint einem Modernen paradox, die Theologie unter diePhysik zu rechnen. In der That aber sind in der Stoa beide identisch oderhöchstens nur verschiedene Betrachtungsweisen desselben Objektes.Denn die Gottheit wird von dem Gründer der Schule identifiziert mit demschöpferischen Prinzip, dieses aber ist ein Element, das schöpferischeFeuer, als ein Teil der Natur, so dass auch die Gottheit materiell wird.Natürlich wäre sie keine Gottheit, wenn sie nicht die höchste Fähigkeitdes Menschen, die Vernunft, im höchsten Maße verträte. Somit ist auchdie Vernunft selbst materiell; das, wovon die Materie gedacht wird, istselbst Materie ...

Dieses schöpferische Feuer [alias der Aether, alias dasNaturgesetz] herrscht über alles, was geschieht, sowohl in der belebtenwie in der unbelebten Welt; es ist also auch identisch mit dem, was derVolksglaube „Schicksal“ nennt, jener gewaltigen Macht, der nachHomer auch die Götter unterworfen sind. „Jener Gründer und Lenkerdes Weltalls hat den Schicksalsspruch geschrieben, aber er befolgt ihnauch. Immer gehorcht er, ein Mal nur hat er befohlen.“20 [...]

19 Einige Wissenschaftler sind der Überzeugung, dass es in naher Zukunft sogar Robotermit Bewusstsein geben wird. Lesen Sie dazu das hochinteressante Buch von BerndVowinkel mit Titel >Maschinen mit Bewusstsein – Wohin führt die künstlicheIntelligenz?<, Weinheim 2006.20 Fußnote von Barth: Vergl. Seneca, de providentia, K. 5. Vergl. O. Heine, Stoicorumde fato doctrina, Naumburgi 1859, S. 27. [Anmerkung des Hrsg.: Jener Gründer undLenker des Weltalls „sprach“ sozusagen den Urknall, ein grollendes Donnerwort, dannwar Gott auf ewig stumm.]

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Ohne Gleichnis, als sachliche Bezeichnung ist es gedacht, wennKleanthes und Seneca von einer stärkeren oder schwächeren Spannung21

des schöpferischen, feurigen Hauches als dem schöpferischen Vorgangsprechen. Ein Gleichnis Zenons dagegen ist es, dass „die Gottheit [d. h.der Aether] die Welt durchdringt, wie der Honig die Waben“, wasfreilich keine Durchdringung sondern nur gleichmäßige Verteilungbedeuten würde.22 Ein anderes Bild ergibt sich durch den Ursprung derWelt aus dem schöpferischen Feuer. Dieses ist dann gewissermaßen derSame, aus dem alle Dinge hervorgehen. Es wird zur „samenartigenVernunft (gr. logos spermaticos). „Und wie gewisse verhältnismäßigeTeilchen der Glieder zum Samen sich vereinigend sich mischen und,wenn die Glieder wachsen, wieder trennen, so entsteht alles aus Einemund wiederum durch Vereinigung aus allem Eines.“23

Die Aufeinanderfolge: Same – Körper – neuer Same ist vorbildlichfür die Folge: Samenartige Vernunft – Welt – samenartige Vernunft, dienach der Verbrennung im schöpferischen Feuer übrig bleibt. Da sie amAnfang wie am Ende der Welt wirkt, so ist sie das Beharrende, aus demdie Vernunft des einzelnen Wesens, des Menschen, hervorgegangen ist, indas diese wieder zurückkehrt. „Du wirst verschwinden in dem, was dicherzeugt hat. Oder vielmehr, du wirst nach dem allgemeinen Stoffwechselzurückgenommen werden in seine samenartige Vernunft.“24

Wie die menschliche Vernunft aber – abgesehen von der Fähigkeit,die höchsten Prinzipien zu denken – zugleich die durch das Denkengewonnenen, allgemeinsten und speziellsten Begriffe und Gesetze enthält,so sind solche auch in der Weltvernunft enthalten. Die Welt ist ja nachstoischer Ansicht nicht einfach, sondern von höchster Mannigfaltigkeit,so dass es kein Ding gibt, das einem anderen völlig gliche, jedesWeizenkorn z. B. von jedem anderen verschieden ist.25 Es gibt alsounzählige bestimmte Formen, die entstehen, wachsen und vergehen. Siesind die samenartige Vernunftinhalte (logoi spermaticoi), von denen inder Stoa abwechselnd mit der einen Weltvernunft die Rede ist. So heisstes von dem schöpferischen Feuer, dass es „methodisch zu denSchöpfungen der Welt schreitet, nachdem es alle samenartigenVernunftinhalte nach denen jegliches in gesetzmäßiger Notwendigkeitwird, in sich aufgenommen hat“. Diese Mehrzahl wird der Einzahl so

21 Fußnote von Barth: Vergl. Kleanthes, fragm. 24 (Pearson, S. 252) und Seneca, Nat.Quaest. II,8, wo die Spannung (lat. intentio) als spezifische Eigenschaft, dem spiritus =psyche zugeschrieben wird.22 Fußnote von Barth: Vergl. Pearson, S. 88.23 Fußnote von Barth: So Kleanthes bei Pearson, S. 252.24 Fußnote von Barth: Marc Aurel, IV, 14.25 Fußnote von Barth: Plutarch, de communibus notitiis, K. 36.

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sehr gleichgesetzt, dass Marc Aurel, von dem wir oben sahen, dass er dieeinzelne Seele in die samenartige Vernunft zurückgehen lässt, an eineranderen Stelle sie nach dem Tode in die samenartige Vernunftinhalteeingehen lässt.26 Es ist also diese Weltvernunft eine einzige große Kraft,und doch, ohne ein Chaos zu werden, in unendlich viele Einzelkräftegeteilt. Es spiegelt sich darin die erkenntnistheoretische Tatsache, dassdas Einheitsstreben der Vernunft uns treibt, die Mannigfaltigkeit aufeinige wenige, zuletzt nur auf ein Prinzip zurückzuführen, damit aber nurdie Hälfte der Erkenntnis erreicht ist, die andere Hälfte darin besteht,aus der Einheit die Vielheit als logisch notwendig abzuleiten.

Es gibt nur eine Vernunft, eine Wahrheit, eine Logik.“

Wenn wir von der begründeten Annahme ausgehen, dass dieStoiker Materialisten waren, so wird die Sache plausibel: Wenn Gott,alias der Aether-Logos, identisch ist mit dem Naturgesetz, dann gehört erlogischerweise in die Naturlehre, in die Physik.

Neben dem Logos, der Vernunftkraft des Aethers, erscheint nochein zweiter Begriff für die Weltvernunft in der stoischen Physiktheorie:das Pneuma. Wie das aetherische Feuer, alias der Logos, die ganzeMaterie durchdringt, so durchdringt das Pneuma, ein warmer belebenderVernunft-Hauch, die Lebewesen. Das Urfeuer, der Aether, ist zugleichVernunftkraft, der Logos zugleich Pneuma. Offensichtlich wurde mit„logos“ die Vernunftkraft der Materie benannt, mit „pneuma“(verdichteter Atem) die Vernunftkraft der Lebewesen.

Dazu lesen wir bei Max Heinze, >Die Lehre vom Logos in dergriechischen Philosophie<, Oldenburg 1872, folgendes (ab Seite 94):

„Auch die Veränderungen in den geformten Dingen müssen durchVeränderungen der Pneumata hervorgebracht werden. So entsteht derSchlaf, wenn die Spannung des Wahrnehmens in dem herrschendenTheile der Seele nachlässt; und die Affecte treten ein, wenn dieLuftströmungen, welche die Seele des Menschen ausmachen, wechseln.(Vgl. Diogenes, VII, 158.) Dies Pneuma, woraus die Seele besteht, istübrigens nicht das gewöhnliche, welches in der ganzen Natur bildendesund erhaltendes Prinzip ist, sondern es ist dünner und feiner, wie wir vonChrysippos selbst erfahren. (Vgl. Plutarch, Stoic. rep. 41. 1052.) [...]Kornutus sagt geradezu, dass unsere Seelen Feuer seien. (Vgl. Diogenes,

26 Fußnote von Barth: Vergl. M. Heinze, >Die Lehre vom Logos in der griechischenPhilosophie<, Oldenburg 1872. A. Aall, >Geschichte der Logosidee in der griechischenPhilosophie<, I, Leipzig 1896, S. 110, hat mich nicht überzeugen können, dass schondie alte Stoa jene Prinzipien immateriell gedacht habe.

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VII, 157.) Damit ist aber keineswegs gemeint, dass dieses ein von demPneuma, was sonst das Wesen der Dinge ausmacht, verschiedener Stoffsei.[...]

Alles was lebt, lebt in Folge der von ihm eingeschlossenen Wärme;und so hat dieser Wärmestoff eine Lebenskraft in sich, die sich durch dieganze Welt erstreckt, da ja die Welt ein lebendiges Wesen ist. Auch inden sogenannten unorganischen Stoffen sieht man deutlich die Wärme:Wenn Steine an einander geschlagen werden, sprüht Feuer heraus, dasWasser gefriert erst nach Verlust der Wärme, also muss es vonvornherein diesen Stoff in sich haben. Dasselbe wird von der kalten Luftnachzuweisen versucht (vgl. Cicero, natura deorum II, 9, 24).

Der Pneuma-Begriff der Stoiker hat wiederum ein Analogon in derSamkhya-Lehre. Auch hier wird in fast gleicher Bedeutung von einemHauch = Âtman gesprochen. Hellmuth Kiowsky schreibt in seinem Buch>Evolution und Erlösung - Das indische Samkhya<, Frankfurt 2005, abSeite 24: „Doch die Verbindung zwischen dem Wort Brahman undseinem ursprünglichen Sinn hat sich gelockert. Ein neuer Begriffverbindet sich mit dem Brahman - der Âtman. Seine Grundbedeutung istAtem und wird auch mit Wind, vâta, erwähnt, denn der Wind ist der Atemder Götter. Er unterscheidet sich vom Lebensgeist, Prâna, welcherAusdruck sich mehr dem Körperlichen zuneigt als eingeatmete Luft,Energie, Kraft; im Samkhya als Seele wiedergegeben [...] Der Âtmanwird auch für das Selbst eingesetzt. Wie im Körper der Atem lebt, so istes nicht anders als Prâna-Âtma in der Natur. [...] Der Âtman wohnt inden Dingen, so wird erläutert, wie das Salz im Meer.“

Zenon gebrauchte eine ähnliche Metapher: Der Logos durchdringtdie ganze Materie, „wie der Honig die Waben“. Die Stoiker übersetztendas indische Wort „Âtman“ mit „Pneuma“.

Die materialistische Vorsehung der Stoiker

Die Vorsehung oder das Verhängnis (gr. heimarmene) ist nur einesynonym gedachte Bezeichnung der Stoiker für Naturverlauf. Der Gangder Natur ist durch die Naturgesetze vorherbestimmt, d. h. berechenbar,daher auch von uns Menschen teilweise vorhersehbar. Das ist diematerialistische „Vorsehung“ der Stoiker.

Der Logos, die Urvernunft, auch als das „Urwesen“ bezeichnet, istdas aktive, erschaffende Prinzip. Er ist der „logos spermatikos“, der denVerlauf der Natur hier auf Erden wie in den Weiten des Weltalls lenkt. Er

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ist das über allem stehende Schicksal. Die stoische Vorsehung ist dahernichts anderes als der natürliche Verlauf, das physikalische Naturgesetz,das bereits seit Milliarden von Jahren besteht und alles Geschehenbeeinflusst.

Dies wurde von Chrysippos leicht verständlich dargestellt. Unterder Kapitelüberschrift >Wie Chrysippos zwar die Macht undUnvermeidlichkeit des Schicksals anerkennt, jedoch aber auch bekräftigt,dass uns eine freie Wahl in allen unseren Entscheidungen und Urteilenverbleibt<, hat uns Aulus Gellius in seinem Werk >Die attischenNächte<, VII. Buch, 2. Kap., die einzig richtige und wahre Definition desstoischen Schicksalbegriffs überliefert:27

Von der Bezeichnung „fatum“ [gr. heimarmene], das die Griechen„Bestimmung“ oder „Verhängnis“ nennen, gibt das Schulhaupt derStoa, Chrysippos, eine Erklärung in folgendem Sinne ab: „DasSchicksal“, schreibt er, „ist eine ewige und unveränderliche Reihenfolgeeintretender Umstände und eine Ringkette, fortwährend begriffen imUmsichselbstrollen und in schmiegsamer Verschlingung durch einununterbrochenes, ineinandergreifendes Gliedergefüge, dessen Endendurch enge Verbindung und festen Anschluß in steter Wechselwirkungbleiben.“ So weit ich [Aulus Gellius] mich erinnere, schreibe ichChrysippos’ eigene Worte in Griechisch gleich mit her, damit, wenneinem Leser diese meine Übersetzung etwas unklar sein sollte, er dieWorte des Philosophen gleich selbst vor Augen hat.

Im vierten Buche seiner Schrift >Über die Vorsehung< gibt er überden Schicksalsbegriff folgende Definition: „Schicksal ist die in derunabänderlichen Natur begründete Notwendigkeit.“ Oder: „Schicksal isteine geordnete, aus den Gesetzen des Weltalls entspringende Reihenfolgealler von Ewigkeit an untereinander zusammenhängender Vorgänge undihre ständige und unabänderliche Selbstverkettung.“

Gegen diese Definition haben die Anhänger andererPhilosophenschulen allerhand Einwendungen laut werden lassen. Sohört man sagen: „Wenn Chrysippos behauptet, alles werde durch einunabänderliches Schicksal bewegt und gelenkt und es sei unmöglich, dieSchläge und Winkelzüge des Schicksals abzuwenden und zu umgehen, sowerden auch die Sünden und Laster der Menschen ihrenWillensantrieben weder zum Vorwurf gemacht, noch gar angerechnetwerden können, sondern immer nur der aus dem Verhängnisentspringenden Unvermeidlichkeit und harten Notwendigkeit, die überalles gebietet und alles vertreten muss, auf deren Machteinfluss hin allesgeschehen muss, was geschehen soll. Deshalb sei auch die Einführung

27 Übersetzt von Fritz Weiss, Leipzig 1875.

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von Strafen für Übeltäter den Gesetzen nach durchaus nichtgerechtfertigt und billig, wenn die Menschen nicht aus eigenem freienWillen dem Verbrechen anheimfallen, sondern von der starken Hand desSchicksals unaufhaltsam hingerissen werden.“

Über diesen Einwurf hat sich Chrysippos mit großer Klarheit undScharfsinnigkeit geäußert. Seine Argumente laufen kurzgefasst auffolgende Gedanken hinaus:

„Mag nun alles einem unvermeidbaren Naturgesetz unterworfenund deshalb mit einer Vorherbestimmung des Schicksals eng verknüpftsein, so sind doch die Charaktereigentümlichkeiten unseres Geistes selbstje nach ihrer Individualität und Beschaffenheit dem Schicksalunterworfen. Denn wenn die Charaktereigenschaften ihrem Wesen undihrem Beschaffensein nach von vornherein zum Heil und Nutzen angelegtsind, werden sie damit jenen ganz gewaltigen Einfluss, der ihnen vonaußen her wie ein schweres Unwetter seitens des Schicksals droht, ohnegroßen Widerstand und mit wenig Anstrengung zu überstehen und zuvermeiden wissen. Sind dagegen diese Charaktereigenschaften ungefüge,plump und roh, ferner auf keine Hilfe eines Bildungsmittels gestützt, sowerden solche Menschen durch ihre Unwissenheit und durch eigenenAntrieb sich beständig in Laster und Selbsttäuschung stürzen, selbstwenn sie sich nur von einer kleinen und unbedeutenden Not oder einervom Zufall über sie verhängten Unbequemlichkeit bedrängt fühlen. Dassdiese Vorgänge selbst auf solche Weise sich vollziehen müssen, wirdverursacht durch jenes beständige Ineinandergreifen und durch jeneunabänderliche Verkettung aller Dinge, was man eben unter dem Begriff„Schicksal“ versteht. Es ist nämlich im Allgemeinen eineUrnotwendigkeit und Folgerichtigkeit, dass Menschen mit gleichsam‚angeborenen‘ bösen Neigungen dem Laster und dem Irrtum verfallenmüssen.“

Zum Beweise dieser seiner Behauptung bedient er sich eineswahrlich ganz aus dem Leben gegriffenen, passenden und rechtgeistvollen Gleichnisses und sagt: „Wenn man z. B. einen runden Steinüber eine schräge und abschüssige Bahn stößt, so wird man zwar dieerste Ursache seines Herabrollens gewesen sein; bald rollt der Steinjedoch von selbst weiter, nun nicht allein mehr aufgrund des Anstoßes,sondern wegen seiner Eigenart [wegen seiner Schwere =Gravitationskraft] und eigentümlichen runden Form. Ebenso gilt dieAnordnung, das Gesetz und die Notwendigkeit des Schicksals imallgemeinen und von vorn herein als die Ursache der Bewegung. Dochden weiteren Verlauf unserer eigenen Beschlüsse, Gesinnungen undHandlungen bedingt und entscheidet erst eines jeden Menschen eigenerWille und seine angeborenen [richtig: anerzogenen] Fähigkeiten.“

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Hierzu fügt er noch folgenden, mit dem von mir Gesagten ganzübereinstimmenden Satz hinzu: „Wirst leiden sehen die Menschen anselbstverschuldeten Übel.“

Die meisten Menschen stürzen in ihr Verderben durch sich selbst.Durch ihre Begierden fehlen sie, fallen ins Verderben aus eigener Wahlund aus Vorsätzlichkeit. „Deshalb“, sagt Chrysippos, „dürfe man auchdie Entschuldigungen feiger Schelme oder frecher Übeltäter nicht geltenlassen, die, selbst wenn sie ihrer Schuld oder ihres Verbrechens schonvöllig überführt sind, immer noch Ausflüchte machen und ihre Zufluchtsuchen in der angeblichen Unabänderlichkeit des Schicksals, wie zueiner heiligen Zufluchtsstätte eines Tempels. Sie bringen ihreethischschlechten Handlungen nicht ihrer eigenen Unbesonnenheit inAnrechnung, sondern dem Schicksal.“

Cicero, >Über die Wahrsagung<, I.125-126:Dass alles durch das Fatum oder Schicksal geschieht, das zwingt

uns die Vernunft einzugestehen. Fatum aber nenne ich, was die Griechenheimarmene nennen: das ist die Ordnung und Abfolge von Ursachen,indem eine Ursache an die andere anknüpft und alles aus sich erzeugt.Das ist die von aller Ewigkeit her fließende unvergängliche Wahrheit.Daher ist nichts geschehen, was nicht geschehen musste; und auf dieselbe Weise wird nichts geschehen, wovon nicht in der Natur dieUrsachen, die jenes bewirkten, enthalten wären. [126] Hieraus siehtman, dass das Schicksal nicht das ist, was nach der Art desAberglaubens, sondern das, was nach Art der Physiker [derRationalisten] so benannt wird: die ewige Ursache der Dinge, warumsowohl das Vergangene geschehen ist, als auch das geschieht, wasbevorsteht, und was nachfolgend geschehen wird. So ist es möglich, dassdurch Beobachtung bemerkt werden kann, was meistens, wenn auch nichtimmer, die Folge einer jeden Ursache ist.

Plutarch schrieb in seinem Buch >Physikalische Lehrsätze derPhilosophen<:28

XXVIII. Frage: Vom Begriff des FatumsHeraklit erklärt den Begriff des Fatums [Schicksals] als die das

Wesen des Weltalls durchdringende Vernunft; dieses Wesen aber ist deraetherische Körper, der Same zur Entstehung des Alls.

Platon [erklärt den Begriff des Fatums] als den ewigen Begriff unddas ewige Gesetz der Natur des Weltalls.

28 Plutarchs Werke, 45. Band, übersetzt von E. Fr. Schnitzer, Stuttgart 1860.

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Chrysipp als die hauchende Kraft, die das All nach einem festenVerhältnis ordnet. Dann sagt er in den Definitionen: Das Fatum[Schicksal] ist der Begriff der Welt oder das Weltgesetz, nach welchemalles durch die Vorherbestimmung geordnet ist, oder die Vernunft,vermöge welcher das Gewordene geworden ist, das Werdende wird unddas Künftige geschehen wird.

Die übrigen Stoiker erklären das Schicksal als Verkettung derUrsachen, d. h. als Ordnung und unüberschreitbaren Zusammenhangderselben.

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Die materialistische Ethik der Stoiker

Im Grunde sind es drei Hauptsätze, auf denen sich die ganze Ethikder Stoa aufbaut und aus denen sie sich mit innerer Notwendigkeit in alleEinzelheiten hinein entwickeln lässt:

1. Jedes gesunde Lebewesen, also auch der Mensch, strebt stetsnach dem, was ihm nützlich und zuträglich ist.

2. Das wahre Wesen des Menschen besteht in der Vernunft, durchdie er mit dem Aether-Logos, alias dem Naturgesetz, verwandt ist. Somitfindet der Mensch, wenn er sein Streben ausschließlich auf dasVernünftige, das Rationale richtet, das allein absolut wertvoll und frei ist,das wahre, unfehlbare Lebens-Glück.

3. Die Psyche und die Vernunft des Menschen ist nicht von Geburtan fertig entwickelt, sondern kann nur durch systematische Ausbildungzur vollen Höhe ihrer Kraft gelangen.

Das Prinzip des Eudämonismus, im ersten Satz ausgesprochen, istdie einzig richtige Begründung des ethischen Handelns. Es gibt in der Tatkeine andere Anschauung, durch die dem Menschen das ethischguteHandeln wirklich einleuchtend und zur zweiten Natur gemacht werdenkann, als die, dass es einzig und allein seinem wahren Vorteil und seinemeigenen Glück dient.

Alles ethischgute Handeln ist im Grunde nichts anderes als richtigverstandene Selbsterhaltung. Alles Ethischschlechte ist gleichsamSelbstzerstörung. Dieser Satz ist von Beginn an von der Stoa mit allerKlarheit aufgestellt und konsequent durchgeführt worden.

Durch den Eudämonismus wird die ethische Aufgabe und Leistungkeineswegs auf ein niedrigeres Niveau herabgedrückt; denn es ist zuunterscheiden zwischen dem niederen und höheren Eudämonismus.

Die Stoa vertritt selbstverständlich den Eudämonismus in jenemhöheren Sinn, und zwar in der entschiedensten, ja schroffsten Weise,denn sein Endämonismus ist zugleich vollendeter Idealismus. Nur dasVernünftige hat absoluten Wert (siehe Zeller, >Geschichte derPhilosophie<, S. 29), im gesamten Kosmos wie beim einzelnenMenschen, der aus Körper und Geist zusammengesetzt ist.

Die Urmaterie, alias der Aether-Logos, ist das absolut Gute. Nunbesitzt die Urmaterie, alias das Naturgesetz, anscheinend Vernunft.Folglich ist auch beim Menschen nur das Vernünftige ein wahres Gut,ein Selbstzweck. Daneben finden sich auch Ansätze zu einerpsychologischen Begründung, wenn die Stoa behauptet, jeder gesundeMensch verlange im Grund seines Herzens nach geistigerUnabhängigkeit und innerer Freiheit.

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Ist das Vernünftige von absolutem Wert, so kann es von gar nichtsanderem abhängig sein und durch nichts, was sich außerhalb von ihmbefindet, irgend eine Hemmung, Störung oder Beeinträchtigung erleiden.Die Psyche ist frei, das Gute und das Freie ist identisch, absolute Freiheitund Glück ist eins und dasselbe. Die stoische Philosophie ist einePhilosophie der Freiheit: Sie schwelgt förmlich in dem Gedanken derSelbstherrlichkeit der Vernunft und des vernünftigen Willens.

Die Freiheit erhalten wir nur dadurch, dass der Mensch sein Glückausschließlich in der geistigen Seite seines Wesens, in der freienSelbstbestimmung, in der geistig-ethischen Selbstbehauptung erkenntund sucht. Zu diesem Zweck muss er sein Herz völlig losreißen vonallem Äußeren und Unfreien, darf seine Wünsche und Begierden nie aufetwas richten, was ausserhalb der Machtsphäre der Vernunft und desfreien Willens liegt.

Mit der Ausrottung der Begierden - z. B. dem leidenschaftlichenBegehren von materiellen Gütern - verschwindet dann von selbst allerGrund zur Furcht und Trauer gegenüber den sogenannten Übel desDaseins. Da sie nur den Körper, also die unfreie, äußere Seite von unsMenschen treffen, so können sie kein wirkliches Übel sein, folglich dasGlück des geistig Freien in keiner Weise beeinträchtigen. Aber, möchtejemand einwenden, bedeutet eben das nicht doch eine gewisse Unfreiheitund Unvollkommenheit des menschlichen Geistes, dass es überhaupt einGebiet gibt, über welches er keine Macht hat, dass es ihm nicht möglichist, auch das äußere Naturgeschehen nach seinem Sinn und Willen zulenken und zu gestalten?

Jedoch in Wahrheit hat der menschliche Geist auch Macht über dieMaterie: Nämlich erstens dadurch, dass er ihre relative Selbständigkeitals einen notwendigen Faktor der Weltordnung erkennt und eben durchdiese Anerkennung sie sich innerlich unterordnet; denn stets ist derErkennende der Herr des Erkannten (siehe Epiktet, >Diatriben<, I, 1).Zweitens aber - und dies ist die Hauptsache - beweist der freie Geistseine Macht über die Materie dadurch, dass er sie zum Stoff und Mitteldes vernünftigen Handelns und Verhaltens macht und dadurchgewissermaßen in die Sphäre des Geistigen erhebt, indem er nämlicheinerseits in der umsichtigen Wahl des Naturgemäßen, in dergewissenhaften Respektierung der in den äußeren Dingen liegendenrelativen Werte seine vernünftige und freie Übereinstimmung mit derNaturordnung bekundet, andererseits das Übel, das er nicht vermeidenkann, zu einem Mittel der rationalen Übung und Betätigung gestaltet. Indiesem Sinne übt der Mensch eine volle Herrschaft über die Materie aus,insofern er auch ihr sowohl seine verständige Schätzung des relativWertvollen und damit seine Treue und Sorgfalt im Kleinen und Fremden,

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wie auch seine innere Erhebung über alles nicht absolut Wertvolle und inbeidem seine innere Einigung mit dem Aether-Logos, alias demNaturgesetz, und dem Weltall erweist. Wie kurz und treffend weißEpiktet diese Gedanken zu formulieren, wenn er sagt: „Von allem wasgeschieht, kannst du Nutzen ziehen: die Vernunft ist der Hermesstab[Zauberstab], der alle Übel in ein Glücks-Gut verwandelt“ (Epiktet,>Diatriben<, III, 20). Dieser vollendete Optimismus gehört zu demSchönsten und Anmutendsten in den Epiktetischen Werken; er hatunstreitig etwas psychisch Stärkendes.

Aus dem Satz, dass das Vernünftige allein einen wahren undunbedingten Wert hat, folgt ferner von selbst die von Epiktet sonachdrücklich verfochtene Wahrheit, dass die Tugend ihren Lohn ganz insich selbst trägt und ebenso das Schlechte seine Strafe: Denn ein größeresGlücks-Gut als die geistige Freiheit gibt es nicht; und es liegt im Wesendieses Gutes, dass es durch alle äußeren Güter nicht den geringstenZuwachs erhalten kann. Fast spöttisch fragt deshalb Epiktet, wenn erseinen Zuhörern den herrlichen Lohn der Tugend auseinandergesetzt hat:„Dünkt euch das wenig oder nichts zu sein?“

Andererseits lässt sieh auch kein größeres Übel denken als derVerlust des einzig wahren Gutes: Somit sind die Schlechten ebendadurch, dass sie dieses verscherzen, genug gestraft, womit jedochnatürlich die im Interesse der Gesamtheit erfolgende gesetzlicheBestrafung der Übertretungen keineswegs als ungerecht oder entbehrlichbezeichnet werden soll. Auch der Gedanke, dass der Wert einermoralischen Handlung lediglich in der Gesinnung liegt und dass deshalbder ernsthafte Wille zur Tat genügt, wo diese durch äußere Umständeverhindert wird, sowie der andere, dass das wahre Glück auch nicht vonder Zeitdauer des irdischen Lebens oder von der Hoffnung einerpersönlichen Unsterblichkeit abhängt, sondern jederzeit in sich selbstvollkommen ist, folgt aus jenem obersten Grundsatz der absolutenFreiheit und Selbstgenügsamkeit des Geistes.

Aus demselben lässt sich aber auch ungezwungen die Pflicht derMenschenliebe ableiten, wenigstens im passiven Sinn, d. h. sofern sie dieEnthaltung von aller Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit in sich schließt.Denn wo man nur das Vernünftige schätzt und erstrebt, alle äußerenGüter aber gering achtet, da fällt jegliches Motiv zur Feindseligkeitgegen den Nächsten, zu Bosheit, Neid, Zorn, Rachsucht u. dergl. weg,abgesehen davon, dass diese Affekte die geistige Freiheit stören, also umdes eigenen Vorteils willen vermieden werden müssen. Die Pflicht derSanftmut, Nachsicht und Versöhnlichkeit folgt von selbst aus demGrundsatz, dass der Mensch durch einen andern überhaupt nichtgeschädigt werden kann (Epiktet, >Diatriben<, I, 9, 34).

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Die stoische Maxime lautet: ein Leben in Übereinstimmung mit derNatur. Der Sinn und damit das Ziel [gr. telos] des Lebens liegt nicht imgrößtmöglichen Erwerb und Besitz von materiellen Dingen, Macht oderAnsehen, sondern in einer ausgeglichenen Psyche (lat. tranquilitatisanimi, gr. ataraxia). Der Weg zu einem glücklichen Leben ist nach denSamkhya-Philosophen und den Stoikern eine rein geistige Angelegenheit,keine materielle. Ein Beispiel: Es genügt nicht, über einen großenmateriellen Besitz zu verfügen oder über ein großes Fachwissen. DasHöchste und Wichtigste ist die geistige Einstellung, die richtige Lebens-Philosophie. Ohne sie bringt der materielle Besitz kein Glück, ohne sieist alles Wissen nichts.

Die stoische Philosophie möchte das Wissen und die Erkenntnisvermitteln, dass zu einem größtmöglichen glücklichen Leben vor allemdie größtmögliche Vernunft erforderlich ist.

Das Ziel des Philosophierens ist das glückliche Leben. Glücklichkann ein Mensch nur werden, wenn er seiner menschlichen Natur undseiner Vernunft gemäß lebt. Der Vernünftige unterwirft sich dem Logos,d. h. dem Naturgesetz, in freier Willensentscheidung. So vereint sich -ohne in Widerspruch mit der Physiktheorie zu geraten - die Freiheit desethischen Handelns mit dem Naturgesetz.

Ein eigentliches Übel gibt es nicht in der Welt, denn alles ist einAusfluss der Natur, bzw. der Naturgesetze. Und was die Natur will, kannunmöglich verwerflich sein. Was im einzelnen weniger gut erscheint,trägt oft zum Wohle der Allgemeinheit und folglich auch zu unserem bei.Das einzige Übel ist das Ethischschlechte, das einzige Glücks-Gut ist dasEthischgute.

Worin besteht ein glückliches Leben? - Die stoische Antwortlautet: Mit sich selbst, d. h. mit der menschlichen Natur und mit denallgemeinen Naturgesetzen in Übereinstimmung zu leben. Diesesnaturgemäße Leben ist ein Leben gemäß der Vernunft. Und einvernunftgemäßes Leben ist zugleich ein tugendhaftes. Das ganzeLebensglück besteht daher in der Vernunft, alias Tugend. Die Vernunfthat es nicht nötig, ihren Lohn außerhalb zu suchen; sie trägt ihn in sichselbst, ihr Besitz ist unmittelbar beglückend. Vernunft, Tugend undGlück sind daher synomyme Begriffe.

Die Zweiteilung aller Dinge des Lebens (gr. dihairesis) ist einweiteres Charakteristikum der stoischen Ethik (Pohlenz, >Die Stoa<, S.330), seit Zenon von Kition. Um ein glückliches Leben führen zukönnen, muss ich ständig die grundlegende Vorentscheidung (gr.prohairesis) treffen über den Wert oder Unwert einer Sache, denn es gibtnach stoischer Überzeugung nur ein Glücks-Gut, das Ethischgute, undnur ein Übel, das Ethischschlechte. Wer über dieses Wissen oder über

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diese „unterscheidende Erkenntnis“ verfügt, besitzt geistige Autonomieund innere Freiheit.

Ebenso unterteilen die Stoiker alles Seiende in zwei polareGegensätze. Die ‚Dihairesis des Seienden‘ lautet (Hobert, >StoischePhilosophie<, S. 136), siehe Epiktets >Handbüchlein der stoischenPhilosophie<:

1.1: Der wichtigste Unterschied der Dinge ist der, dass die einen inunserer Macht stehen, die anderen nicht. In unserer Macht stehen: Urteil,Trieb, Zuneigung, Abneigung. Kurz: Alles, was unser eigener Wille undunser eigenes Handeln beinhaltet. Nicht in unserer Macht stehen: Körper,Besitz, Ansehen, Beruf. Kurz: Alles, was nicht unser eigener Wille undunser eigenes Handeln beinhaltet.

1.2: Diejenigen Dinge, die in unserer Macht stehen, sind von Naturfrei. Sie können nicht verhindert, noch in Fesseln geschlagen werden. DieDinge aber, die nicht in unserer Macht stehen, sind meist von anderenMenschen abhängig und können verhindert werden.

Die Stoiker unterteilen sämtliche Dinge des Lebens in gute,schlechte und gleichgültige. Nur das Ethischgute ist ein Glücks-Gut, allesandere ist entweder Nebensache (gr. adiaphoron) oder Ethischschlecht, d.h. ein Übel.

Gleichgültige Dinge (gr. adiaphora) sind: Armut oder Reichtum,Krankheit oder Gesundheit, Leben oder Tod, Ruhm oder Ruhmlosigkeit,Schmerz oder Lust, und das ihnen Ähnliche. Die gleichgültigen Dingebefinden sich außerhalb der ethischen Normen von gut oder schlecht undbetreffen nur die animalische Natur des Menschen.

Von den gleichgültigen Dingen fördern einige die physische Naturdes Menschen. Diese nennt Zenon von Kition ‚bevorzugte‘ Dinge (gr.proêgmena). Konträr zu diesen Dingen stehen solche, die der physischenNatur des Menschen abträglich sind. Diese nennt Zenon ‚zurückgestellt‘oder ‚abgewiesen‘ (gr. apoproêgmena).

Ein schlechter Mensch ist grundsätzlich zuerst deswegen schlecht,weil er unwissend ist. Nur der Weise besitzt die richtige Kenntnis überdie naturgesetzliche Ordnung der Welt. Daher ist er allein in der Lage,sein Leben in höchstmöglicher, d.h. menschlich erreichbarerTugendhaftigkeit zu führen.

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Abhandlungen zur stoischen Ethik

Die Ethik wurde von den Stoikern in mehrere Themenbereicheaufgeteilt. Wieviele es genau waren, ist heute nicht mehr mit Sicherheitzu bestimmen. Diogenes Laertius nennt insgesamt neun Themen, wobeizu dem neunten m.E. keine überlieferte Abhandlung zuzuordnen ist:

I. Über den ersten Trieb (oder: Über die erste Zueignung)II. Über die Glücks-Güter und ÜbelIII. Über die Gemütserregungen (oder: Über die Affekte)IV. Über die TugendenV. Über das höchste Glücks-Gut (oder: Über das Endziel)VI. Über den ersten Wert (oder Über die erste Einschätzung)VII. Über die angemessenen Handlungen

(früher fälschlich übersetzt mit: Über die Pflichten)VIII. Über die vollkommenen HandlungenIX. Über das Empfohlene und das Abgeratene

I. >Über den ersten Trieb<oder >Über die erste Zueignung<

Diogenes Laertius, VII, 85:Der erste Trieb eines lebenden Wesens, sagen die Stoiker, ist der

der Selbsterhaltung. Darauf führe jedes Lebewesen gleich seine eigeneNatur, drückt sich Chrysippos im ersten Buch >Vom Endziel< aus.„Einem jeden lebenden Wesen“, sagt Chrysippos, „ist sein Bestehen unddas Bewusstsein seines Lebens eigen. Denn es ist nicht wahrscheinlich,dass ein [gesundes] Wesen gegen sich selbst feindlich gesinnt ist. Esbleibt also nur übrig zu sagen, dass die Natur es mit sich selbstbefreundet hat. Denn auf diese Art weicht es dem Schädlichen aus undnähert sich dem, was ihm nützlich ist. Wenn aber einige Philosophensagen, der erste Trieb der lebenden Wesen liefe auf das Vergnügenhinaus, so geben sie etwas Falsches an.“

Marcus T. Cicero, >Über das höchste Glücks-Gut und größteÜbel<, III. Buch, 16 - 18:

[Marcus Cato begann:] „Die Stoiker, zu deren Schule ich michbekenne, haben folgende Lehre: Jedes lebende Wesen wird gleich nachseiner Geburt - denn von hier muss ich ausgehen - mit sich selbstbefreundet und sich selbst geneigt gemacht zu seiner Selbsterhaltung undall der Dinge, die zur Bewahrung dieses Zustandes dienlich sind.Hingegen fühlt es eine Abneigung gegen seinen Untergang und dieDinge, die seinen Untergang herbeiführen können. Dass sich dies so

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verhält, beweisen die Stoiker dadurch, dass kleine Kinder, bevor sie dieLust oder der Schmerz berührt, das Heilsame erstreben und dasEntgegengesetzte verschmähen, was nicht der Fall sein würde, wenn sienicht ihren natürlichen Zustand liebten und ihren Untergang fürchteten.Nun aber wäre es nicht möglich, dass sie etwas erstrebten, wenn sie nichtein Gefühl von sich selbst hätten und sich deshalb liebten. Man muss alsohieraus erkennen, dass der Grundtrieb in uns die Selbstliebe ist.

II. >Über die Glücks-Güter und Übel<Diogenes Laertius, VII, 94 - 105:(94) Ein Glücks-Gut ist, allgemein genommen, was nützlich ist;

oder was dem Ethischguten nicht entgegen steht.Auf andere Art definieren die Stoiker aber auch das Glücks-Gut so:

„Das Vollkommene der vernünftigen oder gleichsam vernünftigen Natur.So ist die Tugend [das Ethischgute] beschaffen, so ist derjenige, der Teilan ihr hat; so sind die Handlungen nach der Tugend [nach demEthischguten], so die Ethischguten. Ihre Erzeugungen sind Freude undHeiterkeit und was diesen ähnlich ist.“

(95) Eben so sei auch bei den Lastern die Unvernunft zu ersehen inUnklugheit, Feigheit, Ungerechtigkeit und was diesen gleicht: lasterhafteHandlungen. Die sie begehen, sind lasterhafte Personen, bei welchen sichUnmut, Schwermütigkeit und was diesen gleicht, sich zeigen.

Von den Glücks-Gütern sind ferner einige Güter der Psyche, anderesind äußere Güter, noch andere sind keines von beiden. Die Glücks-Güterder Psyche und die ihnen gemäßen Handlungen sind Tugenden. Zu denäußeren Gütern gehören zum Beispiel: ein ehrenhaftes Vaterland, einenrechtschaffenen Freund und das damit verbundene Glück zu besitzen. Zuden Glücks-Gütern, die weder äußere noch Güter der Psyche sind, gehört,für sich selbst ethischgut und glücklich zu sein.

(96) Ebenso gibt es auch Übel der Psyche, wie die Übel selbst unddie ihnen gemäßen Handlungen; äußere Übel sind, ein unehrenhaftesVaterland und unverständige Freunde zu haben und das Unglück, dasdamit verbunden ist. Ein Übel, das weder ein äußeres noch eines derPsyche ist, wäre, für sich selbst ethischschlecht und unglücklich zu sein.

Einige Glücks-Güter enthalten das Glücks-Gut in sich [d. h. in derTugend]; andere bewirken es; eine dritte Art tut beides zugleich. So sindein Freund und die Vorteile, die er verschafft, bewirkende Glücks-Güter.Zuversicht aber, hoher Sinn, Freiheit, Heiterkeit und Fröhlichkeit undalle tugendgemäße Handlungen sind solche Güter, die das höchsteGlücks-Gut in sich enthalten.

Auf gleiche Weise sind die Übel teils solche, die zum höchstenÜbel gehören, teils solche, die dasselbe bewirken, teils auch findet beidesbei ihnen statt. Ein Feind zum Beispiel und die von ihm entstehenden

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Nachteile, sind bewirkende Übel. Stumpfsinn aber, Kleinmütigkeit,Knechtschaft und Mißvergnügen, Schwermütigkeit und Traurigkeit undjede böse Handlung sind solche Übel, die mit zum höchsten Übelgehören. Diese - wobei beides zugleich stattfindet - sind zum einenbewirkende Übel, als sie zum höchsten Übel hinführen, und zum anderenzum höchsten Übel gehörende, da sie solches vollständig machen undTeile davon sind.

III. >Über die Gemütserregungen<Diogenes Laertius, VII, 110 - 116:(110) Die Stoiker behaupten, dass aus dem Irrigen die

Geistesverkehrtheiten entstehen, aus denen wiederum vieleGemütserregungen - Leidenschaften oder Affekte - erwachsen. NachZenon ist die Gemütserregung eine unvernünftige und naturwidrigeBewegung der Psyche, oder eine übermäßige Begierde. Von denschlimmsten Gemütserregungen gibt es vier Arten, wie Hekaton imzweiten Buch >Über die Gemütserregungen< und Zenon in seinemgleichnamigen Buch sagt: Traurigkeit, Furcht, Begierde und Lust.

Die Stoiker sind auch der Meinung, dass die Gemütserregungenfalsche Überzeugungen seien, wie Chrysipp im Buch >Über dieGemütserregungen< schreibt. Denn Geldgier ist die Vermutung, dass dasGeld ein Glücks-Gut sei; ebenso die Völlerei, die Unmäßigkeit undandere Begierden. Die Traurigkeit nennen die Stoiker eine unvernünftigeRegung der Psyche; dazu zählen sie auch übertriebenes Mitleid,außerdem Neid, Eifersucht, Kummer, Niedergeschlagenheit,Trübsinnigkeit und Verwirrung.

Wie es Krankheiten des Körpers gibt, wie z. B. die Gicht, so gibt esauch Krankheiten der Psyche, wie Ruhm-Sucht, Vergnügungs-Sucht undwas diesen gleicht. Denn Krankheit ist Schwachheit und Kraftlosigkeit.Eine Krankheit der Psyche ist z. B. die Begierde nach einer fürwünschenswert gehaltenen Sache. Und wie es leichte Krankheiten desKörpers gibt, wie Schnupfen oder Durchfall, so gibt es auch leichteKrankheiten der Psyche, wie Missgunst, Unbarmherzigkeit, Zanksuchtund andere.

Sie behaupten auch, dass es drei gute Gemütszustände [gr.eupathea] gibt: Freude, Vorsicht und Neigung. (116) Die Freude, sagensie, sei das Gegenteil der Lust, weil sie ein vernünftiges Begehren sei.Vorsicht sei das Gegenteil der Furcht, weil sie ein vernünftigesAusweichen sei, denn der Weise werde sich niemals fürchten, aberVorsicht gebrauchen. Der Begierde, sagen sie, sei die Neigungentgegengesetzt, die in einem vernünftigen Verlangen bestehe. So wiealso einiges unter die ersten Leidenschaften fällt, auf eben die selbeWeise fällt es auch unter die ersten guten Gemütszustände. So unter dieNeigung das Wohlwollen, die Freundlichkeit, die Gefälligkeit und die

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Herzlichkeit; unter die Vorsicht die Scham, die Reinheit; und unter dieFreude der Frohsinn, die Annehmlichkeit und der Gleichmut.

IV. >Über die Tugenden<Diogenes Laertius, VII, 90 - 95:(90) Tugend ist teils eine äußerlich erkennbare Vollkommenheit,

wie eine schöne Statue, teils eine unsichtbare, wie die Gesundheit, teilseine spekulative, wie die Klugheit. Ein Beweis dafür, dass Tugendwirklich vorhanden ist, sagt Poseidonios in seiner ersten ethischenAbhandlung, ist die Tatsache, dass Sokrates, Diogenes und Antistheneses weit darin gebracht haben. Aber auch Laster gibt es, dies sei dasGegenteil der Tugend.

Tugend ist lehrbar, schreibt Chrysippos im ersten Buch >Über dasEndziel<. Dies behaupten auch Kleanthes und Poseidonios in ihren>Ermahnungen<, ebenso Hekaton. Es ist durchaus erkennbar, dass sielehrbar ist, denn ethischschlechte Menschen können gut werden.

(92) Panaitios nimmt zwei Tugenden an, eine theoretische und einepraktische; andere nehmen drei Tugenden an, eine logische, einephysische und eine ethische; und Poseidonios nimmt vier an, noch mehrTugenden nehmen Kleanthes, Chrysippos und Antipater an.Apollophanes aber nimmt nur eine, die Klugheit, an.

Außerdem unterteilen die Stoiker die Tugenden inKardinaltugenden und sonstige, diesen untergeordnete Tugenden. Zu denKardinaltugenden gehören: Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit undMäßigkeit.

Klugheit ist die Kenntnis der höchsten Glücks-Güter und dergrößten Übel, und dessen, was keines von beiden ist.

Tapferkeit ist die Kenntnis, sich über alle Zufälle undSchicksalsschläge zu erheben, sie mögen positiv oder negativ sein.

Gerechtigkeit ist die Kenntnis dessen, was zu wählen und was zumeiden ist.

Mäßigkeit ist die Kenntnis, sich vom Vergnügen und denBegierden nicht überwältigen zu lassen und stets nach richtiger Vernunft,ohne alle Überschreitung derselben, zu handeln.

Auf ähnliche Weise sind die Laster geordnet. Es gibt vierHauptlaster (Unklugheit, Furchtsamkeit, Ungerechtigkeit undUnmäßigkeit), und ihnen untergeordnete Laster, wie Leidenschaft undStumpfsinnigkeit. Laster sind Unwissenheiten derjenigen Dinge, derenKenntnisse Tugenden sind.

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V. >Über das höchste Glücks-Gut<oder >Über das Endziel<

Diogenes Laertius, VII, 87 - 89:(87) Über das Endziel [gr. telos] hat Zenon in seinem Buche >Über

die Menschennatur< als erster Philosoph geschrieben: „Das Ziel desLebens [gr. telos] ist, der Natur gemäß zu leben; und dies heißtgleichzeitig, den Tugenden gemäß zu leben; denn zu ihnen führt uns dieNatur hin.“

Ebenso spricht Kleanthes in der Schrift >Über das Vergnügen< undPoseidonios und Hekaton in ihren Büchern >Über das Endziel<.

Außerdem definierte Chrysippos im ersten Buche >Über dasEndziel<: „Nach den Tugenden leben ist einerlei mit leben nach derErfahrung der nach der Natur sich ereignenden Dinge. Denn unsereNaturen sind Teile des Ganzen. (88) Daher ist das Endziel [gr. telos]:Der Natur gemäß leben. Das heißt, nach der eigenen Natur und nach derNatur des Ganzen gemäß leben. Indem man nichts tut, was dasallgemeine Gesetz zu untersagen pflegt, weil es die richtige und allesdurchdringende Vernunft ist, die sich auch bei Aether-Zeus [alias demNaturgesetz], dem höchsten Regierer des Alls, befindet.“

Eben dieses sei die Tugend eines Glücklichen und ein edlerLebenslauf, wenn der Genius in uns in voller Übereinstimmung mit demWillen des Naturgesetzes handelt.

Diogenes sagt ausdrücklich: „Das Endziel besteht darin, dass manin der Auswahl dessen, was nach der Natur geschieht, Vernunftgebrauchen muss.“

Archedemos bestimmt das Ziel dahin: „So zu leben, dass man alleangemessenen Handlungen vollkommen ausüben kann.“

(89) Chrysippos versteht unter der Natur, nach der man gemäßleben soll, nicht nur die allgemeine, sondern besonders auch diemenschliche Natur.

VI. >Über den ersten Wert<oder >Über die erste Einschätzung<

Marcus T. Cicero, >Über das höchste Glücks-Gut und größteÜbel<, III. Buch, 16 - 18:

(VI.20) „Wir wollen fortfahren“, sagte er [Cato]. „Wir sind nämlichvon diesen ersten Regungen der Natur, mit denen das Folgendeübereinstimmen muss, abgekommen. Es folgt aber zuerst dieseEinteilung: Für schätzenswert - so glaube ich mich ausdrücken zu können- wird von den Stoikern das erklärt, was entweder der Natur gemäß istoder etwas Derartiges bewirkt, dass es zu wählen wert ist, weil es ein derSchätzung wertes Gewicht hat. Diese ‚Wertschätzung‘ nennen die

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Griechen ‚axia‘. Für nicht schätzenswert hingegen wird das erklärt, wasdem Vorigen entgegengesetzt ist.

Nachdem nun die Anfänge so festgestellt sind, dass dasNaturgemäße um seiner selbst wegen gewählt, sowie das Gegenteildavon verworfen werden muss, so ist es die erste Pflicht - so will ichnämlich das Wort „kathekon“ übersetzen29 - sich in dem natürlichenZustande zu erhalten. Die zweite Pflicht ist, das Naturgemäßefestzuhalten und das Gegenteil davon von sich abzuwehren. Wenn nundas zu Wählende - dem man zustimmen muss - sowie auch das zuVerwerfende - das man ablehnen muss - gefunden ist, so folgtdemzufolge die pflichtmäßige Wahl, hierauf die bis ans Ende sichgleichbleibende und der Natur angemessene Wahl. In dieser fängt zuerstdas wahrhaft Gute zu sein an und es beginnt die Erkenntnis des Wesensvon demjenigen hervorzutreten, was in Wahrheit ein Glücks-Gut genanntwerden kann.30

(21) Das erste ist nämlich die Befreundung des Menschen mit denDingen, die naturgemäß sind. Sobald er aber eine Einsicht oder vielmehreine Erkenntnis der Dinge (die die Griechen ‚ennoia‘ nennen) erfasst undeine Ordnung und sozusagen eine Eintracht der Handlungen erkennt, soschätzt er diese ungleich höher als all jene Dinge, die er zuerst geliebthatte. So gelangt er nun zur Überzeugung, indem er durch die Erkenntnisund durch die Vernunft Schlüsse zieht, dass hierin jenes höchste an undfür sich lobens- und begehrenswerte Glücks-Gut des Menschenbegründet sei. Da nun dieses auf dem beruht, was die Stoiker‚homologia‘ nennen, wir können es mit ‚Übereinstimmung‘ - wenn es dirgefällt - übersetzen, da also hierauf das wahrhafte Glücks-Gut beruht, aufdas alles zu beziehen ist, so müssen die ethischguten [vollkommenrichtigen] Handlungen und das Ethischgute selbst, die allein zu denGütern gerechnet werden, wenn sie sich auch erst später entwickeln31,dennoch vermöge ihres eigenen Wesens und ihrer eigenen Würde begehrt

29 Anmerkung des Hrsg.: Die Übersetzung Ciceros von „kathekon“ in „Pflicht“ ist nichtganz korrekt. Anstatt „erste Pflicht“ hätte er richtiger „erste angemessene Handlung“übersetzen müssen.30 Erst in der sich gleichbleibenden und mit der Natur angemessenen Wahl, wenn dieWahl mit sich und mit der Natur übereinstimmt, das heißt Tugend, fängt das Glücks-Gut zu sein und der Begriff davon hervorzutreten an; denn in der pflichtmäßigen Wahlist noch nicht das Glücks-Gut enthalten, weil die Pflicht selbst kein Glücks-Gut ist(siehe Absatz 58).31 Das Ethischgute und die daraus hervorgehenden ethischguten Handlungen treten nichtgleich bei der ersten Entwicklung des Menschen hervor, sondern erst später, wenn dieNatur weiter fortgeschritten ist, der Verstand und die Vernunft erwacht sind.

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werden, während von den zuerst von Natur aus begehrten Dingen nichtsum seiner selbst wegen begehrenswert ist.32

VII. >Über die angemessenen Handlungen<33

Diogenes Laertius, VII, 107- 108:Angemessene Handlung [gr. kathekon]34 nennen die Stoiker das,

wovon man einen vernünftigen Grund angeben kann, warum esgeschieht. Zum Beispiel, was im Leben übereinstimmend ist; das sichauch auf die Pflanzen und Tiere erstreckt. Denn es gibt auch gegen sieRücksichten. Zenon hat die Benennung ‚angemessene Handlung‘[kathekon] als erster gebraucht. Ferner sind einige der angemessenenHandlungen immer angebracht, andere sind es nicht immer. Immerangebracht ist, der Tugend [dem Ethischguten] gemäß leben; nichtangebracht oder notwendig ist, zu lieben, zu antworten, spazieren zugehen und dergleichen mehr.

Marcus T. Cicero, >Über das höchste Glücks-Gut und größteÜbel<, III. Buch, 22 - 25:

(22) Da aber das, was ich Pflichten [richtiger: angemesseneHandlungen] genannt habe, von den Anfängen der Natur ausgeht, somuss es notwendig auf diese bezogen werden. Man kann daher mit Rechtsagen, alle angemessenen Handlungen beziehen sich darauf, dass wir dieAnfänge der Natur erlangen, jedoch nicht so, als ob dieses das höchsteGlücks-Gut wäre, deshalb, weil in den Dingen, mit denen uns die Naturzuerst befreundet hat, die ethischgute Handlung nicht inbegriffen ist;denn sie - wie gesagt - folgt und entwickelt sich erst später. Sie ist jedochder Natur gemäß und fordert uns ungleich mehr auf, sie zu erstreben, alsalles Frühere. Aber hier muss zuerst ein Irrtum beseitigt werden, damitman nicht glaube, hieraus folge, es gebe zwei höchste Glücks-Güter. Sowie wenn einer die Aufgabe hat, einen Speer oder einen Pfeilirgendwohin zu zielen, so verstehen wir das Ziel [gr. telos] bei denGlücks-Gütern.35 Der Schütze, um bei diesem Gleichnis zu bleiben, mussalles tun, um richtig zu zielen; aber mag er auch alles tun, um seinenZweck zu erreichen, so bleibt dennoch das Zielen [das Streben, das Zielzu treffen] das Höchste, das wir das höchste Glücks-Gut im Leben

32 Nach dem Lehrbegriff der Stoiker verdienen die von der Natur zuerst begehrtenDinge nur angenommen oder gewählt, aber nicht erstrebt zu werden.33 Von Cicero fälschlich übersetzt mit >Über die Pflichten<.34 Heute wird das griechische Wort „kathekon“ mit „angemessener Handlung“übersetzt.35 Die Lesart in den Handschriften ist offenbar interpoliert. Nach den Worten: „Sic nosultimum in bonis dicimus“ stehen noch die Worte: „Sic illi facere omnia quae possit utcolliniet“, welche Madvig mit vollem Recht als unecht in Klammern eingeschlossen hat.

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nennen. Aber dass man das Ziel trifft, ist gleichsam zu wünschen, abernicht unbedingt zu begehren.

(VII.23) Da alle angemessenen Handlungen von den Grundtriebender Natur ausgehen, so muss notwendig von ihnen auch die Weisheitselbst ausgehen. Aber so wie es oft der Fall ist, dass der, der einemanderen empfohlen ist, den höher achtet, dem er empfohlen ist, als den,der ihn empfohlen hat, so darf es keineswegs auffallen, wenn wiranfänglich von den Grundtrieben der Natur mit der Weisheit befreundetwerden, später aber die Weisheit uns teurer wird als das, von dem aus wirzu ihr gelangt sind. Und so wie uns die Glieder offenbar zu einembestimmten Lebenszweck gegeben sind, so scheint auch dasBegehrungsvermögen, das griechisch ‚horme‘ heißt, nicht zu jederbeliebigen Lebensart, sondern zu einer bestimmten Gestaltung desLebens gegeben zu sein, und auf gleiche Weise sowohl die Vernunftüberhaupt als auch die vollkommene Vernunft. [...]

(58) Obwohl wir das Ethischgute allein für ein Glücks-Guterklären, so ist es doch vernunftgemäß, die angemessenen Handlungen zuerfüllen, wenn wir sie auch weder zu den Glücks-Gütern noch zu denÜbeln zählen. Denn es liegt in diesen Dingen etwas Beifallswertes, undzwar so, dass ein vernünftiger Grund davon angegeben werden kann,folglich, dass auch von einer beifallswerten Handlung ein vernünftigerGrund angegeben werden kann. Angemessene Handlung aber ist eineHandlung von der Art, dass von ihr ein anzuerkennender Grund, einVernunftgrund angegeben werden kann.36 Hieraus sieht man, dass dieangemessene Handlung ein Mittelding ist, das weder zu den Glücks-Gütern noch zum Gegenteil gezählt werden darf. Nun liegt aber in denDingen, die weder zu den Tugenden, noch zu den Lastern gehören, dochetwas, was zum Nutzen gereichen kann; folglich darf man es nichtbeiseite setzen. Von dieser Art gibt es nun auch eine gewisseHandlungsweise, und zwar von der Beschaffenheit, dass die Vernunftetwas von diesen Dingen zu tun und zu verrichten fordert. Was aber auseinem vernünftigen Grunde getan ist, das nennen wir angemessene

36 Die „angemessene Handlung“, griechisch „kathekon“ wird von den Stoikern sobestimmt: „Das Zusammenhängende im Leben, das getan eine vernünftigeRechtfertigung zulässt.“ Die Stoiker nehmen eine zweifache Handlung an: einevollkommene und eine gewöhnliche oder angemessene. Die vollkommene Handlung(das Ethischgute) ist diejenige, die von der Tugend selbst ausgeht, und gehört nur demWeisen an. Die gewöhnliche oder angemessene Handlung ist die gebührende,geziemende, schickliche Handlung und gehört sowohl dem Weisen wie demNichtweisen an. Sie geht nicht unmittelbar aus der Tugend hervor, sondern aus derWahl der gleichgültigen Dinge nach den Gesetzen der Vernunft; sie gehört also zu denMitteldingen.

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Handlung. Die angemessenen Handlungen gehören also zu den Dingen,die weder zu den Glücks-Gütern, noch zum Gegenteil, den Übel, gezähltwerden dürfen.

VIII. >Über die vollkommenen Handlungen<Marcus T. Cicero, >Über das höchste Glücks-Gut und größte

Übel<, III. Buch, 45 - 49:Und so wie die Rechtzeitigkeit (so wollen wir das griechische Wort

‚eukairia‘ übersetzen) durch zeitliche Verlängerung nicht größer wird,denn was ‚rechtzeitig‘ genannt wird, hat kein bestimmtes Maß, so lässtdie ‚vollkommene Handlung‘, so will ich das griechische Wort‚katorthosis‘ übersetzen - weil ‚katorthoma‘ die ‚rechte [vollkommene]Tat‘ bedeutet - desgleichen die Übereinstimmung mit der Natur, kurz dasGlücks-Gut selbst, das in der Übereinstimmung mit der Natur besteht,keine Vermehrung durch Zuwachs zu. (46) Denn so wie jeneRechtzeitigkeit, so werden auch die genannten Dinge durch die zeitlicheVerlängerung nicht größer.

Aus diesem Grund halten die Stoiker das glückliche Leben nichtfür wünschens- und begehrenswerter, wenn es lang ist. Sie bedienen sichauch hierbei eines Gleichnisses. Wenn der Vorzug eines Stiefels darinbestände, dass er genau zum Fuß passe, weder viele Stiefel wenigeren,noch die größeren den kleineren vorgezogen würden, ebenso werdendiejenigen, deren gesamtes Glücks-Gut nach der Übereinstimmung mitder Natur und nach der Rechtzeitigkeit bestimmt wird, weder das Mehrdem Wenigeren, noch das Längere dem Kürzeren vorziehen.

IX. >Über das Empfohlene und das Abgeratene<oder >Über die Aufmunterungen zum Guten<

Plutarch von Chaironeia, >Über die Widersprüche der Stoiker<,14. These:In der Schrift >Über die Aufmunterung zum Guten< z. B. wo er

[Chrysippos] den Platon wegen der Behauptung angreift, dass es dem,der nicht zu leben versteht, besser wäre, nicht zu leben, sagt er wörtlichfolgendes: „Ein solcher Grundsatz streitet mit sich selbst und ist nichtsweniger als aufmunternd. Denn erstlich: Wenn er zu verstehen gibt, dasses das Beste für uns wäre, nicht zu leben, also gewissermaßen uns zusterben rät, so ermuntert er uns zu allem anderen mehr als zumPhilosophieren. Denn wer nicht lebt, kann auch nicht philosophieren; undwer nicht vorher in Lastern und Unwissenheit gelebt hat, kann nichtweise werden.“ Weiter fährt er fort: „Auch den Toren kommt es zu, imLeben zu bleiben; denn fürs Erste trägt die Tugend an sich allein nichts

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dazu bei, dass wir leben; ebenso wenig aber ist die Lasterhaftigkeit einGrund, das Leben verlassen zu müssen.“

Plutarch von Chaironeia, >Über die Widersprüche der Stoiker<,17. These:Die Lehre vom Glücks-Gut und Übel, die er [Chrysippos] selbst

aufstellt und begründet, soll mit dem Leben vollkommen im Einklangsein und den angeborenen Begriffen am nächsten kommen; so sagt er imdritten Buch >Über die Aufmunterungen<. Im ersten aber versichert er,diese Lehre ziehe den Menschen von allem anderen ab, als von Dingen,die uns nichts angehen und zum höchsten Glück nichts beitragen. Da siehnun, wie schön er mit sich selbst im Einklang ist, wenn er behauptet, dasseine Lehre, die uns vom Leben, von Gesundheit, Schmerzlosigkeit unddem Vollbesitz aller Sinneswerkzeuge abzieht und diese Dinge fürgleichgültig erklärt, um die wir doch täglich die Götter anrufen, mit demLeben und den allgemeinen Begriffen übereinstimmen! Ja, um diesenWiderspruch gar nicht mehr ableugnen zu können, sagt er im drittenBuch >Über die Gerechtigkeit<: „Daher wird man das, was ich sage,wegen seiner ungemeinen Erhabenheit und Schönheit für Erdichtunghalten und nicht glauben, dass es dem Menschen und der menschlichenNatur möglich sei.“

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Schlussworte

Die stoische Philosophie war in der Antike eine atheistischeGeheim- oder Stufenphilosophie. Ein weiteres sehr gewichtiges Indizdafür ist die Tatsache, dass die Stoiker die Götter ihrer theistischenMitmenschen allegorisch interpretiert haben.

Ein weiteres eindeutiges Indiz für den Atheismus der Stoa, das istihre Überzeugung von der Vergänglichkeit alles Irdischen, einschließlichvon uns Menschen, was im diametralen Gegensatz zum theistischenEwigkeits-Wahn steht. Alles ist in ständiger Verwandlung begriffen,alles fließt (gr. panta rhei), sagte Heraklit von Ephesos, und alles wirdsich einst in den Urstoff, den Aether, zurück verwandeln, aus dem esentstanden ist, auch wir Menschen. Und dann beginnt der gesamteNaturprozess wieder von vorne. Diese „ewige Wiederkehr“ derNaturprozesse ist nicht zu verwechseln mit dem theistischen Wahn voneinem ewigen Leben der Menschen. Friedrich Nietzsche hat sichdiesbezüglich etwas ungenau ausgedrückt. Hans Joachim Störig schriebin seinem Buch >Kleine Weltgeschichte der Philosophie<, 10.überarbeitete Auflage, Stuttgart 1968, Seite 367:

„Fragen wir uns, um irgendeinen ersten Richtpunkt zu

gewinnen: an welchen Denker, an welche Richtung aus der uns

bekannten Geschichte der Philosophie erinnert die hier dargelegte

Auffassung Nietzsches von der „Welt“ [und sein berühmter Satz von

der „ewigen Wiederkehr“, Anm v. L.B.], wo klingt Verwandtes auf?

Wir müssen weit zurückgehen, um die Antwort zu finden: den

Philosophen, zu dem sich Nietzsche selbst (als einzigem) bekannt und

mit dem er sich verwandt gefühlt hat: Heraklit. Hier wie dort erscheint

die Welt als ein unendlicher Prozeß des Werdens und Vergehens, des

Schaffens und Zerstörens – ein Meer gleichsam, in dem alles Endliche

sich bildet, Gestalt gewinnt und wieder vergeht, zerfließt, in dem eine

Urkraft sich selbst erhält.

Heraklit also? So weit zurück? Soll das bedeuten, daß Nietzsche

alles ignoriert, was sich zwischen Heraklit und dem neunzehnten

nachchristlichen Jahrhundert in der Geschichte des Denkens

abgespielt hat: Sokrates, Platon, Aristoteles, Christentum und

abendländische Philosophie? Nietzsche ignoriert es nicht, aber er setzt

sich von ihm ab, stößt sich von ihm ab. In der Tat: er hält alles, was

seither geschehen ist, für einen Irrweg.“Die stoische Philosophie beinhaltet einen ethischen Materialismus

in höchster Vollendung. Sie zu ignorieren ist gleichsam Selbstbestrafung,ja Selbstzerstörung.

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Bei der Zusammenstellung vorliegender Kurzfassung zur stoischenEthik dienten mir die Arbeiten folgender Autoren als Grundlage (sortiertnach dem Erscheinungsjahr der Erstauflage):

Heinze, Max: >Die Lehre vom Logos in der griechischen Philosophie<, Oldenburg 1872;

Weygoldt, Georg Peter: >Zeno[n] von Cittium und seine Lehre<, Dissertation, Jena 1872;

Schlüter, Christoph Bernhard: >Aristoteles‘ Metaphysik – eine Tochter der Samkhya-Lehre des Kapila<, Münster 1874;

Weygoldt, Georg Peter: >Die Philosophie der Stoa<, Leipzig 1883;

Schmekel, August: Die Philosophie der mittleren Stoa in ihrem geschichtlichen Zusammenhange dargestellt<, Berlin 1892;

Bonhöffer, Adolf: >Die Ethik des Stoikers Epictet<, Stuttgart 1894;

Barth, Paul: >Die Stoa<, Stuttgart 1903;

Ueberweg, Friedrich: >Grundriss der Geschichte der Philosophie<, Teil 1, Die Philosophie des Altertums, hrsg. von Karl Praechter, 13. Auflage, Graz 1953;

1. Quellen zur stoischen Philosophie

Arnim, H. v.: >Stoicorum Veterum Fragmenta< (SVF), 4 Bände,Leipzig 1903-1924;

Hülser, Karlheinz: >Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker<,zusammengestellt, ins Deutsche übersetzt und teilweise kommentiert vonKarlheinz Hülser, 4 Bände, Stuttgart 1987/8;

Long, A.A./Sedley, D.N.: >The Hellenistic Philosophers<, 2 vol,Cambridge 1987; dt. >Die hellenistischen Philosophen - Texte undKommentare<, ins Deutsche übersetzt von Karlheinz Hülser, Stuttgart u.Weimar 2000;

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45

Lothar Baus [Hrsg.]

Buddhismus und Stoizismus –

zwei nahverwandte Philosophienund ihr gemeinsamer Ursprung

in der Samkhya-Lehre

III. erweiterte Auflage

ISBN: 978-3-935288-27-9

ASCLEPIOS EDITION

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46

Lothar Baus [Hrsg.]

DIE

ATHEISTISCHEN

WERKE DER

STOIKER

Eine Auswahl der bedeutendstenAbhandlungen der antiken Stoiker

ISBN: 978-3-935288-34-7

ASCLEPIOS EDITION

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47

Lothar Baus [Hrsg.]

>Der stoische Weise –ein Materialist<

und

>Über die Freiheit<

Texte und Abhandlungenzur stoischen Philosophie

II. erweiterte Auflage

ISBN: 978-3-935288-31-6

ASCLEPIOS EDITION

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48

Lothar Baus [Hrsg.]

QUO VADIS

KAISER NERO?

Die Rehabilitation des Nero Caesarund der stoischen Philosophie

XII. Auflage

ISBN: 978-3-935288-33-0

ASCLEPIOS EDITION

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