Die Zarathustra-Figur in der politischen...

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HHP & Hendrikje Schulze / Oktober 2001 HpS Das Erzählwerk von Hermann Hesse SS 2001 HDoz Dr. Elena Nährlich Die Zarathustra-Figur in der politischen Flugschrift Zarathustras Wiederkehr von Hermann Hesse Hendrikje Schulze Deutsch 7. Semester LAG Englisch 6. Semester LAG Lutherstraße 24 07743 Jena Tel. 03641/440537 Jena, den 18. Oktober 2001

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HpS Das Erzählwerk von Hermann Hesse

SS 2001

HDoz Dr. Elena Nährlich

Die Zarathustra-Figur in der politischen Flugschrift

Zarathustras Wiederkehr von Hermann Hesse

Hendrikje Schulze

Deutsch 7. Semester LAG

Englisch 6. Semester LAG

Lutherstraße 24

07743 Jena

Tel. 03641/440537

Jena, den 18. Oktober 2001

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Inhalt

1. Einleitung 2

2. Hermann Hesse: Biographisches – Die Jahre 1904-1919 3

3. Hermann Hesse und der 1. Weltkrieg 4

4. Zur Editionsgeschichte von Zarathustras Wiederkehr 6

5. Die Einordnung von Also sprach Zarathustra in das Gesamtwerk 8

Friedrich Wilhelm Nietzsches

5.1. Das philosophisch-literarische Schaffen Nietzsches 8

5.2. Zum Inhalt von Also sprach Zarathustra 9

5.3. Zur Gattungseinordnung und zum Stil Also sprach Zarathustra 10

6. Zum formalen Aufbau der politischen Flugschrift

Zarathustras Wiederkehr 11

7. Die Zarathustra-Figur bei Hermann Hesse 12

7.1. Die Zarathustra-Figur in der Einleitung der Flugschrift 12

7.2. Die Vielschichtigkeit Zarathustras 14

7.3. Die Frage nach der Existenz Gottes 15

7.4. Die Zarathustra-Figur – eine Lehrerfigur? 16

7.5. Der Aspekt der Narrentradition 19

8. Hesses Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit und den

Werken Nietzsches 20

9. Zusammenfassung 24

10. Siglenverzeichnis 26

11. Bibliographie 27

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1. Einleitung

Der 1877 geborene Hermann Hesse ist 37 Jahre alt, als der 1. Weltkrieg

ausbricht. Zu diesem Zeitpunkt ist er als Autor der Romane Peter Camenzind (1904),

Unterm Rad (1906), Gertrud (1910) und Rosshalde (1914) bekannt. Er, der sich

selbst oft als „unpolitisch“1 bezeichnet, hält es bei Kriegsausbruch für notwendig, zu

den politischen Ereignissen Stellung zu beziehen. Im November 1914 erscheint der

Aufsatz O Freunde, nicht diese Töne, der eine Periode in Hesses Leben einleitet, in

der er beginnt, sich öffentlich mit den politischen Entwicklungen in Europa

auseinander zu setzen. Diese Auseinandersetzung führt er bis zu seinem Lebensende

am 9. August 1962.

Im November 1918 steht Deutschland vor seiner endgültigen Niederlage. Die

konstitutionelle Monarchie als Staatsform bricht zusammen und in der Bevölkerung

herrscht allgemeine Orientierungslosigkeit. In dieser Situation veröffentlicht Hesse

im Januar 1919 zunächst anonym seine politische Flugschrift Zarathustras

Wiederkehr. Ein Wort an die deutsche Jugend – Von einem Deutschen. Bereits der

Titel verweist auf die berühmte Schrift Also sprach Zarathustra von Friedrich

Wilhelm Nietzsche. Diese bewusste Bezugnahme lässt vermuten, dass Hesse eine

besondere Beziehung zu Friedrich Nietzsche hat.

In dieser Arbeit soll es neben der Charakterisierung der Zarathustra-Figur bei

Hesse auch um die drei folgenden Fragenkomplexe gehen:

1. Unter welchen persönlichen und gesellschaftlichen Lebensumständen entstand

Hesses Zarathustras Wiederkehr?

2. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede ergeben sich bei einem Vergleich

der Zarathustra-Figur bei Hesse mit der Zarathustra-Figur Nietzsches?

3. Warum lehnt Hesse sich mit dieser Flugschrift an Nietzsches Also sprach

Zarathustra an? Welche Einstellung hat Hesse zu Nietzsche? 1 So bezeichnet Hesse seine Flugschrift Zarathustras Wiederkehr im offenen Brief an die Zeitschrift Vivos Voco vom Oktober 1919 beispielsweise als „[…] Bekenntnisschrift eines Unpolitischen […]“. (In: Politik des Gewissens, S. 351.) In dieser und in allen folgenden Fußnoten werden Kurztitel zum Nachweis von Zitaten verwendet.

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Besonders der letztgenannte Fragekomplex kann in dieser Arbeit nur auszugsweise

behandelt werden, da das Verhältnis von Hermann Hesse zu Friedrich Wilhelm

Nietzsche einer weitaus tiefgründigeren Untersuchung bedarf, als sie ihm Rahmen

dieser Arbeit geleistet werden kann.

2. Biographisches – Die Jahre 1904–1919

Die Jahre von 1904 bis 1919 sind für Hermann Hesse Jahre der Krisis, Jahre

der persönlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die ihn dazu zwingen, privat

und künstlerisch nach neuen Wegen und Ausdrucksformen zu suchen.

Seit 1904 ist Hesse mit der acht Jahre älteren Schweizerin Maria Bernoulli2

verheiratet. Von 1904 bis 1912 leben sie mit den drei gemeinsamen Söhnen Bruno,

Heiner und Martin in einem Bauernhaus in Gaienhofen am Bodensee. Während

dieser Zeit ist Hesse als freier Schriftsteller und als Mitarbeiter bei zahlreichen

Zeitungen und Zeitschriften tätig. Schon früh kommen Hesse Bedenken an seiner

Tauglichkeit zur Ehe. Die Gründe dafür sucht er nicht bei seiner Frau, sondern in

seiner eigenen Veranlagung als Künstlernatur.

Die „Indienreise“,3 die Hesse vom September bis Dezember 1911 mit dem

befreundeten Maler Hans Sturzenegger unternimmt, stellt den ersten Versuch dar,

aus dem Familienleben und der bürgerlichen Existenz auszubrechen. Sie bringt

jedoch nicht die erhoffte neue Lebensorientierung.

Getrieben von dem Willen nach Veränderung der bisherigen Lebensweise

verlässt die Familie im Jahr 1912 Deutschland und siedelt nach Bern in der Schweiz

über. Die unbefriedigende familiäre Situation und der Ausbruch des 1. Weltkrieges

im August 1914 stürzen Hesse in eine tiefe Krise, die sein Freund Hugo Ball

rückblickend wie folgt beschreibt:Um es geradezu zu sagen: der Dichter Hermann Hesse lebt, als der Krieg ausbricht, in einertodesseligen Trunkenheit; in Widerspruchsgefühlen, die nicht mehr zu unterscheiden sind;zerfleischt von einem dunklen Traumleid, dem er nachhängt, und zugleich von denDissonanzen seines familiären Lebens.4

Seit 1914 leidet Hesses jüngster Sohn Martin an einem lebensgefährlichen

Nervenleiden. Bei seiner Frau zeigen sich in Folge der nervlichen Überanstrengung

Anzeichen einer beginnenden „Gemütskrankheit“. Hesse selbst ist durch seine Ausführliche bibliographische Angaben sind im Literaturverzeichnis aufgelistet.2 Maria Bernoulli (1869-1963), genannt Mia, war die erste Frau Hermann Hesses. Vor der Heirat mit Hesse arbeitete sie als Berufsphotographin in einem Atelier in Basel. (Michels, Rathgeber, Würzbach: Hermann Hesse. Marbacher Magazin 54/1990, S. 39.)3 Die „Indienreise“ Hesses war in erster Linie eine Reise nach Hinterindien (Indonesien).

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Tätigkeit in der Kriegsgefangenenfürsorge überarbeitet und angespannt. Nach dem

plötzlichen Tod des Vaters, Johannes Hesse, im März 1916 kommt es zu einem

Nervenzusammenbruch Hesses, der eine erste psychotherapeutische Behandlung bei

J.B. Lang5 nach sich zieht.

Im Oktober 1918 verfällt Hesses Frau in eine schwere Psychose. Diese

erfordert ihre Einweisung in eine Heilanstalt. Das Familienleben, das sich seit

mehreren Jahren in Auflösung befindet, bricht 1919 vollends auseinander, als die

räumliche Trennung Hesses von seiner Frau und seinen Kindern erfolgt. Hesse

siedelt nach Montagnola im Tessin in die Casa Camuzzi6 über, die er bis 1931 mit

Unterbrechungen bewohnt.7

3. Hesse und der 1. Weltkrieg

Der Ausbruch des 1. Weltkrieges im August 1914 löst in Europa zunächst eine

Welle der Massenbegeisterung aus, an der sich zahlreiche namhafte Intellektuelle,

wie Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Gerhart Hauptmann und Stefan George

beteiligen.8 Hesse meldet sich unmittelbar nach Kriegsbeginn als Kriegsfreiwilliger,

wird aber wegen eines Augenleidens als untauglich zurückgestellt. Am 3. 11. 1914

veröffentlicht Hesse in der Neuen Zürcher Zeitung den Artikel O Freunde, nicht

diese Töne, in dem er eine zunächst ambivalente Haltung zum Krieg einnimmt.

Diese Haltung äußert sich einerseits durch ein Bekenntnis zum Vaterland und zum

Krieg,9 wie folgende Textpassage deutlich macht:Wohlverstanden, dies geht nicht gegen die vaterländische Gesinnung und die Liebe zumeigenen Volkstum. Ich bin der letzte, der in dieser Zeit sein Vaterland verleugnen möchte, undes würde mir nicht einfallen, einen Soldaten vom Erfüllen seiner Pflicht abzuhalten. Da manjetzt einmal am Schießen ist, soll geschossen werden – aber nicht des Schießens und derverabscheuungswürdigen Feinde wegen, sondern um so bald wie möglich eine höhere undbessere Arbeit wiederaufzunehmen.10

4 Ball: Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk, S. 110.5 Josef Bernhard Lang: (1881-1945); Schüler von Carl Gustav Jung (1875-1961), dem Begründer der Tiefen- analyse. (Michels, Rathgeber, Würzbach: Hermann Hesse. Marbacher Magazin 54/1990, S. 48)6 Casa Camuzzi: Imitation eines barocken Jagdschlösschens aus dem 19. Jh., das nach seinem Besitzer benannt wurde. (Freedmann: Hermann Hesse. Biographie, S. 269.)7 Sämtliche Angaben zur Biographie Hesses gehen zurück auf: Michels, Rathgeber, Würzbach: Hermann Hesse. Marbacher Magazin 54/1990. und Freedmann: Hermann Hesse. Biographie, „Von der Krisis zum Krieg“, S. 208-265.8 Unseld: Begegnungen mit Hermann Hesse, S. 226.9 Vgl. Middell: Hermann Hesse. Die Bilderwelt seines Lebens, S. 113.10 Hesse: O Freunde, nicht diese Töne. In: GW, Bd. 10, S. 414.

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Andererseits appelliert Hesse an die Intellektuellen, „sich über Nationalismus

und Krieg zu erheben“11 und am „[…] übernationalen Bau der menschlichen Kultur

[…]“12 mitzuwirken. Hesse sieht in der „[…] Überwindung des Krieges nach wie

vor [das] edelste[ ] Ziel und die letzte Konsequenz abendländisch-christlicher

Gesinnung“.13 Der Aufsatz endet schließlich mit dem pazifistischen Aufruf, „[d]aß

Liebe höher sei als Haß, Verständnis höher als Zorn, Friede edler als Krieg […]“.14

Dieser Artikel nimmt aus zwei Gründen einen besonderen Stellenwert in der

Biographie Hesses ein: Zum Ersten steht er am Anfang einer Reihe von

Publikationen, in denen Hesse für die Idee einer übernationalen Menschlichkeit, für

Frieden und Humanismus eintritt. Er leitet sowohl Hesses Anti-Kriegs Essayistik

der Jahre 1914-1919, als auch die bis an sein Lebensende fortwährende, öffentliche

Stellungnahme zu politischen Ereignissen der Zeit ein. Zum Zweiten legt dieser

Artikel den Grundstein für den Briefwechsel mit Romain Rolland,15 aus dem sich

eine lebenslange Freundschaft entwickelt.

Von 1915 bis 1919 arbeitet Hesse in Bern im Dienst der „Deutschen

Gefangenenfürsorge“ und versorgt Hunderttausende von Kriegsgefangenen und

Internierten in Frankreich, England, Russland und Italien mit Lektüre. Während

dieser Zeit schreibt er zahlreiche politische Aufsätze, Mahnrufe und offene Briefe in

deutschen, schweizerischen und österreichischen Zeitungen und Zeitschriften. Von

Januar 1916 bis 1919 gibt Hesse zusammen mit Richard Woltereck16 das

„Sonntagsblatt für deutsche Kriegsgefangene“ heraus, das im Juli 1916 durch die

„Deutsche Internierten Zeitung“ erweitert wurde.17

Auf Grund seiner politischen Äußerungen wird Hesse in deutschen Zeitungen

angegriffen. In Deutschland läuft eine Pressekampagne gegen ihn. 1917 wird Hesse

schließlich nahe gelegt, seine zeitkritische Publizistik zu unterlassen. Es kommt zu

den ersten pseudonymen Publikationen unter dem Decknamen Emil Sinclair.

11 Middell: Hermann Hesse. Die Bilderwelt seines Lebens, S. 113.12 Hesse: O Freunde, nicht diese Töne. In: GW, Bd. 10, S. 411.13 Ebd., S. 416.14 Ebd., S. 416.15 Romain Rolland: (1866-1944) Französischer Schriftsteller. Seine Werke bezeugen tiefen Idealismus, Menschenliebe und Eintreten für Frieden und Solidarität der Völker. Er erhielt 1915 den Nobelpreis für Literatur. (Brockhaus. Die Enzyklopädie, Bd. 18, S. 469f.)16 Richard Woltereck: (1877-1944) Zoologieprofessor, der im diplomatischen Dienst in die deutsche Gesandt- schaft in Bern abkommandiert wurde. (Michels, Rathgeber, Würzbach: Hermann Hesse. Marbacher Magazin 54/1990, S. 47.)17 Vgl. Michels, Rathgeber, Würzbach: Marbacher Magazin 54/1990, S. 46f.

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4. Zur Editionsgeschichte von Zarathustras Wiederkehr

Die politische Flugschrift Zarathustras Wiederkehr mit dem Untertitel Ein

Wort an die deutsche Jugend - Von einem Deutschen erscheint erstmalig im Januar

1919 anonym im Verlag Stämpfli in Bern.18 Mit dieser Schrift nimmt Hesse Bezug

auf die revolutionären Vorgänge der Jahre 1918 und 1919 (Aufstand der Matrosen,

Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten, Abdankung Kaiser Wilhelm II.,

Ausrufung der 1. Deutschen Republik, Spartakusaufstand), die das Ende des 1.

Weltkriegs und gleichzeitig den totalen Zusammenbruch der alten Welt bedeuten.

Wie der Untertitel der Schrift bereits andeutet, wendet sich Hesse an die geistige

Jugend Deutschlands, in der er die einzige Hoffnung für eine Zukunft sieht.

Nachdem Hesse als Autor identifiziert worden war, wird ihm wiederholt die

Frage gestellt, aus welchem Grund er seine Autorenschaft zunächst geheim hielt.

Um dem Vorwurf der Feigheit entgegenzuwirken, äußert sich Hesse in einem

offenen Brief, in der 1. Ausgabe der Monatszeitschrift Vivos Voco19 im Oktober

1919, wie folgt:Wer auch nur eine einzige von den Bekenntnisschriften der geistigen Jugend gelesen hat – der„Expressionisten“ – der kennt die bis zu Verachtung und bitterstem Haß gesteigerteAuflehnung unserer Jungen gegen alles, was ihnen als bisherig, als gestrig, alsimpressionistisch bekannt ist, daß ich dazu gehöre schien mir zweifellos, und daß eine Schriftmit meinem Autornamen vom lebendigsten Teil der Jugend gar nicht würde gelesen werden,schien mir gewiß. Dies war mein Grund, anonym zu bleiben.20

Man sollte außerdem bedenken, dass Hesse nach dem Erscheinen von O

Freunde, nicht diese Töne als Vaterlandsverräter beschimpft wurde und dass ihm

noch 1917 nahe gelegt wurde, seine politischen Publikationen zu unterlassen. Von

dieser Perspektive aus gesehen, erscheint die von Hesse gewählte Anonymität

sicher angebracht.

Auf die zweite Frage, warum er sich an Nietzsche anlehnt und den Ton von

dessen Zarathustra scheinbar imitiert, gibt Hesse an gleicher Stelle folgende

Antwort:

18 Bern: Stämpfli & Cie 1919. 39 Seiten. (Unseld: Werk und Wirkungsgeschichte, S. 81.)19 „Ruf an die Lebenden“. Monatszeitschrift, die von Hermann Hesse und Professor Richard Woltereck vom Oktober 1919 bis 1923 mit dem Ziel der körperlichen und geistigen Jugendfürsorge herausgegeben wurde. (Flugblatt zur Ankündigung der neuen Zeitschrift. In: Politik des Gewissens, S. 346.)20 Hesse: Offener Brief an die Redaktion der Zeitschrift Vivos Voco. In: Politik des Gewissens, S. 351.

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Nein, der Titel und der Stil meiner kleinen Schrift entstand wahrlich nicht aus dem Bedürfnisnach einer Maske oder gar aus einer spielerischen Lust zu Stilversuchen. […] Daß sie anNietzsche anklinge und den Geist seines Zarathustra beschwöre, das merkte ich selbst erstwährend dem fast bewußtlosen Schreiben, das sich völlig explosiv vollzog. […]Und war nicht er es, der einsame Nietzsche, der vergrollte Verächter des deutschenKaiserrausches, der letzte glühende Priester eines scheinbar absterbenden deutschen Geistes –war nicht er es, der Unzeitgemäße und Vereinsamte, dessen Stimme stärker als jede andere zurdeutschen Jugend sprach? […] An diesen Geist, als dessen letzten Prediger ich Nietzscheempfand, wollte und mußte ich appellieren. […] Und aus begeisterten, heiligen Lesenächtenmeiner Jünglingszeit klang mir der Ton herüber, in dem ich meinen Ruf an die Jugendniederschrieb. Er entstand nicht aus Überlegung, nicht aus Versuchen. Er entstand von selberungerufen.21

Hesse kommentiert hier den Arbeitsprozess an seiner Flugschrift. Dabei

kommen im Wesentlichen zwei Dinge zum Ausdruck: Indem Hesse seine Arbeit als

„[…] bewußtlose[s] Schreiben, das sich völlig explosiv vollzog […]“22 bezeichnet,

macht er zunächst deutlich, wie wichtig und dringlich ihm eine Stellungnahme zur

damaligen politischen Weltlage erschien. Von dieser Dringlichkeit zeugt auch die

Passage in der er schreibt, dass er die Schrift „[…] unter dem Druck der

Weltereignisse, in zwei Tagen und Nächten […]“23 niederschrieb. Des Weiteren

reflektiert Hesse an dieser Stelle welche Bedeutung die Persönlichkeit Nietzsches in

seiner eigenen Jugendzeit für ihn hatte. Er erklärt, dass sich die Anlehnung an

dessen Zarathustra nicht aus einer „[…] spielerischen Lust an Stilversuchen […]“24

ergab, sondern sich ihm förmlich aufdrängte. Hesse bezeichnet Nietzsche als

„Unzeitgemäße[n]“ und „Vereinsamte[n]“, als „letzte[n] glühende[n] Priester eines

scheinbar absterbenden deutschen Geistes“.25 Auf diesen „deutschen Geist“ bezieht

sich Hesse erneut in seinem Ankündigungstext zur ersten nicht anonymen Ausgabe,

die im April 1920 beim S. Fischer Verlag26 erscheint:Es gab einmal einen deutschen Geist, einen deutschen Mut, eine deutsche Mannhaftigkeit,welche sich nicht nur im Herdenlärm und der Massenbegeisterung äußerte. Der letzte großeGeist dieser Art ist Nietzsche gewesen, und er ist, inmitten des damaligen Gründertums undder damaligen Herdengesinnung in Deutschland, zum Anti-Patrioten und Anti-Deutschengeworden. An ihn will mein Ruf erinnern, an seinen Mut, an seine Einsamkeit. […]Wir müssen nicht hinten beginnen, bei den Regierungsformen und politischen Methoden,sondern wir müssen vorn anfangen, beim Bau der Persönlichkeit, wenn wir wieder Geister undMänner haben wollen, die uns Zukunft verbürgen. Davon spricht meine kleine Schrift.27

21 Hesse: Offener Brief an die Redaktion der Zeitschrift Vivos Voco. In: Politik des Gewissens, S. 352f.22 Ebd., S. 352.23 Ebd., S. 351.24 Ebd., S. 352.25 Ebd., S. 352.26 Zarathustras Wiederkehr. Ein Wort an die deutsche Jugend von Hermann Hesse. Neudruck: Berlin: S. Fischer 1920. 44 Seiten. (Unseld: Werk und Wirkungsgeschichte S. 81.)27 Hesse: Ankündigungstext zur ersten nicht anonymen Ausgabe von Zarathustras Wiederkehr. In: Politik des Gewissens, S. 279.

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Die Gestalt Nietzsches, des „Unzeitgemäßen“ und „Vereinsamten“, der sich

nicht der herrschenden Herdengesinnung anschließt und dadurch zum „Anti-

Patrioten“ und „Anti-Deutschen“ wird, ist für Hesse Trost und Vorbild zugleich. An

ihn, den „[…] letzte[n] große[n] Geist dieser Art […]“,28 will er mit seiner Schrift

erinnern. Sein Beispiel soll die Jugend dazu auffordern eine geistige Haltung, „ […]

eine deutsche Mannhaftigkeit, welche sich nicht nur im Herdenlärm und der

Massenbegeisterung äußert[ ]“,29 anzustreben. Nur wenn beim „[…] Bau der

Persönlichkeit […]“30 jedes Einzelnen angesetzt wird, sieht Hesse eine Möglichkeit,

die Zukunft im zerstörten Deutschland zu gestalten.

Hesses Aufruf ist an jeden Einzelnen gerichtet, weil auch Hesses Glaube an

den Menschen sich vor allem auf das Individuum, auf den isolierten Menschen

bezieht.31 Eine ähnliche Auffassung bringt er in dem ebenfalls 1919 geschriebenen

Text Eigensinn zum Ausdruck:Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn. […] Wer eigensinnigist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sichselbst, dem „Sinn“ des „Eigenen“.32

Die Verkörperung des Eigensinnigen, eines Menschen, der nur auf seine inneren

Gesetze hört, findet Hesse in der Gestalt Friedrich Wilhelm Nietzsches.

5. Die Einordnung von Also sprach Zarathustra in das Gesamtwerk

Friedrich Wilhelm Nietzsches

5.1. Das literarisch-philosophische Schaffen Nietzsches

Der 1844 geborene Friedrich Wilhelm Nietzsche ist als eigenwilliges Genie in

die Geistesgeschichte eingegangen. Nach dem Studium der Theologie und

klassischen Philologie in Bonn wird er 1869 als außerordentlicher Professor für

klassische Philologie nach Basel berufen. Sein literarisch-philosophisches Schaffen

lässt sich in drei ineinander verzahnte Perioden einteilen.

Die erste Periode, in der Nietzsche sich mit der Kunst- und Kulturphilosophie

auseinandersetzt, umfasst den Zeitraum von 1869–1876. Sie ist geprägt von einer

28 Ebd.29 Hesse: Ankündigungstext zur ersten nicht anonymen Ausgabe von Zarathustras Wiederkehr. In: Politik des Gewissens, S. 279.30 Ebd.31 Vgl. Middell: Hermann Hesse. Die Bilderwelt seines Lebens, S. 123.32 Hesse: Eigensinn. In: GW, Bd. 10, S. 454.

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romantischen Begeisterung Nietzsches für die griechische Antike, für die

Philosophie Arthur Schopenhauers und für die Person Richard Wagners. Die

wichtigsten Werke dieser Periode sind Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der

Musik (1872) und die vier Unzeitgemäßen Betrachtungen [David Strauß (1873),

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), Schopenhauer als

Erzieher (1874) und Richard Wagner in Bayreuth (1876)]. In diesen Schriften setzt

sich Nietzsche mit der kulturellen Situation im neu gegründeten Deutschen Reich

(1871) auseinander.

Nach dem Bruch mit Richard Wagner (1876) verschiebt sich Nietzsches

Kulturideal von der Kunst zur positiven Wissenschaft. Dies leitet die zweite Periode

seines Schaffens ein, die sich über die Jahre 1876–1882 erstreckt. Die Werke dieser

Periode sind rein aphoristischer Form. Zu ihnen gehören: Menschliches,

Allzumenschliches I (1878) und II (1880), Morgenröte (1881) und Die Fröhliche

Wissenschaft (1882).

In der dritten, lebensphilosophische Periode von 1883–1888 erreicht

Nietzsches Schaffen seinen Höhepunkt mit dem vierbändigen Werk Also sprach

Zarathustra (1883–1885). In der Folge erscheint eine Reihe von Schriften, die die

Kritik der Moral und der Religion zum Thema haben: Jenseits von Gut und Böse

(1886), Zur Genealogie der Moral (1887) und Der Fall Wagner (1888). Des

Weiteren schreibt Nietzsche in diesen Jahren die autobiographische Schrift Ecce

homo. Wie man wird, was man ist (1888), Der Antichrist (1888), der ein Teil des

angekündigten Werkes Der Wille zur Macht werden sollte, Götzen-Dämmerung

(1889) und Nietzsche contra Wagner. Die vier letztgenannten Schriften wurden erst

aus dem Nachlass veröffentlicht.

1889 kommt es zum völligen geistigen Zusammenbruch Nietzsches in Turin.

Daraufhin wird er zunächst von seiner Mutter in Naumburg gepflegt. Nach deren

Tod übernimmt Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche die Pflege ihres

Bruders in Weimar. Nietzsche stirbt am 25. August 1900.33

5. 2. Zum Inhalt von Also sprach Zarathustra

Also sprach Zarathustra - Ein Buch für Alle und Keinen, so der vollständige

Titel, stellt für viele Forscher das komplexeste und das einflussreichste Werk

Nietzsches dar. In der Literatur wird es unter anderem auch als „[…] Attentat auf 33 Biographische Angaben zu Friedrich Wilhelm Nietzsche sowie Angaben zu seinen Werken gehen zurück auf:

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die gesamte abendländische Philosophie […]“34 bezeichnet, weil Nietzsche in ihm

seine „[…] Zweifel an der Moral als der zurechtlegenden Auslegung des

menschlichen Daseins in der Welt und an der Wahrheit der christlichen

Überlieferung […]“35 zum Ausdruck bringt.

Im Mittelpunkt der philosophischen Dichtung steht die Figur des Weisen und

Gelehrten Zarathustra (pers.; griech. Zoroaster). Der Name geht auf einen

altpersischen Propheten und Religionsstifter zurück, der vermutlich 628-551 v. Chr.

im Gebiet des heutigen Teheran lebte. Er gilt als Begründer des nach ihm benannten

Zoroastrismus oder Parsismus. Nietzsche wählte die Persönlichkeit Zarathustras,

nicht dessen Lehre zum Symbol seiner philosophischen Dichtung.36

Das Werk setzt sich aus vier Teilen zusammen. Die zentralen Aussagen des

ersten Teils sind die Verkündigung vom „Tod Gottes“ und die Lehre vom

„Übermenschen“ als philosophische Konzeption zur Überwindung des

Nihilismus.37

Todt sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.“ – diess sei einst am grossenMittage unser letzter Wille! – Also sprach Zarathustra. (Z I, Von der schenkenden Tugend 3, S. 102)

Während im zweiten Teil die „Lehre vom Willen zur Macht“ im Mittelpunkt

steht, thematisiert der dritte Teil als Höhepunkt des Werkes „die ewige Wiederkehr

des Gleichen“.Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wiederauf; ewig läuft das Jahr des Seins. (Z II, Der Genesende 2, S. 272)

Im vierten und letzten Teil wird schließlich die „Erlösung der höheren

Menschen“ dargestellt.38

5. 3. Zur Gattungseinordnung und zum Stil von Also sprach Zarathustra

Also sprach Zarathustra fällt formal aus dem Rahmen der anderen Schriften

Nietzsches. Eine Gattungseinordnung lässt sich schwer vornehmen, da das Werk

weder als philosophische Abhandlung im üblichen Sinne noch als reine Dichtung

klassifiziert werden kann. Der Begriff der „philosophischen Dichtung“ scheint

Kunzmann, Burkhard und Wiedmann: dtv-Atlas zur Philosophie, S. 176-179.34 Wiebrecht: Nietzsche zur Einführung, S. 59.35 Wiebrecht: Nietzsche zur Einführung. S. 59.36 Vgl. Brockhaus. Die Enzyklopädie, Bd. 24, S. 473.37 Nihilismus: philosophische Anschauung, die alle positiven Zielsetzungen, Ideale und Werte ablehnt; völlige Verneinung aller Normen, Werte und Ziele. (Brockhaus. Die Enzyklopädie, Bd. 15 , S. 667f.)38 Vgl. Wiebrecht: Nietzsche zur Einführung, S. 58–73.

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daher der treffendste zu sein, um den verschiedenen Elementen des Werkes gerecht

zu werden.39

Ebenso schwer wie die Gattung lässt sich der Stil von Also sprach Zarathustra

bestimmen. Die Gleichnisreden des Zarathustra leben von ihrer Bildhaftigkeit und

erinnern an religiöse Bücher. Alexander Nehamas weist darauf hin, dass der Stil

des Werks in der Forschung verschiedentlich als „episch“, „dithyrambisch“ oder

„evangelienartig“40 charakterisiert wird, dass er jedoch nicht rein aphoristisch sei:Obgleich in ihm, wie in allen Büchern von Nietzsche, viele Aphorismen enthalten sind,verkörpert es eine komplexe Erzählstruktur, in deren Verlauf sich der Charakter Zarathustrasradikal verändert.41

6. Zum formalen Aufbau der politischen Flugschrift Zarathustras

Wiederkehr

Die Flugschrift Zarathustras Wiederkehr ist in 10 Abschnitte gegliedert, wobei

der erste Abschnitt eine einleitende Funktion hat und keine eigene Überschrift trägt.

Die verbleibenden neun Kapitel sind mit den folgenden Titeln überschrieben:

1. [Einleitung]

2. Vom Schicksal

3. Vom Leiden und vom Tun

4. Von der Einsamkeit

5. Spartakus

6. Das Vaterland und die Feinde

7. Weltverbesserung

8. Vom Deutschen

9. Ihr und euer Volk

10. Der Abschied

Die zentrale Figur der Flugschrift ist der Prophet Zarathustra, der sich im ersten

Abschnitt, der Einleitung, im Dialog mit den aus dem 1. Weltkrieg heimgekehrten

Jünglingen befindet. Im Gegensatz dazu stellt jedes der restlichen neun Kapitel eine

Rede Zarathustras zu einer bestimmten Thematik dar. Diese Reden sind

ausschließlich monologisch gestaltet. Im letzten Satz der Einleitung der Hinweis

39 Vgl. Schmidt und Spreckelsen: Nietzsche für Anfänger, S. 7.40 Nehamas: Nietzsche. Leben als Literatur, S. 33.41 Ebd., S. 33f.

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gegeben, dass einer der Jünglinge die Reden Zarathustras aus der Erinnerung heraus

aufgeschrieben hat.

7. Die Zarathustra-Figur bei Hermann Hesse

Mit welchen Worten lässt sich nun die Zarathustra-Figur der Flugschrift am

treffendsten charakterisieren? Géza Horváth verwendet in seinem Aufsatz die

Begriffe „Einsiedler“, „Prophet“, „Führer“, „Heiliger“ und „Lehrer“.42 Im

Folgenden soll nun untersucht werden, welche dieser Charakterisierungen auf die

Zarathustra-Figur bei Hesse tatsächlich zutreffen. Dabei soll der Schwerpunkt der

Auseinandersetzung auf einzelnen, ausgewählten Aspekten liegen. Anhand dieser

Aspekte soll der Vergleich zur Zarathustra-Figur bei Nietzsche herangezogen

werden. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Konzeption der Figuren

sollen herausgearbeitet werden.

7.1. Die Zarathustra-Figur in der Einleitung

In der Einleitung wird die Darstellung der Ausgangssituation, d.h. die

Bestimmung von Ort und Zeit, vorgenommen. Kurz nach Kriegsende verbreitet sich

unter den jungen Menschen in der Hauptstadt Deutschlands das Gerücht, der

Prophet Zarathustra sei wieder erschienen. Einige Jünglinge, die gerade aus dem

Krieg heimgekehrt sind, machen sich auf den Weg, ihn zu suchen. Für sie war

Nietzsches Also sprach Zarathustra die Lektüre ihrer Jugendzeit, die sie mit

Begeisterung gelesen hatten:Diese jungen Männer hatten alle im Beginn ihrer Jugendzeit in Zarathustra den Propheten undihre Führer gesehen, sie hatten mit dem Eifer der Jugend gelesen, was über ihn geschriebensteht, und hatten darüber gedacht, auf ihren Wanderungen in Heide und Gebirg, und innächsten Zimmern bei Lampenschein. (ZW, [Einleitung], S. 467)

Nun, da sie mit dem Untergang der alten Welt konfrontiert sind, suchen sie nach

einer neuen Orientierung. Dabei erhoffen sie sich Handlungsanweisungen von

Zarathustra, den sie als ihren Meister anerkennen, weil sie in ihm eine Führerfigur

sehen:

42 Horváth: Hermann Hesses Engagement der Seele, S. 196.

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„Du bist da, Meister“, sagten sie mit Stammeln, „endlich bist du wiedergekommen, da die Notam größten ist. Sei uns willkommen, Zarathustra! Du wirst uns sagen, was wir tun sollen, duwirst uns vorangehen. Du wirst uns aus dieser größten aller Gefahren erretten. (ZW S. 468)

Zarathustra weist die Verantwortung, die sie ihm zutragen wollen, jedoch sofort

zurück:„ […] Von mir, ihr Freunde, könnet ihr nicht lernen, wie man Völker regiert und Niederlagenwiedergutmacht. Ich weiß euch nicht zu lehren, wie man Herden befehligt und wie manHungernde beschwichtigt. Das sind nicht Zarathustras Künste. Das sind nicht ZarathustrasSorgen.“ (ZW, [Einleitung], S. 470)

Wie aus den Zitaten ersichtlich wird, wechseln in der Einleitung personales

Erzählen mit wörtlicher Rede. Letztere gestaltet sich in Dialogen zwischen den

Jünglingen und Zarathustra. In diesen Dialogen liegen die größeren Redeanteile bei

Zarathustra, da er als der Weisere und Wortgewandtere gelten muss. Gegen Ende

der Einleitung steht ein längerer Monolog Zarathustras, der mit den Worten „Höret

mich, Kinder“ beginnt. Durch den Gebrauch dieser Anrede bringt Zarathustra den

Altersunterschied zwischen ihm und den Jünglingen, die er als „Kinder“ bezeichnet,

zum Ausdruck. Dadurch wird die geistige Überlegenheit Zarathustras

hervorgehoben. Durch den Wechsel der Erzählperspektive hebt sich die Einleitung

formal von den anderen Kapiteln der Schrift, die ausschließlich monologisch

gestaltet sind, ab. Dadurch nimmt sie innerhalb der Schrift eine besondere Stellung

ein.

Wenn man an dieser Stelle Nietzsches Also sprach Zarathustra zum Vergleich

heranzieht, so zeichnet sich bereits ein inhaltlicher Unterschied ab. Hesses

Zarathustra erscheint plötzlich in den Straßen der Hauptstadt. Die Jünglinge suchen

ihn, weil sie ihn als überlegen anerkennen und bei ihm Fragen auf ihre Antworten

suchen. Im Gegensatz dazu muss Nietzsches Zarathustra seine Anhänger selbst

aufsuchen. Da er seiner Weisheit überdrüssig geworden ist, steigt er aus den Höhen

seiner Einsamkeit hinab:Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelthat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken.[…]Dazu muss ich in die Tiefe steigen: wie du des Abends thust, wenn du hinter das Meer gehstund noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn! (Z I, Zarathustra´s Vorrede, S.11)

Wichtig erscheint dabei der vertikale Aspekt des Hinabsteigens, weil er auf die

Überlegenheit Zarathustras hinweist. Nietzsches Zarathustra mag zwar ein Weiser

sein, seine Überlegenheit wird in diesem Abschnitt des Werkes jedoch noch nicht

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durch Anerkennung untermauert. Ganz im Gegenteil wird Zarathustra zunächst

sogar vom Volk verlacht:Als Zarathustra so gesprochen hatte, schrie Einer aus dem Volke: „Wir hörten nun genug vondem Seiltänzer; nun lasst uns ihn auch sehen!“ Und alles Volk lachte über Zarathustra. (Z I,Zarathustra´s Vorrede, S. 16)

Einschränkend muss erwähnt werden, dass Nietzsches Zarathustra in den vier

Teilen des Gesamtwerkes eine Wandlung durchlebt. Auch er kann im weiteren

Handlungsverlauf auf eine große Anhängerschaft blicken, die sich von ihm

Ratschläge erhofft. Dennoch heben sich die Eröffnungsszenen bei Hesse und

Nietzsche in Bezug auf diesen Aspekt deutlich voneinander ab.

7.2. Die Vielschichtigkeit Zarathustras

Die erstmalige Beschreibung Zarathustras erfolgt durch den auktorialen

Erzähler, d.h. aus einer Außenperspektive heraus Dabei liegt die Betonung auf dem

„Mensch-Sein“ Zarathustras:Er war weder alt noch jung, er sah nicht wie ein Lehrer noch wie ein Soldat aus, er sah aus wieein Mensch – der Mensch, als wäre er soeben aus der Dunkelheit des Werdens gestiegen, dererste von seiner Art. (ZW S. 468)

Rein äußerlich lässt sich Zarathustra keiner Gruppe zuordnen, er gehört weder

zu den Alten, noch zu den Jungen , er ist weder „Lehrer“, noch „Soldat“. Was ihn

auszeichnet, sein „Mensch-Sein“, ist eigentlich eine Eigenschaft, die er mit den

Jünglingen, zumindest äußerlich, teilt. Gleichzeitig hebt diese Eigenschaft ihn von

den anderen ab, wenn es um die „innere Menschwerdung“, um den geistigen

Reifeprozess geht. Darauf soll jedoch später detaillierter eingegangen werden.

Im Unterschied zum voran gegangenen Zitat charakterisiert Zarathustra sich in

der folgenden Textpassage durch direkte Rede selbst. Dabei stehen nicht so sehr die

äußeren Merkmale im Vordergrund. Die Betonung liegt vielmehr auf seiner eigenen

Einschätzung nach für ihn typischen Charakterzügen:´Nun denn, meine Lieben, so redet mit Zarathustra, höret Zarathustra! Der vor euch steht, istnicht Volksredner, noch ein Soldat, kein König, noch Heerführer, es ist Zarathustra, der alteEinsiedler und Spaßmacher, der Erfinder des letzten Lachens, der Erfinder so vieler letzterTraurigkeiten. (ZW, S. 469f.)

Auffallend ist hierbei der Facettenreichtum, mit dem die Figur ausgestattet ist.

Dieser Facettenreichtum ist aus verschiedenen Gründen von entscheidender

Bedeutung: Zum Ersten gelingt es Zarathustra scheinbar ambivalente

Charaktereigenschaften problemlos in sich zu vereinigen. So bezeichnet er sich

sowohl „Einsiedler“ als auch als „Spaßmacher“, er ist der „[…] Erfinder des letzten

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Lachens […]“ ebenso wie er der „[…] Erfinder so vieler letzter Traurigkeiten

[…]“43 ist. Zweitens ist die Vielschichtigkeit Zarathustras bei Hesse eine

Eigenschaft, die er mit der Zarathustra-Figur bei Nietzsche gemein hat:Und auch ihr fragtet euch oft: „ wer ist uns Zarathustra? Wie soll er uns heissen?“ Und gleichmir selber gabt ihr euch Fragen zur Antwort.Ist er ein Versprechender? Oder ein Erfüller? Ein Erobernder? Oder ein Erbender? Ein Herbst?Oder eine Pflugschar? Ein Arzt? Oder ein Genesener?Ist er ein Dichter? Oder ein Wahrhaftiger? Ein Befreier? Oder ein Bändiger? Ein Guter? Oderein Böser? (Z II, Von der Erlösung, S. 179)

Ebenso wie Hesse lässt Nietzsche seinen Zarathustra hier auf dessen eigene

Vielschichtigkeit hinweisen. Auch Nietzsches Zarathustra viele Gesichter und setzt

sich aus Widersprüchen zusammen. Man kann sagen, die Figur lebt aus diesen

Widersprüchen. Rüdiger Schmidt und Cord Spreckelsen betonen die Integrität der

Widersprüche Zarathustras, indem sie sagen: „Die Zusammenfügung, Integration

der Spannungen ist die Person Zarathustra.“44 Dennoch muss man feststellen, dass

sich die Facetten bei Nietzsches Zarathustras nicht bruchlos fügen. Er ist kein

ganzheitlich, vollendetes Ideal und selbst noch im Werden:Ein Seher, ein Wollender, ein Schaffender, eine Zukunft selber und eine Brücke zur Zukunft –und ach, auch noch gleichsam ein Krüppel an dieser Brücke: das Alles ist Zarathustra.Und auch ihr fragtet euch oft: „ wer ist uns Zarathustra? Wie soll er uns heissen?“ Und gleichmir selber gabt ihr euch Fragen zur Antwort. (Z II, Von der Erlösung, S. 179)

7.3. Die Frage nach der Existenz Gottes

Wenn man über die Zarathustra-Figur bei Hesse spricht, stellt sich als eine der

ersten Fragen natürlich auch die Frage nach der Existenz Gottes in der Flugschrift.

Diese Frage ist deshalb so elementar, weil der Tod Gottes eine grundlegende

Aussage in Nietzsches Also sprach Zarathustra ist:Als Zarathustra aber allein war, sprach er also zu seinem Herzen: „Sollte es denn möglich sein!Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch nichts davon gehört, daß Gott todt ist!“ (Z I,Zarathustras Vorrede, S. 14)

Nietzsches Zarathustra will der „Gottlose“ genannt werden. Er bekennt sich zu

seiner Gottlosigkeit und bringt dadurch seine Ablehnung an den Glauben jeglicher

Ideale zum Ausdruck Er konfrontiert die religiösen Lehrer, Religionsstifter,

Propheten und Geistlichen mit dem Bekenntnis seiner Gottlosigkeit:Und sonderlich rufen es ihre Lehrer der Ergebung -; aber gerade ihnen liebe ich´s, in das Ohrzu schrein: Ja! Ich bin Zarathustra, der Gottlose![…]

43 ZW, S. 469f.44 Schmidt und Spreckelsen: Nietzsche für Anfänger, S. 50.

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Wohlan! Dies ist meine Predigt für ihre Ohren: ich bin Zarathustra, der Gottlose, der da spricht„wer ist gottloser denn ich, dass ich mich seiner Unterweisung freue?“ (Z III, Von derverkleinernden Tugend 3, S. 215)

Hesses Zarathustra dahingegen beantwortet die Frage nach Gott auf eine

andere Art und Weise. Er verneint die Existenz Gottes nicht. Jeder der Jünglinge

soll sein eigenes Schicksal anerkennen. Dieses eigene Schicksal soll dem Einzelnen

als Gott dienen, vielmehr noch soll jeder sich selbst Gott sein:Und wie das Weib eins ist mit seinem Kinde und sein Kind liebt und nichts Besseres in derWelt kennt als sein Kind – so sollet ihr euer Schicksal lieben lernen und nichts Besseres auf derWelt kennen als euer Schicksal. Es soll euer Gott sein, denn ihr selbst sollet eure Götter sein.[…]Wem Schicksal von außen kommt, den erlegt es, wie der Pfeil das Wild erlegt. Wem Schicksalvon Innen und aus seinem Eigensten kommt, den stärkt es und macht ihn zum Gott. Es machteZarathustra zu Zarathustra – es soll dich zu dir machen! (ZW, Vom Schicksal S. 473)

Lautet bei Nietzsche die zentrale Botschaft Zarathustras, „Todt sind alle

Götter“45, so lässt Hesse seinen Zarathustra verkünden, „Möchtet ihr lernen, den

Gott in euch selbst zu suchen“.46 Dies ist die Kernaussage Zarathustras und

gleichzeitig seine Lehre:Eure Zukunft ist nicht dies oder das, ist nicht Geld oder Macht, ist nicht Weisheit oderGewerbeglück – eure Zukunft und euer schwerer, gefährlicher Weg ist dieser: reif zu werdenund Gott in euch selbst zu finden. Nichts ist euch, deutsche Jünglinge, schwerer gemacht. Stetshabt ihr Gott gesucht, aber niemals in euch selbst. Er ist nirgends sonst. Es gibt keinen andernGott, als der in euch ist. (ZW, Der Abschied, S. 496)

7.4. Zarathustra – Eine Lehrerfigur?

Kann Hesses Zarathustra als Lehrer bezeichnet werden? Wie im voran

gegangenen Kapitel dargestellt wurde, hat er tatsächlich eine Botschaft, eine Lehre,

zu verkünden, auch wenn er wiederholt von sich behauptet, kein Lehrer zu sein:Sehet, Zarathustra ist kein Lehrer, man kann ihn nicht fragen und von ihm lernen und ihm gutekleine und große Rezepte für nötige Fälle nachschreiben. Zarathustra ist der Mensch, er ist Ichund Du. Zarathustra ist der Mensch, nach dem ihr in euch selber auf der Suche seid, derAufrichtige, der Unverführte – wie sollte er an euch zum Verführer werden wollen? (ZW,[Einleitung], S. 472)

Zarathustra aber ist nie ein Lehrer gewesen, eure Lehren sind ihm höchstens Anlaß zuGelächter. (ZW, Ihr und euer Volk, S. 494)

Die Frage, ob die Zarathustra-Figur bei Hesse eine Lehrerfigur ist, lässt sich

nicht eindeutig beantworten. Einerseits haben die Reden Zarathustras ganz

offensichtlich einen lehrenden Charakter und sind dementsprechend gestaltet. So

spricht Zarathustra die Jünglinge unter anderem mit „ […] junge Freunde […]“,47

45 Z I, Von der schenkenden Tugend 3, S. 102.46 ZW, Vom Deutschen, S. 493.47 ZW, [Einleitung], S. 467.

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„[…] meine Lieben, […]“,48 „[… ] deutsche Jünglinge, […]“49 an. Allein die Art

der Anrede lässt auf ein Lehrer-Schüler Verhältnis schließen. Auch die häufige

Verwendung rhetorischer Fragen, eingesetzt als didaktisches Mittel um die

Jünglinge zum eigenständigen Denken zu bewegen, deutet auf eine Lehrerrolle

Zarathustras hin. Solche rhetorischen Fragen tauchen in allen Abschnitten der

Flugschrift auf, besonders auffällig ist jedoch die Häufung im Kapitel „Vom

Schicksal“, die mit der folgenden Passage beginnt:Liebe Freunde, wäre es nicht gut, ihr besännet euch? Wäre es nicht gut, ihr würdet, wenigstensdiesmal, eure Schmerzen mit mehr Ehrfurcht behandeln, mit mehr Neugierde, mit mehrMännlichkeit, mit weniger Kleinkinderangst und Kleinkindergeschrei? Könnte es nicht sein,daß die bittern Schmerzen Stimme des Schicksals sind, und daß sie süß werden, wenn ihr dieStimme verstehet? Könnte es nicht so sein? (ZW, Vom Schicksal, S. 474)

Des Weiteren enthält die Rede Zarathustras zahlreiche Aufrufe, wie

beispielsweise „Lernet euer Leben zu leben! Lernet euer Schicksal erkennen!“.50

Speziell diese beiden Aufforderungen an die Jünglinge sind durch die Alliteration in

den Wörtern „Lernet – Leben – leben“, durch die Anapher von „Lernet […]“ und

schließlich durch die parallele Satzkonstruktion besonders auffällig. Hinter der

Verwendung des Wortes „Lernet […]!“ steht außerdem die Aussage, dass

Zarathustra die Jünglinge als Lernende und sich selbst, wenn auch nicht als Lehrer

dann doch zumindest als Verkünder einer Lehre, sieht.

Ein weiteres auffälliges Stilmerkmal, das die Reden Zarathustras kennzeichnet,

ist die Verwendung zahlreicher Metaphern, Symbole und Gleichnisse, die ebenfalls

lehrenden Charakter haben. Herausragend erscheint dabei das folgende Metapher,

mit der Zarathustra seine Rede beendet:Es gibt in jedem von euch nur einen, nur seinen, nur seinen einzigen, eigenen Vogel, auf denzu hören ihm nottut. Dies sage ich euch zum Abschied: Höret auf den Vogel! Höret auf dieStimme, die aus euch selber kommt! Wenn sie schweigt, diese Stimme, so wisset, daß etwasschief steht, daß etwas nicht in Ordnung ist, daß ihr auf dem falschen Wege seid.Singt und spricht er aber, euer Vogel – oh, dann folget ihm in jede Lockung und noch in diefernste und kälteste Einsamkeit und in das dunkelste Schicksal hinein! (ZW, Der Abschied, S.497)

Die Stimme, die aus dem Innersten kommt wird metaphorisch als singender

Vogel beschrieben. Deutlich spürbar ist hier die Querverbindung zum Text

Eigensinn von 1917. Auch in diesem Text spricht Hesse von einer inneren Stimme,

der es zu folgen gilt:

48 ZW, [Einleitung], S. 469.49 ZW, Das Vaterland und die Feinde, S. 487.50 ZW, Vom Schicksal, S. 473.

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Der Mensch aber, der einmal den Mut zu sich selber gefühlt und die Stimme seines eigenenSchicksal gehört hat, ach, dem ist an Politik nicht das mindeste mehr gelegen, sie sei nunmonarchisch oder demokratisch, revolutionär oder konservativ!51

Hesses Bewunderung für die Tugend des Eigensinns, wird in dem zeitlich

später einzuordnendem Text Zarathustras Wiederkehr mit der Metapher vom

singenden Vogel verbildlicht und abgerundet.

Wie an Hand verschiedener Beispiele erläutert, unterstützen eine Reihe von

Stilmitteln die Behauptung, dass Hesses Zarathustra eine Lehrerfigur ist. Irritierend

mag allein die Tatsache erscheinen, dass Zarathustra seine Anhänger auffordert,

nicht „[…] in artiger Schülerschaft [zu] verharren […]“.52 Sie sollen ihm nicht

nacheifern oder ihn nachahmen. Stattdessen sollen sie sich auf sich selbst besinnen

und ihr Innerstes lebendig werden lassen:

Und nun, Freunde, nehme ich Abschied von euch. Und ihr wisset es ja schon, wenn Zarathustravon seinen Zuhörern Abschied nimmt, so pflegt er sie nicht zu bitten, sie möchten ihm treubleiben und in artiger Schülerschaft verharren.Ihr sollet Zarathustra nicht anbeten. Ihr sollet Zarathustra nicht nachahmen. Ihr sollet nichtZarathustras werden wollen! In einem jeden von euch ist eine verborgene Gestalt, die noch imtiefen Kindesschlummer liegt. Lasset sie lebendig werden! (ZW, Der Abschied, S. 496)

Wie ist nun Nietzsches Zarathustra mit Blick auf diese Problematik gestaltet?

Eine Facette der Zarathustra-Figur bei Nietzsche ist unbedingt auch die des Lehrers.

So weist Horváth in seinem Aufsatz darauf hin, dass „Nietzsches Zarathustra unter

anderem […] ein Lehrer ist, ein Lehrer des Übermenschen und der ewigen

Wiederkehr des Gleichen“.53

Ich lehre Euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Washabt ihr getan, ihn zu überwinden?[…]Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Willesage: der Übermensch sei der Sinn der Erde. (Z I, Zarathustra´s Vorrede 3, S. 14)

Im Unterschied zu der Figur bei Hesse bekennt sich Nietzsches Zarathustra

jedoch zu seiner Lehrerrolle. Indem er sagt „Ich lehre euch […]“ nimmt er diese

Rolle bewusst ein. Jedoch fordert auch er seine Anhänger auf, seine Worte nicht

einfach hinzunehmen. Auch sie sollen sich von ihm abwenden und seine Lehren

hinterfragen und prüfen:Wahrlich, ich rathe euch: geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und bessernoch: schämt euch seiner! Vielleicht betrog er euch.[…]Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnethabt, will ich euch wiederkehren. (Z I, Von der schenkenden Tugend 3, S. 101)

51 Hesse: Eigensinn. In: GW, Bd. 10, S. 458.52 ZW, Der Abschied, S. 496.53 Horváth: Hesses Engagement der Seele, S. 195.

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Ebenso wie Hesses Zarathustra lässt auch Nietzsches Zarathustra seinen

Anhängern keine Wahrheit zurück, die sie übernehmen könnten. Auch er ruft sie

dazu auf, sich auf die Suche nach ihrem eigenen, individuellen Weg zu machen:„Das – ist nun mein Weg, - wo ist der eure?“ so antwortete ich Denen, welche mich „nach demWege“ fragten. Den Weg nämlich – den giebt es nicht. (Z III, Vom Geist der Schwere 2, S.245.)

Mit dieser Aussage wird „ [d]er Anspruch auf einen einzigen Heilsweg oder

auch nur eine universelle Wahrheit […]“54 bei Nietzsche ebenso zurückgewiesen

wie bei Hesse.

7.5. Der Aspekt der Narrentradition

In der Auseinandersetzung mit der Zarathustra-Figur muss einem weiteren

Punkt unbedingt Beachtung geschenkt werden. Dies ist die Charakterisierung

Zarathustras als „[…] Spaßvogel und launischer Wanderer […]“55 bei Hesse und als

„Schelm“56 bei Nietzsche. Dieser Aspekt ist deshalb von Bedeutung, weil die

Gestalt des Possenreißers, der sich selbst nicht durch und durch ernst nimmt, sich

eigentlich schwer mit der des Weisen vereinen lässt. Sowohl Hesses als auch

Nietzsches Zarathustra-Figur sind innerhalb dieser Spannung konzipiert:Vergesset, was der alte Fremdling vom Gebirge euch gesagt hat. Zarathustra ist nie ein Weisergewesen. Er ist immer ein Spaßvogel und launischer Wanderer gewesen.(ZW, Der Abschied,S. 496)

Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte mir diese Krone auf,ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen Anderen fand ich heute stark genug dazu.Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend,bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger:- (Z IV, Vom höheren Menschen 18, S. 366)

In diesen Selbstcharakterisierungen heben sowohl Hesses als auch Nietzsches

Zarathustra-Figuren ihre vermeintliche Leichtigkeit hervor. Die Tatsache, dass

beide Figuren sich selbst nicht gänzlich ernst zu nehmen scheinen, ermöglicht es

den Hörern bzw. den Lesern der Reden, ihre kritische Distanz zu Zarathustra zu

bewahren und ihre Autonomie in der Beurteilung seiner Lehren aufrecht zu

erhalten.

54 Schmidt und Spreckelsen: Nietzsche für Anfänger, S. 92. (Hervorhebung von mir, H.S.)55 ZW, Der Abschied, S. 496.56 Z IV, Das Eselsfest, S. 392.

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8. Hesses Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit und den

Werken Nietzsches

Hermann Hesse kommt nach eigenen Angaben zum ersten Mal um das Jahr

1896 mit den Schriften Nietzsches in Berührung.57 Dies ist die Zeit seiner dreijährigen

Buchhändlerlehre, die er zwischen Oktober 1895 und Juni 1899 in Tübingen

absolviert. Hesse betreibt während dieser Periode intensive literarische Selbststudien,

er beschäftigt sich vor allem mit den Dichtern der deutschen Klassik und der

Romantik.58

Zu Nietzsche nimmt Hesse von Anfang an eine ambivalente Haltung ein.

Neben einzelnen philosophischen Gedanken Nietzsches, schätzt er zunächst vor allem

dessen „[…] gewaltiges sprachliches und poetisches Genie […]“.59 Davon zeugt

folgender Ausschnitt aus einem Brief an seinen Vater:9An Johannes HesseTübingen, 15. 6. 1896Du, lieber Papa, schriebst neulich ein paar Worte über Nietzsche. Ich kenne ihn einigermaßenund im ganzen ist mir seine vornehme, ästhetische Art nicht zuwider, man kann bei ihm hieund da ein paar Züge Höhenluft genießen. Ich schätze am meisten sein ganz gewaltigessprachliches und poetisches Genie, von seinen Gedanken nur einzelne, poetische „Tugend istWille zum Untergang und ein Pfeil der Sehnsucht“ und den Satz „Schäme dich nicht, vonDeiner Tugend zu stammeln“ mit der feinen Ausführung. Es ist schade um ihn, er hätte eineHerrenästhetik schreiben sollen, die wertvoller wäre als seine Herrenmoral.60

Hesses Haltung zu Nietzsche bleibt auch in den folgenden Jahren ambivalent.

Sie ist einerseits geprägt von einer großen Bewunderung für den Dichter Nietzsche,

andererseits aber auch von kritischer Distanz zu Nietzsches Philosophie und den

Ideen, die er vertritt.13An Karl IsenbergTübingen, 12. 6. 1897Sonntag, den 13. 6. 1897

57 Vgl. Hesse: Gesammelte Briefe. Bd. 4, S. 181.58 Vgl. Michels, Rathgeber, Würzbach: Hermann Hesse. Marbacher Magazin 54/1990, S. 33-35.59 Hesse: Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 25.60 Ebd., S. 25f.

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Von Nietzsche lernte ich einiges ästhetisch Große; im übrigen ist er mir ein großer, Denkwegegehender Dichter, seine Schriften ein Wunder und ein Born künstlerischer Freude – denn erkann Deutsch wie Luther und Bismarck. Man kann wenn man nicht Philosoph ist, vieles vonihm lesen wie Stücke des Alten Testaments. Nietzscheaner bin ich nicht, das Wesentlicheseiner Philosophie, das Gut – böse = Gut –schlecht, das Totschlagen der Moral, berührt michnicht viel, da meine Anschauung, meine Religion fromm, aber recht moralfrei ist. Da mir alsEnde und Ziel jeder Weltanschauung eine persönliche Religion erscheint, war das einzigeResultat, das ich fand, die Bestätigung meiner Ansicht, dass eine Moral das Ergebnis einerReligion sein kann, daß aber nie, gar nie aus einer Moral eine Religion erbaut werden kann.Denn das Höhere ist die Religion. Ich glaube, daß es keine Religion gibt, die mit dem Sinaibeginnt, während die meisten Weltanschauungen dort beginnen. 61

Interessant an diesem Brief ist die Verbindung, die Hesse zur Religion

herstellt. Er stellt fest, dass man vieles von Nietzsche lesen kann wie „Stücke des

Alten Testaments“ – vielleicht nimmt er mit diesem Vergleich sogar Bezug auf den

Stil von Also sprach Zarathustra, den er 1896 oder 1897 gelesen haben muss. Hesse

macht jedoch vehement deutlich, in welcher Hinsicht sich seine eigenen

Auffassungen von denen Nietzsches unterscheiden. Er betont ausdrücklich, dass er

kein „Nietzscheaner“ ist, da ihn „[…] das Wesentliche seiner [Nietzsches]

Philosophie, […], das Totschlagen der Moral […]“62 nicht viel berührt. Diesen

Schritt in der Entwicklung seiner (Welt)anschauung scheint Hesse bereits gegangen

zu sein – auch ohne Nietzsche gelesen zu haben. Dass der Gedanke einer

moralfreien Betrachtung der Welt für Hesse nicht vollkommen neu ist, beweist die

Textstelle, in welcher er seine „[…] Anschauung, [s]eine Religion […]“ als „[…]

fromm, aber recht moralfrei […]“63 beschreibt.

Es fällt auf, dass im Zentrum von Hesses weltanschaulichen Überlegungen

weiterhin die Suche nach einer Religion, genauer gesagt nach einer „persönliche[n]

Religion“ steht. Diese scheint für ihn das „[…] Ende und Ziel jeder

Weltanschauung […]“64 zu sein. Nietzsche erschafft mit seinem Konzept vom

Übermenschen eine Art Pseudoreligion. Für Hesse kann „ […] eine Moral das

Ergebnis einer Religion sein […]“, niemals kann jedoch „ […] aus einer Moral eine

Religion erbaut werden“. Seiner Ansicht nach ist „[…] das Höhere, die Religion“.65

In diesen Zeilen kommt ein wesentlicher Unterschied zwischen Hesse und

Nietzsche zu Tage: Während Nietzsche versucht, sich von jeglicher Religion zu

lösen und eine beinahe aggressive Antireligiösität vertritt, bleibt Hesse bei seinen

religiösen Fundamenten.

61 Ebd., S. 31f.62 Ebd., S. 31.63 Ebd.64 Hesse: Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 31f.65 Ebd., S. 32.

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Während die voran gegangenen Zitate von einer kritischen Distanz Hesses zu

Nietzsches Philosophie zeugen, ist im folgenden Zitat eine Annäherung spürbar.

Diese Annäherung bezieht sich jedoch vorrangig auf die Persönlichkeit Nietzsches,

auf die Gestalt des „Unzeitgemäßen“ und „Vereinsamten“:

201An Johannes Hesse[16. 3. 1914]In letzter Zeit kam ich, nach zehn Jahren Pause, wieder an die Lektüre Nietzsches und findedarin sehr viel neue Anregung und Genuß, allerdings einen höchst schmerzlichen Genuß, dennes gibt kaum ein melancholischeres Bild als das dieses edlen, feinst organisierten Mannes, derin einer unsäglichen Einsamkeit lebte und dessen zart organisierte Seele jeden Schmerz, den erals Denker andern zufügte, vorher tiefer selbst empfunden hatte. 66

Wie bereits ausführlich erläutert, befindet sich Hesse im Jahr 1914 in einer

großen, lang anhaltenden Lebenskrise. Wahrscheinlich fühlt er sich gerade in dieser

krisenhaften Zeit erneut zu Nietzsche hingezogen, weil er sich zu diesem Zeitpunkt

selbst als „Unzeitgemäßen“ empfand und in Nietzsche einen Leidesgenossen sah.

So weist auch Horváth darauf hin, dass in den frühen Werken Hesses „[…] das

tröstende Beispiel des einsamen Nietzsche und das oft krankhafte,

selbstzerstörerische Genie betont wird […]“.67 Nicht ohne Grund fällt in diese Zeit

schließlich auch die Verfassung der Flugschrift Zarathustras Wiederkehr, die eine

wichtige Station in der Entwicklung von Hesses Verhältnis zu Nietzsche darstellt.

Das Verhältnis, dass Hesse zu Nietzsche hat, kann im Rahmen dieser Arbeit

nur ausschnittsweise erläutert werden. Sicher ist, dass Nietzsche eine große

Faszination auf Hesse ausübte. Kaum ein anderer der großen Dichter und Denker

hat ihn so stark beeinflusst. Darüber gibt auch folgende Aussage, in der Hesse

Nietzsches Bedeutung für sein Leben mit der Bedeutung Goethes vergleicht,

Aufschluss:[…] kein anderer Schriftsteller außer Nietzsche hat mich je so beschäftigt, so angezogen undgepeinigt, so zur Auseinandersetzung gezwungen [wie Goethe]. 68

Manche Jahre habe ich mich so mit Goethe geplagt und ihn zur Unruhe meines geistigenLebens werden lassen, ihn und Nietzsche.69

Hesse nennt hier Nietzsche und Goethe in einem Atemzug. Er bewertet sie als

gleichrangig, was die Bedeutung für sein geistiges Leben betrifft und stellt sie

diesbezüglich nebeneinander auf eine Ebene.

66 Ebd., S. 243.67 Horváth: Hermann Hesses Engagement der Seele, S. 194.68 Hesse: Dank an Goethe. In: GW, Bd. 12, S. 146.69 Ebd., S. 149.

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Die Auseinandersetzung mit Nietzsche begleitet Hesse ein Leben lang. Seine

Einstellungen und Haltungen ihm gegenüber unterliegen jedoch einem ständigen

Wandel. Diesen Wandel, das stetige Auf und Ab der Wertschätzung Nietzsches,

beschreibt Hesse rückblickend wie folgt:

198An Paul BöckmannIm Juli 1953Mit Nietzsche ging es mir etwa so: Als ich ihn, etwa 1896 oder 97, entdeckt hatte, berauschteer mich vollkommen, und zwar mit dem Zarathustra. Er berauschte mich ähnlich wie etwasfrüher Wagners Musik mich berauscht hatte. Beidemale folgte, um Jahre später, dieErnüchterung. Bei Wagner war sie vollkommen, ich konnte ihn nicht mehr ausstehen und sahauf meine kurzdauernde Begeisterung etwa so zurück wie ein Student auf seine einstige Liebezu Karl May. Bei Nietzsche war es freilich anders. Zwar ist der Zarathustra mir seit der erstenErnüchterung nie wieder genießbar geworden, dafür lernte ich die nicht hymnischen seinerSchriften lieben, und als Ecce homo erschien, war es mir nochmals ein großes Erlebnis.70

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass vor allem das Bild, das sich Hesse

von der Persönlichkeit Nietzsches geschaffen hatte, einen großen Einfluss auf Hesse

ausübte und für seine persönliche und künstlerische Entwicklung unabdingbar war.

Die politische Flugschrift Zarathustras Wiederkehr spiegelt nur eine Etappe dieser

Entwicklung wider.

9. Zusammenfassung

In den vorgestellten Kapiteln wurde sowohl eine Untersuchung der

Entstehungsvoraussetzungen der politischen Flugschrift Zarathustras Wiederkehr

durchgeführt als auch eine Charakterisierung der Zarathustra-Figur in dieser

Flugschrift vorgenommen. Bei der Charakterisierung Zarathustras wurde die

literarische Vorlage Also sprach Zarathustra von Friedrich Wilhelm Nietzsche

herangezogen. An Hand des Vergleichs der Zarathustra-Figuren in diesen beiden

Texten ließen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Konzeption der

Gestalt besonders gut herausarbeiten. In verschiedenen Punkten lehnt Hesse sich in

der Gestaltung seiner Zarathustra-Figur stark an Nietzsches Zarathustra an. So sind

beide Figuren durch einen ausgesprochenen Facettenreichtum gekennzeichnet,

welcher die Vereinigung scheinbar widersprüchlicher Eigenschaften einschließt.

Auch die Gestaltung innerhalb der Narrentradition ist bei beiden Figuren ähnlich.

70 Hesse: Gesammelte Briefe, Bd. 4, S. 181.

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Der prägnanteste Unterschied in der Konzeption besteht in der Beantwortung

der Frage nach der Existenz Gottes. Nietzsches Zarathustra verneint die Existenz

Gottes gänzlich. Hesses Zarathustra fordert das einzelne Individuum auf, seinen

eigenen Gott zu suchen, der nur im eigenen Innern gefunden werden kann. In dieser

Verschiedenartigkeit der Konzeption spiegeln sich die unterschiedlichen

Weltanschauungen Hesses und Nietzsches und ihre intensive Auseinandersetzung

mit Fragen der Religion wider.

Der wohl interessanteste Aspekt innerhalb der Untersuchung ist die Frage, ob

Zarathustra als Lehrerfigur betrachtet werden kann. Lässt sich bei Nietzsche diese

Frage noch relativ eindeutig beantworten, entzieht sich Hesses Zarathustra einer

Einordnung. Zwar haben auch seine Reden eindeutig einen lehrenden Charakter und

sind mit Stilmitteln ausgestattet, die diesen Charakter unterstreichen. Seine Lehre

besteht darin, dass es keine allgemeingültigen Wahrheit geben kann und folglich

jeder seinen eigenen Weg finden muss. Eine solche Lehre, die man zwar befolgen

kann, die einen jedoch letztendlich wieder auf die eigenen Fähigkeiten zurückwirft,

erscheint zunächst paradox, da sie keinerlei Handlungsanweisungen bereit halten

kann. Man sollte an dieser Stelle jedoch auch das Konzept des Lehrers hinterfragen.

Letztendlich ist ein Lehrer nicht dazu bestimmt, dogmatische Anweisungen zu

geben. Vielmehr sollte er seine Schüler zum selbständigen Denken und Handeln

bewegen und sie dabei unterstützen, sozusagen „Hilfe zur Selbsthilfe“ leisten. Um

nun dieses vielschichtige Anliegen ausdrücken zu können, benötigt Hesse eine

Lehrerfigur, die es den Zuhörern (in diesem Fall den Jünglingen) freistellt, ob sie

die Lehre annehmen wollen oder nicht. Diese Figur wird durch die Konzeption des

Zarathustras, als Lehrer, der zur Autonomie des Denkens auffordert, verkörpert.

Im letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit stand die Haltung, die Hesse in den

verschiedenen Epochen seines Lebens zur Persönlichkeit Friedrich Wilhelm

Nietzsches und zu dessen Philosophie im Mittelpunkt. Diese Überlegungen stützten

sich auf Briefausschnitte und Aufsätze Hesses, in denen er selbst sein Verhältnis zu

Nietzsche analysiert. Als Ergebnis lässt sich dabei die Erkenntnis festhalten, dass

Nietzsche einer der Dichter und Denker war, die den größten Einfluss auf Hesses

geistiges Leben hatten. Dennoch erfolgte seine Auseinandersetzung mit Nietzsches

Leben und Werk nicht kritiklos. Sie ist von durchaus ambivalenten und auch

wechselnden Einstellungen und Einschätzungen geprägt. Die geistige

Auseinandersetzung mit Nietzsche begleitet Hesse ein Leben lang. Dabei fällt auf,

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dass Hesse sich besonders in persönlichen Krisen- und Umbruchzeiten zu Nietzsche

hingezogen fühlt. Die Vermutung liegt nahe, dass er zu diesen Zeiten in ihm einen

Seelenverwandten sah, der ihm Trost spenden, und gleichzeitig Vorbild sein konnte.

Dennoch bezeichnet Hesse sich selbst nicht als „Nietzscheaner“. Seine

Begeisterung bezieht sich hauptsächlich auf die Person Nietzsches, nicht auf dessen

Philosophie.

Das zentrale Anliegen, dass Hesse mit seiner Flugschrift vertritt, nämlich das

ausschließliche Bekenntnis zur eigenen Individualität, ist auch ein Verhalten, das er

selbst immer wieder praktiziert und zu dem er auch andere Menschen aufruft. So

fordert er, gleich seinem Zarathustra, einen jungen Deutschen in einem Brief von

1919 auf, sich intensiv mit Nietzsche zu beschäftigen, aber nicht bei ihm stehen zu

bleiben, sondern nach eigenen Wegen zu suchen:Aber bleiben Sie nicht bei Nietzsche stehen und nicht bei irgendeinem Propheten undRatgeber. Unser Amt ist nicht, Sie zu belehren, Ihnen Mühe zu sparen, Ihnen Wege zu zeigen.Unser Amt ist nur, Sie daran zu erinnern, daß es einen Gott gibt, einen einzigen, und daß dieserGott in Ihrem Herzen wohnt und Sie ihn dort suchen und dort mit ihm reden müssen. 71

Die intensive Beschäftigung mit Nietzsche und seinen Werken, aber auch das

kritische Hinterfragen dessen Ideen ist gleichsam charakteristisch für Hesses

Auseinandersetzung mit Nietzsche.

71 Hesse: Brief an einen jungen Deutschen. In: GW, Bd. 10, S. 464f.

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10. Siglenverzeichnis

GW - Gesammelte Werke

Z - Also sprach Zarathustra

ZW - Zarathustras Wiederkehr

Primärliteratur

Hermann Hesse. Gesammelte Werke. 12 Bände. Hg. v. Volker Michels. 1. Auflage.

Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970.

Hermann Hesse. Gesammelte Werke. 12 Bände. Hg. v. Volker Michels. 1. Auflage.

Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. Band 10: Betrachtungen, Aus den

Gedenkblättern, Rundbriefe, Politische Betrachtungen.

Hermann Hesse. Gesammelte Werke. 12 Bände. Hg. v. Volker Michels. 1. Auflage.

Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. Band 12: Schriften zur Literatur 2. Eine

Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen.

Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzel-

bänden. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene

Auflage. München, Berlin/New York: Deutscher Taschenbuch Verlag / Walter

de Gruyter1988 (dtv 2224). Band 4: Also sprach Zarathustra I-IV.

Sekundärliteratur

Ball, Hugo: Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk. 1. Auflage. Frankfurt am

Main: Suhrkamp Verlag 1977 (suhrkamp taschenbuch 385).

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HHP & Hendrikje Schulze, Oktober 2001 27

Böttger, Fritz: Hermann Hesse. Leben, Werk, Zeit. 7., veränderte Auflage. Berlin:

Verlag der Nationen 1990.

Freedman, Ralph: Hermann Hesse. Autor der Krisis. Eine Biographie. Aus dem

Amerikanischen von Ursula Michels-Wenz. 1. Auflage. Frankfurt am Main:

Suhrkamp Verlag 1999 (suhrkamp taschenbuch 3088)

Hermann Hesse. Gesammelte Briefe. Erster Band 1895 -1921. Hg. v. Ursula und

Volker Michels in Zusammenarbeit mit Heiner Hesse. 1. Auflage. Frankfurt

am Main: Suhrkamp Verlag 1973.

Hermann Hesse. Gesammelte Briefe. Vierter Band 1949 -1962. Hg. v. Ursula und

Volker Michels in Zusammenarbeit mit Heiner Hesse. 1. Auflage. Frankfurt

am Main: Suhrkamp Verlag 1986.

Hermann Hesse. Politik des Gewissens. Die Politischen Schriften. 1914-1932.

Vorwort von Robert Jungk. Erster Band. Hg. v. Volker Michels. 1. Auflage.

Frankfurt am Main: SuhrkampVerlag 1977.

Horváth, Géza: „Zarathustras Wiederkehr. Ein Wort an die deutsche Jugend“ -

Hermann Hesses Engagement der Seele. In: Hermann Hesse und die Politik. In

Beziehung zur Zukunft bleiben. Hg.v. Martin Pfeifer. Bad Liebenzell: Verlag

Bernhard Gengenbach 1992 (4685). S. 193-204.

Kunzmann, Peter, Franz-Peter Burkhard und Franz Wiedmann: dtv-Atlas zur

Philosophie. Tafeln und Texte. Originalausgabe. München: Deutscher

Taschenbuch Verlag 1991 (dtv 3229).

Materialien zu Hermann Hesse „Demian“. 2 Bände. Hg. v. Volker Michels. 1.

Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1993 (suhrkamp taschenbuch

1947). Band 1. Entstehungsgeschichte in Selbstzeugnissen.

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HHP & Hendrikje Schulze, Oktober 2001 28

Michels, Volker, Paul Rathgeber und Eugen Würzbach: Hermann Hesse. Marbacher

Magazin 54/1990 (Sonderheft) Für die Ausstellung im Hermann Hesse-

Museum der Stadt Calw. Hg. v. Ulrich Ott. Stuttgart: Offizin Chr. Scheufele

1990.

Middell, Eike: Hermann Hesse. Die Bilderwelt seines Lebens. 1. Auflage. Leipzig:

Verlag Philipp Reclam junior 1972 (Reclams Universal – Bibliothek Band

169).

Nehamas, Alexander: Nietzsche. Leben als Literatur. Aus dem Amerikanischen von

Brigitte Flickinger. 1. Auflage. Göttingen: Steidl Verlag 1991.

Ries, Wiebrecht: Nietzsche zur Einführung. 4., überarbeitete und erweiterte

Neuausgabe. Hamburg: Junius Verlag 1990.

Schmidt, Rüdiger und Cord Spreckelsen: Nietzsche für Anfänger. Also sprach

Zarathustra. Eine Leseeinführung. Originalausgabe. München: Deutscher

Taschenbuch Verlag 1995.

Unseld, Siegfried: Begegnungen mit Hermann Hesse. 2. Auflage. Frankfurt am

Main: Suhrkamp Verlag 1975 (suhrkamp taschenbuch 218).

Unseld, Siegfried: Hermann Hesse. Werk und Wirkungsgeschichte. 1. Auflage.

Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1987 (insel taschenbuch 1112).

3. Allgemeine Nachschlagewerke

Brockhaus. Die Enzyklopädie in 24 Bänden. 20., überarbeitete und aktualisierte

Auflage. Leipzig, Mannheim: F. A. Brockhaus .