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15 forum erwachsenenbildung 2/07 Zur Diskussion Anmerkung Anmerkung Anmerkung Anmerkung Anmerkung 1 Vortrag im Rahmen des Studientags der DEAE-Mitgliederver- sammlung am 6. März 2007 in Bad Boll Quellen Quellen Quellen Quellen Quellen SJS = Hurrelmann, Klaus; Albert, Mathias; TNS Infratest Sozialfor- schung (2006). 15. Shell Jugendstudie. Jugend 2006. Frankfurt a.M. BB = Konsortium Bildungsberichterstattung (2006). Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analy- se zu Bildung und Migration. Bielefeld. CLS = Wagner, Tony; Kegan, Robert et al. (2006). Change Leadership: A Practical Guide to Transforming Our Schools. San Francisco. Czisch = Czisch, Fee (2004). Kinder können mehr. Anders lernen in der Grundschule. München. GC = Globalisation Council (2006). Progress, Innovation and Cohe- sion. Strategy for Denmark in the Global Economy. Albertslund. Hentig = Hentig, Harmut von (1996). Bildung – ein Essay. Wien. Huber = Huber, Wolfgang (2006). Gesellschaftlicher Wandel und seine Auswirkung auf Bildung und Erziehung. Vortrag auf dem Fachkongress „Schule in der Gesellschaft“ in Hannover, 30.11.2006. (http://www.ekd.de/vortraege/huber/061130_hu ber_hannover.html) OECD (2006) = Education at a Glance – OECD indicators 2006. Paris. Prager, Jens U.; Schleiter, André (Hrsg.) (2006). Länger leben, ar- beiten und sich engagieren. Chancen werteschaffender Beschäf- tigung bis ins Alter. Gütersloh. Ratzki = Ratzki, Anne (2005). Heterogenität – Chance oder Risiko? Eine Bilanz internationaler Schulerfahrungen. Antrittsvorlesung Universität Paderborn, 26.01.2005. (http://www.ggg-bund.de/ Antrittsvorlesung_ARatzki.pdf ) RZ = Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demographischen Wandels (2005). Deutschland im Demographischen Wandel. Fak- ten und Trends 2005. Rostock. Stat. BA = Statistisches Bundesamt (2006). Bildung, Wissenschaft, Kultur. Allgemeinbildende Schulen, Absolventen/Abgänger und Absolventinnen/Abgängerinnen des Schuljahrs 2004/2005 nach Abschlussarten. Stand 10.10.2006. (http://www.statistisches bundesamt.de/basis/d/biwiku/schultab16.php) Stern 09/2007 = Wüllenweber, Walter (2007). „Vater Staat und Mutterliebe“. Stern 09/2007. 1. Vorbemerkung und Überblick über den Argumentationsbogen Als ich Mitte der 1980er Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel in ein gerontologi- sches Forschungsinstitut eintrat (vgl. Nittel 1986), waren schon damals die dramatischen Prognosen über die Al- ters- und Bevölkerungsentwicklung bekannt. Wir haben diese Vorhersagen in Diagramme und Schaubilder über- tragen, so dass einerseits symmetrisch gestylte Tannen- bäume und wulstige Gewächse sichtbar wurden, die heu- te in den Massenmedien die Überalterung der Gesell- schaft evident machen sollen. Obwohl die zentralen Eckdaten vor 22 Jahren so ähnlich aussahen wie heute, stehen wir dennoch momentan vor einer ganz anderen, ja einer radikal Dieter Nittel: (Neue) Bildungsaufgaben und Lernfelder unter dem Eindruck des demographischen Wandels Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland 1910, 2005 und 2050

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Zur DiskussionZur Diskussion

AnmerkungAnmerkungAnmerkungAnmerkungAnmerkung1 Vortrag im Rahmen des Studientags der DEAE-Mitgliederver-

sammlung am 6. März 2007 in Bad Boll

QuellenQuellenQuellenQuellenQuellenSJS = Hurrelmann, Klaus; Albert, Mathias; TNS Infratest Sozialfor-

schung (2006). 15. Shell Jugendstudie. Jugend 2006. Frankfurta.M.

BB = Konsortium Bildungsberichterstattung (2006). Bildung inDeutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analy-se zu Bildung und Migration. Bielefeld.

CLS = Wagner, Tony; Kegan, Robert et al. (2006). Change Leadership:A Practical Guide to Transforming Our Schools. San Francisco.

Czisch = Czisch, Fee (2004). Kinder können mehr. Anders lernenin der Grundschule. München.

GC = Globalisation Council (2006). Progress, Innovation and Cohe-sion. Strategy for Denmark in the Global Economy. Albertslund.

Hentig = Hentig, Harmut von (1996). Bildung – ein Essay. Wien.Huber = Huber, Wolfgang (2006). Gesellschaftlicher Wandel und

seine Auswirkung auf Bildung und Erziehung. Vortrag auf demFachkongress „Schule in der Gesellschaft“ in Hannover,

30.11.2006. (http://www.ekd.de/vortraege/huber/061130_huber_hannover.html)

OECD (2006) = Education at a Glance – OECD indicators 2006.Paris.

Prager, Jens U.; Schleiter, André (Hrsg.) (2006). Länger leben, ar-beiten und sich engagieren. Chancen werteschaffender Beschäf-tigung bis ins Alter. Gütersloh.

Ratzki = Ratzki, Anne (2005). Heterogenität – Chance oder Risiko?Eine Bilanz internationaler Schulerfahrungen. Antrittsvorlesung

Universität Paderborn, 26.01.2005. (http://www.ggg-bund.de/Antrittsvorlesung_ARatzki.pdf )

RZ = Rostocker Zentrum zur Erforschung des DemographischenWandels (2005). Deutschland im Demographischen Wandel. Fak-ten und Trends 2005. Rostock.

Stat. BA = Statistisches Bundesamt (2006). Bildung, Wissenschaft,Kultur. Allgemeinbildende Schulen, Absolventen/Abgänger undAbsolventinnen/Abgängerinnen des Schuljahrs 2004/2005 nachAbschlussarten. Stand 10.10.2006. (http://www.statistischesbundesamt.de/basis/d/biwiku/schultab16.php)

Stern 09/2007 = Wüllenweber, Walter (2007). „Vater Staat undMutterliebe“. Stern 09/2007.

1. Vorbemerkung und Überblick über den

Argumentationsbogen

Als ich Mitte der 1980er Jahre als wissenschaftlicherMitarbeiter an der Universität Kassel in ein gerontologi-sches Forschungsinstitut eintrat (vgl. Nittel 1986), warenschon damals die dramatischen Prognosen über die Al-ters- und Bevölkerungsentwicklung bekannt. Wir haben

diese Vorhersagen in Diagramme und Schaubilder über-tragen, so dass einerseits symmetrisch gestylte Tannen-bäume und wulstige Gewächse sichtbar wurden, die heu-te in den Massenmedien die Überalterung der Gesell-schaft evident machen sollen.

Obwohl die zentralen Eckdaten vor 22 Jahren soähnlich aussahen wie heute, stehen wir dennochmomentan vor einer ganz anderen, ja einer radikal

Dieter Nittel: (Neue) Bildungsaufgaben und Lernfelder unter dem Eindruckdes demographischen Wandels

Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland 1910, 2005 und 2050

kl
Hervorheben
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neuen Situation. Damals, in den 1980er Jahren, wurdeder demographische Wandel „nur“ von Wissenschaft-lern und Experten beobachtet; heute ist er längst zumGegenstand des Mediengemurmels avanciert. Die „al-ternde Gesellschaft“ wird in unzähligen Talk-shows, po-pulärwissenschaftlichen Büchern, vielen Symposienund Tagungen, einer Unmenge von Zeitungsartikelnund natürlich auch in der Bild-Zeitung („Stirbt dasdeutsche Volk aus?“) diskutiert, problematisiert unddramatisiert. Der Startschuss dieser Skandalisierungs-welle erfolgte durch das Buch von Frank Schirrmacher„Das Methusalem Komplott“ (Schirrmacher 2004). DerAufbau einer Bedrohungskulisse durch die Medien,aber auch die von der Politik und der Wirtschaft aus-gelöste Hysterie darf Vertreter des Erziehungs- und Bil-dungswesens nicht dazu verleiten, die hier benutztenArgumente kritiklos zu übernehmen und in das schau-rig düstere Wolfsgeschrei einzustimmen. Längst regensich ernst zu nehmende Gegenstimmen, die davorwarnen, dass „spezifisch von der Arbeitgeberseite unddem zugehörigen Tross von Politikern und Sachver-ständigen das Reizthema demographischer Wandelgezielt instrumentalisiert“ werde (Kistler 2006).

Relative Autonomie der Pädagogik bedeutet immerauch, die aktuellen und erwartbaren gesellschaftlichenEntwicklungen unter Maßgabe genuin fachinterner Kri-terien zu beurteilen, also die in den öffentlichen Dis-kursen ventilierten Realitätskonstruktionen sachgerechtzu überprüfen, um so eine einfache Duplizierung zuvermeiden. Was hat der Leser von diesem Beitrag zuerwarten? Analog zu meiner auch an anderer Stellevertretenen Position, dass die alte Gegensatzordnung„hier Gesellschaft dort Erwachsenenbildung“ – und dasdabei hinterrücks eingeführte pädagogische Verhältniszwischen dem Gemeinwesen und den besserwisseri-

schen Andragogen –unter den Bedingungender Moderne ausgedienthabe, vertrete ich dieThese, dass nicht nurdie Adressaten, sondernauch die Einrichtungender Erwachsenenbildungvor bestimmten Bil-dungsaufgaben undLernzumutungen stehen.Darüber hinaus, so mei-ne zweite Behauptung,müsse die Relevanz derErwachsenenbildung imAllgemeinen und der Bil-dungsarbeit mit Älterenim Besonderen sich zu-künftig daran messen,welchen konstruktivenBeitrag diese Arbeit vonsich aus zu leisten ver-mag, jenes Problem zubearbeiten, dessen Pro-

dukt sie zum guten Teil selbst ist. Neue Bildungsauf-gaben und Lernfelder in der Alters- und Altenbildungergeben sich daraus, die Vielfalt der alten und bewähr-ten Ansätze zur Kenntnis zu nehmen, sie reflexiv zunutzen, anders zu kombinieren und mit dieser Vielfaltin konstruktiver bzw. offensiver Weise umzugehen.

2. Mögliche Konsequenzen für das Erzie-

hungs- und Bildungswesen als Ganzes

Aufgrund der stabileren ökonomischen Situation inDeutschland stünde in naher Zukunft eigentlich die For-mierung einer alternativen, auf die gesamte Lebens-spanne gerichteten Bildungspolitik an. Gründe dafürgäbe es genug: Alle internationalen Vergleichsdaten si-gnalisieren, dass Deutschland auf dem Gebiet der För-derung der nachwachsenden Generation einen enormenNachholbedarf hat, die Investitionen in Erziehungs- undBildungseinrichtungen demnach steigen müssen, willunsere Gesellschaft den Anschluss an die internationaleEntwicklung behalten. Sieht man einmal von diesemvielleicht allzu naiv formulierten Befund ab – unstrittigdürfte zunächst einmal die These sein, dass die Chan-cen und Risiken des demographischen Wandels mitBlick auf den vorschulischen, schulischen und univer-sitären Bereich sowie in Bezug auf die Weiterbildungungleich verteilt sind und die Verteilungskämpfe zwi-schen den Bildungssegmenten aller Voraussicht nacheher zu- als abnehmen werden. Wir stehen vor einemgroßen Panoptikum unterschiedlicher Tendenzen, wider-sprüchlicher Konstellationen und nicht genau kalkulier-barer Dynamiken. Die konkreten Folgen der Bevölke-rungsentwicklung in den neuen Bundesländern sehenso aus, dass schon jetzt ganze Grund-, Haupt- und

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Berufsschulen geschlossen werden müssen; mit sol-chen Bestandsgefährdungen wird auch in den altenBundesländern zu rechnen sein. Dabei sollten aberauch die „positiven“ Effekte in Rechnung gestellt wer-den: Sofern die diesbezüglichen finanziellen Aufwen-dungen (für Schulen) in den Landesbudgets stabil blei-ben, dürfte für die einzelne Einrichtung – unter derBedingung einer reduzierten Anzahl von Schulen (undSchülern) – u. U. sogar mehr Geld abfallen. Gleichzei-tig ist eine Umschichtung der strategischen Prioritätenerwartbar: In die vorschulische Förderung und die früh-kindliche Pädagogik wird in Zukunft mehr staatlichesGeld fließen als bisher und bezogen auf die Kosten derWeiterbildung werden die Bürger wohl noch tiefer in dieeigene Tasche greifen müssen. Dies wird zur Folge ha-ben, dass die ungleiche Chancenzuteilung via Bildungin den späten Phasen der Lebensspanne noch verstärktwerden und Weiterbildung als Kompensationsinstru-ment zur Begleichung dysfunktionaler Bildungskarrie-ren endgültig ausfallen wird. Während sich die Bil-dungsorganisationen aufgrund des ihnen innewohnen-den Trägheitsmoments nur langsam auf grundlegende-re Veränderungen einzustimmen beginnen, entwickelndie Gesellschaftsmitglieder aller Wahrscheinlichkeitnach viel früher Initiativen, um die Lernzeiten bzw. diePhasen der informellen, nonformalen und formalen Bil-dung neu über die Lebensspanne zu verteilen. Die le-bensweltlichen Basisidealisierungen gegenüber demLernen im Erwachsenenalter beginnen sich jetzt schonmassiv zu ändern: Jeder Absolvent einer technischenBerufsausbildung weiß heute, dass er in einigen Jah-ren zwecks Erneuerung und Auffrischung seines Wis-sens erneut die Schulbank drücken wird. Die systema-tische „Verknappung“ von jungen Menschen wird mitgroßer Wahrscheinlichkeit, ähnlich wie in Finnland, zueinem pädagogischen Wertewandel beitragen: Als klein-ste pädagogische Ein-heit wird der Lehrer/Do-zent/Kursleiter zukünf-tig nicht mehr die Klas-se/den Kurs/das Semi-nar, sondern den einzel-nen Schüler/Teilnehmerin den Blick nehmen(„die Zukunft des Lan-des ist davon abhängig,dass wir jeden einzel-nen Schüler optimal för-dern“). Bei der Planungvon Grundschulen ach-ten die Architekten ver-einzelt schon heute dar-auf, dass die gerade inder Planung befindli-chen Einrichtung in 20oder 30 Jahren auch fürdie Zielgruppe der Älte-ren, z. B. als Senioren-begegnungsstätte, ge-nutzt werden kann. Der

demographische Wandel zwingt die Bildungspolitik un-ter dem einheitsstiftenden Label des lebenslangen Ler-nens zu einer ganzheitlichen Perspektive, weitsichtigerzu planen, das so genannte Übergangsmanagement mitzu berücksichtigen und die Wechselbeziehungen zwi-schen den Bildungsbereichen stärker zu bedenken.Selbstverständlich stellt die demographische Herausfor-derung ein Problem für die Gesellschaft dar, gleichzei-tig bietet sich für die Erwachsenenbildung auch dieChance, gleichsam im Rahmen eines gesellschaftlichenGroßexperiments zu überprüfen, ob Bildung im Altersich als ein tragfähiger gesellschaftlicher Vergesell-schaftungsmodus und als Medium der Sinnstiftung zubewähren vermag (Nittel/Seitter 2006).

3. Einige empirische Daten zur Bildungsbetei-

ligung von Erwachsenen 50+

Wenden wir den Blick einmal von den Zukunftsszena-rien ab, um wieder auf den Boden der Tatsachen zu gelan-gen. Welche Hinweise liefert die Empirie?

Zu den Zu den Zu den Zu den Zu den TTTTTeilnahmezahlen:eilnahmezahlen:eilnahmezahlen:eilnahmezahlen:eilnahmezahlen: Seit circa 20 Jahren istdas Bildungsverhalten älterer Menschen (damit ist dieAlterskohorte der so genannten jungen Alten (50+)ebenso gemeint wie die Generation der Hochbetagten(der über 80jährigen) ins Visier der Sozial- und Erzie-hungswissenschaften getreten. In einer recht frühenStudie (1984) über das Freizeitverhalten älterer Men-schen kommen die Verfasser zu dem Ergebnis, dass9% der über 60-jährigen Menschen an Bildungsveran-staltungen teilnehmen (vgl. Tokarski 1989). In einer re-gional angelegten Untersuchung aus Köln ermitteltRöhr-Sendlmeier (1990) einen Wert von 10% Bildungs-beteiligung der Menschen über 58 Jahre. In einer ei-

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genen, ebenfalls regional angelegten Repräsentativun-tersuchung im Kontext der Aktionsforschung über dieLebens- und Freizeitsituation von älteren Menschen ineinem Arbeiterstadtteil Kassel kommen wir auf einenWert von 7% Bildungsbeteiligung (Karl, Nittel 1990).Schröder/Gilberg gelangen in einer repräsentativen in-fas-Erhebung zu der vergleichsweise hohen Quote von25% Bildungsbeteiligung der 50- bis 75jährigen(Schröder/Gilberg 2005). Das Berichtssystem Weiterbil-dung besagt, dass die Weiterbildungsquote der 50- bis64jährigen Personen (30% von ihnen besuchen proJahr eine Weiterbildungsveranstaltung) von allen Alters-gruppen die geringste ist (Berichtssystem Weiterbil-dung 2005). Ohne in die filigranen Einzelheiten unddas Problem der Vergleichbarkeit der einzelnen Studi-en einsteigen und die Daten im Detail kommentierenzu wollen, lässt sich mit Blick auf die empirische Un-tersuchungen zunächst einmal ein recht uneinheitli-ches Bild über die Bildungsbeteiligung im Alter iden-tifizieren. Je nachdem, wie die Prämissen der Unter-suchung sind (ob informelles Lernen berücksichtigtwird oder nicht), je nachdem, welche Einrichtungen alsBildungseinrichtungen akzeptiert werden (VHS versuskommerzieller Bildungsreiseveranstalter), kommen dieExperten zu hohen oder niedrigen Partizipationsratenan Bildungsaktivitäten.

Wir halten eine Beteiligung an der Diskussion –„Wird die Bildungsbeteiligung hoch oder niedrig ein-gestuft?“ – für nicht sonderlich ergiebig. Der entschei-dende Punkt ist ein anderer: Bei all diesen Differen-zen und unterschiedlichen Einschätzungen sind sichalle Experten darin einig, dass das Rdass das Rdass das Rdass das Rdass das Rekrutierungspo-ekrutierungspo-ekrutierungspo-ekrutierungspo-ekrutierungspo-tenzial exorbitant hoch ist tenzial exorbitant hoch ist tenzial exorbitant hoch ist tenzial exorbitant hoch ist tenzial exorbitant hoch ist und mit dem demogra-phischen Wandel noch einmal ansteigt. Schröder undGilberg kommen in ihrer Untersuchung z. B. zu demBefund, dass „nicht nuraufgrund des demogra-fisch bedingten An-stiegs der Zahl der Äl-teren mit einem Anstei-gen der Bildungsnach-frage älterer Menschenzu rechnen ist. Viel-mehr ist davon auszu-gehen, dass die Nach-frage nach Bildungsan-geboten auch aufgrundder soziodemographi-schen Zusammenset-zung dieser Gruppesteigen wird (Schröder/Gilberg 2005: 149). Inder gleichen Studie for-mulieren die Autorendie Vorhersage, dassder Anteil der Men-schen im Alter von 50–54 im Jahre 2000 von4,6 Mio. auf 7 Mio. im

Jahre 2015 ansteigen wird. Die mit Blick auf das Bil-dungsverhalten abzielende Berechnung besagt, dassman maximal von einem Zuwachs von 3,7 Mio. Men-schen im Alter von 50–74 Jahren ausgehen könne, diein drei Jahren mindestens eine Bildungsveranstaltungbesuchen. Damit steht die evangelische Erwachsenen-bildung und andere Träger der Weiterbildung vor ei-nem riesigen Rekrutierungspotenzial von potenziellenAdressaten.

Die thematischen Pthematischen Pthematischen Pthematischen Pthematischen Präferräferräferräferräferenzenzenzenzenzen und inhaltlichenen und inhaltlichenen und inhaltlichenen und inhaltlichenen und inhaltlichenVVVVVorlieben orlieben orlieben orlieben orlieben der Anbieter bzw. Bildungseinrichtungen ei-nerseits und die der Nutzer bzw. der Teilnehmer der Al-ters- und Altenbildung andererseits liegen weit ausein-ander. Aus der Sicht der Anbieter ergibt sich folgendesBild: Unter den fünf beliebtesten Themen rangieren mo-mentan die Gebiete Gesundheit – Ernährung (68%), Ge-dächtnistraining (60%), Kunst (58%), Kommunikation(55%) und Recht/Rente (55%) an der Spitze. Religion liegtabgeschlagen mit 36% auf dem 14. Platz (vgl. Sommer/Künemund/Kohli 2004: S. 63). Aus der Sicht der Nutzerbzw. der faktischen TeilnehmerInnen sieht die Rankingli-ste der fünf beliebtesten Gebiete ganz anders aus: Be-sichtigung/Reisen 18%, Gesellschaft/Geschichte/Politik11%, Mathematik/Computer/Naturwissenschaften 11 %,berufliche Fortbildung 9%, Fremdsprachen 8% (vgl. eben-da: S. 67). Das zeigt, dass die Anbieter wesentlich all-tagsorientierter und auf die momentane Lebenspraxis fi-xiert sind, die Vorlieben der Nutzer aber eher über denTellerrand der eigenen Lebenswelt hinausgehen. Eine„gewagte“ Lesart könnte die sein, dass die Anbieter undTräger die Adressaten und Teilnehmer tendenziell unter-schätzen.

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4. Neue Bildungsaufgaben aus der Sicht der

Anbieter

Auf die Einrichtungen der Erwachsenenbildung kom-men – auch ohne den demographischen Wandel aufgrundveränderter System-Umweltrelationen – turbulente Zei-ten zu. Es ist nicht mehr damit getan, interessante The-men zu entdecken, nette Überschriften für Seminar zuerfinden, kompetente Dozenten zu gewinnen, günstigeTagungsstätten anzumieten usw., sondern eine Tugendzu realisieren und authentisch vorzuleben, welche mangewöhnlich von der eigenen Zielgruppe erwartet – näm-lich mit gutem Beispiel voran zu gehen, selbst Wand-lungsfähigkeit an den Tag zu legen und in den Augenbreiter Teile der Bevölkerung als lernende Organisationzu reüssieren. Dabei wird eines der zentralen Struktur-probleme großer Teile der öffentlich verantworteten Er-wachsenenbildung auch unter dem Eindruck des demo-graphischen Wandels nichts von seiner Brisanz verlie-ren: Als Teil der kirchlichen Bildungsarbeit insgesamt wirddie evangelische Erwachsenenbildung auch weiterhinunter dem Zugzwang stehen, ein Höchstmaß an Profes-sionalität bereit zu stellen bzw. erzeugen zu müssen unddies unter den widrigen Bedingungen einer schwach ent-wickelten Profession mit einem hohen Anteil an Ehren-amtlichen. Um nicht in alte Fehler zu verfallen, d. h. am-bitionierte Programme zu entwickeln, an deren Realisie-rung sowieso keiner ernsthaft glaubt, wird es darum ge-hen müssen, kleinschrittig und pragmatisch vorzugehen,Aufgaben zu formulieren, die auch wirklich erfüllt wer-den können. Zu diesen zählt die vorsichtige Umstellungder Angebots- zur Nachfrageorientierung. Nur so lassensich die eben aufgezeigten Disparitäten zwischen Nut-zern und Anbietern überwinden und langfristig eine stär-kere Passung zwischen beiden Seiten herstellen. Um einesolche NachfrNachfrNachfrNachfrNachfrageorientierungageorientierungageorientierungageorientierungageorientierung umzusetzen, bedarf esneuer Wege bei der Ermittlung von Bildungsbedürfnis-sen, geschmeidigere Organisationsformen und des Auf-baus eines verlässlichen Dokumentations- und Evaluati-onssystems.

Sylvia Kade hat in der wohl wichtigsten Publikati-on aus der letzten Zeit zur Bildung im Alter (Kade2007) die vvvvverschiedenen Phasenerschiedenen Phasenerschiedenen Phasenerschiedenen Phasenerschiedenen Phasen rekonstruiert, wel-che die AltenbildungAltenbildungAltenbildungAltenbildungAltenbildung in ihrer noch jungen Geschichteabsolviert hat. Bezogen auf die 1960er Jahre stand dieOrientierungsmaxime „BetrOrientierungsmaxime „BetrOrientierungsmaxime „BetrOrientierungsmaxime „BetrOrientierungsmaxime „Betreuung für Bildungsbe-euung für Bildungsbe-euung für Bildungsbe-euung für Bildungsbe-euung für Bildungsbe-nachteiligte“nachteiligte“nachteiligte“nachteiligte“nachteiligte“ im Vordergrund. 1970 änderte sich dasTableau der Ziele; nun waren „Aktivierung und Eman-„Aktivierung und Eman-„Aktivierung und Eman-„Aktivierung und Eman-„Aktivierung und Eman-zipation“ zipation“ zipation“ zipation“ zipation“ angesagt. In den 1980er Jahre standen „Au- „Au- „Au- „Au- „Au-tonomie und Ktonomie und Ktonomie und Ktonomie und Ktonomie und Kompetenzompetenzompetenzompetenzompetenzerhalt“erhalt“erhalt“erhalt“erhalt“ im Zentrum des In-teresses – Zielmargen, welche in den 1990er Jahredurch „L„L„L„L„Lebenswebenswebenswebenswebenswelt und Lelt und Lelt und Lelt und Lelt und Lebenslauf“ebenslauf“ebenslauf“ebenslauf“ebenslauf“ abgelöst wurden.In den 2000er Jahre geht es primär um „Infr„Infr„Infr„Infr„Infrastrukturastrukturastrukturastrukturastrukturund Selbstorund Selbstorund Selbstorund Selbstorund Selbstorganisation“ganisation“ganisation“ganisation“ganisation“.

Diese idealtypische programmatische Ablauffolie(auf die wir leider hier aus Platzgründen nicht detail-liert eingehen können) deckt sich keineswegs mit der

faktisch vollzogenen Arbeit, die in wesentlichen Teilenviel profaner und handgestrickter erfolgte. Die in denJahrzehnten jeweils prominent diskutierten Konzeptestehen für den damaligen Diskurs in der Altersbildungund nicht für deren tatsächliche Praxis. Unter den Be-dingungen einer heterogenen und durch viele milieu-spezifischen und organisatorischen Besonderheiten ge-prägten Altenbildungslandschaft wäre es absurd undfatal, im Sinne von „richtig“ oder „falsch“ nach demeinzig wahren Weg in der Altenbildung suchen zu wol-len. Würden sich alle Einrichtungen der Alters- und Al-tenbildung tatsächlich ad hoc auf „Infrastruktur undSelbstorganisation“ versteifen, so käme dabei ein gro-ßes Chaos heraus.

Vor dem Hintergrund der Pluralisierung von Le-benslagen und der stetigen Individualisierung der Le-bensläufe – beide Tendenzen nehmen im Alter nochzu – benötigen wir eine Träger- und Programmstruk-tur der Vielfalt und der Differenz. Auch heute werdenin einigen Bereichen der Altenarbeit noch die Arbeits-stile aus den 1970 und 1980er Jahre gepflegt unddies u. U. auf hohem professionellen Niveau. Warumsollte man in Wohnheimen für Hochbetagte auf mitDiavorträgen und anschließender Aussprache garnier-te Kaffee-und-Kuchen-Veranstaltung verzichten? Vieleals antiquiert geltende Veranstaltungen sind den In-teressenslagen der Zielgruppe, einer bestimmten lo-kalen Tradition oder der beruflichen Ausbildung derPraktiker geschuldet. Nicht immer passt das modern-ste Konzept zum Umfeld einer Einrichtung und denBedingungen vor Ort.

Die Entwicklung einer differentiellen Altenbildung,die dieses Etikett tatsächlich verdient, hätte denSchritt vom Nacheinander der eben skizzierten Grund-konzepte zum Miteinander der Konzepte und Institu-tionalisierungsformen zu bestreiten. Diese Program-matik verdient das Attribut „neu“ deshalb, weil esdarauf ankommt, einen reflexiven Bezug zu den kon-trastreichen Konzepten zu entwickeln und nicht infruchtlose „Entweder-Oder-Streitigkeiten“ zu versinken,sondern im Sinne von Hans Tietgens die Tugend des„Sowohl-Als-Auch“ zu pflegen. Die Themen der Alters-und Altenbildung bleiben mehr oder weniger die glei-chen, die Innovationsverpflichtung besteht eher dar-in, alternative didaktische Settings und Arrangementszu erfinden, neue Formen der Kooperation zwischenehrenamtlichen Mitarbeitern, den Teilnehmern undden hauptberuflichen Pädagogen zu entwickeln. Die-se Vielfalt kann u. U. auch intern in ein und dersel-ben Einrichtung praktiziert werden, indem geselligeAngebote mit Kaffee und Kuchen durch andere For-men der aktivierenden Arbeit flankiert werden, ohnedass das eine als höherwertig und das andere alsminderwertig eingestuft werden müsste. Vor dem Hin-tergrund einer Pluralisierung des Alters benötigen wirein breites Spektrum der Konzepte, wobei das reflek-tierte Nebeneinander verschiedener Programmatikenam ehesten dem Prinzip der TeilnehmerorientierungRechnung tragen dürfte.

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5. Neue Bildungsaufgaben aus der Sicht der

Nutzer

Die Generierung von neuen Bildungsaufgaben aus derSicht der Nutzer kann nur sehr vage und abstrakt erfol-gen. Bildungsaufgaben stellvertretend entwickeln zuwollen, würde bedeuten, über die Köpfe der betroffenenMenschen hinweg Orientierungspunkte zu setzen, wastendenziell ein paternalistisches Unterfangen darstelltund dem Status des autonomen Erwachsenen nicht ent-spräche. Bedingung für die Möglichkeit, solche Aufga-ben zu bestimmen, wäre eine systematische Befragungder Zielgruppe, eine Perspektivenverschränkung im Sin-ne Wiltrud Giesekes (Gieseke 2007), die nur durch dengeballten Einsatz qualitativer Verfahren möglich wäre.Eine solche systematische Erschließung der Perspektiveder potenziellen TeilnehmerInnen ist allerdings nicht inSicht.

Neue Bildungsaufgaben tangieren die folgenden Lern-und Kompetenzfelder: Optimierung und Sicherung vonLebensqualität im Alter (Gegenwart); die Förderung vonBiographizität (Vergangenheitsbezug) und die Steigerungvon Generativität (Zukunftsbezug). Die auf das Hier undJetzt fokussierten Bildungsaufgaben werden mit Veran-staltungen bearbeitet und bedient, die sich auf die un-mittelbare Lebenspraxis, den Umgang mit dem eigenenKörper, die Förderung der Gesundheit usw. beziehen. DieAdressaten erwarten in solchen Veranstaltungen Antwor-ten auf zentrale Fragen: „Wie sichere ich meine lebens-praktische Autonomie auch im hohen Alter?“, „Wie kannich durch gesunde Ernäherung einen Beitrag zu meinemFit-Sein leisten?“ und „Wie kann ich meinen Alltag durchden Wechsel von Routine und Überraschung interessantgestalten?“

BiogrBiogrBiogrBiogrBiografizitätafizitätafizitätafizitätafizität setzt ein Minimum an Lebenserfahrungim Anschluss an die Adoleszenz und eine beginnendepsychosoziale Freisetzung vom Herkunftsmilieu voraus;insofern handelt es sich um eine basale, für das Erwach-senenalter konstitutive Kompetenzstruktur, die ihre Ent-stehung der reflexiven Moderne (Giddens) verdankt. Sieimpliziert die zielgerichtete und systematische Aneig-nung von Welt und zugleich einen qualitativ hochwerti-gen Modus im Umgang mit Wissen; insofern stellt diediesbezügliche Kompetenz eine eigentümliche Amalga-mierung von biografischem Wissen und Weltwissen her– eine Netzwerkstruktur, die selbst wieder neues Wissengeneriert. Die Kompetenz der Biografizität wird nicht nurmit Methoden der biografieorientierten Erwachsenenbil-dung erzeugt, sondern auch durch sachorientierte Kur-se, in denen die Teilnehmer durch den Eigensinn ihrerAneignungspraxis ihre Subjektivität einfließen lassenkönnen. Hierbei geht es nicht ausschließlich um die Ku-mulation von Wissen, sondern um die Ermöglichung vonumsichtigen und weisen Entscheidungen. Biografizitätstellt eine reflexive und abgeklärte Haltung gegenüberden wachsenden Individualisierungstendenzen in moder-nen Gesellschaften her und gewährleistet verantwor-

tungsvolle und zielgerichtete lebensgeschichtliche Ent-scheidungen, die eine Gleichzeitigkeit von hochgradigerIndividualisierung und intensiver Vergemeinschaftungunter den Bedingungen wachsender Ungewissheit er-möglichen.

Lebensgeschichtlich folgenreiche Entscheidungen,die unter Maßgabe eines sachkundigen, umsichtigen undweisen Standpunktes getroffen werden, liegen dann vor,wenn die Akteure zu gesteigerten Begründungsleistun-gen fähig sind und heterogene Wissensformen im Voll-zug der Entscheidung parallel mit bedenken können, sodass die Paradoxien und Dilemmata der menschlichenExistenz in der Moderne mit bearbeitet werden können.Dies impliziert eine gesteigerte Reflexionsfähigkeit undein gleichsam wissenschaftlich aufgeklärtes common-sense-Bewusstsein des Alltagsmenschen unter Beibehal-tung eines gesunden Misstrauens gegenüber höhersym-bolischem Wissen. Biografizität stiftet so gesehen einewidersprüchliche Einheit zwischen Modernität und Tra-ditionalität, von lebensweltlichem Wissen und Experten-wissen und von religiösen und säkularen Standpunkten.

GenerGenerGenerGenerGenerativität ativität ativität ativität ativität bedeutet ursprünglich „das Interessean der Stiftung und der Erziehung der nächsten Genera-tion“; dieser Wert schließt „Vorsorge und Verantwortungfür andere“ ein. Im modernen Verständnis kann man auchvon Nachhaltigkeit sprechen, allerdings ist dieser Begriffsehr stark durch den ökologischen Diskurs überformt.Während Biografizität auf eine Kompetenzstruktur ab-zielt, meint Generativität eher eine emotionale Haltung– das Gefühl beispielsweise, wichtig zu sein, etwas vonbleibendem Wert zu schaffen, das eigene Selbst an an-dere weiterzureichen. Generativität ist „das Bedürfnis,die eigene Substanz in Formen von Leben und Werk ein-zubringen, die das Selbst überleben“ (Knorte 2001, S.22). Gleichgültig, welche Berufe die Gesellschaftsmitglie-der ausüben, welcher Schicht sie angehören, welchesgesellschaftliche Ansehen sie genießen – prinzipiell bil-det jeder Mensch die generative Fähigkeiten aus, etwasvon sich nach seinem Tod zu hinterlassen: Erinnerungen,bleibende Werte oder materielle Güter.

Sowohl Biografizität und Generativität sind unabding-bare Bedingungen für die Möglichkeit, um in späten Pha-sen des Erwachsenenalters oder gar in der Lebensend-phase mit sich selbst ins Reine zu kommen, einen mehroder weniger „tiefen“ Sinn im eigenen Lebensverlauf zuerblicken, sich seiner selbst gewiss zu werden und dies-bezügliche biografische Arbeit zu leisten. Ein implizit re-ligiöser oder transzendentaler Bezug ist hier per se ge-geben.

6. Zum Schluss

Die demographische Herausforderung ist zwar ein Pro-blem für die Gesellschaft, aber gleichzeitig auch eine gro-ße Chance für die Erwachsenenbildung. Für immer mehrMenschen stellt die nachberufliche Phase einen Lebens-

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forum erwachsenenbildung 2/07

Zur Diskussion

abschnitt dar, der als „späte Freiheit“ gekennzeichnetwerden kann, womit auch die Abwesenheit von materiel-len Sorgen und schlechter Gesundheit verbunden ist. Mitdem Heranwachsen von gut ausgebildeten und relativ gro-ßen Alterskohorten wächst auch die Wahrscheinlichkeitvon Partizipation an organisierter Bildung.

Für die Erwachsenenbildung bietet die demographi-sche Herausforderung die Gelegenheit zu dokumentieren,dass sie unter den veränderten Bedingungen der Wissens-gesellschaft bereit ist, den zentralen Lackmustest zu mei-stern. Dieser besteht in dem Nachweis, dass moderne Wei-terbildung einen konstruktiven Beitrag zu leisten vermag,um den durch den Wegfall des biologisch begründeten In-novationsmechanismus (eine ausreichend große Zahl jun-ger, nachwachsender Gesellschaftsmitglieder trägt durchden Generationswechsel naturwüchsig zur gesellschaftli-chen Erneuerung bei) evident gewordenen Bedarf bei derGenerierung von Innovationen durch die stärkere Einbe-ziehung der Kompetenzen älterer Menschen zu kompen-sieren.

Die Alten- und Altersbildung kann, aber muss nichtzwangsläufig ein Reservat für beschauliches Freizeitver-gnügungen und erbauliche Bildung im Stile des unterge-gangenen Bildungsbürgertums sein. Eine Vernetzung mitanderen zentralen Bereichen der Gesellschaft würde ihrein Stück Ernsthaftigkeit zurückgeben. Sollte sich die Al-tersbildung als Feld bewähren, wo Menschen in nennens-wert großer Zahl auch im vorgerückten Alter ihre Verände-rungs- und Lernbereitschaft erleben, ausleben und in denDienst anderer stellen, so wäre damit nicht nur der Lebens-qualität der Betroffenen, sondern auch den Belangen desGemeinwesens gedient.

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