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Differentialgleichungen 1 P. Szmolyan Wien, 2013

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Differentialgleichungen 1

P. Szmolyan

Wien, 2013

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“Data aequatione quotcunque fluentes quantitae involvente fluxions invenire et vice versa.”(Isaac Newton)

Frei ubersetzt: “Man soll Differentialgleichungen losen.”

Copyright (c) P. Szmolyan, 2013.

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Vorwort

Differentialgleichungen haben in der Mathematik und in vielen ihrer Anwendungen einezentrale Bedeutung. Historisch betrachtet standen Versuche der Beschreibung physika-lischer und geometrischer Probleme - vor allem von Problemen aus der Mechanik - amAnfang der Entwicklung der Mathematik zu ihrer heutigen Form. Die Entwicklung derDifferential- und Integralrechnung war dabei untrennbar mit der Verwendung und Un-tersuchung von Differentialgleichungen verbunden. Es ist daher naturlich, dass zwischendem Gebiet Differentialgleichungen viele Querverbindungen zu anderen Gebieten derAnalysis aber auch zu anderen Gebieten der Mathematik bestehen. Dabei sind vor allemAlgebra, Geometrie, Topologie und die numerische Mathematik zu nennen.

Anwendungen von Differentialgleichungen finden sich in allen Bereichen der quantitativenWissenschaften, vor allem in Naturwissenschaften und Technik, in den Wirtschaftswis-senschaften und immer mehr auch in den Life-Sciences.

Die Vorlesung gibt eine Einfuhrung in die Theorie gewohnlicher Differentialgleichungenund vermittelt einige Grundbegriffe aus der Theorie partieller Differentialgleichungen.Damit soll eine Grundlage fur das Verwenden von Differentialgleichungen in Anwendun-gen und fur die Beschaftigung mit weiterfuhrenden Fragen aus der Theorie von Diffe-rentialgleichungen gelegt werden. Dabei werden viele wichtige Methoden und Konzepteder Analysis und der Lineren Algebra - oft auch kombiniert - verwendet. Somit werdendiese Methoden und Konzepte einerseits praktisch eingesetzt und andererseits vor demHintergrund ihres gemeinsamen Ursprungs besser verstanden.

Peter Szmolyan

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Kapitel 1

Einleitung und Grundlagen

1.1 Bezeichnungen und Begriffsbildungen

Eines der wesentlichen Hilfsmittel bei der mathematischen Beschreibung physikalischerund vieler anderer Vorgange ist die Beschreibung der Kenngroßen des Systems, die denZustand des Systems beschreiben, als Funktionen von Ort und Zeit. Die Zustandsva-riable und die unabhangigen Variablen werden oft als kontinuierlich angenommen. DieOrtsvariable ist x ∈ R

n, n = 1, 2, 3, . . . und die Zeitvariable ist t ∈ R. Der Zu-stand des Systems wird durch eine Variable u ∈ R

d beschrieben. Dabei ist d ≥ 1die Dimension der Zustandsvariable. Somit wird der Zustand des Systems als Funk-tion u : I ⊆ R → R

d, t �→ u(t) oder u : D ⊆ Rn → R

d, x �→ u(x) oderu : I × D ⊆ R × R

n → Rd, (t, x) �→ u(t, x) beschrieben. Die Funktion u wird dabei

zunachst mindestens als stetig und sehr oft als k-mal stetig differenzierbar mit k ≥ 1angenommen. Dies erlaubt die Beschreibung bzw. Modellierung des zugrundeliegendenSystems mittels Differentialgleichungen, die funktionale Zusammenhange zwischen denWerten der Funktion u und einigen ihrer Ableitungen beschreiben.

Beispiel 1.1 einige Zustandsgroßen:

1. Position und Geschwindigkeit eines Massenpunktes

2. Temperatur, Dichte, Druck und Geschwindigkeit eines Gases

3. Konzentration einer Substanz

4. Gesamtmasse einer Population (als Maß fur die Große der Population),

5. Vermogen (einer Person, eines Staates)

Geben Sie jeweils d an. �

1

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- 2 - Kap. 1: Einleitung und Grundlagen

Notation fur Ableitungen

Sei u : I → R eine differenzierbare Funktion einer Variable x ∈ I auf einem IntervallI ⊆ R. Die erste Ableitung wird mit du

dx oder u′ bezeichnet, die Ableitung an der Stellex ist du

dx(x) bzw. oder u′(x).

Hohere Ableitungen der Ordnung k ≥ 2 werden mit dkudxk bezeichnet. Fur hohere Ablei-

tungen niederer Ordnung schreibt man auch u′′, u′′′, etc.

Beispiel 1.2 u(x) = sin x, u′(x) = cos x, u′′(x) = − sin x �

Wahrend die Variable x oft einer raumlichen Variable entspricht wird die unabhangigeVariable t oft fur die Zeit benutzt. In diesem Fall schreibt man auch u fur die ersteAbleitung du

dt und u fur die zweite Ableitung, etc.

Sei u : D → R eine differenzierbare Funktion in mehreren Variablen x = (x1, . . . , xn) ∈D ⊆ R

n, n ≥ 2. Die partielle Ableitung von u nach xi, i = 1, . . . , n wird mit ∂u∂xi

oderuxi

bezeichnet.Partielle Ableitungen hoherer Ordnung k ≥ 2 werden mit

∂ku

∂xk11 ∂xk22 ∂x

knn

mit k1 + · · · + kn = k bezeichnet. Anstelle von ∂2u∂xi∂xj

wird auch uxixjgeschrieben, etc.

Im Fall einer differenzierbaren Abbildung u : D ⊆ Rn → R

m ist die Funktional- oderJacobimatrix die m × n Matrix

(∂ui∂xj

)i=1,...,m j=1,...,n,

die als ∂u∂x oder du geschrieben wird.

Stetigkeit aller partiellen Ableitungen erster Ordnung in einer Umgebung eines Punktesx ∈ D impliziert die Differenzierbarkeit von u an der Stelle x, d.h.

u(x + h) = u(x) + du(x)h + r(h)

mit einem Fehlerterm r(h), fur den limh→0 ‖ r(h) ‖ / ‖ h ‖= 0 gilt.

Im Fall n = 2 oder n = 3 werden oft die Variablen (x, y) ∈ R2 bzw. (x, y, z) ∈ R

3

benutzt. Falls auch die Zeit auftritt wird diese mit t bezeichnet.

Beispiel 1.3 u(x, t) = cos(x − 2t), ux(x, t) = − sin(x − 2t), ut(x, t) = 2 sin(x − 2t),

uxt = 2cos(x − 2t) �

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 1: Einleitung und Grundlagen - 3 -

Differentialgleichungen

Definition 1.1 Differentialgleichungen (DG) sind Gleichungen in deneneine Funktion, einige ihrer Ableitungen sowie (moglicherweise) unabhangige Va-riablen auftreten. Falls die gesuchte Funktion nur von einer Variablen abhangtspricht man von einer gewohnlichen Differentialgleichung (GDG). Fallsdie gesuchte Funktion von mehreren Variablen abhangt und partielle Ableitungennach mehr als einer Variablen auftreten spricht man von einer partiellen Dif-ferentialgleichung (PDG). Eine Losung einer DG ist eine hinreichend oftdifferenzierbare Funktion, die beim Einsetzen in die DG diese identisch erfulllt.Unter der Ordnung einer DG versteht man die Ordnung der hochsten auftreten-den Ableitung. Im Fall einer skalaren Funktion handelt es sich um eine skalareDifferentialgleichung, im Fall einer vektorwertigen Funktion handelt es sichum ein System von Differentialgleichungen.Eine Differentialgleichung heißt lineare Differentialgleichung, wenn die Funk-tion und ihre Ableitungen in der Gleichung nur linear auftreten, d.h. nur mitFunktionen der unabhangigen Variablen multipliziert und addiert werden. An-dernfalls ist die Differentialgleichung nichtlinear.

Die abhangigen und die unabhangigen Variablen, der Typ, die Ordnung und die Linea-ritat einer DG sind meistens einfach zu erkennen.

Beispiel 1.4

x2 d3y

dx3 − 5xdydx +7y = 0 lineare gewohnliche Differentialgleichung 3. Ordnung fur y(x)

y + t3y = e−t lineare gewohnliche Differentialgleichung 1. Ordnung fur y(t)

y + ty3 = e−t nichtlineare gewohnliche Differentialgleichung 1. Ordnung fur y(t)

y′′ + 9y = 0 lineare gewohnliche Differentialgleichung 2. Ordnung fur y(x)

x + sin x = 0 nichtlineare gewohnliche Differentialgleichung 2. Ordnung fur x(t)

x = f(x, y), y = g(x, y) System gewohnlicher DG 1. Ordnung fur (x(t), y(t))

ut + 2ux = 0 lineare partielle Differentialgleichung 1. Ordnung fur u(t, x)∂2u∂x2 +

∂2u∂y2 + ∂2u

∂z2 = 0 lineare partielle Differentialgleichung 2. Ordnung fur u(x, y, z)

ut + uux = 0 nichtlineare partielle DG 1. Ordnung fur u(t, x)

ut + uux = uxxx nichtlineare partielle DG 3. Ordnung fur u(t, x)

Jede der Funktionen sin(x− 2t), 2 cos 3x+ 5 sin 3x, 1√x2+y2+z2

und xt lost eine der obigen

DG. Welche? �

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- 4 - Kap. 1: Einleitung und Grundlagen

Anmerkung: Die Theorie gewohnlicher DG ist einfacher als die Theorie partieller DG.Lineare DG sind einfacher als nichtlineare. DG niederer Ordnung sind einfacher als DGhoher Ordnung. Skalare DG sind einfacher als Systeme von DG.

Im folgenden werden zunachst nur gewohnliche DG behandelt, die ab jetzt kurz als DGbezeichnet werden. Dabei wird die unabhangige Variable in der Regel mit t ∈ R und diegesuchte Losung mit x(t) ∈ R

n bezeichnet.

Definition 1.2 Eine reelle explizite gewohnliche Differentialgleichung1. Ordnung hat die Form

x′(t) = f(t, x(t)).

Dabei variiert t in einem Intervall I ⊆ R und x in einem Bereich B ⊆ Rn.

f : I × B → Rn ist eine gegebene Funktion. Eine Losung der DG ist eine auf

einem Intervall J ⊆ I definierte differenzierbare Funktion x : J → B, welche dieDG fur alle t ∈ J erfullt, wenn man sie und ihre Ableitung in die DG einsetzt.Im Fall n = 1 ist die DG skalar, fur n ≥ 2 handelt es sich um ein n-dimensionalesSystem von DG.

Anmerkung: Falls x und f Werte in Cn annehmen handelt es sich um eine komplexe

Differentialgleichung. In diesem Fall ist auch t ∈ C zugelassen.

Beispiel 1.5

a) x′ = t2 + x2, x ∈ R, t ∈ R, explizite skalare DG 1. Ordnung.

b) zweidimensionales lineares System 1. Ordnung:

x′1 = x1 + tx2x′2 = −tx1 + 3x2

oder in Matrixschreibweise

x′(t) = A(t)x mit A(t) :=

(1 t

−t 3

).

Große Teile der Theorie gewohnlicher DG werden fur explizite Systeme 1. Ordnung ent-wickelt. Dies ist dadurch begrundet, dass - wie im folgenden ausgefuhrt wird - die mei-sten anderen Typen von gewohnlichen DG auf diesen Standardtyp zuruckgefuhrt werdenkonnen.

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Kap. 1: Einleitung und Grundlagen - 5 -

Die allgemeine (implizite) DG 1. Ordnung hat die Form

F (t, x(t), x′(t)) = 0.

mit einer geeigneten Funktion F . Falls diese Gleichung nach x′ aufgelost werden kann,erhalt man eine aquivalente explizite DG.

Beispiel 1.6

(x + t)x′ − tx = 0 implizite DG 1. Ordnung. Fur t + x = 0 kann die DG explizit alsx′ = tx

t+x geschrieben werden �

Die allgemeine (implizite) DG n-ter Ordnung, n ≥ 1, hat die Form

F (t, y(t), y′(t), . . . , y(n)(t)) = 0

mit einer geeigneten Funktion F . Die gesuchte Losung wird hier mit y bezeichnet, wobeiy skalar oder vektorwertig sein kann. Eine explizite DG n-ter-Ordnung hat die Form

y(n)(t) = G(t, y(t), y′(t), . . . , y(n−1)(t))

mit einer geeigneten Funktion G.

Explizite DG hoherer Ordnung konnen immer aquivalent als explizite Systeme 1. Ord-nung geschrieben werden. Der Einfachheit halber sei y skalar. Man setzt

x1 := y, x2 := y′, x3 := y′′, . . . xn := y(n−1)

und erhalt das n-dimensionale aquivalente System von DG 1. Ordnung

x′1 = x2x′2 = x3...

......

x′n−1 = xnx′n = G(t, x1, x2, . . . , xn).

Resultate fur DG hoherer Ordnung lassen sich daher meist einfach aus den entsprechen-den Resultaten fur Systeme 1. Ordnung ableiten.

Beispiel 1.7 Die skalare DG 3. Ordnung

y′′′ + cy′ + y(1 − y) = 0

mit c ∈ R kann unter Verwendung von x1 := y, x2 := y′ und x3 := y′′ als dreidimensio-nales System erster Ordnung

x′1 = x2x′2 = x3x′3 = −cx2 + (x1 − 1)x1

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- 6 - Kap. 1: Einleitung und Grundlagen

mit (x1, x2, x3) ∈ R3 geschrieben werden. �

Ein wichtiger Sonderfall der expliziten DG 1. Ordnung sind solche, bei denen - wie inBsp. 1.7 - die rechte Seite nicht von der unabhangigen Variable abhangt.

Definition 1.3 Eine explizite gewohnliche Differentialgleichung 1. Ordnung derForm

x′ = f(x)

heißt autonom.

Lemma 1.1 [ Translationsinvarianz autonomer DG ]

Sei x(t), t ∈ (a, b) eine Losung der autonomen DG x′ = f(x) und τ ∈ R. Dannist Funktion xτ(t) := x(t + τ), t ∈ (a − τ, b − τ) ebenfalls Losung der DG.

Beweis:x′τ(t) = x′(t + τ) = f(x(t + τ)) = f(xτ(t)).

�Wie bei algebraischen Gleichungen sind auch bei DG lineare Probleme einfacher als

nichtlineare. Lineare DG werden oft bei einfachen Modellierungen benutzt und sind auchein wichtiges Hilfsmittel bei der Untersuchung nichtlinearer DG.

Definition 1.4 Eine lineare DG 1. Ordnung ist eine DG der Form

x′(t) = A(t)x + b(t)

mit x(t) ∈ Rn, einer n×n-Matrixfunktion A(t) und einer vektorwertigen Funktion

b(t) ∈ Rn, t ∈ I ⊆ R. Im Fall n = 1 ist die DG skalar, fur n ≥ 2 handelt es sich

um ein System von DG.Im Fall einer konstanten Matrix A spricht man von einem System von DG mitkonstanten Koeffizienten.Die Funktion b(t) heißt Inhomogenitat der DG. Im Fall b(t) ≡ 0 nennt mandie DG homogen.

Anmerkung: Diese Bezeichnungen sind analog zur Sprechweise bei linearen Gleichungs-systemen Ax = b. Die rechte Seite b ist die Inhomogenitat. Im Fall b = 0 ist die Gleichunghomogen.

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Kap. 1: Einleitung und Grundlagen - 7 -

Definition 1.5 Eine skalare lineare DG n-ter Ordnung ist eine DG derForm

an(t)y(n) + an−1(t)y

(n−1) + · · · + a1(t)y′ + a0(t)y = b(t)

mit y(t) ∈ R, Koeffizientenfunktionen ai(t) ∈ R, i = 0, . . . , n und einerInhomogenitat b(t), t ∈ I ⊆ R. Falls die Koeffizienten nicht von t abhangenhandelt es sich um eine DG mit konstanten Koeffizienten. Im Fall b(t) ≡ 0nennt man die DG homogen.

Anmerkung: a) Im Fall an(t) = 0 kann die DG explizit geschrieben werden und kanndaher auch als aquivalentes n-dimensionales System 1. Ordnung geschrieben werden.Meist ist aber das direkte Arbeiten mit der skalaren linearen DG hoherer Ordnung effi-zienter.b) Bei linearen DG werden oft komplexe Losungen und komplexe Koeffizientenfunktio-nen zugelassen, d.h. x(t) ∈ C

n bzw. y(t) ∈ C und A(t) ∈ Cn×n bzw. ai(t) ∈ C etc.

Typischerweise hat eine DG nicht nur eine Losung sondern viele Losungen. Losungentreten meist als Scharen von Losungen auf, die von Integrationskonstanten oder anderenParametern abhangen. Daher stellt sich die Frage, durch welche Bedingungen eine Losungeindeutig festgelegt wird? Dazu einige einfache Beispiele.

Beispiel 1.8 Die DG

x′ = f(t)

hat die Familie von Losungen

x(t) = F (t) + c, c ∈ R

wobei F (t) eine Stammfunktion von f(t) ist, d.h. F ′(t) = f(t). Die Konstante c wirddurch die Forderung x(t0) = x0 mit t0 ∈ R, x0 ∈ R als c = x0 − F (t0) eindeutigbestimmt. Konkret erhalt man auch

x(t) = x0 +

∫ t

t0

f(s)ds.

Beispiel 1.9 Die DG

x′ = ax

hat genau die Familie von Exponentialfunktionen

x(t) = ceat, c ∈ R

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- 8 - Kap. 1: Einleitung und Grundlagen

als Losungen, die fur t ∈ R existieren.Beweis: Offensichtlich ist jede dieser Funktionen Losung. Es bleibt noch zu zeigen, dassalle Losungen der DG von dieser Form sind. Sei ϕ(t) eine Losung, d.h. ϕ′ = aϕ. Aus derRechnung

(e−atϕ(t))′ = −ae−atϕ + e−atϕ′ = −ae−atϕ + ae−atϕ = 0

folgte−atϕ(t) = c,

woraus ϕ(t) = ceat folgt.Die Konstante c ist der Wert von x(0). Wenn man x(t0) = x0 vorgibt, legt dies c alsc = x0e

−at0 fest. �

Beispiel 1.10 Die DG

y(n)(t) = 0

hat die allgemeine Losung

y(t) = c0 + c1t + · · · + cn−1tn−1

mit Integrationskonstanten ck ∈ R, k = 0, . . . , n − 1. Dies folgt sofort durch n-maligesIntegrieren nach t. Dabei gilt y(k)(0) = k!ck fur k = 0, . . . , n − 1. Umgekehrt legt dieForderung

y(t0) = a1, y′(t0) = a2, . . . , y(n−1)(t0) = an

mit a ∈ Rn eine Losung eindeutig fest. �

Anmerkung: An diesen Beispielen sieht man, dass das explizite Losen von einfachengewohnlichen DG eng mit dem Durchfuhren von Integrationen verbunden ist. Das Losenvon DG nennt man daher auch oft die Integration von DG.

Diese Beispiele legen nahe, dass bei einer skalaren DG 1. Ordnung durch Vorgabe desWertes der Losung an einer Stelle t0 eine eindeutige Losung der DG festgelegt wird. Spaterwird bewiesen, dass diese Vormutung auch fur Systeme von DG 1. Ordnung richtig ist.

Definition 1.6 Gegeben sei eine DG 1. Ordnung x′ = f(t, x), t ∈ I,x ∈ B ⊆ R

n und t0 ∈ I, x0 ∈ B. Die DG zusammen mit der Bedingungx(t0) = x0 nennt man Anfangswertproblem (AWP). Der Wert x0 ist derAnfangswert, der Wert t0 ist der Anfangszeitpunkt.

Durch Umschreiben einer skalaren DG n-ter Ordnung in ein n-dimensionales System 1.Ordnung wird klar, dass das Anfangswertproblem bei einer skalaren DG n-ter Ordnungdarin besteht, die Werte von y(t0), y

′(t0), . . . , y(n−1)(t0) an einer Stelle t0 ∈ I vorzugeben.

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Kap. 1: Einleitung und Grundlagen - 9 -

Eine andere Moglichkeit bestimmte Losungen einer gewohnlichen DG zu spezifizierenbesteht darin, an zwei Stellen Bedingungen an die Losung der DG zu stellen. Dabeiwird meist t ∈ [t0, t1] betrachtet und es werden Bedingungen an x(t0) und x(t1) gestellt.Aufgaben dieser Art heißen Randwertprobleme (RWP).

Beispiel 1.11 Fur ein n-dimensionales System von DG 1. Ordnung x′ = f(t, x) kann

ein RWP z.B. die Form

R0x(t0) + R1x(t1) = b

mit n × n Matrizen R0, R1 und b ∈ Rn haben. Der Fall R0 = I und R1 = 0 entspricht

dabei dem AWP. �

Beispiel 1.12 Fur eine skalare DG 2. Ordnung y′′ = f(t, y, y′), t ∈ [t0, t1] werden

sehr oft die Werte von y an den Randpunkten vorgeben y(t0) = y0 und y(t1) = y1 mity0, y1 ∈ R. �

Die Randbedingungen konnen auch Bedingungen an Ableitungen der Losung enthalten.Randwertprobleme sind schwieriger als Anfangswertprobleme. Daher werden zunachstnur Anfangswertprobleme betrachtet.

Fragestellungen

Durch die Theorie von DG ziehen sich verschiedene allgemeine Fragen, die sowohl vommathematischen Standpunkt als auch aus Sicht der Anwendungen von DG von zentralerBedeutung sind.

1. Existieren Losungen?

2. Ist die Losung eindeutig oder gibt es mehrere Losungen?

3. Existiert die Losung eines Anfangswertproblems lokal oder global? Darunter verstehtman die folgende Frage. Sei I ⊆ R das Intervall in dem die unabhangige Variablevariiert. Unter einer lokalen Losung versteht man eine Losung, die nur auf einem -moglicherweise kleinen - Intervall J ⊂ I mit t0 ∈ J definiert ist. Eine globale Losungist hingegen auf ganz I definiert, dies ist vor allem im Fall I = R interessant.

4. Wie hangt die Losung von den Daten ab? Unter den Daten versteht man z.B. imFall eines AWP x′ = f(t, x) den Anfangswert x0 und den Anfangszeitpunkt t0. Fallsdie DG von zusatzlichen Parametern abhangt werden auch diese zu den Daten desProblems gezahlt. Etwas allgemeiner betrachtet sind die Funktion f(t, x) und dieAnfangsdaten die Daten des Problems.Im Fall von DG, die bei der Modellierungen realer Prozesse auftreten, ist die stetigeAbhangigkeit der Losungen von Daten eine naturliche Forderung. Dies bedeutet

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- 10 - Kap. 1: Einleitung und Grundlagen

vereinfacht gesprochen, dass kleine Anderungen in den Daten kleine Anderungender Losungen bewirken.

5. Wie berechnet man Losungen? In einfachen Fallen konnen Losungen analytisch, d.h.formelmaßig, gefunden werden. Dies ist aber eher die Ausnahme, meistens konnenLosungen nur naherungsweise berechnet werden. Dabei werden numerischen Metho-den bzw. Storungsmethoden verwendet.

6. Wie verhalten sich die Losungen qualitativ? Dabei wird das Verhalten der Losungenuntersucht, ohne die Losungen explizit zu kennen. Typische Fragen sind: Sind dieLosungen beschrankt? Sind die Losungen positiv? Werden Losungen unbeschrankt?Sind die Losungen periodisch? Wie verhalten sich die Losungen fur t → ∞? Kon-vergieren die Losungen fur t → ∞? Wie andert sich das Verhalten der Losungenbei Variation von Parametern?

1.2 Richtungsfeld, Kurven, Vektorfelder

Explizite DG 1. Ordnung haben eine einfache geometrische Interpretation.

Richtungsfeld

Zunachst wird der skalare Fall betrachtet. Sei

x′ = f(t, x), t ∈ I ⊆ R, x ∈ B ⊆ R

eine skalare explizite DG 1. Ordnung. Fur eine Losung x : J → R ist der Graph

{(t, x(t)), t ∈ J} ⊂ R2

eine Kurve im R2. Da x(t) differenzierbar ist der Anstieg der Tangente an den Graph im

Punkt (t, x(t)) gleich x′(t) und daher aufgrund der DG gleich f(t, x(t)).Anders ausgedruckt gilt: {(t, x(t)), t ∈ J} ist eine differenzierbare Kurve im R

2, die imPunkt (t, x(t)) den Tangentialvektor (1, x′(t)) bzw. (1, f(t, x(t)) hat. In jedem Punkt(t, x) ∈ I × B ist der Tangentialvektor an eine durch diesen Punkt verlaufende Losunggleich (1, f(x)), siehe Abb. 1.1. Losen der DG bedeutet Kurven zu finden, die in jedemauf der Kurve liegenden Punkt (t, x) den Tangentialvektor (1, f(x)) haben.

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Kap. 1: Einleitung und Grundlagen - 11 -

Abbildung 1.1: Losung des AWP x′ = (1 − x2)/(1 + t2), x(1) = 0 mit Tangente im Punkt (1, 0)

Definition 1.7 Ein Zahlentripel (t, x, k) ∈ R3, bei dem man die Zahl k als

den Anstieg einer Geraden durch den Punkt (t, x) interpretiert, nennt man Li-nienelement. Fur eine skalare DG x′ = f(t, x), t ∈ I, x ∈ B nennt man dieGesamtheit aller Linienelemente (t, x, f(t, x)), (t, x) ∈ I×B das Richtungsfeldder DG .

Ein Richtungsfeld kann veranschaulicht werden, indem man durch hinreichend vielePunkte der (t, x)-Ebene ein kleines Geradenstuck mit Anstieg f(t, x) zeichnet, sieheAbb. 1.2. Dadurch bekommt man meist eine gute Vorstellung vom Verlauf der Losungskurven

Abbildung 1.2: Richtungsfeld der DG x′ = (1 − x2)/(1 + t2) und Losung des AWP x(1) = 0

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- 12 - Kap. 1: Einleitung und Grundlagen

der DG. Das Zeichnen eines Richtungsfeldes erfolgt am Einfachsten unter Verwendungvon mathematischer Software wie Mathematica und Maple. Beim Anfertigen von Hand-zeichnungen ist es manchmal nutzlich einige der durch die Gleichung

f(t, x) = c, c ∈ R

definierten Isoklinen zu zeichnen. Isoklinen sind Kurven in der (t, x)-Ebene entlangdenen das Richtungsfeld einen konstanten Anstieg hat.

Wiederholung: Kurven und Tangenten

Auch bei Systemen von DG 1. Ordnung werden Losungen geometrisch als Kurven inter-pretiert. Die wichtigsten dafur relevanten Begriffsbildungen werden im folgenden zusam-mengefasst.

Definition 1.8 Sei I ⊆ R ein Intervall. Eine stetige Abbildung c : I → Rn,

heißt Parameterdarstellung einer Kurve oder Weg. Das Bild der Abbildung{c(t), t ∈ I} ⊂ R

n ist die Kurve. Im Fall I = [t0, t1] heißt c(t0) der Anfangspunktder Kurve, c(t1) ist der Endpunkt der Kurve. Die Parameterdarstellung legt eineOrientierung der Kurve, das ist die Richtung in der die Kurve durchlaufen wird,fest.

Anmerkung: Eine Kurve kann durch verschiedene Parameterdarstellungen beschriebenwerden. Geometrische Eigenschaften der Kurve mussen unabhangig von der Wahl einerkonkreten Parameterdarstellung sein. Dies ist der Grund fur die Unterscheidung zwischenParameterdarstellung einer Kurve und der Kurve als geometrischem Objekt. In der Praxisist man bei dieser Unterscheidung allerdings oft nicht so genau.

Beispiel 1.13 Die Abbildung c : R → R2, t �→ (eat cos bt, eat sin bt), a, b ∈ R

parametrisiert fur a, b = 0 eine logarithmische Spirale, siehe Abb. 1.3. Wie hangt dieOrientierung dieser Kurve von a und b ab? Welche Kurven erhalt man im Fall a = 0oder b = 0? �

Definition 1.9 Eine Kurve heißt regular, wenn sie eine stetig differenzierbareParameterdarstellung c : I → R

n mit c′(t) = 0, t ∈ I besitzt. Der Vektor c′(t) istder Tangentialvektor an die Kurve im Punkt c(t). Eine Parameterdarstellungder Tangente an die Kurve im Punkt c(t) ist x(s) = c(t) + c′(t)s, s ∈ R.

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Kap. 1: Einleitung und Grundlagen - 13 -

Abbildung 1.3: Logarithmische Spirale

Anmerkung: Falls x(t) ∈ Rn als die Position eines sich bewegenden Punktes zum Zeit-

punkt t ∈ R aufgefasst wird, ist v(t) := x′(t) dessen Geschwindigkeit zum Zeitpunktt. Falls x(t) zweimal differenzierbar ist, ist a(t) := v′(t) = x′′(t) die Beschleunigungzum Zeitpunkt t.

Kurven konnen auch durch Gleichungen beschrieben werden.

Beispiel 1.14 Die Gleichung x2 + y2 = r2 beschreibt den Kreis mit Radius r > 0 in

der (x, y)-Ebene. Die Gleichung kann nach x bzw. nach y aufgelost werden

x±(y) = ±√r2 − y2, y ∈ [−r, r] bzw. y±(x) = ±

√r2 − x2, x ∈ [−r, r],

wobei jede der Funktionen x±(y) und y±(x) einen Halbkreis beschreibt. Alternativ dazukann der Kreis durch

(x, y) = (r cos t, r sin t), t ∈ R

parametrisiert werden. �

In der Regel ist zu erwarten, dass eine skalare Gleichung

f(x, y) = 0

eine Kurve von Losungen besitzt. Der Satz uber implizite Funktionen gibt Bedingun-gen an, die dies zumindest lokal sicherstellen: 1) f sei einmal stetig partiell differenzierbar,2) f(x0, y0) = 0 und 3) fy(x0, y0) = 0. Dann kann die Gleichung f(x, y) = 0 lokal, d.h.in einer Umgebung von (x0, y0), nach y = h(x) aufgelost werden. Im Fall fx(x0, y0) = 0kann lokal nach x = g(y) aufgelost werden. An - sogenannten singularen - Punkten(x0, y0) mit

f(x0, y0) = 0, fx(x0, y0) = 0, fy(x0, y0) = 0

kann die Losungsmenge der Gleichung f(x, y) = 0 eine kompliziertere Struktur haben.An solchen Punkten konnen z.B. Spitzen und Doppelpunkte auftreten.

Beispiel 1.15 Die Gleichung

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- 14 - Kap. 1: Einleitung und Grundlagen

y2 − a2x3 = 0

definiert die Neil’sche Parabel, die bei (0, 0) einen singularen Punkt hat, siehe Abb. 1.4.Man kann die Gleichung nach y auflosen

y±(x) = ±a√x3, x ≥ 0

Bei (0, 0) hat die Neil’sche Parabel eine Spitze, da limx→0+ y′±(x) = 0 gilt.

Abbildung 1.4: Neil’sche Parabel

Eine Parameterdarstellung der Neil’schen Parabel ist

x = t2, y = at3, t ∈ R.

An der Spitze ist diese nicht regular, da (x′(t), y′(t)) = (2t, 3at2) bei t = 0 verschwindet.�

Beispiel 1.16 Die kubische Gleichung

x2(x + 1) − y2 = 0

beschreibt eine Kurve mit einem Doppelpunkt bei (0, 0), siehe Abb. 1.5. Dies folgt ausder expliziten Auflosung

y±(x) = ±x√x + 1, x ≥ −1.

Die Funktionen y+(x) und y−(x) sind bei x = 0 differenzierbar und es gilt y′±(0) = ±1,was den Anstiegen der beiden Zweige im Doppelpunkt entspricht.Diese Kurve hat die regulare Parameterdarstellung

x = t2 − 1, y = t(t2 − 1), t ∈ R.

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Kap. 1: Einleitung und Grundlagen - 15 -

Abbildung 1.5: kubische Kurve mit Doppelpunkt

Dem Doppelpunkt entspricht dabei t = −1 und t = 1. �

Anmerkung: Die Parametrisierung einer Kurve kann Punkte enthalten, die nicht re-gular sind, obwohl die entsprechende Kurve regular ist. Ein einfaches Beispiel dafur istdie Parameterdarstellung c : R → R

2, t �→ (t3, t3) der ersten Mediane, die (warum?)regular ist.

Im Rn benotigt man (n − 1) Gleichungen, um eine Kurve als Losungsmenge eines Glei-

chungssystems zu beschreiben. Nach dem Satz uber implizite Funktionen kann fur eineFunktion f : Rn → R

n−1 die Gleichung f(x) = 0 in einer Umgebung einer Stelle a nach(n−1) der Variablen (x1, . . . , xn) aufgelost werden falls gilt: 1) f ist stetig differenzierbar,2) f(a) = 0 und 3) die (n− 1)× n Matrix df(a) hat Rang n− 1. In diesem Fall definiertdie Gleichung f(x) = 0 zumindest lokal eine Kurve.

Wiederholung: Niveaumengen, Maxima und Minima

Fur f : B ⊆ Rn → R und c ∈ R ist Nc(f) := {x ∈ B : f(x) = c} die Niveaumenge

von f zum Niveau c. Im Fall n = 2 spricht man auch von Niveaulinien bzw Hohenlinien.Im weiteren sei f zweimal stetig differenzierbar.

Aus dem Satz uber implizite Funktionen folgt, dass in einer Umgebung eines Punktes pmit ∇f(p) = 0 die Niveaumengen von f im Fall n = 2 glatte Kurven, im Fall n = 3glatte Flachen und im Fall n > 3 glatte (Hyper)flachen sind. Punkte mit ∇f = 0 heißenkritische Punkte von f . Falls die Hessematrix

H(x) :=

(∂2f

∂xi∂xj(x)

)an einem kritischen Punkt p positiv bzw. negativ definit ist, besitzt f an der Stelle p einlokales Minimum bzw. ein lokales Maximum.

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- 16 - Kap. 1: Einleitung und Grundlagen

Fur c ≈ f(p) sind die Niveaumengen Nc(f) im Fall eines Minimums fur c > f(p) und imFall eines Maximums fur c < f(p) in einer Umgebung von p geschlossene Flachen. Im Falln = 2 sind diese Niveaulinien naherungsweise Ellipsen, fur n = 3 sind die Niveauflachennaherungsweise Ellipsoide.Falls H(p) an einem kritischen Punkt regular und indefinit ist handelt es sich um einenSattelpunkt. In diesem Fall sind die NiveaumengenNc(f) fur c ≈ f(p) in einer Umgebungvon f nicht geschlossen. Im Fall n = 2 sind diese Niveaulinien lokal naherungsweiseHyperbeln, fur n = 3 sind die Niveauflachen naherungsweise Hyperboloide.

Beispiel 1.17 In Abb. 1.6 sind der Graph und die Niveaulinien einer Funktion

f : R2 → R

mit zwei lokalen Maxima, einem lokalem Minimum und zwei Sattelpunkten dargestellt.Versuchen Sie so eine Funktion f(x, y) explizit anzugeben. �

Abbildung 1.6: Graph und Niveaulinien

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Kap. 1: Einleitung und Grundlagen - 17 -

Vektorfelder, Integralkurven, Losungskurven

Definition 1.10 Sei B ⊆ Rn und I ein Intervall. Eine Funktion f : B → R

n

heißt Vektorfeld auf B. Eine Funktion f : I × B → Rn heißt zeitabhangiges

Vektorfeld

Ein Vektorfeld kann veranschaulicht werden, indem man sich in jedem Punkt x ∈ B denzugehorigen Vektor f(x) angeheftet denkt, siehe Abb. 1.7.

Abbildung 1.7: Vektorfeld und Integralkurve

Einer Losung x(t), t ∈ I der DG x′ = f(x) entspricht eine Kurve, die in jedem auf derKurve liegenden Punkt x den Tangentialvektor f(x) hat. Man sagt, die Losungen derDG sind die Integralkurven des Vektorfeldes.

Fur eine Losung x(t), t ∈ I der zeitabhangigen DG x′ = f(t, x) ist die Losungskurveder Graph {(t, x(t)), t ∈ I} der Losung. Der Tangentialvektor im Punkt (t, x) einerLosungskurve ist (1, f(t, x)).

Naturlich kann man auch im autonomen Fall Losungskurven im Rn+1 betrachten. Unter

der Projektion Rn+1 → R

n, (t, x) �→ x werden Losungskurven einer autonomen DG aufIntegralkurven abgebildet.

Beispiel 1.18 Das AWP u′ = v, v′ = −u, u(0) = 1, v(0) = 0 hat die Losung

u(t) = cos t, v(t) = − sin t. In Abbildung 1.8 sind in (b) die Losungskurve und in (c) dieIntegralkurve u2 + v2 = 1 dargestellt. �

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- 18 - Kap. 1: Einleitung und Grundlagen

Abbildung 1.8: Losungskurve und Integralkurve der DG u′ = v, v′ = −u

Anmerkung: Eine nichtautonome DG x′ = f(t, x), t ∈ I, x ∈ B ⊆ Rn kann immer

aquivalent als eine autonome DG auf I × B ⊆ Rn+1 geschrieben werden.

τ ′ = 1x′ = f(τ, x)

Die Integralkurven dieses erweiterten autonomen Systems sind genau die Losungskurvender nichtautonomen DG x′ = f(t, x).

Anmerkung: Bei der Untersuchung von DG sind geeignete durch Gleichungen defi-nierte ebene Kurven oft ein nutzliches Hilfsmittel. So sind im Fall einer expliziten DG1. Ordnung x′ = f(t, x) die Isoklinen die Losungskurven der Gleichung f(t, x) = k,k ∈ R in der (t, x)-Ebene.Im Fall zweidimensionaler autonomer Systeme

x′ = f(x, y)y′ = g(x, y)

spielen die durch f(x, y) = 0 bzw. g(x, y) = 0 definiertenNulllinien bei der qualitativenUntersuchung der Losungen oft eine wichtige Rolle. Auf der Nulllinie f(x, y) = 0 ist

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Kap. 1: Einleitung und Grundlagen - 19 -

das Vektorfeld vertikal, auf der Nullline g(x, y) = 0 ist das Vektorfeld horizontal. DieVorzeichenverteilung von f und g legt fest, wo x bzw. y wachst oder fallt.

Erhaltungsgroßen

Sei h : B ⊆ Rn → R eine stetig differenzierbare Funktion und x′ = f(x), x ∈ B eine

autonome DG. Fur eine Losung x(t) der DG gilt nach der Kettenregel

d

dth(x(t)) = ∇h(x(t)) · x′(t) = ∇h(x(t)) · f(x(t)).

Falls ∇h(x) · f(x) = 0 fur alle x ∈ B gilt, ist die Funktion h langs der Losungen der DGkonstant.

Definition 1.11 Eine stetig differenzierbare Funktion h : B ⊆ Rn → R ist

eine Erhaltungsgroße der DG x′ = f(x), x ∈ B, falls gilt

∇h(x) · f(x) = 0, ∀x ∈ B

Sei h eine Erhaltungsgroße fur die DG x′ = f(x). Die Losung des AWP x(0) = a ∈ Bliegt in diesem Fall zur Ganze in der Niveaumeng Nc(h) mit c = h(a). Im Fall n = 2 sinddie Integralkurven der DG daher Teilmengen der Niveaulinien der Funktion h. Somitist in diesem Fall das Bestimmen der Integralkurven der DG im wesentlichen auf dieUntersuchung der Niveaulinien der Erhaltungsgroße h zuruckgefuhrt.

Beispiel 1.19 Fur k ∈ R hat die DG

x′ = yy′ = kx

die Erhaltungsgroße h(x, y) = y2 − kx2. In den Fallen a) k < 0, b) k = 0 und c) k > 0liegen die Integralkurven daher auf a) Ellipsen, b) Geraden und c) Hyperbeln. �

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Kapitel 2

Elementar integrierbareDifferentialgleichungen

In diesem Kapitel werden Methoden zum expliziten Losen einiger Klassen von DG be-handelt. Bei diesen Methoden wird das Losen einer DG auf die Berechnung von Stamm-funktionen bzw. von bestimmten Integralen zuruckgefuhrt. Man sagt, die DG ist bisauf Integration gelost. Die Gesamtheit aller Losungen einer DG nennt die allgemei-ne Losung der DG. Diese hangt meist von freien Integrationskonstanten ab, die anAnfangsbedingungen oder Randbedingungen angepasst werden konnen.

2.1 Lineare skalare DG 1. Ordnung

Eine explizite lineare DG 1. Ordnung hat die Form

x′(t) = a(t)x + b(t) (2.1)

mit x ∈ R und t ∈ I ⊆ R. Die Funktionen a, b : I → R seien stetig. Daher besitzt a(t)eine Stammfunktion A(t) :=

∫a(t)dt.

Satz 2.1 Die allgemeine Losung der DG (2.1) ist

x(t) = eA(t)(c +

∫e−A(t)b(t)dt

), t ∈ I

mit c ∈ R.

Beweis: Die Funktion xh(t) := eA(t) lost die homogene DG x′ = a(t)x. Die im Satzangegeben Funktion x(t) lost die inhomogene DG x′ = a(t)x + b(t).Es bleibt zu zeigen, dass alle Losungen diese Form haben. Sei x(t) eine Losung derDG (2.1). Fur die Funktion y(t) := e−A(t)x(t) gilt

y′(t) = −a(t)e−A(t)x(t) + e−A(t)x′(t) = −a(t)e−A(t)x(t) + e−A(t)(a(t)x(t) + b(t)).

20

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Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen - 21 -

Somit gilt

y′(t) = e−A(t)b(t)

woraus

y(t) =

∫e−A(t)b(t)dt + c

mit c ∈ R folgt. Damit ist die Behauptung bewiesen. Die auftretenden Integrale existierenwegen der Stetigkeit der Funktionen a(t), b(t). �Anmerkung: Die Funktion ceA(t), c ∈ R ist die allgemeine Losung der homogenenDG x′ = a(t)x. Die Funktion eA(t)

∫e−A(t)b(t)dt ist eine Losung (Partikularlosung) der

inhomogenen DG x′ = a(t)x + b(t).

Beispiel 2.1 Gesucht ist die Losung des AWP

x′ = −tx + t, x(0) = 3

Mit a(t) = −t ist A(t) := ∫a(t)dt = −t2/2. Daher ist die allgemeine Losung

x(t) = e−t2

2

(c +

∫e

t2

2 tdt

)= ce−

t2

2 + 1.

Aus der Anfangsbedingung folgt c = 2.�

Manche nichtlineare DG konnen durch geeignete Transformationen auf lineare DG zuruck-gefuhrt werden.

Bernoulli-Differentialgleichung

Eine skalare DG der Form

x′ = p(t)x + q(t)xα (2.2)

mit α = 0, 1 heißt Bernoulli-Differentialgleichung. Die Funktionen p, q : I ⊆ R → R

seien stetig. Mittels der Substitution

y := x1−α

erhalt man daraus die lineare DG

y′ = (1 − α)p(t)y + (1 − α)q(t)

fur y(t).

Beispiel 2.2 Es gelte β = 0,−1. Die Bernoulli-Differentialgleichung

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- 22 - Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen

x′ = −x + x1+β

wird mittels der Substitutiony = x−β

zuy′ = βy − β.

Die allgemeine Losung dieser linearen DG mit konstanten Koeffizienten ist

y(t) = ceβt + 1, c ∈ R

worausx(t) =

(1 + ceβt

)− 1β

folgt. Fur c < 0 existiert diese Losung nur solange 1 + ceβt > 0 gilt. �

Riccati-Differentialgleichung

Eine Riccati-Differentialgleichung ist eine skalare DG der Form

x′ + g(t)x + h(t)x2 = r(t) (2.3)

mit auf einem Intervall I ⊆ R definierten stetigen Funktionen g, h und r. Im allgemeinenlassen sich die Losungen nicht in geschlossener Form angeben. Kennt man jedoch eineLosung, so sind die ubrigen explizit berechenbar. Es gilt, die Differenz zweier Losungeneiner Riccati-Differentialgleichung ist Losung einer Bernoulli-Differentialgleichung, die ineine lineare DG transformiert werden kann.Es seien x(t) und ϕ(t) zwei Losungen und u(t) := x(t) − ϕ(t). Dann gilt

u′ + g(t)u + h(t)u(u + 2ϕ) = 0

bzw.u′ + [g(t) + 2h(t)ϕ(t)]u + h(t)u2 = 0.

Diese Bernoulli-Differentialgleichung wird mittels der Transformation u = z−1 in dielineare DG

z′ = [g(t) + 2h(t)ϕ(t)]z + h(t)

ubergefuhrt. Falls eine Losung ϕ(t) der Riccati-Differentialgleichung bekannt ist, erhaltman alle Losungen in der Form

x(t) = ϕ(t) +1

z(t).

Beispiel 2.3 Die Riccati-Differentialgleichung

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Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen - 23 -

x′ = t2 − x2 + 1

hat die Losung x(t) = t, t ∈ R. Man setzt x(t) = t + 1/z(t) und erhalt

z′ = 2tz + 1.

Diese lineare DG hat die allgemeine Losung

z(t) = et2

(c +

∫ t

0

e−s2ds), t ∈ R

mit c ∈ R. Daher ist

x(t) = t +e−t2

c +∫ t

0 e−s2ds

die allgemeine Losung der DG.

Zusatzaufgabe: Zeichnen Sie das Richtungsfeld und die Losungskurven. Welche Bedeu-tung hat die Konstante c? Welche Losungen existieren fur t ∈ R? Welche Losungenhaben Polstellen als Singularitaten? Wie verhalten sich die Losungen fur t → ±∞? �

2.2 Separable Differentialgleichungen

Definition 2.1 Eine skalare DG der Form

x′ = f(x)g(t)

mit Funktionen f : B ⊆ R → R und g : I ⊆ R → R heißt separableDifferentialgleichung. .

Unter Verwendung der Schreibweise

dx

dt= f(x)g(t)

kann die DG fur f(x) = 0 alsdx

f(x)= g(t)dt

geschrieben werden. In dieser Gleichung hangt die linke Seite nur von x und die rech-te Seite nur von t ab, was die Bezeichnungen separable DG oder DG mit getrenntenVariablen erklart.

Anmerkung: 1) Die Funktionen f und g werden meist als zumindest stetig angenom-men.2) Jede skalare autonome DG x′ = f(x) ist separabel.

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- 24 - Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen

Sei x(t) Losung mit f(x(t)) = 0. Integration der Gleichung

x′(t)f(x(t))

= g(t)

nach t ergibt unter Verwendung der Stammfunktionen

H(x) :=

∫dx

f(x), G(t) :=

∫g(t)dt

die GleichungH(x(t)) = G(t) + c, c ∈ R.

Diese Gleichung ist eine implizite Beschreibung der Losung x(t). Falls H invertierbar isterhalt man die explizite Darstellung

x(t) = H−1(G(t) + c), c ∈ R.

Formal schreibt man die DG alsdx

f(x)= g(t)dt

und integriert die linke Seite nach x und die rechte Seite nach t. Dies ergibt die impliziteDarstellung

H(x) = G(t) + c, c ∈ R.

der Losungen.

Im Fall eines Anfangswertproblems x(t0) = x0 mit f(x0) = 0 ist die Konstante c durchc = H(x0) − G(t0) bestimmt. Praktisch arbeitet man bei AWP meist mit bestimmtenIntegralen und berechnet x(t) aus der Gleichung∫ x

x0

dx

f(x)=

∫ t

t0

g(t)dt. (2.4)

Im Fall f(x0) = 0 kann diese Gleichung lokal um (t0, x0) nach x aufgelost werden. Dahergilt

Satz 2.2 Es seien f und g stetig. Es gelte f(x0) = 0. Dann hat das AWPx′ = f(x)g(t), x(t0) = x0 in einer Umgebung von t0 eine eindeutige Losung, diedurch Auflosen der Gleichung (2.4) nach x erhalten werden kann.

Die eindeutige Losung x(t) des AWP existiert solange f(x(t)) = 0 gilt.

Anmerkung: Falls x0 eine Nullstelle von f(x) ist, ist x(t) = x0, t ∈ R eine konstanteLosung des AWP x(t0) = x0.

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Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen - 25 -

Sei x0 die einzige Nullstelle von f in einem Intervall (a, b). Dann hangt die Eindeutigkeitder Losung x(t) = x0 von der Divergenz der uneigentlichen Integrale∫ x0

a

dx

f(x)bzw.

∫ b

x0

dx

f(x)

ab. Man kann zeigen, dass die konstante Losung x(t) = x0 eindeutig ist, falls dieseIntegrale divergieren (siehe [Walter]). Falls f stetig differenzierbar ist, gilt dies an allenNullstellen von f . Vergleiche auch die folgenden Beispiele.

Beispiel 2.4 Das AWP

x′ = x2, x(0) = x0

ist zu losen. Separation ergibt ∫ x

x0

dx

x2=

∫ t

0

dt

und

−1

x+

1

x0= t.

Auflosen ergibt die Losung

x(t) =x0

1 − x0t.

Fur x0 > 0 existiert die Losung auf (−∞, 1/x0) und es gilt

limt→−∞x(t) = 0, lim

t→1/x0

x(t) = ∞.

Im Fall x0 < 0 existiert die Losung auf (1/x0,∞) und es gilt

limt→1/x0

x(t) = −∞, limt→∞ x(t) = 0.

Im Fall x0 = 0 ist die eindeutige Losung x(t) = 0, t ∈ R. �

Beispiel 2.5 Das fur x ≥ 0 definierte AWP

x′ =√x, x(0) = x0 ≥ 0

kann mittels Separation gelost werden. Aus∫ x

x0

dx√x=

∫ t

0

dt

erhalt man die Losung

x(t) =

(√x0 +

t

2

)2

, t ∈ [−2√x0,∞).

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- 26 - Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen

Im Fall x0 = 0 ist die Losung des AWP nicht eindeutig, denn x(t) = 0 und x(t) = t2/4sind beides Losungen des AWP. Zusatzlich sind fur τ > 0 auch die Funktionen

x(t) =

{0 t ≤ τ

(t−τ)2

4 t ≥ τ

Losungen des AWP x(0) = 0. �

Anmerkung: Das letzte Beispiel zeigt, dass eindeutige Losbarkeit von AWP fur DG derForm x′ = f(t, x) nur unter Zusatzbedingungen an das Vektorfeld f zu erwarten ist. Inder Praxis spielen Phanomene wie in Bsp. 2.2 allerdings kaum eine Rolle, da wir zeigenwerden, dass z.B. fur stetig differenzierbares f das AWP immer eindeutig losbar ist.

Differentialgleichung mit homogenen Variablen

Definition 2.2 Eine skalare DG der Form

x′ = f(x

t)

heißt Differentialgleichung mit homogenen Variablen.

Durch die Substitution x(t) = ty(t) wird eine Differentialgleichung mit homogenen Va-riablen in eine separable DG transformiert. Aus

x′ = y + ty′ = f(ty

t) = f(y)

folgt

y′ =f(y) − y

t.

Insbesondere entspricht einer Nullstelle y0 von f(y) − y die Losung y(t) = y0 bzw.x(t) = ty0.

2.3 Exakte Differentialgleichungen

Kurven in der (x, y) Ebene konnen durch Differentialgleichungen der Form

a(x, y)dx + b(x, y)dy = 0 (2.5)

mit a, b : B ⊆ R2 → R beschrieben werden. Die folgenden Erklarungen zeigen, dass die

Gleichung (2.5) eine besonders symmetrische Schreibweise fur Differentialgleichungen ist,bei der die Variablen x, y und ihre Differentiale dx bzw. dy gleichberechtigt auftreten.

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen - 27 -

1. Die Teile der gesuchten Kurven, fur die b(x, y) = 0 gilt, konnen als Graphen y = y(x)beschrieben werden, wobei gilt

y′(x) =dy

dx(x) = −a(x, y(x))

b(x, y(x)).

2. Die Teile der gesuchten Kurven, fur die a(x, y) = 0 gilt, konnen als Graphen x =x(y) beschrieben werden, wobei gilt

x′(y) =dx

dy(y) = − b(x(y), y)

a(x(y), y).

3. Falls die gesuchte Kurve durch (x(t), y(t)), t ∈ I parametrisiert wird, muss gelten

a(x(t), y(t))x′(t) + b(x(t), y(t))y′(t) = 0, t ∈ I.

Eine Moglichkeit diese Gleichung zu erfullen besteht darin, dass x und y Losungender DG

x′ = b(x, y)y′ = −a(x, y)

sind.

Beispiel 2.6 Die DG

2xdx + dy = 0

bedeutetdy

dx= −2x

woraus y = −x2 + c, c ∈ R folgt. �

Beispiel 2.7 Die Funktion h : B ⊆ R2 → R sei stetig differenzierbar. Sei (x(t), y(t)),

t ∈ I eine Parametrisierung einer Niveaulinie von h. Wir haben bereits gezeigt, dassdann gilt

hx(x(t), y(t))x′(t) + hy(x(t), y(t))y

′(t) = 0

bzw.

dh := hx(x, y)dx + hy(x, y)dy = 0.

Beispiel 2.8 Die Integralkurven der DG

x′ = f(x, y)y′ = g(x, y)

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- 28 - Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen

sind identisch mit den durch die DG

g(x, y)dx − f(x, y)dy = 0

definierten Kurven. Fur f(x, y) = 0 folgt dies formal durch Division der y Gleichungdurch die x Gleichung

dydt

dtdx=g(x, y)

f(x, y)

und Kurzen von dt. Begrundet ist dies dadurch, dass fur eine Losung (x(t), y(t)), t ∈ I mitf(x(t), y(t)) = 0 die Funktion t �→ x(t) invertierbar ist. Die Umkehrfunktion x �→ t(x)ist differenzierbar mit

dt

dx(x) =

1

f(x, y(t(x))).

Fur y(x) := y(t(x)) gilt dann nach der Kettenregel

dy

dx(x) = y′(t(x))

dt

dx(x) =

g(x, y(x))

f(x, y(x)).

Im Fall g(x, y) = 0 kann man analog die x Gleichung durch die y Gleichung dividieren.Eine Stelle (x0, y0) mit f(x0, y0) = 0 und g(x0, y0) = 0 ist eine konstante Losung beiderDG. �

Definition 2.3 Sei B ⊆ R2 offen. Eine Differentialgleichung der Form

a(x, y)dx + b(x, y)dy = 0, (x, y) ∈ B heißt exakt, wenn eine stetig differen-zierbare Funktion F : B → R existiert mit

a(x, y) = Fx(x, y), b(x, y) = Fy(x, y), (x, y) ∈ B.

So eine Funktion F nennt man Stammfunktion des Vektorfeldes(a(x, y), b(x, y)). Man sagt auch, das Vektorfeld (a(x, y), b(x, y)) ist einGradientenfeld.

Aus den obigen Uberlegungen folgt unmittelbar

Satz 2.3 Fur eine exakte DG a(x, y)dx + b(x, y)dy = 0, (x, y) ∈ B ⊆ R2 mit

Stammfunktion F (x, y) gilt:

1. Die Funktion F ist langs der Losungen der DG konstant.

2. Im Fall (a(x, y), b(x, y)) = (0, 0) in B geht durch jeden Punkt (x0, y0) ∈ Bgenau eine Losung der DG, die man durch Losen der Gleichung F (x, y) =F (x0, y0) erhalt.

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Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen - 29 -

Beweis: Die DG hat die Form dF = Fxdx + Fydy = 0 woraus 1) folgt.O.B.d.A. gelte Fy(x0, y0) = 0. Nach dem Satz uber implizite Funktionen kann die Glei-chung

F (x, y) = F (x0, y0) =: c

in einer Umgebung von (x0, y0) eindeutig nach y = y(x) aufgelost werden. Differenzierender Gleichung

F (x, y(x)) = c

nach x ergibt

Fx(x, y(x)) + Fy(x, y(x))y′(x) = a(x, y(x)) + b(x, y(x))y′(x) = 0.

was gleichbedeutend mit adx + bdy = 0 ist. �

Beispiel 2.9 Die DG

(2x + y)dx + xdy = 0

ist exakt mit Stammfunktion F (x, y) = x2 + xy. Daher liegen die Losungskurven derDG auf den durch

x2 + xy = c, c ∈ R

definierten Kurven. Fur c = 0 erhalt man die Losungen

y(x) =c

x− x, x = 0.

Fur c = 0 erhalt man die durch y = −x bzw. x = 0 definierten Kurven. Diese beidenKurven schneiden sich im Punkt (0, 0), den man als konstante Losung der DG anse-hen kann. Nach den am Anfang dieses Abschnitts angestellten Uberlegungen sind dieseLosungskurven genau die Integralkurven der linearen DG mit konstanten Koeffizienten

x′ = xy′ = −2x − y.

Falls ein stetig differenzierbares Vektorfeld (a(x, y), b(x, y)), (x, y) ∈ B ein Gradienten-feld ist, muss die Integrabilitatsbedingung

ay(x, y) = bx(x, y), (x, y) ∈ B (2.6)

gelten, d.h. die Integrabilitatsbedingung ist notwendig fur die Existenz einer Stammfunk-tion. Unter weiteren Voraussetzungen an den Bereich B ist die Integrabilitatsbedingungauch hinreichend fur die Existenz einer Stammfunktion. Es gilt (siehe Analysis 2):

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- 30 - Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen

Satz 2.4 Sei B ⊆ R2 ein einfach zusammenhangendes Gebiet. Fur ein auf

B definiertes stetig differenzierbares Vektorfeld (a(x, y), b(x, y)) ist die Integrabi-litatsbedingung (2.6) notwendig und hinreichend fur die Existenz einer Stamm-funktion.

Anmerkung: Ein Gebiet ist eine zusammenhangende offene Teilmenge des Rn. Ein

Gebiet ist einfach zusammenhangend, wenn zwei beliebige stetige Kurven mit gleichemAnfang- und Endpunkt homotop sind, d.h. wenn die Kurven stetig ineinander ubergefuhrtwerden konnen. Anschaulich bedeutet dies im R

2, dass das Gebiet keine “Locher” hat(siehe Analysis 2).

Unter den Voraussetzungen von Satz 2.3 kann die Stammfunktion F als Kurvenintegral

F (x, y) =

∫C

a(x, y)dx + b(x, y)dy

berechnet werden, wobei C eine (beliebige) in B verlaufende Kurve ist, die einen festenPunkt (x0, y0) ∈ B mit dem Punkt (x, y) ∈ B verbindet. Die Integrabilitatsbedingungund die Voraussetzungen an B garantieren die Wegunabhangigkeit dieses Kurveninte-grals.

Beispiel 2.10 Die DG

(3x2y2 − 2x)dx + (2x3y + 1)dy = 0

ist auf R2 wegen

ay = 6x2y = bx

exakt mit Stammfunktion F (x, y) = x3y2 − x2 + y. �

Integrierender Faktor

Falls eine DG a(x, y)dx + b(x, y)dy = 0 nicht exakt ist, kann man versuchen einen in-tegrierenden Faktor zu finden. Darunter versteht man eine nirgends verschwindendestetig differenzierbare Funktion m(x, y) mit der Eigenschaft, dass die mit m multiplizier-te, aquivalente DG

m(x, y)a(x, y)dx + m(x, y)b(x, y)dy = 0

exakt ist. Die Integrabilitatsbedingung fur die modifizierte DG lautet

(ma)y = (mb)x

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Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen - 31 -

was die partielle DG

amy − bmx = (bx − ay)m

fur die gesuchte Funktion m(x, y) ergibt. Diese ist i.a. nicht explizit losbar.

Gelegentlich funktionieren die Ansatze

1.

m = m(x),

2.

m = m(y),

3.

m = xαyβ

mit geeigneten Konstanten α und β.

Der Ansatz 1) fuhrt auf

mx =ay − bx

bm.

Falls der Faktor (ay − bx)/b nur von x abhangt, kann m(x) als Losung einer linearenhomogenen gewohnlichen DG berechnet werden.Der Ansatz 2) fuhrt auf

my =bx − ay

am.

Falls der Faktor (bx − ay)/a nur von y abhangt, kann m(y) als Losung einer linearenhomogenen gewohnlichen DG berechnet werden.Der Ansatz 3) kann versucht werden, wenn a und b Polynome in x und y sind.

Beispiel 2.11 Die DG

(x + y2 + 1)dx + 2ydy = 0

ist wegen

ay = 2y = 0 = bx

nicht exakt. Die Suche nach einem integrierenden Faktor der Form m(x) fuhrt auf

mx =ay − bx

bm =

2y − 0

2ym = m

woraus

m(x) = ex

folgt. Die DG

ex(x + y2 + 1)dx + 2yexdy = 0

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- 32 - Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen

ist exakt mit Stammfunktion

F (x, y) = ex(x + y2).

Die Losungskurven sind daher implizit durch die Gleichung

ex(x + y2) = c, c ∈ R

gegeben. Versuchen Sie diese Kurven zu analysieren und zu zeichnen! �

2.4 Lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizien-

ten

Skalare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten

Eine homogene skalare lineare DG n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten hat dieForm

any(n) + an−1y

(n−1) + · · · + a1y′ + a0y = 0 (2.7)

mit ak ∈ R oder ak ∈ C, k = 0, . . . , n. Der Exponentialansatz

y(t) = eλt (2.8)

mit λ ∈ C fuhrt auf

(anλn + an−1λ

n−1 + · · · + a1λ + a0)eλt = 0.

Dies motiviert die folgende Definition.

Definition 2.4 Das Polynom

p(λ) := anλn + an−1λ

(n−1) + · · · + a1λ + a0

ist das charakteristische Polynom der DG (2.7).

Somit gilt

Satz 2.5 Die Funktion y(t) = eλt ist genau dann eine Losung der DG (2.7),wenn λ eine Nullstelle des charakteristischen Polynoms der DG ist.

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Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen - 33 -

Falls das charakteristische Polynom n verschiedene Nullstellen λk ∈ C, k = 1, . . . , nbesitzt, erhalt man n verschiedene - spater werden wir sagen n linear unabhangige -Losungen

y1(t) = eλ1t, y2(t) = eλ2t, . . . , yn(t) = eλnt

der DG. Dabei kann man t ∈ R aber auch t ∈ C zulassen.

Im Fall mehrfacher Nullstellen werden weitere Losungen benotigt.

Satz 2.6 Falls eine Nullstelle λ des charakteristischen Polynoms die Vielfachheitm > 1 hat, sind die Funktionen

y1(t) = eλt, y2(t) = teλt, . . . , ym(t) = t(m−1)eλt

m verschiedene Losungen der DG (2.7).

Beweis: Das charakteristische Polynom habe k verschieden Nullstellen λ1, . . . , λk mitVielfachheiten m1, . . . ,mk. Dann gilt

p(λ) = an(λ − λ1)m1(λ − λ2)

m2 · · · (λ − λk)mk .

Daher kann die DG als

an(d

dt− λ1)

m1(d

dt− λ2)

m2(d

dt− λk)

mky = 0

geschrieben werden, wobei es auf die Reihenfolge der Faktoren nicht ankommt. Somitgenugt es zu zeigen, dass fur eine m-fache Nullstelle λ gilt

(d

dt− λ)m(tjeλt) = 0, 0 ≤ j ≤ m − 1.

Es gilt

(d

dt− λ)(eλt) = λeλt − λeλt = 0

und

(d

dt− λ)(tjeλt) =

d

dt(tjeλt) − λtjeλt = jtj−1eλt.

Daher gilt fur 0 ≤ j ≤ m − 1

(d

dt− λ)m(tjeλt) =

(d

dt− λ)m−1(

d

dt− λ)(tjeλt) = j(

d

dt− λ)m−1(tj−1eλt) = · · · = j!(

d

dt− λ)m−j(eλt) = 0.

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- 34 - Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen

Falls das charakteristische Polynom eine komplexe Nullstelle λ = α + iβ besitzt, ist

eλt = eαt+iβt = eαteiβt = eαt( cosβt + i sin βt)

eine komplexwertige Losung. Falls die Koeffizienten der DG reell sind, ist man an re-ellen Losungen interessiert. Aufspalten der DG in ihren Real- und Imaginarteil unterVerwendung der Linearitat zeigt, dass in diesem Fall

�(eλt) = eαt cos βt und �(eλt) = eαt sin βt

zwei verschiedene reelle Losungen der DG sind, die dem Paar α±iβ konjugiert komplexerNullstellen entsprechen. Falls die komplexe Nullstelle die Vielfachheit m hat, sind dieFunktionen

tjeαt cos βt und tjeαt sin βt, j = 0, 1, . . . ,m − 1

2m verschiedene reelle Losungen der DG.

Da das Polynom p(λ) - nach Vielfachheiten gezahlt - genau n Nullstellen hat, erhalt manauch im Fall mehrfacher Nullstellen n verschiedene Losungen y1, . . . , yn der DG. Spaterwird gezeigt, dass die allgemeine Losung der DG die Form

y(t) = c1y1(t) + · · · + cnyn(t)

mit ck ∈ R bzw. ck ∈ C, k = 1, . . . , n hat.

Anmerkung: Das Verhalten einer Losungen y(t) = tjeλt fur t → ∞ wird vor allemdurch den Realteil von λ bestimmt. Im Fall �λ < 0 gilt limt→∞ y(t) = 0, fur �λ > 0gilt limt→∞ |y(t)| = ∞. Fur �λ = 0 oszilliert die Losung, im Fall �λ = 0 ist die Losungmonoton. Im Fall λ = 0 ist die Losung konstant bzw. polynomial in t.

Systeme mit konstanten Koeffizienten

Ein lineares System von DG 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten hat die Form

x′ = Ax (2.9)

mit x ∈ Rn oder x ∈ C

n und einer reellen oder komplexen n × n Matrix A. Einsetzendes Exponentialansatzes x(t) = eλtv mit λ ∈ C und einem Vektor v ∈ R

n oder v ∈ Cn

in die DG ergibt

λeλtv = A(eλtv) = eλtAv.

Daher gilt

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen - 35 -

Satz 2.7 Die Funktion x(t) = eλtv ist genau dann eine Losung der DG (2.9),wenn gilt

Av = λv,

d.h. λ ist Eigenwert der Matrix A mit Eigenvektor v.

Anmerkung: Aufgrund dieses Resultats ist das Eigenwertproblem der linearen Algebravon großer Bedeutung fur DG.

Aus der linearen Algebra ist folgendes bekannt.

Satz 2.8 Fur eine n × n Matrix A gilt:

1. Die Eigenwerte von A sind genau die Nullstellen des charakteristischen Po-lynoms der Matrix

p(λ) := det(A − λI).

2. Zu jedem Eigenwert existiert mindestens ein Eigenvektor.

3. Falls die Matrix n verschiedene Eigenwerte λ1, . . . , λn besitzt, bilden die dazu-gehorigen Eigenvektoren v1, . . . , vn eine Basis des Rn bzw. Cn und die Matrixist diagonalisierbar.

4. Die Matrix ist genau dann diagonalisierbar, wenn fur jeden Eigenwert diealgebraische Vielfachheit gleich der geometrischen Vielfachheit ist.

5. Falls Eigenwerte mit unterschiedlicher algebraischer und geometrischer Viel-fachheit auftreten, kann die Matrix auf Jordansche Normalform transfor-miert werden.

Anmerkung: Im Fall komplexer Eigenwerte liegen die entsprechenden Eigenvektorenin C

n. Im Fall einer reellen Matrix mit reellen Eigenwerten sind auch alle Eigenvektorenreell und man kann in R

n arbeiten.

Eine typische n × n Matrix A hat n verschiedene Eigenwerte und ist daher diagonali-sierbar. Daher beschranken wir uns vorerst auf den Fall diagonalisierbarer Matrizen Amit n - nicht notwendig verschiedenen - Eigenwerten λ1, . . . , λn und dazugehorigen Ei-genvektoren v1, . . . , vn. Aufgrund der obigen Uberlegungen hat die DG (2.9) in diesemFall n verschiedene - genauer gesagt linear unabhangige - Losungen

x1(t) = eλ1tv1, x2(t) = eλ2tv2, . . . , xn(t) = eλntvn.

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 36 - Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen

Wegen der Linearitat der DG (2.9) ist jede Linearkombination dieser Losungen ebenfallseine Losung. Daher kann man versuchen die Losung eines Anfangswertproblems x(0) =a als Linearkombination dieser Losungen darzustellen. Um Eindeutigkeitsaussagen zuerhalten benutzen wir im folgenden die Diagonalisierbarkeit der Matrix A.

Sei V die regulare n × n Matrix mit Spalten v1, . . . , vn und D die Diagonalmatrix mitdkk = λk, k = 1, . . . , n. Dann gilt

AV = V D

bzw.

V −1AV = D.

Die Koordinatentransformation

x = V y

ergibt

V y′ = x′ = Ax = AV y.

Daher gilt

y′ = V −1AV y = Dy.

In den y Koordinaten lautet die DG

y′1 = λ1y1y′2 = λ2y2...

......

y′n = λnyn

Die allgemeine Losung dieser n entkoppelten skalaren Differentialgleichungen ist

yk(t) = ckeλkt, ck ∈ C, k = 1, . . . , n.

Durch Rucktransformation x(t) = V y(t) folgt

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen - 37 -

Satz 2.9 Die n × n Matrix A sei diagonalisierbar mit Eigenwerten λ1, . . . , λnmit dazugehorigen Eigenvektoren v1, . . . , vn. Dann sind die Funktionen

x1(t) = eλ1tv1, x2(t) = eλ2tv2, . . . , xn(t) = eλntvn

n linear unabhangige Losungen der DG

x′ = Ax.

Die allgemeine Losung der DG ist

x(t) = c1eλ1tv1 + c2e

λ2tv2 · · · + cneλntvn, ck ∈ C, k = 1, . . . , n.

Das AWP x(0) = a hat die eindeutige Losung

x(t) = α1x1(t) + α2x2(t) + · · · + αnxn(t),

wobei α1, . . . , αn die Koordinaten des Anfangswertes a bezuglich der Basisv1, . . . , vn sind, die durch Losen des (eindeutig losbaren) linearen Gleichungssy-stems

α1v1 + α2v2 + · · · + αnvn = a

berechnet werden konnen.

Beispiel 2.12 Das AWP

x′1 = x2x′2 = −3x1 − 4x2

x(0) = (2, 2)T ist zu losen. Die Eigenwerte und Eigenvektoren der Matrix(0 1

−3 −4

)

sind λ1 = −1, v1 = (1,−1)T und λ2 = −3, v2 = (1,−3)T . Die allgemeine Losung derDG ist

x(t) = c1e−t

(1

−1

)+ c2e

−3t

(1

−3

).

mit c1, c2 ∈ C. Das AWP fuhrt auf das lineare Gleichungssytem(1 1

−1 −3

)(c1c2

)=

(22

)Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 38 - Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen

mit der Losung c1 = 4 und c2 = −2. Die Losung des AWP ist

x(t) = 4e−t

(1

−1

)− 2e−3t

(1

−3

).

Die Integralkurven dieser DG sind in Abbildung 2.1 dargestellt. Alle Losungen konver-gieren fur t → ∞ gegen die Ruhelage im Ursprung. Man spricht von einem stabilenKnoten.

Abbildung 2.1: Stabiler Knoten

Im folgenden sei A eine reelle n × n Matrix. Ein reeller Eigenwert λ hat in diesemFall reelle Eigenvektoren v ∈ R

n. Daher gilt in diesem Fall eλtv ∈ Rn. Im Fall eines

komplexen Eigenwertes λ = α + iβ, β = 0 ist der Eigenvektor v = a + ib auch komplexmit a, b ∈ R

n. In diesem Fall ist λ = α − iβ ebenfalls Eigenwert mit Eigenvektorv = a − ib. Die Funktionen z(t) = eλtv und z = eλtv sind Losungen der DG mit Wertenin C

n. Zwei reelle Losungen erhalt man durch Zerlegen von z in Real- und Imaginarteil.

Lemma 2.1 Sei A eine reelle n × n Matrix und z(t) = x(t) + iy(t) ∈ Cn

eine Losung der DG z′ = Az. Dann sind x(t) und y(t) reelle Losungen der DGx′ = Ax.

Beweis: Ausx′ + iy′ = z′ = Az = A(x + iy) = Ax + iAy

folgtx′ = Ax und y′ = Ay.

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen - 39 -

�Der komplexen Losung

z(t) = eλtv = eαt(cos βt + i sin βt)(a + ib)

entsprechen daher die beiden reellen Losungen

x(t) = eαt(cos βt a − sin βt b) und y(t) = eαt(sin βt a + cos βt b).

Beispiel 2.13 Es sei

A =

(α β

−β α

).

Die Eigenwerte von A sind α ± iβ mit Eigenvektoren (1,±i)T , d.h. a = (1, 0)T undb = (0, 1)T . Daher ist die allgemeine reelle Losung der DG x′ = Ax gleich

x(t) = c1eαt

(cos βt

− sin βt

)+ c2e

αt

(sin βtcos βt

)mit c1, c2 ∈ R.Im Fall α = 0 sind die Integralkurven Kreise, die fur β > 0 im Uhrzeigersinn und furβ < 0 gegen den Uhrzeigersinn durchlaufen werden. Begrunden Sie diese Aussagen! Furα = 0 sind die Integralkurven logarithmische Spiralen, die fur t → ∞ im Fall α < 0 zumUrsprung und im Fall α > 0 weg vom Ursprung spiralen. Im Fall α < 0 spricht man voneiner stabilen Spirale und im Fall α > 0 von einer instabilen Spirale. In Abbildung 2.2sind die Integralkurven einer stabilen Spirale fur α < 0 und β > 0 dargestellt. �

Sei A eine reelle 2 × 2 Matrix mit konjugiert komplexen Eigenwerten λ = α ± iβ undEigenvektoren a ± ib, a, b ∈ R

2. Aus

Aa + iAb = A(a + ib) = (α + iβ)(a + ib) = αa − βb + i(βa + αb)

folgtAa = αa − βb und Ab = βa + αb.

Daher gilt fur die 2 × 2 Matrix T = (a, b)

AT = T

(α β

−β α

)bzw.

T−1AT =

(α β

−β α

)Anwenden der Koordinatentransformation

x = Ty (2.10)

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- 40 - Kap. 2: Elementar integrierbare Differentialgleichungen

Abbildung 2.2: Stabile Spirale

auf die DG x′ = Ax ergibtTy′ = x′ = Ax = ATy.

Daher gilty′ = T−1ATy

In den y Koordinaten hat die DG daher die Form von Beispiel 2.4

y′ =(

α β−β α

)y.

Die Integralkurven des Systems in y-Koordinaten werden durch die Koordinatentrans-formation (2.10) in die Integralkurven der DG x′ = Ax abgebildet. Aus den Kreisendes y-Systems, die im Fall α = 0 auftreten, werden daher Ellipsen des x-Systems. Be-grunden Sie diesen Sachverhalt! Die fur α = 0 auftretenden logarithmischen Spiralen desy-Systems werden zu verzerrten Spiralen des x-Systems.

Anmerkung: Im Fall einer reellen n×nMatrix Amit komplexen Eigenwerten λ = α±iβund Eigenvektoren a ± ib, a, b ∈ R

n hat man genau die oben beschriebene Situation aufdem durch die Vektoren a, b aufgespannten zweidimensionalen Unterraum des Rn.

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Kapitel 3

Existenz und Eindeutigkeit

In diesem Kapitel wird die Existenz und Eindeutigkeit von Losungen des Anfangswert-problems

x′ = f(t, x), x(t0) = x0 (3.1)

untersucht. Dabei sei G ⊆ Rn+1 offen, f : G → R

n stetig und (t0, x0) ∈ G.

Ein klassisches Resultat ist der Existenzsatz von Peano, der besagt, dass aus der Stetig-keit von f die Existenz einer Losung des AWP (3.1) folgt. Fur Details und den Beweiswird auf die Literatur verwiesen. Allerdings zeigen die Beispiele im Kapitel 2, dass dieStetigkeit von f nicht ausreicht, um die Eindeutigkeit der Losung zu garantieren.

Fur die Eindeutigkeit der Losung ist die Lipschitz-Eigenschaft von f bezuglich x vonzentraler Bedeutung. Ein Hauptresultat ist der Existenzsatz von Picard-Lindelof, der dieExistenz und Eindeutigkeit einer lokalen Losung des AWP (3.1), die auf einem Intervall(t0 − δ, t0 + δ) mit δ > 0 existiert, garantiert. Danach wird die Fortsetzbarkeit dieserlokalen Losung zu einer maximalen bzw. globalen Losung untersucht.

Existenz- und Eindeutigkeitsbeweise bei gewohnlichen und - in noch starkerem Maß bei- partiellen DG beruhen auf Abschatzungen (Ungleichungen), mit deren Hilfe Losungenbzw. Approximationen von Losungen kontrolliert werden. Ein weiteres wichtiges Hilfs-mittel ist das Umschreiben von DG in aquivalente Integralgleichungen.

Satz 3.1 Sei I ⊂ R ein offenes Intervall mit t0 ∈ I. Dann gilt, eine Funktionx : I → R

n ist genau dann eine Losung des AWP (3.1), wenn x(t) eine stetigeLosung der Integralgleichung

x(t) = x0 +

∫ t

t0

f(s, x(s))ds, t ∈ I (3.2)

ist.

Beweis: Durch Integration der DG (3.1) uber das Intervall (t0, t) folgt, dass jede Losungder DG die Integralgleichung (3.2) erfullt.

41

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- 42 - Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit

Sei umgekehrt x(t) eine stetige Losung der Integralgleichung (3.2). Dann erfullt x(t)die Anfangsbedingung x(t0) = x0. Da x(t) und f(t, x(t)) stetig sind, folgt aus der In-tegralgleichung (3.2), dass x(t) stetig differenzierbar ist. Differenzieren der Integralglei-chung (3.2) nach t zeigt, dass x(t) Losung der DG ist. �Notation: Im folgenden bedeutet | · | sowohl den Betrag einer reellen oder komplexenZahl, als auch eine nicht naher spezifizierte Norm auf Rn bzw. Cn. Fur 1 ≤ p < ∞ ist|x|p = (

∑nj=1 |xj|p)1/p die lp-Norm auf Rn und C

n, und |x|∞ = max{|xj|, j = 1, . . . , n}die l∞-Norm.Mit Br(a) bzw. Br(a) werden die offene bzw. abgeschlossene Kugel mit Radius r > 0und Mittelpunkt a bezuglich einer Norm im R

n und Cn bezeichnet.

Fur eine Matrix A bedeutet |A| die der Norm | · | entsprechende Abbildungsnorm, furdie gilt |Ax| ≤ |A||x| fur alle x ∈ R

n bzw. Cn.

3.1 Lipschitz-Eigenschaft und Eindeutigkeit

Definition 3.1Sei G ⊆ R

n+1 Eine stetige Funktion f : G → Rn heißt Lipschitz bezuglich x,

wenn eine Konstante L > 0 existiert, so dass gilt

|f(t, x) − f(t, y)| ≤ L|x − y|, fur alle (t, x), (t, y) ∈ G.

Die Konstante L heißt Lipschitz-Konstante.Eine stetige Funktion f : G → R

n heißt lokal Lipschitz bezuglich x, wennzu jedem Punkt a ∈ G eine Kugel Br(a) und eine Konstante L = L(a) > 0existieren, so dass gilt

|f(t, x) − f(t, y)| ≤ L|x − y|, fur alle (t, x), (t, y) ∈ Br(a) ∩ G.

Anmerkung: 1) Auf unbeschrankten Bereichen sind selbst sehr regulare, d.h. ein-oder mehrmals stetig differenzierbare, Funktionen oftmals nicht global Lipschitz aberlokal Lipschitz. Dies sieht man z.B. an der auf R definierten Funktion f(x) = x2. DieAbschatzung

|x2 − y2| = |y + x||y − x| ≤ 2max{|x|, |y|}|y − x|zeigt, dass f auf jeder kompakten Menge Lipschitz ist.

2) Die Lipschitz-Eigenschaft bezuglich x impliziert Beschranktheit der ersten Ableitungender Funktion f nach x.

Als Umkehrung der obigen Bemerkung 2) liefert der folgende Satz ein hinreichendes

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Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit - 43 -

Kriterium fur die Lipschitz-Eigenschaft bezuglich x, das bei den meisten DG anwendbarist.

Satz 3.2 Sei G ⊆ Rn+1 offen und f : G → R

n stetig und bezuglich x stetigdifferenzierbar. Dann ist f lokal Lipschitz bezuglich x.

Beweis: Da G offen ist, existiert fur a ∈ G ein r > 0 mit Br(a) ⊂ G. Auf der kompaktenMenge Br(a) sind die partiellen Ableitungen von f nach x beschrankt. Daher existiertL = L(a) > 0 mit

|∂f∂x

(t, x)| ≤ L, fur (t, x) ∈ Br(a).

Die Kugel Br(a) ist konvex, daher liegt fur (t, x) ,(t, y) ∈ Br(a) die Verbindungsstreckezwischen den Punkten (t, x) und (t, y) in Br(a). Sei

(t, ϕ(s)) := (t, x + s(y − x)), s ∈ [0, 1]

eine Parametrisierung dieser Verbindungsstrecke. Dann gilt

f(t, y) − f(t, x) =

∫ 1

0

d

dsf(t, ϕ(s))ds =

∫ 1

0

∂f

∂x(t, ϕ(s))(y − x)ds.

Daher gilt

|f(t, y) − f(t, x)| ≤∫ 1

0

|∂f∂x

(t, ϕ(s))||y − x|ds ≤ L|y − x|.�

Aus dem Beweis folgt unmittelbar

Satz 3.3 Sei G ⊆ Rn+1 bei festem t konvex bezuglich x. Die Funktion f : G →

Rn sei stetig und bezuglich x stetig differenzierbar auf G. Falls gilt |∂f∂x(t, x)| ≤ L

fur (t, x) ∈ G, so ist f Lipschitz bezuglich x mit Lipschitz-Konstante L.

Die Beschranktheitsvoraussetzung in diesem Satz ist immer erfullt, wenn f auf einerkompakten Menge K mit G ⊂ K bezuglich x stetig differenzierbar ist.

Beispiel 3.1 1) Die Funktion f(x) = sin x ist Lipschitz auf R mit Lipschitzkonstante

L = 1 = maxx∈R | cos x| = maxx∈R |f ′(x)|.2) Die Funktion f(t, x) = t sin x ist lokal Lipschitz bezuglich x auf R2 und Lipschitzbezuglich x auf I × R falls I ⊂ R beschrankt ist.

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- 44 - Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit

3) Die Funktion f(t, x) = x sin(xt) ist lokal Lipschitz bezuglich x auf R2 und Lipschitzbezuglich x auf G ⊂ R

2, falls G beschrankt ist.

Weiters gilt

Satz 3.4 Sei G ⊂ Rn+1 kompakt. Falls f : G → R

n lokal Lipschitz bezuglich xist, so ist f Lipschitz bezuglich x.

Beweis: Ubungsaufgabe �Im weiteren benotigen wir mehrmals die folgende Ungleichung, um Abschatzungen furLosungen von DG zu erhalten.

Lemma 3.1 [ Lemma von Gronwall ]

Es seien x, a : [t0, t1] → R stetige Funktionen und a(t) ≥ 0, t ∈ [t0, t1]. FurK ∈ R gelte

x(t) ≤ K +

∫ t

t0

a(s)x(s)ds.

Dann gilt fur t ∈ [t0, t1]

x(t) ≤ KeA(t) mit A(t) :=

∫ t

t0

a(s)ds.

Beweis: Es sei

y(t) := K +

∫ t

t0

a(s)x(s)ds.

Dann ist y(t) stetig differenzierbar. Nach Voraussetzung gilt x(t) ≤ y(t). Daraus folgt

y′(t) = a(t)x(t) ≤ a(t)y(t)

und y(t0) = K. Fur z(t) := y(t)e−A(t) gilt

z′(t) = y′(t)e−A(t) − y(t)e−A(t)a(t) = e−A(t)(y′(t) − a(t)y(t)) ≤ 0.

Durch Integration von z′(t) ≤ 0 folgt z(t) ≤ z(t0) = K woraus y(t) ≤ KeA(t) folgt,womit das Lemma bewiesen ist. �Anmerkung: Hier wurde das Lemma von Gronwall in seiner einfachsten Form formu-liert. Es gibt allgemeinere Versionen dieses Lemmas, die in der Theorie von DG eine

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Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit - 45 -

wichtige Rolle spielen. So kann z.B. in den Voraussetzungen die Konstante K durch einestetige Funktion k(t) ersetzt werden. Welche Abschatzung fur x(t) erhalt man in diesemFall?

Unter Verwendung des Lemmas von Gronwall, ist es einfach zu zeigen, dass aus derLipschitz-Eigenschaft von f bezuglich x die Eindeutigkeit der Losung des Anfangswert-problems folgt.

Satz 3.5 [ Eindeutigkeit von Losungen des AWP ]

Sei f : G → Rn Lipschitz bezuglich x. Dann hat das AWP (3.1) hochstens eine

Losung.

Beweis: Der Beweis wird indirekt gefuhrt. Angenommen es existieren zwei verschiedeneLosungen x(t) und y(t) des AWP (3.1), die beide auf einem Intervall I = [t0, t1] existieren.Aus Satz 3.1 folgt

x(t) = x0 +

∫ t

t0

f(s, x(s))ds, t ∈ I

y(t) = x0 +

∫ t

t0

f(s, y(s))ds, t ∈ I.

Subtraktion der beiden Gleichungen ergibt

|y(t) − x(t)| ≤∫ t

t0

|f(s, y(s)) − f(s, x(s))|ds ≤∫ t

t0

L|y(s) − x(s)|ds,

wobei L > 0 die Lipschitzkonstante von f ist. Daher gilt fur die stetige Funktion z(t) :=|(y(t) − x(t)|

z(t) ≤ L

∫ t

t0

z(s)ds, t ∈ I.

Aus dem Lemma von Gronwall mit K = 0 und a(t) = L folgt z(t) ≤ 0eLt = 0, t ∈ I.Dies steht im Widerspruch zur Annahme, dass x(t) und y(t) zwei verschiedene Losungendes AWP sind. �

3.2 Existenz von Losungen

Vorbemerkungen

Die Existenz einer Losung einer nicht explizit losbaren Gleichung

F (x) = 0

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- 46 - Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit

kann auf verschiedene Arten gezeigt werden. Dabei kann die Unbekannte x ein Punkt imR

n sein. Falls es sich um eine DG handelt, ist die Unbekannte x eine Funktion, die dannoft abstrakt als Punkt in einem geeigneten Funktionenraum aufgefasst wird.

Eine Moglichkeit, um Existenzaussagen zu gewinnen, ist die Konstruktion einer Folgexn, n ∈ N von Naherungslosungen, d.h. fur rn := F (xn), n ∈ N gilt limn→∞ |rn| = 0.Darauf aufbauend muss gezeigt werden, dass die Folge (oder zumindest eine Teilfolge)konvergiert, d.h. limn→∞ xn = x� und dass der Grenzwert eine Losung ist, d.h. F (x�) = 0.

Bei nichtlinearen Problemen ist es oft vorteilhaft, die Nullstellenaufgabe F (x) = 0 als einaquivalentes Fixpunktproblem zu schreiben. Im Fall F : V → V mit einem geeignetennormierten Raum V ist das Losen der Gleichung F (x) = 0 aquivalent zum Finden vonFixpunkten der Abbildung T (x) := x+F (x) oder T (x) := x+LF (x) mit einer geeignetenlinearen Abbildung L. Ein Fixpunkt von T ist dabei ein Punkt x� mit T (x�) = x�. DieExistenz von Fixpunkten kann mit topologischen und funktionalanalytischen Methodenuntersucht werden. Exemplarisch seien die Fixpunktsatze von Brouwer und Schaudererwahnt.

Ein sehr wichtiges und oft einsetzbares einfaches Resultat ist der Fixpunktsatz (Kon-traktionssatz) von Banach, der insbesondere bei DG sehr oft verwendet wird.

Satz 3.6 [ Fixpunktsatz von Banach ]

Sei (M,d) ein vollstandiger metrischer Raum und T : M → M eine Kontraktion,d.h. es existiert eine Konstante K ∈ (0, 1), sodass

d(T (x), T (y)) ≤ Kd(x, y), fur alle x, y ∈ M.

Dann gilt:

1. T besitzt genau einen Fixpunkt x� ∈ M .

2. Fur jeden Startwert x0 ∈ M gilt fur die durch xn+1 = T (xn), n ∈ N

definierte Folgelimn→∞xn = x�.

3. Es gilt die Fehlerabschatzung

d(x�, xn) ≤ Kn

1 − Kd(x0, x1), n ∈ N.

Anmerkung: Eine Abbildung T : M → M ist genau dann eine Kontraktion, wenn sieLipschitz mit Lipschitz-Konstante K ∈ (0, 1) ist.

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Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit - 47 -

Notation: Ist I ⊂ R ein Intervall, k ∈ N0 ∪ {∞}, so bedeutet Ck(I,Rn) den Raum derk-mal stetig differenzierbaren Funktionen x : I → R

n. Wir setzen C(I,Rn) := C0(I,Rn).

Picard-Iteration

Der Ausgangspunkt des Existenz- und Eindeutigkeitssatzes fur das AWP (3.1) ist dieAquivalenz des AWP zur Integralgleichung (3.2)

x(t) = x0 +

∫ t

t0

f(s, x(s))ds, t ∈ I.

Die rechte Seite der Integralgleichung kann als Abbildung P : C(I,Rn) → C(I,Rn)aufgefasst werden, wobei gilt

P (x)(t) := x0 +

∫ t

t0

f(s, x(s))ds, t ∈ I.

Die Fixpunkte der Abbildung P entsprechen genau den Losungen des AWP. Falls man zei-gen kann, dass die Abbildung P genau einen Fixpunkt hat, ist die eindeutige Losbarkeitdes AWP bewiesen.

Diese Idee ist der Ausgangspunkt der sogenannten Picard-Iteration. Ausgehend von derFunktion x0(t) := x0 definiert die Iteration xn+1 = P (xn) eine Funktionenfolge xn ∈C(I). Falls diese gegen einen Fixpunkt x� ∈ C(I) konvergiert, ist x� Losung des AWP.

Beispiel 3.2 Fur das AWP x′ = x, x(0) = 1 ergibt die Picard-Iteration

x0(t) = 1,

x1(t) = 1 +

∫ t

0

1ds = 1 + t,

x2(t) = 1 +

∫ t

0

(1 + s)ds = 1 + t +t2

2,

...

xk(t) = 1 +

∫ t

0

(1 + s + · · · + sk−1

(k − 1)!)ds = 1 + t +

t2

2+ · · · + tk

k!.

Daher ist xk(t) das Taylorpolynom vom Grad k der exakten Losung et =∑∞

k=0tk

k! unddie Picard-Iteration konvergiert gegen die Losung. �

Anmerkung: Die Picard-Iteration ist ein konstruktives Verfahren, d.h. im Fall derKonvergenz konnen die Naherungslosungen xn - im Prinzip - berechnet werden.

Damit kann man nun folgendes Resultat beweisen.

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- 48 - Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit

Satz 3.7 [ Existenzsatz von Picard-Lindelof ]

Sei G ⊆ Rn+1 offen, f : G → R

n stetig und lokal Lipschitz bezuglich x und(t0, x0) ∈ G. Dann existiert ein δ > 0 und eine eindeutig bestimmte Funktionx ∈ C1(Jδ,R

n) mit Jδ := [t0 − δ, t0 + δ], sodass (t, x(t)) ∈ G fur t ∈ Jδ undx = x(t) lost das AWP (3.1) im Interall Jδ.

Beweis: Wir konstruieren einen vollstandigen metrischen RaumM , auf dem die Picard-Iteration eine Kontraktion ist.Da G offen ist, existiert α > 0, r > 0 und L > 0, sodass f auf dem Bereich R :=[t0 − α, t0 + α] × Br(x0) ⊂ G Lipschitz bezuglich x mit Lipschitz-Konstante L ist. Sei

m := max(t,x)∈R

|f(t, x)|.

Wahle δ > 0 mit

δ < min(α,r

m,1

L).

Fur J := [t0 − δ, t0 + δ] definieren wir die Menge

M := {x ∈ C(J,Rn) : x(t) ∈ Br(x0), x(t0) = x0, t ∈ J}.Mit der Metrik

d(x, y) := maxt∈J

|x(t) − y(t)|ist M ein vollstandiger metrischer Raum.Im folgenden wird fur die durch

P (x)(t) = x0 +

∫ t

t0

f(s, x(s))ds, t ∈ J

definierte Abbildung gezeigt, dass gilt:

1. P : M → M ,

2. P ist eine Kontraktion.

ad 1) Aus der Stetigkeit von x folgt die Stetigkeit von P (x). Sei x ∈ M . Aus derAbschatzung

|P (x)(t) − x0| =∣∣∣∣∫ t

t0

f(s, x(s))ds

∣∣∣∣ ≤ |t − t0|m ≤ δm ≤ r

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Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit - 49 -

folgt P (x) ∈ M .

ad 2) Fur x, y ∈ M und t ∈ J gilt

|P (x)(t) − P (y)(t)| =∣∣∣∣∫ t

t0

f(s, x(s)) − f(s, y(s))ds

∣∣∣∣ ≤∣∣∣∣∫ t

t0

|f(s, x(s)) − f(s, y(s))|ds∣∣∣∣

≤∣∣∣∣∫ t

t0

L|x(s) − y(s)|ds∣∣∣∣ ≤

∣∣∣∣∫ t

t0

Ld(x, y)ds

∣∣∣∣ ≤ δLd(x, y).

Daraus folgtd(P (x), P (y)) ≤ δLd(x, y).

Aufgrund der Definition von δ gilt δL < 1, daher ist P : M → M eine Kontraktion.Aus dem Fixpunktsatz von Banach folgt die Existenz eines eindeutigen Fixpunktes inM , der die gesuchte Losung ist. �Anmerkung: 1) Die Konstante δ, welche die Große des Intervalls Jδ festlegt, auf demSatz 3.7 die Existenz einer Losung garantiert, hangt von den Konstanten r, m und L,genauer von r/m und 1/L ab.2) Man kann unter Verwendung der durch

d(x, y) := maxt∈J

e−β|t−t0||x(t) − y(t)|

auf M definierten gewichteten Metrik d zeigen, dass fur geeignetes β > 0 die Bedingungδ < 1/L nicht notwendig ist, damit P : M → M eine Kontraktion ist.

Folgerung: Aus Satz 3.7 folgt unmittelbar, dass fur stetiges und nach x stetig differen-zierbares f(t, x) das AWP (3.1) lokal eindeutig losbar ist. Dieses Resultat garantiert dieeindeutige Losbarkeit der meisten in Anwendungen auftretenden AWP fur gewohnlicheDG.

Als Spezialfall betrachten wir im folgenden das AWP fur lineare Systeme 1. Ordnung.

Satz 3.8 Sei I = [α, β] ⊂ R, t0 ∈ (α, β) und x0 ∈ Rn. Das AWP x(t0) = x0

fur die Differentialgleichung

x′(t) = A(t)x + b(t)

mit A ∈ C(I,Rn×n) und b ∈ C(I,Rn) hat eine eindeutige lokale Losung.

Beweis: Die Funktion f(t, x) := A(t)x + b(t) ist stetig auf G := I × Rn. Aus

|f(t, x) − f(t, y)| = |A(t)x − A(t)y| = |A(t)(x − y)| ≤ |A(t)||x − y|folgt die Lipschitz-Eigenschaft von f bezuglich x mit L := maxt∈I |A(t)|. Damit folgt dieExistenz einer lokalen Losung des AWP aus Satz 3.7. �

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- 50 - Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit

3.3 Fortsetzbarkeit, maximales Existenzintervall und globale

Existenz

Im folgenden wird gezeigt, dass lokale Losungen von AWP auf großere bzw. maximaleZeitintervalle fortgesetzt werden konnen. Man spricht von globaler Existenz in vorwarts(ruckwarts) Zeit, falls die Losung eines AWP fur alle t ≥ t0 (t ≤ t0) existiert. Unterglobaler Existenz versteht man die Existenz der Losung eines AWP fur t ∈ R. DieseFragen sind vor allem fur AWP auf Bereichen der Form G = R × B mit einer offenenMenge B ⊆ R

n und insbesondere im autonomen Fall

x′ = f(x), x ∈ B ⊆ Rn

von Interesse.

Die Beispiele in Kapitel 2 belegen, dass Losungen von AWP im allgemeinen nicht nur lokalexistieren. Einfache Beispiele zeigen aber auch, dass man nicht immer globale Existenzerwarten kann. So hat das AWP x′ = x2, x(0) = x0 > 0 die Losung

x(t) =x0

1 − x0t,

die nur auf [−∞, 1/x0) existiert.

Fortsetzung einer Losung

Sei G ⊂ Rn+1 offen. Die Funktion f : G → R

n sei stetig und lokal Lipschitz bezuglichx. Fur (t0, x0) ∈ G garantiert Satz 3.7 die Existenz einer Losung x0(t) des AWP (3.1)auf einem - moglicherweise kleinen - Intervall J0 = [t0 − δ0, t0 + δ0]. Es sei t1 := t0 + δ0und x1 := x(t1). Wegen Satz 3.7 gilt (t1, x1) ∈ G und das AWP x(t1) = x1 besitzt eineeindeutige Losung x1(t) in einem Intervall J1 := [t1 − δ1, t1 + δ1] mit einem δ1 > 0. AufJ0 ∩ J1 gilt wegen der Eindeutigkeit der Losungen x0(t) = x1(t). Daher ist

x+(t) :=

⎧⎨⎩x0(t), t ∈ [t0, t1]

x1(t), t ∈ [t1, t1 + δ1]

eine auf [t0, t1 + δ1] = [t0, t0 + δ0 + δ1] definierte Losung des AWP x(t0) = x0. Man nenntx+(t) eine Fortsetzung der lokalen Losung x(t) nach rechts, eine Fortsetzung x−(t) nachlinks wird analog definiert.Diese Konstruktion kann beliebig fortgesetzt werden. Falls die Fortsetzung x+ nach rechtsauf [t0, τ ] definiert ist, stimmen alle Fortsetzungen, die auch fur t > τ definiert, sind auf[t0, τ ] mit x+ uberein. Daher existiert eine eindeutige Losung des AWP auf einem Inter-vall [t0, t0 + δ0 + δ1 + δ2 + · · · ). Falls die Reihe

∑∞k=0 δk divergiert, existiert die Losung

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Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit - 51 -

global in Vorwartszeit.Die beim Fortsetzen von Losungen auftretenden Konstanten δk konnen allerdings belie-big klein werden, wenn sich die Punkte (tk, x+(tk)) dem Rand von G nahern bzw. wenn|f(tk, x+(tk))| oder die in einer Umgebung von (tk, x+(tk)) gultige lokale Lipschitzkon-stante Lk unbeschrankt werden. Dies kann dazu fuhren, dass die Fortsetzung nur aufeinem endlichen Intervall existiert. Dieses Intervall muss naturlich offen sein, da mansonst weiter fortsetzen konnte.

Aus diesen Uberlegungen folgt, dass die folgende Definition sinnvoll ist.

Definition 3.2 Sei G ⊆ Rn+1 offen, f : G → R

n stetig und lokal Lipschitzbezuglich x und (t0, x0) ∈ G. Die Zahlen t±(t0, x0) ∈ R ∪ {±∞} seien durch

t+(t0, x0) := sup{τ > t0 : es existiert eine Fortsetzung x+ von (3.1) auf [t0, τ ]},t−(t0, x0) := inf{τ < t0 : es existiert eine Fortsetzung x− von (3.1) auf [τ, t0]}definiert. Das Intervall (t−, t+) heißt das maximale Existenzintervall derLosung des AWP x(t0) = x0.Die maximale Losung x(t) des AWP ist fur t ∈ [t0, t+) durch x(t) = x+(t)definiert, wobei x+ die Fortsetzung der Losung auf das Intervall [t0, t] ist, und furt ∈ (t−, t0] durch x(t) = x−(t) definiert, wobei x− die Fortsetzung der Losung aufdas Intervall [t, t0] ist.

Im Fall t+ = ∞ existiert die maximale Losung x(t) in vorwarts Zeit global, fur t− = −∞existiert die maximale Losung in ruckwarts Zeit global. Ein maximalen Existenzintervall(−∞,∞) bedeutet globale Existenz.Fur das Verhalten der Losung des AWP im Fall t+ < ∞ gilt das folgende Resultat.

Satz 3.9 Sei G ⊆ Rn+1 offen, f : G → R

n stetig und lokal Lipschitz bezuglichx und (t0, x0) ∈ G. Sei (t−, t+) das maximale Existenzintervall und t+ < ∞ .Dann verlaßt die maximale Losung in Vorwartszeit jede kompakte Menge K ⊂ G,d.h. es existiert t� ∈ [t0, t+) mit (t�, x(t

�)) ∈ K.

Im Fall t− > −∞ gilt ein analoges Resultat.

Beweis: Der Beweis wird indirekt gefuhrt. Sei K ⊂ G kompakt. Angenommen es gilt(t, x(t)) ∈ K fur t ∈ [t0, t+). Sei m := max(t,x)∈K |f(t, x)|. Dann gilt |x′(t)| ≤ m, daherist x(t) auf [t0, t+) Lipschitz stetig mit Lipschitz-Konstante m. Daher existiert

limt→t+

x(t) =: x+

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 52 - Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit

mit (t+, x+) ∈ K. Somit kann die Losung x(t) stetig auf das Intervall [t0, t+] fortgesetzt

werden. Aus der Integraldarstellung

x(t) = x0 +

∫ t

t0

f(s, x(s))ds,

die fur t ∈ [t0, t+] gilt, folgt, dass x(t) an der Stelle t = t+ einseitig differenzierbar ist unddort die DG x′ = f(t, x) erfullt. Im Punkt (t+, x

+) ∈ K ⊂ G sind die Voraussetzungendes Satzes 3.7 erfullt, daher kann die Losung x(t) uber den Zeitpunkt t+ hinaus fortgesetztwerden. Dies steht im Widerspruch zur Definition von t+. �Anmerkung:

1) Die Aussage von Satz 3.9 bedeutet, dass im Fall t+ < ∞ die maximale Losung furt → t+ dem Rand von G beliebig nahe kommt oder dass |x(t)| fur t → t+ unbeschranktwird.

2) Im Fall G = (α, β) × Rn, wobei α = −∞ und β = ∞ erlaubt sind, kann der Fall

t+ < β nur eintreten, wenn blow-up eintritt, d.h. wenn |x(t)| fur t → t+ unbeschranktwird.

3) Globale Existenz in vorwarts bzw. ruckwarts Zeit fur die Losungen einer autonomenDG x′ = f(x), x ∈ R

n kann nachgewiesen werden, indem man zeigt, dass gilt |x(t)| < ∞fur alle t ∈ [0,∞) bzw. t ∈ (−∞, 0]).

Beispiel 3.3 Gegeben sei ein Rauber-Beute System mit Sattigung der Form

x′ = x − ax2 − xy

y′ = −by + xy

mit a, b > 0.

Es erscheint plausibel, dass die Losung des Anfangswertproblems x(0) = x0 ≥ 0, y(0) =y0 ≥ 0 global in vorwarts Zeit existiert. Warum ist dies plausibel? Im folgenden wird dieRichtigkeit dieser Vermutung bewiesen.

Das polynomiale Vektorfeld erfullt die Voraussetzungen des lokalen Existenzsatzes aufR

2, daher existiert ein maximales Existenzintervall (t−, t+). Wir mussen zeigen t+ = ∞.Die x-Achse und die y-Achse sind invariant, da aus x(0) = 0 folgt x(t) = 0 und ausy(0) = 0 folgt y(t) = 0. Aus der Voraussetzung x0 ≥ 0, y0 ≥ 0 folgt x(t) ≥ 0 undy(t) ≥ 0 fur t ∈ (t−, t+).Angenommen es gilt t+ < ∞. Dann gilt fur t ∈ [0, t+)

x′ ≤ x

worausx(t) ≤ x0e

t+ =: C ≤ ∞Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit - 53 -

folgt. Daher gilt

y′ ≤ Cy

woraus

y(t) ≤ y0eCt.

Daher tritt kein blow-up auf und t+ < ∞ ist nicht moglich. �

Fur Systeme linearer Differentialgleichungen gilt im Fall stetiger Koeffizientenfunktionenimmer globale Existenz.

Satz 3.10 [Globale Existenz fur lineare Systeme ]

Sei I = (α, β) ⊂ R, t0 ∈ (α, β) und x0 ∈ Rn. Dabei ist α = −∞ und β = ∞

zugelassen. Fur A ∈ C(I,Rn×n) und b ∈ C(I,Rn) existiert die eindeutige Losungdes AWP

x′(t) = A(t)x + b(t), x(t0) = x0

auf dem ganzen Intervall I.

Beweis: Aus Satz 3.8 folgt die Existenz einer lokalen Losung. Die Funktion f(t, x) :=A(t)x+b(t) ist lokal Lipschitz bezuglich x. Daher existiert ein maximales Existenzintervall(t−, t+). Angenommen, es gilt t+ < β. Fur die Losung x(t) gilt

x(t) = x0 +

∫ t

t0

A(s)x(s) + b(s)ds = x0 + B(t) +

∫ t

t0

A(s)x(s)ds

mit B(t) :=∫ t

t0b(s)ds. Auf [t0, t+] gilt wegen der Stetigkeit der Funktionen A(t) und b(t)

|A(t)| ≤ L, |B(t)| ≤ K

mit Konstanten L,K ≥ 0. Daher gilt

|x(t)| ≤ |x0| + K + L

∫ t

t0

|x(s)|ds

fur t ∈ [t0, t+). Aus dem Lemma von Gronwall folgt die Abschatzung

|x(t)| ≤ (|x0| + K)eL(t−t0)

Daher ist x(t) fur t → t+ beschrankt und t+ kann nicht der Randpunkt des maximalenExistenzintervalls sein. �

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- 54 - Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit

3.4 Stetige Abhangigkeit

Unter den Voraussetzungen von Satz 3.7 hat das AWP (3.1) eine eindeutige Losung, dieauf einem maximalen Existenzintervall existiert. Die Losung hangt naturlich vom An-fangswert x0, vom Anfangszeitpunkt t0 und allgemeiner vom Vektorfeld f(t, x) ab. Esstellt sich die Frage, wie sich die Losung bei Anderung dieser Großen verhalt? Insbe-sondere stellt sich die praktisch wichtige Frage, ob die Losung von diesen Großen stetigabhangt.

Satz 3.11 [ Stetige Abhangigkeit von Anfangswerten ]

Sei G ⊆ Rn+1 offen, f : G → R

n stetig und lokal Lipschitz bezuglich x und(t0, x0) ∈ G. Die Losung x(t) des AWP x′ = f(t, x), x(t0) = x0 existiere (zu-mindest) fur t ∈ I = [t0, t1]. Dann existiert fur ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0, sodassgilt:

1. Fur |x0 − y0| < δ existiert die Losung des AWP y′ = f(t, y), y(t0) = y0(zumindest) fur t ∈ I.

2. Es giltmaxt∈I |x(t) − y(t)| < ε.

Beweis: Da G offen ist, existiert α > 0 mit

K := {(t, y) : t ∈ I, |x(t) − y| ≤ α} ⊂ G.

Auf der kompakten Menge K ist f Lipschitz bezuglich x mit Lipschitz-Konstante L > 0.Sei δ < α und |x0 − y0| < δ. Dann gilt

|x(t) − y(t)| ≤ δ + L

∫ t

t0

|x(s) − y(s)|ds,

fur alle t ∈ I, fur die |x(t)− y(t)| ≤ α gilt. Aus dem Lemma von Gronwall folgt fur dieset, dass gilt

|x(t) − y(t)| ≤ δeL(t−t0). (3.3)

Falls man daher

δ ≤ αeL(t0−t1)

wahlt, folgt |x(t) − y(t)| ≤ α fur t ∈ I. Daher gilt (t, y(t)) ∈ K fur t ∈ I, womit auchdie Behauptung 1) bewiesen ist. Die Behauptung 2) folgt unmittelbar, indem man

δ < εeL(t0−t1)

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit - 55 -

wahlt. �Anmerkung:

1) Sei x(t, x0) die Losung des AWP x(t0) = x0. Dann besagt der obige Satz, dass x(t, x0)stetig vom Anfangswert x0 abhangt.

2) Die dem Beweis zugrundeliegende Abschatzung (3.3) ist fur große Werte von L bzw.t − t0 sehr schlecht und in vielen Fallen zu pessimistisch. An der skalaren DG x′ = ax,a ∈ R mit der globalen Lischitz-Konstante L = |a| sieht man aber, dass die Abschatzung- ohne weitere Voraussetzungen - nicht verbessert werden kann. Bei diesem Beispiele giltfur t0 = 0

|x(t) − y(t)| = eat|x0 − y0|,d.h. im Fall a > 0 gilt die Abschatzung (3.3) mit dem Gleichheitszeichen, wahrend imFall a < 0 das exponentielle Abklingen von |x(t) − y(t)| durch die in t exponentiellwachsende Abschatzung (3.3) nicht richtig wiedergegeben wird.

Stetige Abhangigkeit von Anfangswert, Anfangszeitpunkt und Vektorfeld

Wenn die Abhangigkeit der Losung eines AWP x(t) = x0 von Anfangswert, Anfangs-zeitpunkt und Vektorfeld betont werden soll, wird die Losung als Funktion x(t, t0, x0, f)aufgefasst. Bezuglich der Stetigkeit dieser Funktion gilt folgendes.

Es sei x(t) Losung des AWP x′ = f(t, x), x(t0) = x0 mit maximalen Existenzintervall(t−, t+) und y(t) Losung des AWP y′ = g(t, y), y(τ0) = y0. Dabei seien f, g stetig undlokal Lipschitz bezuglich x bzw. y. Fur ein beliebiges Intervall I = [a, b] ⊂ (t−, t+) mitt0 ∈ (a, b) kann man zeigen, dass fur hinreichend kleine δ > 0 aus den Bedingungen

|x0 − y0| ≤ δ, |t0 − τ0| ≤ δ, |f − g| ≤ δ

folgt, dass die Losung des AWP y′ = g(t, y), y(τ0) = y0 zumindest fur t ∈ I existiertund dass gilt

|x(t) − y(t)| ≤ δCeL|t−t0|, t ∈ I

mit einer Konstante C > 0. Dabei ist

|f − g| := max(t,x)∈K

|f(t, x) − g(t, x)|

mit einer geeigneten kompakten Umgebung K der Losungskurve {(t, x(t)), t ∈ I} und Leine Lipschitzkonstante fur f bezuglich x auf K. Daraus folgt wie zuvor, dass die Losungvon Anfangswert, Anfangszeitpunkt und Vektorfeld stetig abhangt. Fur mehr Detailswird auf die Literatur verwiesen.

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- 56 - Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit

Stetige Abhangigkeit von Parametern

Die meisten in Anwendungen auftretenden DG enthalten Parameter. Diese entsprechenentweder Naturkonstanten, wie z.B. die Lichtgeschwindigkeit c oder die Gravitationskon-stante g, oder Systemparameter, deren Werte ein konkretes System innerhalb einer Klassevon Systemen spezifizieren, wie z.B. die Lange L eines Pendels oder die Wachstumsrater einer Population. Daher betrachtet man oft DG

x′ = f(t, x, μ)

die zusatzlich von einem Parameter μ ∈ Rm abhangen. In diesem Fall hangt die Losung

des AWP x(t0) = x0 auch von μ ab, d.h. x(t) = x(t, t0, x0, μ). Diese Parameter-abhangigkeit der Losungen ist naturlich ein Spezialfall der Abhangigkeit der Losungenvom Vektorfeld. Falls das Vektorfeld f in der Maximumsnorm stetig von μ abhangt, folgtaus der stetigen Abhangigkeit der Losungen vom Vektorfeld die stetige Abhangigkeit derLosung vom Parameter μ.

Differenzierbare Abhangigkeit

Als Ausblick wird noch ein weiterfuhrendes Resultat ohne Beweis erwahnt. Falls dasVektorfeld differenzierbar von t, x und μ abhangt, hangt auch die Losung des AWPdifferenzierbar von Anfangszeitpunkt, Anfangswert und Parametern ab. Genauer gilt

Satz 3.12 [Differenzierbare Abhangigkeit ]

Das Vektorfeld f : R × Rn × R

m → Rn sei k-mal stetig differenzierbar, k ≥ 1.

Dann ist die Losung x(t, t0, x0, μ) des AWP x′ = f(t, x, μ), x(t0) = x0 eine k-malstetig differenzierbare Funktion.

Dieser Satz wird zunachst fur autonome DG

x′ = f(x)

ohne Parameter bewiesen. Der zeit- und parameterabhangige Fall

x′ = f(t, x, μ)

wird auf den autonomen Fall zuruckgefuhrt, indem man schreibt

t′ = 1

x′ = f(t, x, μ)

μ′ = 0.

Dieses autonome Vektorfeld auf R × Rn × R

m ist k-mal stetig differenzierbar, wennf(t, x, μ) eine Ck-Funktion ist.

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Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit - 57 -

3.5 Differentialgleichungen hoherer Ordnung

Durch das Umformulieren von AWP fur explizites DG hoherer Ordnung in AWP furSysteme 1. Ordnung erhalt man Existenz- und Eindeutigkeitsaussagen fur solche DG.Genauer gilt

Satz 3.13 Sei G ⊂ Rn+1 offen und g : G → R stetig. Die Funktion g(t, x) sei

lokal Lipschitz bezuglich x. Sei (t0, a) ∈ G. Dann hat das AWP

y(n)(t) = g(t, y(t), y′(t), . . . , y(n−1)(t))

y(t0) = a1, y′(t0) = a2, . . . , y

(n−1)(t0) = an

eine eindeutige Losung y(t, t0, a), die auf einem maximalen Existenzintervall(t−, t+) existiert.

Beweis: Mitx1 := y, x2 := y′, x3 := y′′, . . . , xn := y(n−1)

ist das AWP fur y aquivalent zum AWP x(t0) = a fur das folgende System von DG 1.Ordnung

x′1 = x2x′2 = x3...

......

x′n−1 = xnx′n = g(t, x1, x2, . . . , xn).

Aufgrund der Voraussetzungen an g folgt die Behauptung des Satzes aus den entspre-chenden Resultaten fur Systeme 1. Ordnung. �Fur explizite lineare DG hoherer Ordnung gilt

Satz 3.14 Sei I ⊆ R ein Intervall. Es gelte ak ∈ C(I,R), k = 0, . . . , n,f ∈ C(I,Rn) und an(t) = 0, t ∈ I. Sei t0 ∈ I und c ∈ R

n. Dann hat das AWP

an(t)y(n) + an−1(t)y

(n−1) + · · · + a1(t)y′ + a0(t)y = f(t)

y(t0) = c1, y′(t0) = c2, . . . , y(n−1)(t0) = cn

eine eindeutige Losung y(t, t0, c), die auf I existiert.

Beweis: Die Aussage des Satzes folgt nach Umschreiben der DG in ein lineares System1. Ordnung aus Satz 3.10. �

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- 58 - Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit

3.6 Differentialungleichungen, Unter- und Oberlosungen

In einer Raumdimension konnen Differentialungleichungen benutzt werden, um Losungeneines AWP nach unten bzw. nach oben durch geeignete Vergleichsfunktionen abzuschatzen.Damit konnen z.B. maximale Existenzintervalle abgeschatzt werden oder das qualitativeVerhalten von Losungen untersucht werden.

Definition 3.3 [Unter- und Oberlosungen ]

Sei x(t) die Losung des AWP x(t0) = x0 fur die DG

x′ = f(t, x), (t, x) ∈ I × R

auf dem Intervall t ∈ [t0, t1]. Die Funktion f sei stetig und lokal Lipschitzbezuglich x.Eine C1 Funktion u : [t0, t1] → R heißt strikte Unterlosung bezuglich derLosung x(t) falls gilt

u′(t) < f(t, u(t)), t ∈ [t0, t1] und u(t0) < x(t0).

Eine C1 Funktion o : [t0, t1] → R heißt strikte Oberlosung bezuglich derLosung x(t) falls gilt

o′(t) > f(t, o(t)), t ∈ [t0, t1] und o(t0) > x(to).

Eine C1 Funktion u : [t0, t1] → R heißt Unterlosung bezuglich der Losung x(t)falls gilt

u′(t) ≤ f(t, u(t)), t ∈ [t0, t1] und u(t0) ≤ x(t0).

Eine C1 Funktion o : [t0, t1] → R heißt Oberlosung bezuglich der Losung x(t)falls gilt

o′(t) ≥ f(t, o(t)), t ∈ [t0, t1] und o(t0) ≥ x(t0).

Wenig uberraschend liegen Unterlosungen unterhalb von Losungen, und Oberlosungenoberhalb von Losungen.

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Kap. 3: Existenz und Eindeutigkeit - 59 -

Satz 3.15 Sei u(t) eine strikte Unterlosung bezuglich der Losung x(t). Danngilt

u(t) < x(t), t ∈ [t0, t1].

Sei o(t) eine strikte Oberlosung bezuglich der Losung x(t). Dann gilt

o(t) > x(t), t ∈ [t0, t1].

Beweis: Ubungsbeispiel, Literatur �

Satz 3.16 Sei u(t) eine Unterlosung bezuglich der Losung x(t). Dann gilt

u(t) ≤ x(t), t ∈ [t0, t1].

Sei o(t) eine Oberlosung bezuglich der Losung x(t). Dann gilt

o(t) ≥ x(t), t ∈ [t0, t1].

Beweis: Ubungsbeispiel, Literatur �Anmerkung: Auf Intervallen [t1, t0] mit t1 < t0 gelten analoge Begriffe und Resultate,wobei in der Definition der Unter- und Oberlosungen alle < und > (bzw. ≤ und ≥)Zeichen umgedreht werden.

Praktisch werden Unter- bzw. Oberlosungen oft konstruiert, indem man statt der DGx′ = f(t, x) geeignete Funktionen g(t, x) < f(t, x) bzw. f(t, x) < h(t, x) einfuhrt unddann x(t) mit Losungen von u′ = g(t, u) bzw. o′ = h(t, o) vergleicht. Dazu solltennaturlich die DG fur u bzw. o losbar oder zumindest “einfacher” als die ursprunglicheDG fur x sein.

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Kapitel 4

Lineare Systeme

In diesem Kapitel werden lineare Systeme

x′(t) = A(t)x + b(t) (4.1)

mit t ∈ I, x ∈ Rn, A ∈ C(I,Rn×n) und b ∈ C(I,Rn) genauer untersucht. Das Hauptin-

teresse gilt dabei der durch die Linearitat der DG bedingten Struktur der Losungen sowieder Beschreibung der allgemeinen Losung. Aus Satz 3.10 folgt fur t0 ∈ I und x0 ∈ R

n

die Existenz einer eindeutigen Losung des AWP x(t0) = x0 auf dem Intervall I.

Im folgenden wird vor allem der reelle Fall betrachtet, alle Resultate gelten aber auchim Fall x ∈ C

n und A ∈ C(I,Cn×n) und b ∈ C(I,Cn).

4.1 Homogene Systeme

Dem Fall b = 0 entspricht die homogene DG

x′(t) = A(t)x. (4.2)

Losungen werden im folgenden auch als Elemente des Vektorraumes C1(I,Rn) aufgefasst.

Wiederholung: Funktionen y1, . . . , ym ∈ Ck(I,Rn) sind linear unabhangig, wenn gilt

s1y1(t) + · · · + smy

m(t) = 0, fur alle t ∈ I ⇒ s1 = · · · = sm = 0.

Wenn die Vektoren y1(t), . . . , ym(t) ∈ Rn fur t = t0 ∈ I linear unabhangig sind, so sind

die Funktionen y1, . . . , ym linear unabhangig. Daraus folgt allerdings nicht die lineareUnabhangigkeit der Vektoren y1(t), . . . , ym(t) fur t = t0.

Fur homogene lineare DG gilt das Superpositionsprinzip:

60

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Kap. 4: Lineare Systeme - 61 -

Satz 4.1 [ Superpositionsprinzip ]

Es seien x, y Losungen der DG (4.2). Dann ist jede Linearkombination αx+ βy,α, β ∈ R ebenfalls eine Losung. Daher ist

L := {x ∈ C1(I,Rn) : x′ = A(t)x}ein linearer Vektorraum, genauer ein Unterraum von C1(I,Rn).

Beweis: Die Behauptung folgt aus der Rechnung

(αx + βy)′ = αx′ + βy′ = αAx + βAy = A(αx + βy).

�Es stellt sich die Frage nach der Dimension von L. Zur Beantwortung dieser Frage fuhrenwir die folgende Notation ein. Fur festes t0 ∈ I und a ∈ R

n sei x(t, a) die Losung desAWP x(t0) = a. Als Element von L wird diese Losung mit x(., a) bezeichnet.

Satz 4.2 [ Struktur des Losungsraums ]

Es gilt:

1. Die Abbildungϕ : Rn → L, a �→ x(., a)

ist ein Vektorraumisomorhismus.

2. Der Vektorraum L hat die Dimension n.

Beweis: 1) Es ist zu zeigen, dass die Abbildung i) ϕ linear und ii) bijektiv ist.i) Die Funktion ϕ(αa + βb) ist die eindeutige Losung des AWP x(t0) = αa + βb. Wegender Linearitat der DG ist die Funktion αϕ(a) + βϕ(b) eine Losung dieses AWP. Aus derEindeutigkeit der Losung des AWP folgt

ϕ(αa + βb) = αϕ(a) + βϕ(b),

daher ist ϕ linear.ii) Wegen der eindeutigen Losbarkeit des AWP ist die lineare Abbildung ϕ injektiv.Die lineare Abbildung ϕ ist surjektiv, denn fur x ∈ L ist a := x(t0) der passendeAnfangswert mit ϕ(a) = x.2) Als isomorphe Vektorraume haben L und R

n beide die Dimension n. �

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- 62 - Kap. 4: Lineare Systeme

Anmerkung: Die Isomorphie der Vektorraume L und Rn hat viele Konsequenzen. Insbe-

sondere folgt daraus, dass ϕ linear unabhangige Vektoren des Rn auf linear unabhangigeLosungen der DG (4.2) abbildet. Umgekehrt werden linear unabhangige Losungen derDG (4.2) durch ϕ−1 mit beliebigem t0 ∈ I auf linear unabhangige Vektoren des R

n

abgebildet.

Folgerungen: Aus Satz 4.2 und der obigen Bemerkung folgt, dass gilt:

1. Funktionen y1, . . . , yn ∈ L sind genau dann eine Basis von L, wenn sie linear un-abhangig in C1(I,Rn) sind. Dies gilt genau dann, wenn die Vektoren y1(t), . . . , yn(t)an einer Stelle t0 ∈ I linear unabhangig sind. In diesem Fall sind die Vektoreny1(t), . . . , yn(t) an jeder Stelle t ∈ I linear unabhangig.Zum besseren Verstandnis wird die letzte Aussage nochmals (indirekt) bewiesen:Angenommen die Vektoren y1(τ), . . . , yn(τ) seien fur ein τ ∈ I linear abhangig.Dann existiert (s1, . . . , sn) = (0, . . . , 0) mit

s1y1(τ) + · · · snyn(τ) = 0.

Die Funktionx(t) := s1y

1(t) + · · · snyn(t) = 0

ist Losung des AWP x(τ) = 0. Die eindeutige Losung dieses AWP ist aber x(t) = 0,t ∈ I. Daher sind die Funktionen y1, . . . , yn linear abhangig, daher sind auch dieVektoren y1(τ), . . . , yn(τ) linear abhangig. Widerspruch!

2. Sei {b1, . . . , bn} eine Basis des Rn. Dann sind die Funktionen

y1 := ϕ(b1), . . . , yn := ϕ(bn)

eine Basis von L. Daher existieren (viele) Basen von L.In Matrixschreibweise lassen sich viele Resultate uber lineare Systeme von DG ubersichtlichausdrucken.

Definition 4.1 Eine Basis {y1, . . . , yn} von L heisst Fundamentalsystem(FS) der DG (4.2). Losungen {y1, . . . , yn} der DG (4.2) fasst man zu einerLosungsmatrix

Y (t) :=(y1(t), . . . , yn(t)

)mit Spalten y1, . . . , yn zusammen.Ist {y1, . . . , yn} ein Fundamentalsystem, so nennt man Y (t) eine Fundamental-matrix (FM). Eine Fundamentalmatrix mit Y (t0) = In×n nennt man Haupt-fundamentalmatrix (HFM) bezuglich t0 ∈ I, in diesem Fall nennt man{y1, . . . , yn} ein Hauptfundamentalsystem (HFS).

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 4: Lineare Systeme - 63 -

Folgerungen: Aus diesen Begriffsbildungen und Satz 4.2 folgt:

1. Eine Losungsmatrix Y (t) ist eine Losung der Matrixdifferentialgleichung

X ′ = A(t)X, X ∈ C1(I,Rn×n).

2. Sei Y (t) Losungsmatrix und c ∈ Rn. Dann ist x(t) := Y (t)c eine Losung der

DG (4.2).

3. Sei Y (t) eine Fundamentalmatrix. Dann ist die allgemeine Losung der DG (4.2)gegeben durch x(t) = Y (t)c, c ∈ R

n.

4. Eine Fundamentalmatrix Y (t) ist fur t ∈ I regular, daher existiert die inverse MatrixY −1(t).

5. Sei Y (t) eine Fundamentalmatrix. Dann gilt: eine Matrixfunktion X ∈ C1(I,Rn×n)ist dann und nur dann Fundamentalmatrix, wenn eine regulare Matrix B ∈ R

n×n

existiert mit X(t) = Y (t)B fur alle t ∈ I.

6. Sei Y (t) eine Fundamentalmatrix. Dann ist die Losung des AWP x(t0) = x0 gegebendurch x(t) = Y (t)Y −1(t0)x0. Beim praktischen Rechnen setzt man x(t) = Y (t)c undbestimmt c als die eindeutige Losung des linearen Gleichungsystems Y (t0)c = x0.

7. Sei Y (t) ein Hauptfundamentalmatrix bezuglich t0. Dann ist die Losung des AWPx(t0) = x0 gegeben durch x(t) = Y (t)x0.

8. Sei Y (t) eine Fundamentalmatrix und t0 ∈ I. Dann ist X(t) := Y (t)Y −1(t0) Haupt-fundamentalmatrix bezuglich t0.

Definition 4.2 Sei Y (t) eine Losungsmatrix. Dann heißt

W (t) := detY (t), t ∈ I

die Wronski-Determinante von Y (t).

Fur die Wronski-Determinante gilt

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- 64 - Kap. 4: Lineare Systeme

Satz 4.3 [ Satz von Liouville ]

Die Wronski-Determinate erfullt die skalare DG

W ′(t) = spurA(t)W (t), t ∈ I.

Daher gilt fur t0, t ∈ I

W (t) = W (t0)e∫ t

t0spurA(s)ds

.

Dabei ist spurA := a11 + · · · + ann die Spur der Matrix A. Die Wronski-Determinanteist daher entweder identisch gleich Null oder im gesamten Intervall I von Null verschie-den. Aus diesem Resultat folgt (nochmals), dass eine Losungsmatrix genau dann eineFundamentalmatrix ist, wenn ihre Spalten an einer Stelle t0 ∈ I linear unabhangig ist.Beweis: Sei Y (t) eine Losungsmatrix und W (t) := detY (t) die Wronski-Determinante.

Sei τ ∈ I und Z(t) die HFM bez. τ . Die Matrix Y (t) := Z(t)Y (τ) ist eine Losungsmatrixmit Y (τ) = Y (τ). Daher gilt Y (t) = Y (t) fur t ∈ I, d.h.

Y (t) = Z(t)Y (τ), t ∈ I.

Daraus folgt

W (t) = detY (t) = detZ(t) detY (τ) = detZ(t)W (τ)

undd

dtW (t) = W (τ)

d

dt(detZ(t)) .

Da detZ = det(z1, . . . , zn) bezuglich jeder der Spalten z1, . . . , zn linear ist, gilt

d

dt(detZ(t)) =

d

dt(det(z1(t), . . . , zn(t))) =

n∑j=1

∂ det(z1(t), . . . , zn(t))

∂zj

d

dtzj(t)

=n∑

j=1

det(z1, . . . ,d

dtzj(t), . . . , zn) =

n∑j=1

det(z1, . . . , A(t)zj(t), . . . , zn).

Auswertung bei t = τ ergibt

d

dtZ(τ) =

n∑j=1

det(e1, . . . , A(τ)ej(τ), . . . , en) =n∑

j=1

ajj(τ) = spurA(τ).

Daher giltdW

dt(τ) = spurA(τ)W (τ).

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 4: Lineare Systeme - 65 -

Da τ beliebig war, gilt

W ′(t) = spurA(t)W (t), t ∈ I.

�Anmerkung: Die Wronski-Determinante ist das Volumen des von den Spalten derLosungsmatrix aufgespannten Parallelepipeds. Fur eine Fundamentalmatrix ist diesesVolumen fur alle t ∈ I ungleich Null.Fur lineare DG mit spurA(t) = 0, t ∈ I ist dieses Volumen konstant, die DG ist volu-menserhaltend. Falls gilt spurA(t) < 0, t ∈ I wird Volumen kontrahiert.

Die explizite Berechnung von FM ist nur in Spezialfallen moglich. Vor allem im Falln = 2 ist gelegentlich die folgende Methode nutzlich.

Reduktionsverfahren von d’Alembert

Falls eine Losung der DG (4.2) bekannt ist, kann die Berechnung weiterer l.u. Losungenauf das Losen eines (n − 1)-dimensionalen Systems zuruckgefuhrt werden.

Sei u(t) = (u1(t), . . . , un(t))T eine Losung der DG x′ = A(t)x. Es gelte u1(t) = 0, t ∈ I.

Setze

x(t) = Φ(t)u(t) + z(t)

mit z(t) = (0, z2(t), . . . , zn(t))T und Φ ∈ C1(I,R). Einsetzen in die DG ergibt

x′ = Φ′u + Φu′ + z′ = ΦAu + Az

Da u(t) eine Losung ist, gilt

z′ = Az − Φ′u.

Die erste Gleichung dieses Systems von DG lautet

0 =n∑

j=2

a1jzj − Φ′u1.

Daraus folgt

Φ′ =n∑

j=2

a1jzju1

.

Einsetzen in die restlichen Gleichungen ergibt

z′i =n∑

j=2

(aij − a1juiu1

)zj, i = 2, . . . , n.

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- 66 - Kap. 4: Lineare Systeme

Dieses (n − 1)-dimensionale lineare System habe ein FS z1, . . . , zn−1. Diese Losungenwerden als zi(t) = (0, zi2(t), . . . , z

in(t))

T , i = 1, . . . , n−1 geschrieben. Fur i = 1, . . . , n−1berechnet man die Funktion

Φi :=

∫ n∑j=2

a1jzij

u1

und die Losungyi := Φiu + zi.

Dann sind die Losungen u, y1 . . . , yn−1 ein FS der DG x′ = A(t)x, falls sie linear un-abhangig sind, was im folgenden bewiesen wird. Angenommen es gilt

su + s1y1 + · · · sn−1y

n−1 = 0. (4.3)

Aus der ersten Komponente dieser Gleichung folgt

s + s1Φ1 + · · · sn−1Φn−1 = 0.

Durch Multiplikation dieser skalaren Gleichung mit dem Vektor u erhalt man

su + s1Φ1u + · · · sn−1Φn−1u = 0.

Subtraktion dieser Gleichung von der Gleichung (4.3) ergibt

s1z1 + · · · sn−1z

n−1 = 0.

Aus der linearen Unabhangigkeit von z1, . . . , zn−1 folgt si = 0, i = 1, . . . , n − 1. Wegender Gleichung (4.3) gilt daher auch s = 0. Damit ist die lineare Unabhangigkeit derLosungen u, y1 . . . , yn−1 bewiesen.

Beispiel 4.1 Die DG

x′ =

(1/t −1

1/t2 2/t

)x, t > 0

hat die Losung u(t) = (t2,−t)T . Das Reduktionsverfahren von d’Alembert besteht imBestimmen der Funktionen Φ(t) und z2(t) im Ansatz

x(t) = Φ(t)u(t) + (0, z2(t))T .

Fur z2 erhalt man die DG

z′2 =

(2

t− (−1)(−t)

t2

)z2 =

1

tz2

mit der Losung z2(t) = t. Aus

Φ′ =(−1)(t)

t2= −1

t

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Kap. 4: Lineare Systeme - 67 -

folgt Φ(t) = − ln t. Daher ist

y(t) = − ln t

(t2

−t)

+

(0t

)=

( −t2 ln tt + t ln t

)eine von u linear unabhangige Losung und

Y (t) =

(t2 −t2 ln t−t t + t ln t

)ist eine Fundamentalmatrix. �

4.2 Systeme mit konstanten Koeffizienten

Fur die DG

x′ = Ax (4.4)

mit einer n × n Matrix A kann ein Fundamentalsystem immer mit Hilfe der Matrixex-ponentialfunktion angegeben werden, deren Definition und grundlegende Eigenschaftenim folgenden zusammengefasst werden.

Matrixexponentialfunktion

Sei A eine reelle (oder komplexe) n × n Matrix. Dann ist fur t ∈ R die Matrixexponen-tialfunktion durch

eAt :=∞∑k=0

Aktk

k!

definiert. Diese Reihe konvergiert fur alle t ∈ R, die Konvergenz ist gleichmaßig fur|t| ≤ r.

Es seien A, B kommutierende n × n Matrizen, d.h. AB = BA, dann gilt

eA+B = eAeB.

Daraus folgen fur eAt die Eigenschaften

1. eA(s+t) = eAteAs fur alle s, t ∈ R.

2. eAt ist regular und(eAt

)−1= e−At.

3. Die Abbildung t �→ eAt ist differenzierbar und(eAt

)′= AeAt.

Daraus folgt

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- 68 - Kap. 4: Lineare Systeme

Satz 4.4 Die Matrixexponentialfunktion eAt ist eine Fundamentalmatrix furdie DG (4.4). Die Hauptfundamentalmatrix bezuglich t0 ∈ R ist eA(t−t0).

Die explizite Berechnung von eAt erfolgt unter Verwendung der Jordanschen Normalformder Matrix A. Es gelte

A = TJT−1,

wobei die Matrix J die Jordanscher Normalform der Matrix A ist. Dann gilt

eAt =∞∑k=0

(TJT−1)ktk

k!=

∞∑k=0

TJkT−1tk

k!= T

∞∑k=0

Jktk

k!T−1 = TeJtT−1.

Daher genugt es, eJt zu berechnen. Mit TeJtT−1 ist auch TeJt eine Fundamentalmatrix.Daher ist die Berechnung von T−1 nicht unbedingt notwendig.

Im Fall einer diagonalisierbaren Matrix mit Eigenwerten λ1, . . . , λn und einer Eigenbasisv1, . . . , vn gilt

eJt = diag(eλ1t, . . . , eλnt)

und die Funktionen eλ1tv1, . . . , eλntvn bilden ein Fundamentalsystem, was bereits in Ab-

schnitt 2.4 gezeigt wurde.

Falls A nicht diagonalisierbar ist, hat J die Form

J =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎝J1 0 0 · · · 00 J2 0 · · · 0

0 0 J3. . . 0

...... . . . . . . . . .

0 0 0 . . . Jm

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎠

mit Jordanblocken Ji, i = 1, . . . ,m der Dimension ri × ri zum Eigenwert λi. Dabei giltr1 + · · ·+ rm = n. In der Matrix T stehen in den Spalten, die dem Block Ji entsprechen,ein Eigenvektor vi und Hauptvektoren hi1, . . . , h

iri−1 zum Eigenwert λi.

Ein Jordanblock Ji hat die Form

Ji =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

λi 1 0 · · · 0 0

0 λi 1 . . . 0 0

0 0 λi. . . 0 0

...... . . . . . . . . . . . .

0 0 0 . . . λi 10 0 0 · · · 0 λi

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠.

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Kap. 4: Lineare Systeme - 69 -

Wegen

eJt =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎝eJ1t 0 0 · · · 00 eJ2t 0 · · · 0

0 0 eJ3t . . . 0...

... . . . . . . . . .

0 0 0 . . . eJmt

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎠

genugt es, eJt fur einen r × r Jordanblock

J =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

λ 1 0 · · · 0 0

0 λ 1 . . . 0 0

0 0 λ . . . 0 0...

... . . . . . . . . . . . .

0 0 0 . . . λ 10 0 0 · · · 0 λ

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠

zu berechnen.

Satz 4.5 Fur einen r × r Jordanblock J mit Eigenwert λ gilt

eJt = eλt

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

1 t t2

2. . . . . . . . . tr−1

(r−1)!

0 1 t . . . . . . . . . . . .

0 0 1 . . . . . . . . . . . ....

... . . . . . . . . . . . . . . .

0 0 0 . . . 1 t t2

2

0 0 0 · · · 0 1 t

0 0 0 · · · 0 0 1

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠.

Beweis: Es giltJ = λI + N

mit

N =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

0 1 0 · · · 0 0

0 0 1 . . . 0 0

0 0 0 . . . 0 0...

...... . . . . . . . . .

0 0 0 · · · 0 10 0 0 · · · 0 0

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠

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- 70 - Kap. 4: Lineare Systeme

Da die Matrizen I und N kommutieren gilt

eJt = eλIt+Nt = eλIteNt = eλteNt.

Die Matrix N ist nilpotent, da fur die Potenzen Nk, k ∈ N gilt

N 2 =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

0 0 1 . . . 0 0

0 0 0 . . . 0 0...

...... . . . . . . . . .

0 0 0 · · · 0 10 0 0 · · · 0 00 0 0 · · · 0 0

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠, . . . N r−1 =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎜⎝

0 0 0 · · · 0 10 0 0 · · · 0 00 0 0 · · · 0 0...

......

......

...0 0 0 · · · 0 00 0 0 · · · 0 0

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎟⎠

undNk = 0, fur alle k ≥ r.

Aus der Definition der Matrixexponentialfunktion folgt

eNt = I + tN +t2

2N 2 + · · · + tr−1

(r − 1)!N r−1.

Damit ist der Satz bewiesen. �

Beispiel 4.2 Es sei A eine 3 × 3 Matrix mit Jordanscher Normalform

J =

⎛⎝ λ 1 0

0 λ 10 0 λ

⎞⎠ .

Dann giltA = TJT−1

mit T = (v, h1, h2), wobei v ein Eigenvektor von A und h1, h2 die dazugehorigen Haupt-vektoren sind. Nach Satz 4.5 gilt

eJt = eλt

⎛⎝ 1 t t2/2

0 1 t0 0 1

⎞⎠ .

Eine Fundamentalmatrix fur x′ = Ax ist X(t) := TeJt. Daher sind die Funktionen

x1(t) := eλtv, x2(t) := eλt(tv + h1), x3(t) := eλt(t2

2v + th1 + h2)

ein Fundamentalsystem.Im Fall λ ∈ R, λ < 0 konvergieren alle Losungen gegen den Ursprung. Die Annaherungan den Ursprung erfolgt dabei tangential zu dem von v aufgespannten Unterraum, da injeder Losung diese Richtung fur große Werte von t dominiert. �

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Kap. 4: Lineare Systeme - 71 -

4.3 Inhomogene Systeme

Fur inhomogene lineare DG gilt

Satz 4.6 [Allgemeine Losung inhomogener linearer Systeme ]

Die allgemeine Losung der DG (4.1) ist

xp + L,wobei L der Losungsraum der homogenen DG ist und xp eine Partikularlosungist.

Sei Y (t) eine Fundamentalmatrix Y (t). Dann ist die allgemeine Losung durch

x(t) = Y (t)c + xp(t), c ∈ Rn

gegeben.

Beweis: Sei xp Partikularlosung und y ∈ L. Dann ist xp + y eine Losung der DG (4.1),da gilt

x′ = x′p + y′ = Axp + b + Ay = A(xp + y) + b = Ax + b.

Seien umgekehrt x und xp Losungen der inhomogen DG (4.1). Setze y := x − xp. Danngilt

y′ = x′ − x′p = Ax + b − Axp − b = A(x − xp) = Ay.

Daher gilt y ∈ L und x = y + xp. �Zur Berechnung der allgemeinen Losung benotigt man daher eine Partikularlosung. Fallseine Fundamentalmatrix bekannt ist, kann eine Partikularlosung mittels Variation derKonstanten berechnet werden.

Variation der Konstanten

Sei Y (t) eine Fundamentalmatrix. Zur Berechnung einer Partikularlosung macht manden Ansatz

xp(t) = Y (t)c(t)

mit einer unbekannten Funktion c ∈ C1(I,Rn). Einsetzen in die DG (4.1) ergibt

x′p = Y ′c + Y c′ = AY c + Y c′ = AY c + b.

Daher ist xp Losung der inhomogenen DG, falls gilt

c′(t) = Y −1(t)b(t).

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 72 - Kap. 4: Lineare Systeme

Durch Integration dieser Gleichung folgt

c(t) =

∫Y −1(t)b(t)dt.

Somit ist fur t0 ∈ I

xp(t) = Y (t)

∫ t

t0

Y −1(s)b(s)ds

eine Partikularlosung mit xp(t0) = 0.

In Verbindung mit Satz 4.6 folgt daraus

Satz 4.7 [Variation der Konstanten ]

Das AWP x′ = A(t)x + b(t), x(t0) = x0 hat die eindeutige Losung

x(t) = Y (t)Y −1(t0)x0 + Y (t)

∫ t

t0

Y −1(s)b(s)ds,

wobei Y (t) eine Fundamentalmatrix des homogenen Systems ist.

Anmerkung: Fur ein System mit konstanten Koeffizienten und einer konstanten Inho-mogenitat b ∈ R

n

x′ = Ax + b

ist jede Losung des linearen Gleichungsystems Ax+b = 0 eine Partikularlosung – genauereine Ruhelage – der DG. Falls A regular ist, erhalt man

xp = −A−1b.

Die Substitution x = xp + y transformiert die DG in die homogene DG

y′ = Ay.

4.4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung

Eine skalare lineare DG n-ter Ordnung hat die Form

an(t)y(n) + an−1(t)y

(n−1) + · · · + a1(t)y′ + a0(t)y = b(t)

mit Koeffizientenfunktionen ai ∈ C(I,R), i = 0, . . . , n und einer Inhomogenitat b ∈C(I,R). Es gelte an(t) = 0, t ∈ I. Abgekurzt schreiben wir diese DG als

Ly = f

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Kap. 4: Lineare Systeme - 73 -

mit dem linearen Differentialoperator

L : Cn(I,R) → C(I,R)

Ly := any(n) + an−1y

(n−1) + · · · + a1y′ + a0y.

Nach Satz 3.14 hat fur c ∈ Rn das AWP

y(t0) = c1, y′(t0) = c2, . . . y(n−1)(t0) = cn

eine eindeutige Losung y(t, t0, c), die auf I existiert.

Mittels der Substitution ⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎝x1x2x3...xn

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎠ =

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎝

yy′

y′′...

y(n−1)

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎠

wird die DG n-ter Ordnung in eine n-dimensionales System 1. Ordnung transformiert.Daher kann man alle Resultate, die in diesem Kapitel fur Systeme hergeleitet wurden,auf lineare DG hoherer Ordnung ubertragen oder nochmals ganz analog herleiten.

Zusammenfassend erhalt man:

1. Es gilt das Superpositionsprinzip: seien y1, . . . , yk Losungen der homogenen DGLy = 0. Dann ist y := s1y1 + · · · + skyk mit s ∈ Rk ebenfalls eine Losung derhomogenen DG.

2. Die Losungsmenge der homogenen DG L := {y ∈ Cn(I,R) : Ly = 0} ist einlinearer Raum, genauer ein n-dimensionaler Unterraum von Cn(I,R).

3. Eine Basis y1, . . . , yn von L ist eine Fundamentalsystem.

4. Losungen y1, . . . , yn der homogenen DG sind genau dann ein Fundamentalsystem,wenn sie in Cn(I,R) linear unabhangig sind.

5. Fur Funktionen y1, . . . , yn ∈ Cn(I,R) definiert man die Wronski-Determinante

W (y1, . . . , yn)(t) = det

⎛⎜⎜⎜⎜⎜⎝

y1(t) y2(t) · · · yn(t)

y′1(t) y′2(t) · · · y′n(t)...

... · · · ...

y(n−1)1 (t) y

(n−1)2 (t) · · · y

(n−1)n (t)

⎞⎟⎟⎟⎟⎟⎠ ,

die kurz als W (t) bezeichnet wird.

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 74 - Kap. 4: Lineare Systeme

6. Losungen y1, . . . , yn der homogenen DG bilden genau dann ein Fundamentalsystem,wenn ihre Wronski-Determinante an einer Stelle t0 ∈ I nicht verschwindet. In diesemFall gilt W (y1, . . . , yn)(t) = 0 fur alle t ∈ I.

7. Der Satz von Liouville fur Losungen einer skalaren lineare DG hat die Form

W (t) = W (t0)e− ∫ t

t0

an−1(s)

an(s) ds.

8. Wenn eine Losung v(t) der homogenen DG mit v(t) = 0, t ∈ I bekannt ist, kannmittels d’Alembert Reduktion die Berechnung weiterer l.u. Losungen auf dasLosen einer skalaren DG der Ordnung n− 1 zuruckgefuhrt werden. Dazu setzt man

y(t) = v(t)ϕ(t)

und bestimmt ϕ so, dass y eine Losung der DG ist. Einsetzen in die DG ergibt einelineare DG, in der nur ϕ′, . . . , ϕ(n) auftreten. Man setzt

ψ := ϕ′

und erhalt eine lineare DG der Ordnung n − 1 fur ψ. Nachdem ψ berechnet wurde,kann ϕ durch Integration bestimmt werden. Diese Methode ist vor allem im Falln = 2 gelegentlich nutzlich.

9. Die allgemeine Losung der inhomogenen DG ist

yp + L,wobei yp eine beliebige Partikularlosung ist. Falls y1, . . . , yn ein Fundamentalsy-stem bilden, ist die allgemeine Losung gegeben durch

y = s1y1 + · · · snyn + yp,

mit s ∈ Rn.

10. Wenn ein Fundamentalsystem bekannt ist, kann eine Partikularlosung mittels Va-riation der Konstanten berechnet werden (siehe unten fur den Fall n = 2).

Anmerkung: Aus dem Verschwinden der Wronski-Determinante beliebiger Funktionenkann man nicht auf ihre lineare Abhangigkeit schließen. Dazu ein Beispiel:Die Funktionen y1(t) = t2, y2(t) = t|t| sind in C1(R,R) linear unabhang. Fur dieWronski-Determinate gilt aber

W (y1, y2)(t) = t22|t| − t|t|2t = 0, t ∈ R.

Als Elemente von C1(R+,R) bzw. von C1(R−,R) sind y1 und y2 naturlich linear abhangig.

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 4: Lineare Systeme - 75 -

Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten

Im Fall einer linearen DG n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten

any(n) + an−1y

(n−1) + · · · + a1y′ + a0(t)y = 0

liefert der Exponentialansatz y(t) = eλt bzw. y(t) = tmeλt immer ein Fundamentalsy-stem, siehe Abschnitt 2.4. Das charakteristische Polynom der skalaren DG ist

p(λ) = anλn + · · · + a1λ + a0.

Das charakteristische Polynom habe k verschieden Nullstellen λ1, . . . , λk mit Vielfach-heiten m1, . . . ,mk. Dann sind die Funktionen

y1 = eλ1t, y2 = teλ1t, . . . ym1= tm1−1eλ1t, ym1+1 = eλ2t, ym1+2 = teλ2t, . . .

ym1+m2= tm2−1eλ2t, . . . . . . ym1+···+mk−1+1 = eλkt, . . . ym1+···+mk

= tmk−1eλkt

ein Fundamentalsystem. Die lineare Unabhangigkeit dieser Funktionen kann durch Be-rechnung ihrer Wronski-Determinante nachgewiesen werden.

Anmerkung: Das charakteristische Polynom p(λ) = anλn + · · ·+ a1λ+ a0 der skalaren

DG ist genau das charakteristische Polynom der Matrix A, die man erhalt, wenn dieskalare DG in eine System 1. Ordnung x′ = Ax transformiert.

Variation der Konstanten

Wir betrachten die DG

a2(t)y′′(t) + a1(t)y

′(t) + a0(t)y(t) = b(t).

Sei y1(t), y2(t) ein Fundamentalsystem. Als System in der Variable x := (y, y′)T hat dieDG die Form

x′ =

(0 1

−a0/a2 −a1/a2

)x +

(0

b/a2

).

Dem Ansatz

yp(t) = c1(t)y1(t) + c2(t)y2(t).

entspricht in der Systemschreibweise der Ansatz

xp =

(y1 y2

y′1 y′2

)(c1

c2

),

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 76 - Kap. 4: Lineare Systeme

wobei alle Großen Funktionen von t sind. Variation der Konstanten fur Systeme 1. Ord-nung ergibt das lineare Gleichungssystem(

y1 y2

y′1 y′2

)(c′1c′2

)=

(0

b/a2

)

fur c′1, c′2. Dieses Gleichungssystem ist eindeutig losbar, weil die Koeffizientenmatrix die-

ses linearen Gleichungssystems regular ist, da y1, y2 ein Fundamentalsystem ist. Durch In-tegration erhalt man die gesuchten Funktionen c1, c2 und somit eine Partikularlosung yp.Fur skalare DG der Ordnung n > 2 geht man analog vor.

Beispiel 4.3 Gesucht ist die allgemeine Losung der Differentialgleichung

y′′ +1

1 + ty′ = 1, t > −1 .

Zunachst bestimmen wir die allgemeine Losung der homogenen Gleichung. Eine Losungist y1(t) = 1. Da x in der Differentialgleichung nicht auftritt, setzen wir zur Konstruktioneiner weiteren Losung

z = y′ .

Dieser Trick, der immer funktioniert, wenn y in der Differentialgleichung nicht auftritt,fuhrt auf eine lineare Differentialgleichung 1. Ordnung fur z:

z′ +1

1 + tz = 0,

mit der Losung

z = e− ln(1+t) =1

1 + t.

Durch Integration erhalt man die Losung

y2(t) = ln(1 + t)

der homogenen Differentialgleichung. Durch Berechnen der Wronski-Determinante kannman leicht nachweisen, dass y1 und y2 linear unabhangig sind und somit ein Fundamen-talsystem bilden. Die allgemeine Losung der homogenen Gleichung ist

y(t) = c1 + c2 ln(1 + t), c1, c2 ∈ R .

Eine Partikularlosung bestimmen wir mittels Variation der Konstanten.

yp(t) = c1(t) + c2(t) ln(1 + t) .

Dies fuhrt auf (1 ln(1 + t)0 1

1+t

)(c′1(t)c′2(t)

)=

(01

)Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 4: Lineare Systeme - 77 -

und weiter aufc′2(t) = 1 + t, c′1(t) = − ln(1 + t)(1 + t).

Durch Integration erhalt man

c2(t) = t +t2

2, c1(t) =

1

2(1 + t)2(

1

2− ln(1 + t)) .

Es folgt

yp(t) =1

2(1 + t)2(

1

2− ln(1 + t)) + (t +

t2

2) ln(1 + t).

Beispiel 4.4 Gegeben ist die Gleichung vom Eulerschen Typ

t2y′′ − 2ty′ + 2y = t3, t > 0.

Zunachst bestimmen wir die allgemeine Losung des homogenen Problems. In diesem Fallfuhrt der

”naheliegende“ Ansatz

y(t) = tα

ans Ziel. Durch Einsetzen in die Gleichung erhalt man

α(α − 1)tα − 2αtα + 2tα = (α2 − α − 2α + 2)tα = 0.

Die Funktion tα is genau dann eine Losung der homogenen DG, wenn gilt

α2 − 3α + 2 = 0.

Die Losungen dieser Gleichung sind α1 = 1 und α2 = 2. Damit erhalten wir das Funda-mentalsystem

y1(t) = t, y2(t) = t2

und die allgemeine Losung der homogenen Gleichung

yh(t) = c1t + c2t2.

Eine Partikularlosung bestimmen wir mittels Variation der Konstanten:

yp(t) = c1(t)t + c2(t)t2 .

Dies fuhrt auf das Gleichungssystem

tc′1 + t2c′2 = 0

c′1 + 2tc′2 = t

woraus folgtc′2 = 1, c′1 = −t

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 78 - Kap. 4: Lineare Systeme

und

c2 = t, c1 = −t2

2.

Damit erhalten wir die Partikularlosung

yp(t) = −t3

2+ t3 =

t3

2.

Die allgemeine Losung der inhomogenen Differentialgleichung ist

y(t) = c1t + c2t2 +

t3

2, c1, c2 ∈ R .

Bemerkung: In diesem Beispiel hatte man die Partikularlosung auch mit dem nahelie-genden polynomialen Ansatz

yp(t) = at3 + bt2 + ct + d

bestimmen konnen. �

Ansatzmethode fur Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten

Fur eine linearen DG n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Ly = any(n) + an−1y

(n−1) + · · · + a1y′ + a0(t)y = b(t)

kann fur spezielle Inhomogenitaten eine Partikularlosung effizient mit der Ansatzmethodeberechnet werden. Wie ublich bezeichnet p(λ) das charakteristische Polynom der DG.

Sei μ ∈ C und r(t) ein Polynom. Sei y(t) := r(t)eμt. Dann gilt

Ly = q(t)eμt

mit einem Polynom q, dessen Grad kleiner gleich dem Grad von r ist. Umgekehrt kannman bei gegebenem q versuchen, ein Polynom r so zu bestimmen, dass die obige Gleichunggilt.

Funktionen der Form r(t)eμt mit einem Polynom r nennt man auch Quasipolynome. Furμ = 0 erhalt man Polynome. Fur μ = α + iβ erhalt man durch Zerlegung in Real- undImaginarteil Funktionen der Form r(t)eαt cos βt und r(t)eαt sin βt. Die Ansatzmethodefunktioniert genau bei Inhomogenitaten dieser Form.

Falls μ eine Nullstelle des charakteristischen Polynoms der DG ist, muss der Grad von rgroßer als der Grad von q gewahlt werden. Genauer gilt

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 4: Lineare Systeme - 79 -

Satz 4.8 Es sei q(t) ein Polynom vom Grad l und μ ∈ C. Dann hat die DG mitkonstanten Koeffizienten Ly = q(t)eμt im Fall p(μ) = 0 eine Partikularlosungyp(t) = r(t)eμt mit einem Polynom r vom Grad l.Falls μ eine Nullstelle von p der Ordnung m ist hat die DG eine Partikularlosungyp(t) = tmr(t)eμt mit einem Polynom r vom Grad l .

Anmerkung: Im Fall p(μ) = 0 spricht man von Resonanz.

Beweis: Wir beweisen den Satz nur in zwei einfachen Spezialfallen. Wir betrachten nurden Fall q(t) = q ∈ C.

Es gelte p(μ) = 0. Der Ansatz yp = ceμt fuhrt auf

Lyp = p(μ)ceμt = qeμt.

Daher gibt

c =q

p(μ)

die gesuchte Losung.

Es gelte p(μ) = 0 und p′(μ) = 0. Der Ansatz yp = cteμt fuhrt auf

Lyp = ctp(μ)eμt + cp′(μ)eμt = qeμt.

Wegen p(μ) = 0 gibt

c =q

p′(μ)die gesuchte Losung.

Um den Satz allgemein zu beweisen, kann man z.B. die durch L induzierte lineare Ab-bildung auf Vektorraumen von Quasipolynomen analysieren, siehe Arnold (2001). �

Beispiel 4.5 a) Bei der DG

y′′ + y = 7e−3t

gilt p(λ) = λ2 + 1, μ = −3, p(−3) = 10. Daher ist

yp =7

10e−3t

eine Partikularlosung.

b) Bei der DG

y′′ + y = (3t2 + 1)e−3t

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 80 - Kap. 4: Lineare Systeme

tritt keine Resonanz auf. Einsetzen des Ansatzes

yp = (at2 + bt + c)e−3t

in die DG und Koeffizientenvergleich nach Potenzen von t ergibt ein eindeutig losbareslineares Gleichungssystem fur a, b, c. �

Beispiel 4.6 Gegeben ist die DG

y′′ − 4y′ + 3y = sin 2t.

Wegen sin 2t = � e2it gilt y = � z, wobei z eine komplexe Losung der DG

z′′ − 4z′ + 3z = e2it

ist. Hier gilt p(λ) = λ2 − 4λ + 3, μ = 2i und p(2i) = −1 − 8i = 0. Daher ist

zp = − 1

1 + 8ie2it = −1 − 8i

65(cos 2t + i sin 2t)

eine komplexe Partikularlosung. Somit ist

yp = � zp =1

65(8 cos 2t − sin 2t)

eine reelle Partikularlosung.

Alternativ konnte man auch den reellen Ansatz

yp = A cos 2t + B sin 2t

machen und A,B durch Einsetzen in die DG und Koeffizientenvergleich bestimmen. �

Beispiel 4.7 Die DG

y′′ + y = cosωt

beschreibt einen periodisch angetriebenen harmonischen Oszillator. Das charakteristischePolynom ist p(λ) = λ2 + 1. Die allgemeine Losung der homogenen Gleichung ist

y(t) = c1 cos t + c2 sin t, c1, c2 ∈ R.

Wegen cosωt = Re eiωt gilt μ = iω. Fur ω = ±1 tritt keine Resonanz auf und manerhalt die Partikularlosung

yp(t) =1

1 − ω2cosωt.

Im Resonanzfall ω = 1 bzw. μ = i gilt p′(i) = 2i = 0, daher ist

zp(t) =1

2iteit =

t

2i(cos t + i sin t)

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 4: Lineare Systeme - 81 -

eine komplexe Partikularlosung. Somit ist

yp(t) = � zp(t) = t

2sin t

eine reelle Partikularlosung. Diese Losung schwingt mit der Frequenz der homogenenLosung, hat jedoch eine mit t linear wachsende Amplitude. Der Grund dafur ist, dassdas System mit einer zu einer Eigenschwingung resonanten Frequenz angeregt wird. Inder allgemeinen Losung

y(t) = c1 cos t + c2 sin t +t

2sin t, c1, c2 ∈ R

dominiert fur große Werte von t die Partikularlosung. �

Anmerkung: Die durch solche (und andere) Resonanzen entstehenden Schwingungengroßer Amplitude sind in technischen Systemen meist unerwunscht.

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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Kapitel 5

Stabilitat

Eine intuitive Vorstellung vom Konzept der Stabilitat vermitteln die in Abb. 5.1 darge-stellten Situationen. Eine Kugel rollt unter dem Einfluss von Gravitation und Reibungauf einer Bahn vorgegebener Geometrie. Die dargestellten Positionen sind Ruhelagen des

Abbildung 5.1: stabile und instabile Ruhelagen

Systems, die auf unterschiedliche Art stabil bzw. instabil sind. Unter Stabilitat verstehtman die Frage, welchen Effekt eine Storung der Position bzw. Geschwindigkeit der Kugelauf das Verhalten der Kugel hat? Dabei stellt sich vor allem auch die Frage nach demasymptotischen Verhalten fur t → ∞. Macht es einen Unterschied, ob die Storung kleinoder groß ist? Was andert sich, wenn man den Einfluss der Reibung nicht berucksichtigt?

Beispiel 5.1 Ein einfaches mathematisches Modell dieser (und vieler anderer) Situati-

on(en) ist die DGx = −V ′(x) − rx,

82

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Kap. 5: Stabilitat - 83 -

welche die eindimensionale Bewegung eines Teilchens mit Position x(t) unter dem Ein-fluss eines Potentials V (x) und eines Reibungsterms rx beschreibt. Dabei ist r > 0 derReibungskoeffizient, r = 0 entspricht dem reibungslosen Fall. Als System geschriebenhat die DG die Form

x = p

p = −V ′(x) − rp

Die durch p = 0 und V ′(x) = 0 definierten Ruhelagen des Systems entsprechen denkritischen Punkten - insbesondere den Minima und Maxima - von V . Es stellt sich dieFrage, wie die Stabilitat dieser Ruhelagen mathematisch definiert und untersucht werdenkann? �

In diesem Kapitel wird die Stabilitat von Losungen des Anfangswertproblems

x′ = f(t, x), x(t0) = x0 (5.1)

untersucht. Dabei interessiert man sich fur das Verhalten von Losungen fur t ∈ [t0,∞),daher sei f : R × G → R

n stetig und lokal Lipschitz bezuglich x, und G ⊆ Rn offen.

Fur festes t0 ∈ R und x0 ∈ G wird die Losung des AWP mit x(t, x0) bezeichnet. Seix(t, x0) eine Losung, die fur alle t ≥ t0 existiert. Bei der Frage der Stabilitat geht es umdas Verhalten von Losungen, deren Anfangswerte kleinen Abstand von x0 haben, fur allet ≥ 0. Die Frage ist, ob aus |x0 − a| klein folgt:

1. |x(t, x0) − x(t, a)| klein fur alle t ≥ t0

oder

2. limt→∞ |x(t, x0) − x(t, a)| = 0.

Auf endlichen Intervallen [t0, t1] gilt die Eigenschaft 1) wegen der stetigen Abhangigkeitvon Anfangswerten, siehe Satz 3.11. Die diesem Satz zugrundeliegende Abschatzung (3.3)wird aber fur t1 → ∞ beliebig schlecht. Daher sind auf unbeschrankten Zeitintervallenweitere Untersuchungen notwendig.

Wichtige Typen von Losungen, deren Stabilitat untersucht werden kann, sind Ruhelagenund periodische Losungen. Dies gilt insbesondere im Fall autonomer DG x′ = f(x).

Anmerkung: Vom Standpunkt der Anwendungen aus werden oft nur stabile Losungenals relevant betrachtet, da aufgrund von unvermeidbaren Storungen des Systems nurstabile Losungen “beobachtbar” bzw. “realisierbar” sind.

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 84 - Kap. 5: Stabilitat

5.1 Stabilitatskonzepte

Definition 5.1 Sei x(t, x0) eine Losung des AWP (5.1), die fur alle t ≥ t0existiert. Die Losung x(t, x0) heißt:

1. stabil (Ljapunov stabil), wenn fur jedes ε > 0 ein δ > 0 existiert, so dassaus |x0 − a| ≤ δ folgt: x(t, a) existiert fur t ≥ t0 und |x(t, x0) − x(t, a)| ≤ εfur alle t ≥ t0.

2. instabil, wenn x(t, x0) nicht stabil ist.

3. anziehend (attraktiv), wenn ein δ > 0 existiert, so dass aus |x0 − a| ≤ δfolgt: x(t, a) existiert fur t ≥ t0 und limt→∞ |x(t, x0) − x(t, a)| = 0.

4. asymptotisch stabil, wenn x(t, x0) stabil und anziehend ist.

Beispiel 5.2 Die Ruhelage der DG

x′ = ax

ist fur a < 0 asymptotisch stabil, fur a = 0 stabil und fur a > 0 instabil. Dies folgtunmittelbar aus den Definitionen und der Losungsformel x(t, x0) = x0e

at. Tatsachlich istjede Losung dieser DG fur a < 0 asymptotisch stabil, fur a = 0 stabil und fur a > 0instabil. �

Beispiel 5.3 Die Stabilitat der Ruhelagen einer skalaren autonomen DG

x′ = f(x)

wird durch die Vorzeichenverteilung von f(x) bestimmt. Genauer gilt:

1. die Ruhelage x0 ist asymptotisch stabil, wenn in einem Intervall (x0 − δ, x0 + δ) giltf(x) > 0 fur x < x0 und f(x) < 0 fur x > x0.

2. die Ruhelage x0 ist instabil, wenn in einem Intervall (x0 − δ, x0 + δ) gilt f(x) < 0fur x < x0 oder f(x) > 0 fur x > x0.

Dies folgt unmittelbar aus dem Monotonieverhalten der Losungen x(t) in den angegebenIntervallen.

a) Die Ruhelage x = 0 der DG x′ = x2 ist instabil, da fur beliebig kleine Anfangswertex0 > 0 die Losung x(t, x0) jedes Intervall (−ε, ε) verlaßt.Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 5: Stabilitat - 85 -

b) Die Ruhelage x = 0 der DG x′ = −x3 ist asymptotisch stabil.

c) Fur die DG x′ = −x3 + x4 ist die Ruhelage x = 0 asymptotisch stabil, die Ruhelagex = 1 ist instabil. �

Beispiel 5.4 Fur die in Abb. 5.1 dargestellten Ruhelagen gilt:

im Fall von Reibung ist A) asymptotisch stabil, B) instabil, C) stabil aber nichtasymptotisch stabil, D) asymptotisch stabil, E) instabil;

im reibungslosen Fall ist A) stabil, B) instabil, C) instabil, D) stabil, E) instabil.

Wodurch entstehen diese Unterschiede? �

Beispiel 5.5 In Beispiel 5.2 ist die Ruhelage x = 0 fur α < 0 asymptotisch stabil, fur

α = 0 stabil und fur α > 0 instabil. �

Anmerkung: Die Begriffe “stabil” und “anziehend” sind unabhangig, d.h. aus “stabil”folgt nicht “anziehend”, und aus “anziehend” folgt nicht “stabil”.Die erste Aussage folgt bereits aus dem trivialen Bsp. x′ = 0. Ein Beispiel fur die zweiteAussage wird im folgenden gegegben.

Beispiel 5.6 Ein ebenes autonomes System x′ = f(x), x ∈ R2 wird in Polarkoordinaten

durch die entkoppelten DGr′ = r(1 − r)ϕ′ = 1 − cosϕ

beschrieben. Die r-Gleichung hat die asymptotisch stabile Ruhelage r = 1 und dieinstabile Ruhelage r = 0. Genauer gilt

limt→∞ r(t, r0) = 1

fur alle r0 > 0.

Es genugt ϕ ∈ [0, 2π] zu betrachten, wobei 0 und 2π denselben Punkten im R2 entspre-

chen. Wegen 1 − cosϕ > 0 fur ϕ ∈ (0, 2π) gilt

limt→∞ϕ(t, ϕ0) = 2π

fur alle ϕ0 ∈ (0, 2π).

Im x System gilt daherlimt→∞x(t, x0) = (1, 0)T

fur alle Anfangswerte x0 = 0. Die Ruhelage (1, 0) ist daher anziehend. Die Ruhelage(1, 0) ist aber nicht stabil, da auf dem Kreis r = 1 beliebig nahe an (1, 0) Anfangswerte(mit ϕ klein und positiv) liegen, sodass die Losungen des AWP zuerst im Uhrzeigersinnden Kreis r = 1 durchlaufen, bevor sie fur t → ∞ gegen (1, 0) konvergieren. �

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 86 - Kap. 5: Stabilitat

5.2 Klassifikation ebener autonomer linearer Systeme

Sei A eine reelle 2 × 2 Matrix. Die DG

x′ = Ax

hat die triviale Ruhelage x = 0. Aufgrund der Resultate in Abschnitt 4.2 wird dieStabilitat der Ruhelage und das Verhalten aller Losungen durch die Eigenwertstrukturvon A bestimmt. Fur das charakteristische Polynom gilt

p(λ) = det(A − λI) = λ2 − sλ + d

mit s := SpurA und d := detA. Daher gilt

λ1,2 =s

√s2

4− d.

Nach dem Vorzeichen der Diskriminante unterscheidet man drei Falle:

1. λ1,2 ∈ R, λ1 = λ2 furs2

4 − d > 0,

2. λ1,2 ∈ R, λ1 = λ2 furs2

4 − d = 0,

3. λ1,2 ∈ C, λ1 = λ2 furs2

4 − d < 0.

Wenn zwei Eigenvektoren existieren, ist die allgemeine Losung

x(t) = c1eλ1tv1 + c2e

λ2t, c1, c2 ∈ R.

Die von v1 und v2 aufgespannten Unterraume sind invariant.

Nach den unterschiedlichen Vorzeichen der Eigenwerte bzw. ihres Realteils ergeben sichjeweils einige Unterfalle.

1. Fall: λ1 = λ2, λ1, λ2 ∈ R, s2 − 4d > 0

1a) λ1 < λ2 < 0, fur s < 0 und d > 0, x = 0 ist asymptotisch stabil,Bezeichnung: stabiler Knoten

1b) λ1 < λ2 = 0, fur s < 0 und d = 0, x = 0 ist stabil,eindimensionaler Unterraum von Ruhelagen in Richtung v2, anziehend in Richtung v1.

1c) λ1 < 0 < λ2, fur d < 0, x = 0 ist instabil,Bezeichnung: Sattelpunkt

1d) 0 = λ1 < λ2, fur s > 0 und d = 0, x = 0 ist instabil,eindimensionaler Unterraum von Ruhelagen in Richtung v1, abstoßend in Richtung v2.

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 5: Stabilitat - 87 -

1e) 0 < λ1 < λ2, fur s > 0 und d > 0, x = 0 ist instabil,Bezeichnung: instabiler Knoten

2. Fall: λ1 = λ2 = λ ∈ R, s2 − 4d = 0

Hier wird zwischen zwei unterschiedliche Jordanstrukturen

i) J =

(λ 00 λ

)ii) J =

(λ 10 λ

)unterschieden, wobei die Unterscheidung zwischen diesen Fallen nicht mittels spurA unddetA moglich ist. Es tritt “typischerweise” der Fall ii) auf, da im Fall eines doppeltenEigenwerts “typischerweise” ein 2 × 2 Jordanblock existiert.

2a) λ < 0, fur s < 0, x = 0 ist asymptotisch stabil,Bezeichnung: i) stabiler Stern, ii) entarteter stabiler Knoten

2b) λ = 0, s = 0, d = 0, i) x = 0 ist stabil, ii) x = 0 ist instabil,sehr degeneriert: i) nur Ruhelagen, ii) eindimensionaler Unterraum von Ruhelagen inRichtung v1 und linearer Fluss parallel dazu.

2c) λ > 0, fur s > 0, x = 0 ist instabil,Bezeichnung: fur i) instabiler Stern, fur ii) entarteter instabiler Knoten

3. Fall: λ1,2 = α ± iβ, α = s/2, β = 0, s2 − 4d < 0

3a) α < 0, fur s < 0, x = 0 ist asymptotisch stabil,Bezeichnung: stabiler Strudel (Spirale)

3b) α = 0, fur s = 0 , x = 0 ist stabil,Bezeichnung: Zentrum

3c) α > 0, fur s > 0 , x = 0 ist instabilBezeichnung: instabiler Strudel (Spirale)

In Abbildung 5.2 sind die jeweiligen Phasenportrats in den entsprechenden Bereichender Spur-Determinante Ebene dargestellt.

Zusammenfassend gilt:

1. Die Ruhelage x = 0 ist genau dann stabil, wenn gilt 1) s ≤ 0, d ≥ 0 und (s, d) =(0, 0) oder 2) (s, d) = (0, 0) im Fall i), d.h. A = 0.

2. Die Ruhelage x = 0 ist asymptotisch stabil genau dann, wenn gilt s < 0, d < 0.Die entsprechenden Falle 1a), 2a), 3a) werden alle als Senken bezeichnet.

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 88 - Kap. 5: Stabilitat

Abbildung 5.2: Klassifikation in der Spur-Determinanten Ebene

3. Die Ruhelage x = 0 ist abstoßend genau dann, wenn gilt s > 0, d > 0. Dieentsprechenden Falle 1e), 2c), 3c) werden alle als Quellen bezeichnet.

4. Beim Uberschreiten der Achse d = 0 wechselt ein reeller Eigenwert sein Vorzeichen,was einem Ubergang von Sattel zu Knoten entspricht.

5. Beim Uberschreiten der Achse s = 0 bei d > 0 wechselt der Realteil der Eigenwertesein Vorzeichen, was einem Ubergang von einem stabilen Strudel zu einem instabilenStrudel entspricht.

Anmerkung: 1) Sattelpunkte, Quellen und Senken sind strukturell stabil, d.h. sieandern ihren Typ bei einer kleinen Storung der Matrix A nicht.2) Die Falle 1b), 1d), 2b) und 3b) sind nicht strukturell stabil, da sich bei Storungder Matrix A die Stabilitat der Ruhelage x = 0 andern kann.3) Die Punkte in Abbildung 5.2, die den nicht strukturell stabilen Falle entsprechen,nennt man Verzweigungspunkte. Verzweigungspunkte sind die s-Achse und der Teilder d-Achse mit d > 0. Die gesamte Abbildung 5.2 ist das entsprechende Verzwei-gungsdiagramm.

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 5: Stabilitat - 89 -

5.3 Stabilitat linearer Systeme

In diesem Abschnitt wird die Stabilitat linearer Systeme

x′(t) = A(t)x + b(t) (5.2)

mit t ∈ R, x ∈ Rn, A ∈ C(R,Rn×n) und b ∈ C(R,Rn) untersucht. Fur diese DG

existieren alle Losungen global, daher ist es sinnvoll ihre Stabilitat zu untersuchen. Seienx(t) und x(t) zwei Losungen der DG (5.2). Dann ist y(t) := x(t) − x(t) eine Losung derhomogenen DG. Stabilitat bzw. asymptotische Stabilitat der Losung x(t) bedeutet, dass|y(t)| beliebig klein bleibt bzw. gegen Null konvergiert, wenn |y(t0)| hinreichend klein ist.Daraus folgt unmittelbar

Satz 5.1 Alle Losungen der DG (5.2) sind genau dann stabil bzw. asymptotischstabil, wenn die Nulllosung der homogenen DG x′ = A(t)x stabil bzw. asympto-tisch stabil ist.

Daher sagt man, die DG (5.2) ist stabil, asymptotisch stabil oder instabil.

Satz 5.2 Sei Y (t), t ∈ R eine Fundamentalmatrix der DG x′ = A(t)x undt0 ∈ R. Dann gilt:

1. Die DG (5.2) ist genau dann stabil, wenn eine Konstante K > 0 existiertmit |Y (t)| ≤ K fur alle t ≥ t0;

2. Die DG (5.2) ist genau dann asymptotisch stabil, wenn gilt

limt→∞ |Y (t)| = 0.

Beweis: ad 1) Angenommen die DG ist stabil, aber eine Spalte yi(t) von Y (t) ist unbe-schrankt auf [t0,∞). Fur δ klein ist |δyi(t0)| beliebig klein, aber |δyi(t)| ist unbeschranktauf [t0,∞), was in Widerspruch zur Stabilitat der DG steht.Umgekehrt folgt aus |Y (t)| ≤ K, dass fur jede Losung x(t) = Y (t)c, c ∈ R

n gilt|x(t)| ≤ K|c|, t ≥ t0. Daraus folgt unmittelbar die Stabilitat der Nulllosung und somitdie Stabilitat der DG.

ad 2) Angenommen die DG ist asymptotisch stabil. Dann gilt fur jede Losung x(t) derDG limt→∞ x(t) = 0. Daher gilt dies insbesondere fur jede Spalte von Y (t). Daraus folgtlimt→∞ |Y (t)| = 0.Umgekehrt folgt aus limt→∞ |Y (t)| = 0 die Beschranktheit von |Y (t)| auf [t0,∞), woraus

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- 90 - Kap. 5: Stabilitat

die Stabilitat folgt. Alle Losungen der DG sind durch x(t) = Y (t)c, c ∈ Rn gegeben.

Aus |x(t)| ≤ |Y (t)||c| folgt limt→∞ x(t) = 0. Daher ist die DG asymptotisch stabil. �Fur Systeme mit konstanten Koeffizienten

x′ = Ax

wird Stabilitat durch die Eigenwerte der Matrix A bestimmt.

Satz 5.3 Fur die DG x′ = Ax mit einer n × n Matrix A gilt:

1. Die DG ist genau dann stabil, wenn fur alle Eigenwerte von A gilt i)Reλ ≤ 0 und ii) Eigenwerte mit Reλ = 0 sind halbeinfach, d.h. ihre al-gebraische Vielfachheit ist gleich ihrer geometrischen Vielfachheit.

2. Die DG ist genau dann asymptotisch stabil, wenn fur alle Eigenwerte von Agilt Reλ < 0.

Beweis: Ein Fundamentalsystem der DG ist eAt. Der Satz folgt daher aus Satz 5.2und den Resultaten uber die Matrixexponentialfunktion in Abschnitt 4.2. Eigenwertemit Reλ = 0 mussen halbeinfach sein, da im Fall eines nichttrivialen Jordanblocks derDimension r > 1 Losungen existieren, die wie tr−1 wachsen (siehe Satz 4.5). �Falls alle Eigenwerte der Matrix A negativen Realteil haben, klingen alle Losungen derDG x′ = Ax exponentiell ab.

Satz 5.4 Fur alle Eigenwerte der Matrix A gelte Reλ < −α < 0. Dannexistiert eine Konstante K > 0, sodass gilt

|eAt| ≤ Ke−αt, t ≥ 0.

Beweis: Es sei J die Jordansche Normalform von A und T die entsprechende Transfor-mationsmatrix mit A = TJT−1. Wegen

|eAt| = |TeJtT−1| ≤ |T ||eJt||T−1|genugt es die Abschatzung fur eJt zu beweisen. Fur alle Eigenwerte von A gilt Reλ+α <0. Aus Satz 4.5 folgt

limt→∞ |eαteJt| = 0.

Daher existiert eine Konstante K > 0 mit |eαteJt| ≤ K fur alle t ≥ 0, d.h.

|eJt| ≤ Ke−αt.

Die Behauptung des Satzes folgt mit K := |T ||T−1|K. �Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 5: Stabilitat - 91 -

Definition 5.2 Fur die DG x′ = Ax mit einer n × n Matrix A sei

1. der stabile Raum Es die Summe der (verallgemeinerten) Eigenraume allerEigenwerte λ mit Reλ < 0,

2. der Zentrums-Raum Ec die Summe der (verallgemeinerten) Eigenraumealler Eigenwerte λ mit Reλ = 0,

3. der instabile Raum Eu die Summe der (verallgemeinerten) Eigenraumealler Eigenwerte λ mit Reλ > 0.

Anmerkung: Die Notation folgt hier den englischen Begriffen stable space, center-spaceund unstable space.

Aus den Eigenschaften der Matrixexponentialfunktion eAt und Satz 5.4 folgt

Satz 5.5 Fur die DG x′ = Ax mit einer n × n Matrix A gilt:

1. Die Raume Es, Ec und Eu sind invariant und

Rn = Es ⊕ Ec ⊕ Eu

mit einer entsprechenden eindeutigen Zerlegung

x = xs + xc + xu.

2. Es existieren α > 0, K > 0 und m ∈ N mit m < dim(Ec) so dass gilt

|xs(t)| ≤ Ke−αt|xs(0)|, t ≥ 0,

|xc(t)| ≤ K|t|m|xc(0)|, t ∈ R,

|xu(t)| ≤ Keαt|xu(0)|, t ≤ 0.

5.4 Linearisierung und Stabilitat

Linearisieren ist ein wichtiges Hilfsmittel bei der Untersuchung des Verhaltens der Losung-en nichtlinearer DG. In diesem Abschnitt wird gezeigt, wie diese Methode zur Untersu-chung der Stabilitat von Ruhelagen verwendet wird.

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- 92 - Kap. 5: Stabilitat

Sei G ⊂ Rn offen und f ∈ C1(G,Rn). Die autonome DG

x′ = f(x) (5.3)

habe die Ruhelage x0 ∈ G, d.h. f(x0) = 0. Die Stabilitat bzw. asymptotische Stabilitatder Ruhelage soll untersucht werden. Um das Verhalten der Losungen der DG in derNahe von x0 zu untersuchen, setzt man

x = x0 + y

mit y in einer Umgebung des Ursprungs. Fur y erhalt man durch Einsetzen in die DGund Taylorentwicklung des Vektorfeldes f um die Stelle x0 die DG

y′ = x′ = f(x0 + y) = f(x0) + df(x0)y + r(y) = df(x0)y + r(y). (5.4)

Fur den Fehlerterm r(y) gilt |r(y)| = o(|y|), d.h. |r(y)| ist kleiner als |y| fur y → 0.Vernachlassigen von r(y) ergibt die lineare DG mit konstanten Koeffizienten

y′ = df(x0)y. (5.5)

Definition 5.3 Die DG (5.5) ist die Linearisierung der DG (5.3) an derRuhelage x0.

Das Verhalten der Losungen der Linearisierung ist durch die Eigenwertstruktur der Ma-trix df(x0) bestimmt.

Anmerkung: Es erscheint plausibel, dass sich fur y klein die Losungen der DG (5.4) und(5.5) nur wenig unterscheiden bzw. sich qualitativ ahnlich verhalten. In vielen Situationenkann man beweisen, dass dies tatsachlich der Fall ist.

Beispiel 5.7 Die DG

x′1 = x2

x′2 = −x2 + x1 − x31

hat die Ruhelagen p1 = (0, 0), p2 = (1, 0) und p3 = (−1, 0). Es gilt

df(x) =

(0 1

1 − 3x21 −1

).

Daher ist

df(p1) =

(0 11 −1

).

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 5: Stabilitat - 93 -

Wegen det df(p1) = −1 entspricht der Linearisierung an p1 ein Sattelpunkt. Die Lineari-sierung an p1 ist instabil.

Die Matrix

df(p2) = df(p3) =

(0 1

−2 −1

)hat Determinante 2 und Spur −1, daher entspricht der Linearisierung an p2 und p3 einestabile Spirale. Die Linearisierung an p2 und p3 ist asymptotisch stabil. �

Es stellt sich die Frage, ob sich das Stabilitatsverhalten der Linearisierung auf die Sta-bilitat der Ruhelage des nichtlinearen Problems ubertragt?

Satz 5.6 [ Stabilitat mittels Linearisierung ]

Sei x0 eine Ruhelage der DG x′ = f(x) mit einem C1-Vektorfeld f und A :=df(x0). Dann gilt:

1. Falls fur alle Eigenwerte von A gilt Reλ < 0, ist die Ruhelage asymptotischstabil.

2. Falls Eigenwerte von A existieren mit Reλ > 0, ist die Ruhelage instabil.

3. Falls Eigenwerte von A existieren mit Reλ = 0, kann man vom Verhaltender Linearisierung nicht auf das Verhalten der nichtlinearen DG schließen.

Beweis: ad 3) Die DG x′ = x3 hat die instabile Ruhelage x0 mit Linearisierung df(0) =0. Die DG x′ = −x3 hat die stabile Ruhelage x0 mit Linearisierung df(0) = 0. Dasunterschiedliche Verhalten dieser beiden DG wird durch nichtlineare Terme – hier durchdie Terme dritter Ordnung – bestimmt, die durch die Linearisierung nicht erfasst werden.

ad 1) Die DG fur y := x − x0 lautet

y′ = Ay + r(y).

O.B.d.A. sei t0 = 0. Sei y(t) die Losung des AWP y(0) = y0. Mittels Variation derKonstanten erhalt man die folgende Darstellung dieser Losung

y(t) = eAty0 +

∫ t

0

eA(t−s)r(u(s))ds. (5.6)

Da alle Eigenwerte von A negativen Realteil haben, existieren nach Satz 5.4 KonstanteK > 0, α > 0, sodass gilt

|eAt| ≤ Ke−αt, t ≥ 0.

Zu zeigen ist, dass fur ε > 0 ein δ > 0 existiert mit |y(t)| ≤ ε fur t ≥ 0 falls |y0| ≤ δund dass weiters limt→∞ y(t) = 0 gilt.

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- 94 - Kap. 5: Stabilitat

Um aus der Darstellung (5.6) Abschatzungen fur y(t) herzuleiten, benotigen wir einequantitative Beschreibung des Kleinwerdens von r(y) fur y → 0. Da f einmal stetigdifferenzierbar ist, folgt: fur jedes ρ > 0 existiert η > 0 mit

|r(y)| ≤ ρ|y| fur |y| ≤ η. (5.7)

Zunachst nehmen wir an, dass gilt

|y(t)| ≤ η, t ∈ [0, T ]. (5.8)

Spater wird gezeigt, dass diese Abschatzung – fur |y0| hinreichend klein – tatsachlich furalle T ≥ 0 gilt. Aus der Darstellung (5.6) folgt unter Verwendung der Abschatzung (5.7)

|y(t)| ≤ Ke−αt|y0| + Kρ

∫ t

0

e−α(t−s)|y(s)|ds.

Muliplikation dieser Ungleichung mit eαt ergibt

eαt|y(t)| ≤ K|y0| + Kρ

∫ t

0

eαs|y(s)|ds.

Aus dem Lemma von Gronwall angewandt auf die Funktion eαt|y(t)| folgteαt|y(t)| ≤ K|y0|eKρt, t ∈ [0, T ],

d.h.|y(t)| ≤ K|y0|e(Kρ−α)t, t ∈ [0, T ]. (5.9)

Wahle ρ > 0, sodass gilt Kρ − α < 0. Dann gilt

|y(t)| ≤ K|y0| ≤ min(η, ε), t ∈ [0, T ]

fur |y0| ≤ δ, falls

δ ≤ min(η

K,ε

K)

gewahlt wird. Da ρ und δ unabhangig von T sind, gilt diese Abschatzung fur alleT > 0. Daher existiert die Losung y(t) fur t ≥ 0 und erfullt |y(t)| ≤ ε fur t ≥ 0.Damit ist die Stabilitat der Ruhelage bewiesen. Asymptotische Stabilitat folgt aus derAbschatzung (5.9) und Kρ − α < 0.

ad 2) Der Beweis der Instabilitat ist ahnlich aber etwas komplizierter. Es sei Eu derinstabile Raum, Ec der Zentrums-Raum und Es der stabile Raum von A. Dies ergibteine Zerlegung

y = yu + yc + ys.

Mittels einer entsprechenden Zerlegung der Darstellung (5.6) kann unter Verwendungder Abschatzungen aus Satz 5.5 die Aussage 2) (und viel mehr) bewiesen werden. FurDetails wird auf die Literatur bzw. die Vorlesung Differentialgleichungen 2 verwiesen. �

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Kap. 5: Stabilitat - 95 -

Beispiel 5.8 Sei x0 Ruhelage einer skalaren DG x′ = f(x) mit einer C1 Funktion f .

Dann ist die Ruhelage asymptotisch stabil, falls f ′(x0) < 0 gilt. Aus f ′(x0) > 0 folgt dieInstabilitat der Ruhelage. �

Beispiel 5.9 Fortsetzung von Bsp. 5.7: Die Ruhelage p1 ist instabil. Die Ruhelagen p2,

p3 sind asymptotisch stabil. �

5.5 Hyperbolische Ruhelagen

Definition 5.4 Sei f ein C1 Vektorfeld auf B ⊂ Rn. Eine Ruhelage x0 heißt

hyperbolisch, wenn fur alle Eigenwerte λ von A := df(x0) gilt Reλ = 0.

Fur die Linearisierung y′ = Ay an einer hyperbolischen Ruhelage gilt

Es ⊕ Eu = Rn.

Im Fall einer hyperblischen Ruhelage entscheidet die Linearisierung uber die Stabilitat.Eine hyperbolische Ruhelage ist genau dann asymptotisch stabil, wenn gilt Reλ < 0 furalle Eigenwerte der Linearisierung, sonst ist sie instabil.

Es stellt sich die Frage, ob eine nichtlineare DG x′ = f(x) in einer Umgebung einerRuhelage durch eine nichtlineare Koordinatentransformation y = h(x) in die Form y′ =Ay, A = df(x0) gebracht werden kann. Der folgende Satz besagt, dass an hyperbolischenRuhelagen so eine Transformation h existiert, die im allgemeinen aber nur stetig mitstetiger Inversen ist, d.h. h ist ein (lokaler) Homeomorphismus.

Satz 5.7 [ Satz von Hartman-Grobman (1960) ]

Sei x0 eine Ruhelage der DG x′ = f(x) mit einem C1-Vektorfeld f und A :=df(x0). Sei x(t, a) die Losung der DG mit dem Anfangswert x(0, a) = a. Dannexistiert eine Umgebung U von x0 und eine Umgebung V von 0, so dass die DGx′ = f(x) in U zur Linearisierung y′ = Ay topologisch konjugiert ist, d.h. esexistiert ein Homeomorphismus

h : U → V

mith(x(t, a)) = eAth(a)

fur alle a ∈ U solange x(t, a) ∈ U gilt.

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- 96 - Kap. 5: Stabilitat

Im Beweis wird die Existenz der Transformation h als Fixpunkt einer geeigneten Kon-traktion nachgewiesen, siehe z.B. Arnold (1988), Teschl (2012). Der Beweis zeigt auch,dass gilt h(x) = x + o(|x|), d.h. h ist eine kleine Storung der Identitat. Dies bestatigtnochmals die intuitive Vorstellung, dass die Linearisierung in einer (kleinen) Umgebungder Ruhelage das Verhalten der Losungen gut approximiert. Unter bestimmten Bedin-gungen an die Eigenwerte von A, die gewisse Resonanzen ausschließen, kann man zeigen,dass h sogar ein Diffeomorphismus ist. Explizite Berechenbarkeit von h(x) kann mannaturlich nicht erwarten, da dies aquivalent zum expliziten Losen der DG ware.

Es stellt sich die Frage, ob eine nichtlineare DG x′ = f(x) an einer hyperbolischenRuhelage ahnliche Objekte wie den stabile Raum Es und den instabile Raum Eu derLinearisierung y′ = Ay besitzt.

Definition 5.5 Sei f ein C1 Vektorfeld auf B ⊂ Rn mit einer Ruhelage x0.

Sei U eine Umgebung von x0. Dann heißt

W sloc(x0) = {a ∈ U : x(t, a) ∈ U fur t ≥ 0 und limt→∞x(t, a) = x0}

die lokale stabile Mannigfaltigkeit von x0 und

W uloc(x0) = {a ∈ U : x(t, a) ∈ U fur t ≤ 0 und limt→−∞x(t, a) = x0}

die lokale instabile Mannigfaltigkeit von x0.

Beispiel 5.10 Die DG

x′ = y

y′ = x − x2

hat die Ruhelagen p0 = (0, 0) und p1 = (1, 0). Fur die Linearisierung ist p0 ein Sattelund p1 ein Zentrum. An p0 gilt Es = span((1,−1)T ) und Eu = span((1, 1)T ). Dasnichtlineare System ist ein Hamiltonsches System mit der Erhaltungsgroße

H(x, y) =y2

2− x2

2+x3

3.

Integralkurven liegen in Niveaumengen von H. Die lokale stabile Mannigfaltigkeit unddie lokale instabile Mannigfaltigkeit von p0 liegen daher in der Niveaumenge H(x, y) = 0.Daraus folgt, dass gilt

W sloc(p0) = {(x, y), y = −x + O(x2), |x| < δ}

W uloc(p0) = {(x, y), y = x + O(x2), |x| < δ}

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 5: Stabilitat - 97 -

mit geeignetem δ > 0. In diesem Beispiel ist W sloc(p0) eine glatte Kurve tangential zu Es

und W uloc(p0) eine glatte Kurve tangential zu Eu. �

An allgemeinen hyperbolischen Ruhelagen ist die Situation ahnlich. Es gilt der folgendein der Theorie dynamischer Systeme wichtige Satz.

Satz 5.8 [ Satz uber stabile und instabile Mannigfaltigkeiten ]

Sei x0 eine hyperbolische Ruhelage der DG x′ = f(x), x ∈ B ⊂ Rn mit einem

Ck-Vektorfeld f . Der stabile Raum Es habe die Dimension ns, der instabile Raumhabe die Dimension nu = n − ns. Dann gilt

1. In einer geeigneten Umgebung U von x0 existieren eindeutig bestimmte lokalestabile und instabile Mannigfaltigkeiten W s

loc(x0) und Wuloc(x0).

2. W sloc(x0) ist eine n

s-dimensionale Ck Mannigfaltigkeit, die im Punkt x0 tan-gential zu x0 + Es ist. W s

loc(x0) kann als Graph xu = hs(xs), xs ∈ U s

beschrieben werden. Dabei ist U s ⊂ Es eine Umgebung des Ursprungs inEs.

3. W uloc(x0) ist eine n

u-dimensionale Ck Mannigfaltigkeit, die im Punkt x0 tan-gential zu x0 + Eu ist. W u

loc(x0) kann als Graph xs = hu(xu), xu ∈ Uu

beschrieben werden. Dabei ist Uu ⊂ Eu eine Umgebung des Ursprungs inEu.

4. Fur a ∈ W sloc(x0) gilt x(t, a) ∈ W s

loc(x0), t ≥ 0 und limt→∞x(t, a) = x0 miteiner exponentiellen Rate.

5. Fur a ∈ W uloc(x0) gilt x(t, a) ∈ W u

loc(x0), t ≤ 0 und limt→−∞x(t, a) = x0mit einer exponentiellen Rate.

6. Fur a /∈ W sloc(x0) verlasst x(t, a) in endlicher Vorwartszeit die Umgebung U .

7. Fur a /∈ W uloc(x0) verlasst x(t, a) in endlicher Ruckwartszeit die Umge-

bung U .

Fur den Beweis wird auf die Literatur, siehe z.B. Teschl (2012), und die Vorlesung Dif-ferentialgleichungen 2 verwiesen. Dabei werden die im Satz auftretenden Funktionen hs

und hu als Fixpunkte von passend konstruierten Kontraktionsabbildungen bestimmt.

Anmerkung: W sloc(x0) und W

uloc(x0) sind Beispiele von invarianten Mannigfaltigkeiten,

die in der Theorie dynamischer Systeme eine wichtige Rolle spielen.

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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Kapitel 6

Randwertprobleme

Bisher wurden Losungen von DG durch die Angabe von Anfangswerten bestimmt. Eineandere Moglichkeit, eine Losung einer gewohnlichen DG zu spezifizieren, besteht dar-in, an zwei Stellen Bedingungen an die Losung der DG zu stellen. Dabei wird meistt ∈ [t1, t2] betrachtet und es werden Bedingungen an x(t0) und x(t1) gestellt. Aufgabendieser Art heißen Randwertprobleme (RWP). Randwertprobleme konnen auch auf un-beschrankten Intervallen [t1,∞), (−∞, t2] oder (−∞,∞) gestellt werden.In diesem Kapitel werden RWP auf endlichen Intervallen fur lineare Differentialgleichun-gen untersucht, wobei der Schwerpunkt auf linearen skalaren DG zweiter Ordnung liegt.Ein wesentlicher Unterschied zu Anfangswertproblemen besteht darin, dass die Existenzvon Losungen von RWP nicht in der Allgemeinheit wie bei Anfangswertproblemen gesi-chert ist.

6.1 Randwertprobleme fur lineare Systeme 1. Ordnung

Fur ein n-dimensionales System von DG 1. Ordnung benotigt man n Bedingungen umeine eindeutige Losung zu spezifizieren.

Definition 6.1 Fur I = [t1, t2] ⊂ R, A ∈ C(I,Rn×n), b ∈ C(I,Rn) und zweireellen n × n Matrizen R1, R2 sowie c ∈ R

n heißt

x′(t) = A(t)x + b(t), R1x(t1) + R2x(t2) = c (6.1)

lineares Randwertproblem. Das RWP ist inhomogen fur b = 0 und c = 0,homogen fur b = 0 und c = 0 und halbhomogen sonst.

Unter Verwendung der Fundamentalmatrix kann die Losbarkeit und die Losungsstrukturdieses linearen RWP vollstandig charakterisiert werden.

98

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Kap. 6: Randwertprobleme - 99 -

Satz 6.1 Sei Y (t) die Hauptfundamentalmatrix der DG x′ = A(t)x bezuglicht1, B := R1 + R2Y (t2) und d := R2Y (t2)

∫ t2t1Y −1(s)b(s)ds. Dann gilt:

1. Das RWP (6.1) ist genau dann losbar, wenn gilt

Rang(B) = Rang(B|c − d).

2. Die Menge der Losungen des RWP bilden in diesem Fall einen affinen Vek-torraum, dessen Dimension gleich der Dimension des Kerns von B ist.

Beweis: Die Losung x(t) des RWP ist naturlich auch die Losung des AWP mit demAnfangswert x(t1). Nach Satz 4.7 gilt daher

x(t) = Y (t)x(t1) + Y (t)

∫ t

t1

Y −1(s)b(s)ds.

Die Funktion x(t) erfullt daher die Randbedingung R1x(t1) + R2x(t2) = c genau dann,wenn gilt

(R1 + R2Y (t2))x(t1) + R2Y (t2)

∫ t2

t1

Y −1(s)b(s) = c.

Mit den Bezeichnungen des Satzes lautet diese Gleichung

Bx(t1) = c − d. (6.2)

Dieses lineare Gleichungssystem fur x(t1) ist genau dann losbar, wenn gilt

Rang(B) = Rang(B|c − d).

Wegen der Linearitat entspricht jeder Losung des RWP umkehrbar eindeutig eine Losungdes Gleichungsystems (6.2), daher folgt auch die zweite Aussage des Satzes. �Anmerkung: Falls fur die Matrix B := R1 + R2Y (t2) gilt Rang(B) < n, existierenc ∈ R

n, so dass das RWP (6.1) keine Losung hat.

6.2 Randwertprobleme fur lineare DG 2. Ordnung

RWP fur lineare DG 2. Ordnung treten in vielen Anwendungen auf und haben eine re-lativ einfache mathematische Struktur. Durch Umschreiben in ein System 1. Ordnungkann man die Resultate des vorangehenden Abschnitts anwenden. Meistens ist aber dasArbeiten mit skalaren DG vorteilhafter.Bei Randwertproblemen hat die unabhangige Variable sehr oft die Bedeutung einerraumlichen Variable, daher wird sie im folgenden mit x ∈ [a, b] bezeichnet.

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- 100 - Kap. 6: Randwertprobleme

Definition 6.2 Sei I = [a, b] und a2, a1, a0, f ∈ C(I,R). Es gelte a2(x) = 0fur x ∈ I. Fur Losungen der DG

Lu := a2(x)u′′ + a1(x)u

′ + a0(x)u = f(x), x ∈ [a, b] (6.3)

nennt man die Randbedingung

1. u(a) = ρ1, u(b) = ρ2 Dirichlet Randbedingung,

2. u′(a) = ρ1, u′(b) = ρ2 Neumann Randbedingung,

3. α1u(a) + β1u′(a) = ρ1, α2u(b) + β2u

′(b) = ρ2 gemischte Randbedin-gung,

4. u(a) = u(b), u′(a) = u′(b) periodische Randbedingung.

Dabei ist ρ1, ρ2 ∈ R und αi, βi ∈ R mit α2i + β2

i = 1, i = 1, 2.Im Fall f = 0 und ρ1 = ρ2 = 0 spricht man von einem homogenen RWP, furf = 0 und (ρ1, ρ2) = (0, 0) ist das RWP inhomogen, sonst halbhomogen.

Anmerkung: 1) Die gemischte Randbedingung enthalt die Dirichlet- und NeumannRandbedingung als Spezialfall, alle drei werden im folgenden vereineitlicht als

R1u = ρ1, R2u = ρ2

abgekurzt.2) Periodische Randbedingungen sind dann sinnvoll, wenn die Funktionen a0, a1, a2 undf periodisch mit Periode b−a sind und die Losung ebenfalls periodisch mit Periode b−asein soll.

Beispiel 6.1 Auf einen horizontalen Stab, dessen Enden sich bei x = a und x = b be-

finden, wirke an der Stelle x ∈ [a, b] das Biegemoment f(x). Die Auslenkung des Balkensaus der Horizontalen sei u(x). Fur kleine Auslenkungen gilt die Differentialgleichung

u′′(x) = f(x).

1) Wird der Stab an seinem linken Ende fest horizontal eingespannt, so erhalt man dieRandbedingungen

u(a) = u′(a) = 0,

die einem Anfangswertproblem entsprechen. Dieses ist eindeutig losbar.

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 6: Randwertprobleme - 101 -

2) Falls der Stab an beiden Enden auf gleicher Hohe unterstutzt wird, gelten die DirichletRandbedingungen

u(a) = 0, u(b) = 0.

Dieses RWP ist eindeutig losbar (siehe unten).

3) Wenn sich die Enden des Balken vertikal bewegen konnen dabei aber waagrecht ein-gespannt sind, erhalt man Neumann Randbedingungen

u′(a) = 0, u′(b) = 0.

Das RWP mit homogenen Neumann Randbedingungen ist nie eindeutig losbar, da mitu(x) auch u(x) + c, c ∈ R eine Losung ist. Weiters ist die Bedingung

0 = u′(b) − u′(a) =∫ b

a

u′′(x)dx =

∫ b

a

f(x)dx

notwendig fur die Losbarkeit des RWP (siehe unten). �

Satz 6.2 Mit den Bezeichnungen und unter den Voraussetzungen von Defini-tion 6.2 sei u1, u2 ein Fundamentalsystem fur die DG Lu = 0. Dann gilt: dasinhomogene RWP

Lu = f, R1u = ρ1, R2u = ρ2

ist genau dann fur alle f ∈ C(I,R) und ρ1, ρ2 ∈ R losbar, wenn gilt

det

(R1u1 R1u2R2u1 R2u2

)= 0. (6.4)

Falls die Bedingung (6.4) erfullt ist, so ist die Losung des inhomogenen RWPseindeutig bestimmt. Die Bedingung (6.4) ist unabhangig von der Wahl des Fun-damentalsystems. Das inhomogene RWP ist

Beweis: Sei up eine Losung der DG Lu = f . So eine Losung kann z.B. mittels Variationder Konstanten bestimmt werden. Dann ist

u(x) = c1u1(x) + c2u2(x) + up(x), c1, c2 ∈ R

die allgemeine Losung der DG Lu = f . Die Randbedingungen Riu = ρi, i = 1, 2 sinderfullt, wenn gilt

c1Riu1 + c2Riu2 + Riup = ρi, i = 1, 2.

Dies ergibt ein lineares Gleichungssystem fur c1, c2.(R1u1 R1u2R2u1 R2u2

)(c1c2

)=

(ρ1 − R1upρ2 − R2up

).

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- 102 - Kap. 6: Randwertprobleme

Dieses Gleichungssystem ist genau dann fur jedes f ∈ C(I,R) und alle ρ1, ρ2 ∈ R

eindeutig losbar, wenn die Bedingung (6.4) gilt.Fur zwei beliebige Fundamentalsysteme u1, u2 und v1, v2 existiert eine regulare 2 × 2Matrix B mit (

u1u2

)= B

(v1v2

).

Daraus folgt

det

(R1u1 R1u2R2u1 R2u2

)= detB det

(R1v1 R1v2R2v1 R2v2

).

Daher ist die Bedingung (6.4) unabhangig von der Wahl des Fundamentalsystems. �

Beispiel 6.2 Fur das Balkenproblem

u′′(x) = f(x)

ist u1(x) = 1, u2(x) = x ein Fundamentalsystem.

Fur Dirichlet Randbedingungen R1u = u(a) und R2u = u(b) gilt

det

(R1u1 R1u2R2u1 R2u2

)= det

(1 a1 b

)= b − a = 0.

Daher ist das RWP fur alle f ∈ C(I,R) und ρ1, ρ2 ∈ R eindeutig losbar.

Fur Neumann Randbedingungen R1u = u′(a) und R2u = u′(b) gilt

det

(R1u1 R1u2R2u1 R2u2

)= det

(0 10 1

)= 0.

Wegen

R2up − R1up =

∫ b

a

f(x)dx

ist das das Neumann RWP genau dann losbar, falls die Kompatibilitatsbedingung

ρ2 − ρ1 =

∫ b

a

f(x)dx

erfullt ist. Die Losung ist nie eindeutig, da sie nur bis auf eine additive Konstante be-stimmt ist. �

Die Bedingung (6.4) in Satz 6.2 bezieht sich nur auf Fundamentalsysteme der homogenenDG. Daher erhalt man als unmittelbare Folgerung den folgenden Satz.

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Kap. 6: Randwertprobleme - 103 -

Satz 6.3 Mit den Bezeichnungen und unter den Voraussetzungen von Defini-tion 6.2 gilt: das inhomogene RWP

Lu = f, R1u = ρ1, R2u = ρ2

ist genau dann fur alle f ∈ C(I,R) und ρ1, ρ2 ∈ R losbar, wenn das homogeneRandwertproblem

Lu = 0, R1u = 0, R2u = 0

nur die triviale Losung u = 0 hat. Die Losung des inhomogenen RWPs ist indiesem Fall eindeutig bestimmt.

Um die GleichungLu = f

als lineare Gleichung auf Funktionenraumen studieren zu konnen, mussen der Definitions-und Bildbereich von L angegeben werden. Naheliegend ist die Definition

D(L) := {u ∈ C2(I,R) : R1u = 0, R2u = 0}.Dann ist L : D(L) → C(I,R) ein linearer Differentialoperator, der allerdings einenFunktionenraum in einen anderen Funktionenraum abbildet. Es ist meist zweckmaßigerL als einen unbeschrankten Operator

L : L2(a, b) → L2(a, b)

mit dem in L2(a, b) dichten Definitionsbereich D(L) zu definieren.

Nach Satz 6.3 sind die folgenden Bedingungen aquivalent:

1. Das inhomogene Problem Lu = f ist fur beliebige Inhomogenitat losbar.

2. Das homogene RWP L(u) = 0 hat nur die triviale Losung, d.h. KernL = {0}.Dies erinnert an das folgende Resultat der Linearen Algebra.

Satz 6.4 In einem n-dimensionalen Vektorraum V gilt fur eine lineare Abbil-dung L : V → V genau eine der beiden Aussagen

1. Zu jedem Vektor v ∈ V gibt es einen Vektor u ∈ V , sodass Au = v, d.h. List surjektiv.

2. dim(KernL) > 0, d.h. L hat nichtrivialen Kern und ist nicht injektiv.

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- 104 - Kap. 6: Randwertprobleme

Die Satze 6.3 und 6.4 sind Spezialfalle der Fredholmschen Alternative (siehe Funktional-analysis).

Anmerkung: Ein inhomogenes RWP Lu = f , R1u = ρ1, R2u = ρ2 kann auf einhalbhomogenes RWP Lu = f , R1u = 0, R2u = 0 reduziert werden. Sei v ∈ C2(I,R)mit R1v = ρ1 und R2v = ρ2. So eine Funktion v kann meist einfach gefunden werden.Man setzt u = v + u. Dann lost u genau dann das inhomogene RWP, wenn u dashalbhomogene RWP mit f := f − Lv lost. Daher genugt es den halbhomogenen Fall zuuntersuchen.

Beispiel 6.3 Fur das RWP

Lu := u′′ − u = 0, u(0) = 0, u(b) = 0

mit b > 0 ist u1 = ex, u2 = e−x ein Fundamentalsystem. Die Bedingung (6.4) hat daherdie Form

det

(R1u1 R1u2R2u1 R2u2

)= det

(e0 e0

eb e−b

)= e−b − eb = eb(e−2b − 1) = 0

fur alle b > 0. Das entsprechende inhomogene RWP ist daher immer eindeutig losbar. �

Die Losbarkeit von RWP kann auch von der Lange des Intervalls, auf dem die DG gestelltist, abhangen.

Beispiel 6.4 Fur das RWP

Lu := u′′ + u = 0, u(0) = 0, u(b) = 0

mit b > 0 ist u1 = cos x, u2 = sin x ein Fundamentalsystem. Die Bedingung (6.4) hatdaher die Form

det

(R1u1 R1u2R2u1 R2u2

)= det

(cos 0 sin 0cos b sin b

)= sin b = 0,

was fur b = kπ, k ∈ N erfullt ist. In diesem Fall ist das RWP Lu = f , u(0) = ρ1,u(b) = ρ2 immer eindeutig losbar.Im Fall b = kπ, k ∈ N ist u(x) = sin x eine nichttriviale Losung des homogenen RWP.Das halbhomogene RWP Lu = 0, u(0) = 0, u(b) = 1 hat in diesem Fall keine Losung,da fur

u(x) = c1 cos x + c2 sin x

aus der ersten Randbedingung folgt c1 = 0 und die zweite Randbedingung dann fur keinc2 ∈ R erfullt werden kann. �

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Kap. 6: Randwertprobleme - 105 -

Wiederholung: lineare Gleichungen und Skalarprodukt

Seien U , V Vektorraume, auf denen ein Skalarprodukt definiert ist. Fur lineare Abbil-dungen

L : U → V

kann dann die Losbarkeit einer linearen Gleichung

Lx = b

mit x ∈ U und b ∈ V unter Verwendung von Begriffen, die auf dem Skalarproduktaufbauen, charakterisiert werden. Im Fall U = R

n, V = Rm mit dem kanonischen

Skalarprodukt gilt folgendes.

Satz 6.5 Sei A eine m × n Matrix, der eine lineare Abbildung Rn → R

m ent-spricht. Der transponierten Matrix AT entspricht die adjungierte AbbildungR

m → Rn, d.h. es gilt

Ax · y = x · ATy, x ∈ Rn, y ∈ R

m.

Weiters giltKernA ⊥ BildAT , BildA ⊥ KernAT

undR

n = KernA ⊕ BildAT , Rm = BildA ⊕ KernAT .

Als unmittelbare Folgerung erhalt man folgende Charakterisierung der Losbarkeit vonlinearen Gleichungssystemen.

Satz 6.6 Fur eine m × n Matrix A und b ∈ Rm ist die Gleichung Ax = b

genau dann losbar, wenn gilt b · y = 0 fur alle y ∈ KernAT .Fur eine symmetrische Matrix A ist die Gleichung Ax = b genau dann losbar,wenn gilt b · y = 0 fur alle y ∈ KernA.

Randwertprobleme und Skalarprodukt

Fur I = [a, b] und q, f ∈ C(I,R) betrachten wir das halbhomogene RWP

Lu := u′′ + q(x)u = f, u(a) = u(b) = 0. (6.5)

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- 106 - Kap. 6: Randwertprobleme

Im folgenden verwenden wir das L2 Skalarprodukt

〈u, v〉 :=∫ b

a

u(x)v(x)dx.

Weiters seiD(L) := {u ∈ C

2(I,R) : u(a) = 0, u(b) = 0}.der Definitionsbereich von L.

Satz 6.7 Fur das RWP (6.5) gilt. Der Operator L ist symmetrisch, d.h.

〈Lu, v〉 = 〈u, Lv〉fur alle u, v ∈ D(L).

Beweis: Fur u, v ∈ D(L) folgt mittels zweimaliger partieller Integration∫ b

a

u′′vdx = u′v|ba −∫ b

a

u′v′dx = −∫ b

a

u′v′dx = −uv′|ba +∫ b

a

uv′′dx =

∫ b

a

uv′′dx,

da die Randterme wegen der Randbedingungen immer wegfallen. Daher gilt

〈Lu, v〉 =∫ b

a

(u′′v + quv)dx =

∫ b

a

(uv′′ + quv)dx = 〈u, Lv〉.

�In Analogie zum Matrixfall erhalten wir das folgende Resultat.

Satz 6.8 Das RWP (6.5) ist genau dann losbar, wenn gilt

〈f, v〉 = 0

fur alle v ∈ KernL.

Anmerkung: Aufgrund von Satz 6.2 ist dieses Resultat nur im Fall KernL = {0}interessant. Der folgende Beweis zeigt auch, dass dann gilt dim(KernL) = 1.

Beweis: Sei u1, u2 ein Fundamentalsystem der DG u′′ + q(x)u = 0 mit u1 ∈ KernL,d.h. u1(a) = u1(b) = 0. Die Wronski-Determinante ist konstant, daher gilt

W [u1, u2](x) = u1(x)u′2(x) − u′1(x)u2(x) = w = 0.

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Kap. 6: Randwertprobleme - 107 -

Daraus folgt unmittelbar u2(a) = 0, u2(b) = 0 und dim(KernL) = 1.Mittels Variation der Konstanten bestimmt man eine Partikularlosung der Form

up(x) = c1(x)u1(x) + c2(x)u2(x).

Dies fuhrt auf das lineare Gleichungssystem(u1 u2u′1 u′2

)(c′1c′2

)=

(0f

).

Die Losung

c′1 =−u2fw

, c2 =u1f

wdieses linearen Gleichungsystems erhalt man am schnellsten mittels der CramerschenRegel. Integration ergibt

c1(x) = −∫ x

a

u2f

wds, c2(x) =

∫ x

a

u1f

wds.

Daher ist die allgemeine Losung der DG gegeben durch

u(x) = −∫ x

a

u2f

wds u1(x) +

∫ x

a

u1f

wds u2(x) + s1u1(x) + s2u2(x).

mit s1, s2 ∈ R. Aus der Randbedingung u(a) = 0 folgt s2 = 0. Somit gilt

u(b) =

∫ b

a

u1f

wds u2(b).

Wegen u2(b) = 0 ist die Randbedingung u(b) = 0 genau dann erfullt, wenn gilt∫ b

a

u1fdx = 0.

Da u1 den KernL aufspannt, ist der Satz bewiesen. Die Konstante s1 bleibt unbestimmt,da KernL nichttrivial ist. �

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- 108 - Kap. 6: Randwertprobleme

6.3 Greensche Funktion

Wir betrachten das lineare Randwertproblem

Lu := a2(x)u′′ + a1(x)u

′ + a0(x)u = f(x), x ∈ [a, b], R1u = 0, R2u = 0. (6.6)

Dabei seien a2, a1, a0 und f stetig auf [a, b] und a2(x) = 0. Falls eine Inverse L−1 existiertist die Losung des RWP Lu = f durch u = L−1f gegeben. Im Zusammenhang mitDifferentialoperatoren ist dies nicht immer moglich. Um die Gleichung

Lu = f

zu losen, genugt es aber eine Rechts-Inverse R von L zu finden, fur die gilt

LR = id,

da dann

u := Rf

eine Losung von Lu = f ist. Eindeutigkeit folgt, falls KernL = {0} gilt.

Wir werden zeigen, dass die Rechts-Inverse von L als Integraloperator

Rf(x) :=

∫ b

a

G(x, s)f(s)ds

beschrieben werden kann. Der Kern G(x, s) ist die Greensche Funktion des RWPs. Fallseine Greensche Funktion existiert, ist die Losung des RWP Lu = f durch

u(x) =

∫ b

a

G(x, s)f(s)ds

gegeben. Die Funktion G(x, s) muss als Funktion von x die Randbedingungen erfullen.Weiters benotigt man Bedingungen an die Funktion G und ihre Ableitungen bezuglichx, die sicherstellen, dass G eine Rechts-Inverse ist.

Anmerkung: Greensche Funktionen spielen auch in der Theorie von RWP fur partielleDifferentialgleichungen eine wichtige Rolle.

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Kap. 6: Randwertprobleme - 109 -

Definition 6.3 Eine Funktion G : D := [a, b] × [a, b] → R ist die GreenscheFunktion des RWPs (6.6), wenn gilt:

1. G(x, s) ist stetig auf D.

2. Auf D1 := {(x, s) : a ≤ x < s ≤ b} und D2 := {(x, s) : a ≤ s < x ≤ b}existieren die Ableitungen G′(x, s) := Gx(x, s) und G′′(x, s) := Gxx(x, s)und sind stetig bis zum Rand. Als Funktion von x lost G(x, s) fur x = s diehomogene Differentialgleichung LG(x, s) = 0.

3. G erfullt als Funktion von x die Randbedingungen, d.h. R1G(x, s) = 0 undR2G(x, s) = 0.

4. Fur

G′1(x, x) := lim

(ξ,s)→(x,x)︸ ︷︷ ︸in D1

G′(ξ, s) und G′2(x, x) := lim

(ξ,s)→(x,x)︸ ︷︷ ︸in D2

G′(ξ, s)

gilt die Sprungbedingung

G′1(x, x) − G′

2(x, x) = − 1

a2(x),

d.h. die erste Ableitung G′(x, s) hat an der Diagonalen x = s einen Sprungder Hohe 1/a2(x).

Wir werden zeigen, dass diese Bedingungen die Greensche Funktion eindeutig festlegen.

Satz 6.9 Sei G(x, s) die Greensche Funktion fur das RWP (6.6). Dann ist furstetiges f

u(x) :=

∫ b

a

G(x, s)f(s)ds

eine zweimal stetig differenzierbare Losung des RWP.

Beweis: Es ist gunstig das Integrationsintervall [a, b] in [a, x] und [x, b] zu teilen. Es gilt

u(x) :=

∫ x

a

G(x, s)f(s)ds +

∫ b

x

G(x, s)f(s)ds.

Aus Eigenschaft 2 der Greenschen Funktion folgt, dass u differenzierbar ist. Differenzieren

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- 110 - Kap. 6: Randwertprobleme

nach x ergibt

u′(x) :=∫ x

a

G′(x, s)f(s)ds + G(x, x)f(x) +

∫ b

x

G′(x, s)f(s)ds − G(x, x)f(x)

und weiter

u′(x) :=∫ x

a

G′(x, s)f(s)ds +∫ b

x

G′(x, s)f(s)ds =

∫ b

a

G′(x, s)f(s)ds.

Aus Eigenschaft 2 der Greenschen Funktion folgt, dass u′ differenzierbar ist. NochmaligesDifferenzieren nach x ergibt

u′′(x) :=∫ x

a

G′′(x, s)f(s)ds + G′2(x, x)f(x) +

∫ b

x

G′′(x, s)f(s)ds − G′1(x, x)f(x).

Dabei wurde berucksichtigt, dass beim ersten Integral (x, s) ∈ D2 gilt, was auf denRandterm G′

2(x, x)f(x) fuhrt. Beim zweiten Integral gilt (x, s) ∈ D1 und man erhalt denRandterm −G′

1(x, x)f(x). Aus Eigenschaft 4 der Greenschen Funktion folgt

u′′(x) :=∫ b

a

G′′(x, s)f(s)ds +f(x)

a2(x).

Aus Eigenschaft 2 der Greenschen Funktion und der Stetigkeit von a2 und f folgt dieStetigkeit von u′′. Einsetzen von u, u′ und u′′ in die DG ergibt unter Verwendung vonLG(x, s) = 0

Lu =

∫ b

a

LG(x, s)f(s)ds + f(x) = f(x).

Daher ist u Losung der inhomogenen DG. Aus Eigenschaft 3 der Greenschen Funktionfolgt

Riu =

∫ b

a

RiG(x, s)f(s)ds = 0, i = 1, 2.

Daher lost u das RWP. �

Beispiel 6.5 Gesucht ist die Greensche Funktion des RWP

Lu := −u′′ = f, u(0) = 0, u(1) = 0.

Hier gilt a2 = −1. Dieses negative Vorzeichen des u′′ Terms wird oft verwendet, da danndie Eigenwerte des Operators L positiv sind. Die Losung u1(x) = x der homogenen DGerfullt die linke Randbedingung, die Losung u2(x) = 1−x der homogenen DG erfullt dierechte Randbedingung. Fur x < s muss G daher ein Vielfaches von u1 sein, fur s < xmuss G daher ein Vielfaches von u2 sein. Tatsachlich gilt

G(x, s) =

⎧⎨⎩x(1 − s), 0 ≤ x ≤ s ≤ 1

s(1 − x), 0 ≤ s ≤ x ≤ 1.

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Kap. 6: Randwertprobleme - 111 -

Die Eigenschaften 1 - 3 der Greenschen Funktion sind offensichtlich erfullt. Aus

G′1(x, x) − G′

2(x, x) = (1 − x) − (−x) = 1

folgt, dass die Sprungbedingung 4 ebenfalls erfullt ist. �

Fur die Existenz und Eindeutigkeit der Greenschen Funktion gilt der folgende Satz,dessen Beweis auch zeigt wie die Greensche Funktion berechnet werden kann.

Satz 6.10 Das RWP (6.6) habe fur f = 0 nur die triviale Losung. Dannexistiert genau eine Greensche Funktion G(x, s) des RWPs. Explizit ist G(x, s)durch die Formel (6.7) gegeben.

Beweis: Sei u1 und u2 ein Fundamentalsystem der DG Lu = 0, fur das gilt

R1u1 = 0, R2u2 = 0,

d.h. u1 erfullt die Randbedingung bei x = a und u2 erfullt die RB bei x = b. Mankann leicht zeigen (Ubungsaufgabe), dass unter den Voraussetzungen des Satzes so einFundamentalsystem immer existiert und bis auf Multiplikation mit Skalaren eindeutigist. Da G(x, s) als Funktion von x die RB und die homogene DG erfullen muss, hatG(x, s) notwendigerweise die Form

G(x, s) =

⎧⎨⎩c1(s)u1(x), a ≤ x ≤ s ≤ b

c2(s)u2(x), a ≤ s ≤ x ≤ b.

mit unbekannten Funktionen c1(s), c2(s), s ∈ [a, b]. Stetigkeit von G an der Diagonalenergibt die Gleichung

c1(x)u1(x) = c2(x)u2(x).

Die Sprungbedingung ergibt

G′1(x, x) − G′

2(x, x) = c1(x)u′1(x) − c2(x)u

′2(x) = − 1

a2(x).

Das lineare Gleichungssystem(u1 −u2u′1 −u′2

)(c1

c2

)=

(0

− 1a2

)

hat eine eindeutige Losung c1(x), c2(x). Die Funktionen c1, c2 sind stetig auf [a, b]. Da-durch ist G eindeutig bestimmt und es gilt

G(x, s) =

⎧⎨⎩

u2(s)u1(x)a2(s)W (s) , a ≤ x ≤ s ≤ b

u1(s)u2(x)a2(s)W (s) , a ≤ s ≤ x ≤ b.

(6.7)

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- 112 - Kap. 6: Randwertprobleme

mit der Wronskideterminante W (x) = u1(x)u′2(x) − u′1(x)u2(x) �

Anmerkung: Ein besseres Verstandnis der Greenschen Funktion liefert die Theorie derDistributionen oder verallgemeinerten Funktionen. Ein wichtiges Beispiel einer Distri-bution ist die Dirac’sche δ-Funktion. Darunter versteht man das lineare Funktional, dasjeder Funktion f : R → R ihren Wert bei s = 0 zuordent, d.h.

〈δ, f〉 := f(0).

Dies wird oft formal als ∫δ(x)f(x)dx = f(0)

geschrieben, wobei diese Beziehung fur keine echte Funktion δ gelten kann, daher der Na-me verallgemeinerte Funktion. Die im Beweis von Satz 6.10 durchgefuhrten Rechnungenzeigen, dass unter Verwendung eines auf Distributionen verallgemeinerten Ableitungsbe-griffs gilt

LG(x, s) = δ(x − s).

Daher gilt

Lu(x) = L

∫ b

a

G(x, s)f(s)ds =

∫ b

a

LG(x, s)f(s)ds =

∫ b

a

δ(x − s)f(s)ds = f(x).

Man kann daher G(x, s) als die Losung des RWP interpretieren, die einer im Punktx = s konzentrierten Inhomogenitat f der Starke eins entspricht. Dies entspricht inAnwendungen z.B. einer nur im Punkt x = s wirkenden Punktkraft oder Punktladungder Starke eins. So kann die Greensche Funktion G(x, s) in Bsp.6.5 als die Auslenkungeiner eingespannten Saite unter einer im Punkt x = s wirkenden Punktkraft der Starkeeins interpretiert werden kann. In der Darstellung der Losung des RWP Lu = f

u(x) =

∫ b

a

G(x, s)f(s)ds

werden die Beitrage der Inhomogenitat f and den Stellen x = s zur Losung u(x) gemaßdem Superpositionsprinzip “aufsummiert” bzw. integriert.

Solche Ideen und Methoden spielen in der Theorie der partiellen Differentialgleichungeneine wichtige Rolle.

6.4 Eigenwertprobleme und Separationsansatz

In den Eigenwerten und Eigenvektoren einer n × n Matrix A sind wesentliche Informa-tionen uber das lineares Gleichungssystemen

Ax = b

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Kap. 6: Randwertprobleme - 113 -

bzw. uber die entsprechende lineare Abbildung

ϕ : Rn → Rn, x �→ A

enthalten. Ahnliches gilt auch fur lineare Randwertprobleme.

Definition 6.4 Sei x ∈ I = [a, b] und a0, a1, a2 ∈ C(I,R). Fur einen linearenDifferentialoperator

Lu := a2u′′ + a1u

′ + a0u

mit homogenen Randbedingungen R1u = 0, R2u = 0 versteht man unter demEigenwertproblem (EWP) die Aufgabe λ ∈ C und eine Funktion u ∈ C2(I,C),u = 0 zu finden, sodass gilt

Lu = λu, R1u = 0, R2u = 0. (6.8)

Die Zahl λ nennt man Eigenwert von L, die Funktion u nennt man Eigen-funktion zum Eigenwert λ.

Die Eigenwerte sind genau die Werte λ ∈ C, fur die das RWP eine nichttriviale Losunghat. Mit u ist auch cu, c ∈ C, c = 0 Eigenfunktion. Daher ist der Eigenraum

E(λ) = {u : u ist Eigenfunktion zum Eigenwert λ}

ein Unterraum von C2(I,C). Aus den Satzen 6.2 und 6.3 erhalt man unmittelbar diefolgende Charakterisierung von Eigenwerten.

Satz 6.11 Sei u1(x, λ), u2(x, λ) ein Fundamentalsystem der DG

a2u′′ + a1u

′ + (a0 − λ)u = 0.

Die Zahl λ ∈ C ist genau dann ein Eigenwert des EWP (6.8), wenn gilt

det

(R1u1(., λ) R1u2(., λ)R2u1(., λ) R2u2(., λ)

)= 0. (6.9)

Da u1(x, λ), u2(x, λ) analytisch von λ abhangen, sind die Eigenwerte die Nullstellen eineranalytischen Funktion. Die Gleichung 6.9 kann als Verallgemeinerung des charakteristi-schen Polynoms fur die Eigenwerte von Matrizen angesehen werden.

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- 114 - Kap. 6: Randwertprobleme

Eigenwertproblem und Exponentialansatz

Die Eigenwerte und Eigenfunktionen enthalten nicht nur Information uber den linearenDifferentialoperator L, sie liefern auch spezielle Losungen von zeitabhangigen linearenpartiellen DG der Form

ut = Lu (6.10)

oderutt = Lu. (6.11)

Eine Losung ist eine Funktion u(x, t), t ∈ R und x ∈ I, fur die alle in der DG auftretendenAbleitungen existieren und die beim Einsetzen in die DG diese identisch erfullt. Zusatzlichsollen die Randbedingungen R1u(., t) = 0 und R2u(., t) = 0 erfullt sein.

Um eindeutige Losungen zu erhalten, die fur t ≥ 0 definiert sein sollen, muss manAnfangswerte vorgeben. Im Fall der Gleichung (6.10), die bezuglich t erster Ordnungist, kann man

u(x, 0) = f(x), x ∈ I (6.12)

vorgeben.Fur die Gleichung (6.11), die bezuglich t zweiter Ordnung ist, kann man

u(x, 0) = f(x), ut(x, 0) = g(x), x ∈ I (6.13)

vorgeben.

Beispiel 6.6

Fur Lu = uxx istut = uxx (6.14)

die Warmeleitungsgleichung , die die Diffusion der Temperatur in einem eindimen-sionalen Medium beschreibt.

Fur Lu = Δu := uxx + uyy istut = Δu (6.15)

die Warmeleitungsgleichung in zwei Raumdimensionen.

Beispiel 6.7

Fur Lu = uxx istutt = uxx. (6.16)

die Wellengleichung. Die Wellengleichung mit Dirichlet Randbedingungen u(a, t) = 0und u(b, t) = 0 beschreibt die Schwingungen einer bei x = a und x = b eingespanntenSaite.

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Kap. 6: Randwertprobleme - 115 -

Fur Lu = Δu := uxx + uyy istutt = Δu (6.17)

die Wellengleichung in zwei Raumdimensionen, die z.B. die Schwingungen einer Membranbeschreibt. �

Im Fall der Gleichung (6.10) fuhrt der Exponentialansatz

u(x, t) = eλtv(x) (6.18)

aufλeλtv(x) = eλtLv(x)

und somit auf das EWPLv = λv.

Im zweiten Fall fuhrt der Exponentialansatz

u(x, t) = eμtv(x) (6.19)

auf das EWPLv = μ2v.

Die Eigenwerte und Eigenfunktionen von L ergeben daher die speziellen Losungen (6.18)bzw. (6.19) der partiellen DG. In beiden Fallen entscheidet der Realteil von λ bzw. von μuber das zeitliche Verhalten dieser speziellen Losungen. Fur Reλ < 0 klingt die Losungfur t → ∞ exponentiell ab, fur Reλ = 0, λ = 0 oszilliert die Losung als Funktion vont und fur Reλ > 0 wachst die Losung exponentiell in t. Falls λ oder μ gleich α + βi istmit β = 0 und v = v1 + iv2 erhalt man durch Zerlegen der komplexen Losung u in Real-und Imaginarteil reelle Losungen.

Separationsansatz

Fur viele lineare partielle Differentialgleichungen erhalt man EWP der Form (6.8) durcheinen sogenannten Separationsansatz. Fur lineare partielle DG der Form (6.10) oder(6.11) sucht man dabei Losungen der Form

u(x, t) = w(t)v(x).

Einsetzen in die Gleichung (6.10) ergibt

wv = wLv.

Divison dieser Gleichung durch vw ergibt

w

w=Lv

v.

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- 116 - Kap. 6: Randwertprobleme

Die linke Seite dieser Gleichung ist eine Funktion von t wahrend die rechte Seite derGleichung nur von x abhangt. Da x und t voneinander unabhangig variieren konnen,kann diese Gleichung nur dann erfult sein, wenn eine Konstante λ ∈ C existiert mit

w

w= λ,

Lv

v= λ.

Daraus folgt

w = λw, Lv = λv.

Daher gilt w(t) = eλt und v(x) ist Eigenfunktion von L zum Eigenwert λ, wobei w undv jeweils noch mit einer Konstante multipliziert werden konnen.

Bei der Gleichung (6.11) fuhrt der Separationsansatz auf

wv = wLv.

Divison dieser Gleichung durch vw ergibt

w

w=Lv

v.

Wie zuvor folgt, dass diese Gleichung nur dann erfult sein kann, wenn eine Konstanteλ ∈ C existiert mit

w

w= λ,

Lv

v= λ.

Daraus folgt

w = λw, Lv = λv

daher muss v(x) Eigenfunktion von L zum Eigenwert λ sein. Wenn man μ durch μ2 = λ

definiert, folgt wieder w(t) = e±μt.In konkreten Realisierungen dieser Situation, z.B. fur Lu = uxx, gilt fur die EW oftλ = −ω2 < 0 mit ω ∈ R, daher folgt μ = ±iω. Aufspalten von w(t) = eiωt in Real- undImaginarteil fuhrt in diesem Fall auf reelle Losungen der Form

u(x, t) = cos(ωt)v(x), u(x, t) = sin(ωt)v(x),

d.h. die Losungen beschreiben zeitliche Schwingungen eines festen Profiles v(x).

Superpositionsprinzip

Fur die linearen partiellen DG (6.10) und (6.11) mit homogenen Randbedingungen gilt:

1. Fur eine Losung u ist auch cu, c ∈ R (C) eine Losung.

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Kap. 6: Randwertprobleme - 117 -

2. Fur Losungen u1, . . . , un ist jede Linearkombination

u = c1u1 + · · · + cnun, ci ∈ R (C), i = 1, . . . , n

eine Losung.

3. Seien u1, u2, u3, . . . abzahlbar unendlich viele Losungen. Dann ist

u(x, t) :=∞∑k=1

ckuk(x, t) (6.20)

ck ∈ R (C), k ∈ N ebenfalls eine Losung, falls es die Konvergenzeigenschaften dieserFunktionenreihe erlauben, das Ausfuhren der in der DG auftretenden Ableitungenmit der Summation zu vertauschen.

Daher kann man versuchen, allgemeinere Losungen solcher partieller DG durch Rei-henentwicklungen der Form (6.20) zu erhalten. Insbesondere kann man versuchen, dieKonstanten ck, k ∈ N so zu bestimmen, dass die Funktion (6.20) die Anfangsbedingun-gen (6.12) bzw. (6.13) erfullt.

Beispiel 6.8 Wir betrachten die Warmeleitungsgleichung

ut = uxx, x ∈ [0, π], t ≥ 0

mit mit den Randbedingungen u(0) = 0 und u(π) = 0. Der Anfangswert von u istvorgegeben, d.h. es soll gelten u(x, 0) = f(x) mit einer gegeben Funktion f : [0, π] → R.

Zunachst untersuchen wir das EWP

uxx = λu, u(0) = 0, u(π) = 0.

Das charakteristische Polynom dieser DG ist

p(μ) = μ2 − λ.

Man unterscheidet drei Falle:

1. Fall: λ > 0, d.h. λ = ω2 mit ω > 0. Die Nullstellen des charakteristischen Polynomssind μ1 = −ω, μ2 = ω. Daher ist u1 = e−ωx, u2 = eωx ein Fundamentalsystem. Wegen

det

(R1u1 R1u2R2u1 R2u2

)= det

(1 1

e−πω eπω

)= eπω − e−πω = 2 sinh(πω) = 0

existiert in diesem Fall keine nichttriviale Losung des RWP. Daher gibt es keine positivenEW.

2. Fall: λ = 0. Die allgemeine Losung der DG ist u(x) = c1 + c2x. Aus den RB folgtc1 = 0 und c2 = 0. Daher ist λ = 0 kein EW.

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- 118 - Kap. 6: Randwertprobleme

3. Fall: λ < 0, d.h. λ = −ω2 mit ω > 0. Die Nullstellen des charakteristischen Polynomssind μ1 = ωi, μ2 = −ωi. Daher ist u1 = cos(ωx), u2 = sin(ωx) ein Fundamentalsystem.Wegen

det

(R1u1 R1u2R2u1 R2u2

)= det

(1 0

cos(πω) sin(πω)

)= sin(πω)

existiert eine nichttriviale Losung des RWP genau fur ω = k, k ∈ N.

Daher existieren abzahlbar unendlich viele Eigenwerte λk = −k2, k ∈ N, die entspre-chenden Eigenfunktionen sind uk = sin kx.

Aus der Theorie der Fourierreihen ist bekannt:

1. Die Eigenfunktionen sin kx sind bezuglich des L2[0, π] Skalarprodukts paarweiseorthogonal, da gilt ∫ π

0

sin kx sin lxdx =

{0, k = l

π2 , k = l.

2. Eine Funktion f ∈ L2[0, π] - genauer ihre ungerade Fortsetzung auf [−π, π] - kannin eine Sinus-Fourierreihe

f(x) =∞∑k=1

ck sin kx

entwickelt werden, wobei die Fourierkoeffizienten ck durch

ck =

√2

π

∫ π

0

f(x) sin kxdx

gegeben sind. Die Fourierreihe konvergiert in L2 gegen f .

3. Fur f ∈ C([0, π],R) mit f(0) = 0, f(π) = 0 und stuckweise stetiger Ableitung f ′

konvergiert die Fourierreihe punktweise gegen f(x). Die Reihe konvergiert absolutund gleichmaßig auf [0, π].

Fur die allgemeine Losung der Warmeleitungsgleichung erhalt man daher die Reihenent-wicklung

u(x, t) =∞∑k=1

cke−k2t sin kx. (6.21)

Die Anfangsbedingung u(x, 0) = f ist genau dann erfullt, wenn die Koeffizienten ck dieFourierkoeffizienten von f sind. Die Losung (6.21) ist zunachst nur eine formale Losung,d.h. sie lost die DG, wenn man die Summation mit den Ableitungen vertauscht. Fur t > 0klingen die Terme cke

−k2t fur k → ∞ sehr schnell ab. Daher kann man zeigen, dass gilt i)u ∈ C∞([0, π]× (0,∞),R) fur f ∈ L2[0, π], ii) u ist die Losung des Anfangswertproblemsfur die Warmeleitungsgleichung.

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Kap. 6: Randwertprobleme - 119 -

Aus der Darstellung (6.21) folgt auch, dass gilt limt→∞ u(x, t) = 0. Dabei klingen die ein-zelnen Fourieranteile der Losung wie e−k2t ab. Daher klingen die hochfrequenten Anteileder Losung extrem schnell ab. �

Beispiel 6.9 In zwei Raumdimensionen ist der Laplaceoperator durch

Lu := uxx + uyy

definiert. Unter den Eigenwerten des Laplaceoperators (mit geeigneten Randbedingun-gen) versteht man die Zahlen λ ∈ R, fur welche die DG

Lu = λu

nichttriviale Losungen u(x, y) hat. Die Funktion u(x, y) heißt dann Eigenfunktion zumEigenwert λ.

Der Separationsansatzu(x, y) = v(x)w(y)

fuhrt aufvxxw + vwyy = λvw.

Division durch vw ergibtvxxv

+wyy

w= λ.

Diese Gleichung kann nur erfullt sein, wenn gilt

vxx = sv, wyy = tw, s + t = λ

mit s, t ∈ R.

Falls die Gleichung auf einem Quadrat B := [0, π] × [0, π] mit homogenen DirichletRandbedingungen

u(x, 0) = 0, u(x, π) = 0, x ∈ [0, π] u(0, y) = 0, u(π, y) = 0, y ∈ [0, π]

gelost werden soll, folgt aus den Randbedingungen

v(0) = 0, v(π) = 0 bzw. w(0) = 0, w(π) = 0,

dass genau fursk = −k2, tl = −l2, k, l ∈ N

nichttriviale Losungenvk(x) = sin kx, wl(y) = sin ly

existieren. Daher hat der Laplaceoperator auf dem Quadrat [0, π]× [0, π] die Eigenwerte

λk,l := −(k2 + l2), k, l ∈ N

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- 120 - Kap. 6: Randwertprobleme

mit den Eigenfunktionenuk,l = sin kx sin ly.

Die Eigenwerte sind daher genau die ganzen Zahlen, die sich als Summe der (negativen)Quadrate zweier naturlicher Zahlen darstellen lassen.

Der kleinste Eigenwert −2 = λ1,1 ist einfach. Der zweite Eigenwert −5 = λ1,2 = λ2,1 istein doppelter EW, da er zwei linear unabhangigen Eigenfunktionen besitzt. Der Eigen-wert

−65 = λ1,8 = λ8,1 = λ4,7 = λ7,4

hat die Vielfachheit vier.

Die Vielfachheit eines Eigenwerts λ hangt daher davon ab, auf wieviele Arten−λ als Sum-me zweier Quadrate naturlicher Zahlen dargestellt werden kann. Solche Fragestellungenund naheliegende Verallgemeinerungen fuhren auf interessante Probleme der Zahlentheo-rie! �

6.5 Sturm-Liouville Eigenwertprobleme

Separationsansatze bei Randwertproblemen fur partielle DG fuhren meist auf EWP mitzusatzlicher Struktur, namlich auf die im folgenden beschriebenen Sturm-Liouville Ei-genwertprobleme.

Definition 6.5 Sei I = [a, b], p ∈ C1(I,R) und q, r ∈ C(I,R). Unter einemSturm-Liouville Eigenwertproblem (SLEWP) versteht man das Eigenwert-problem

Lu := −(pu′)′ + qu = λru. (6.22)

Im Fall p(x) > 0, r(x) > 0 fur x ∈ I ist das SLEWP regular und man stellt dieRandbedingungen

R1u := α1u(a) + β1p(a)u′(a) = 0, α2

1 + β21 = 1

R2u := α2u(b) + β1p(b)u′(b) = 0, α2

2 + β22 = 1.

Falls das Intervall unbeschrankt ist oder eine der Funktionen p, r Nullstellen hatspricht man von einem singularen SLEWP.

Im folgenden werden die wichtigsten Eigenschaften von regularen SLEWP untersucht.Wir werden zeigen, dass die Eigenwerte und die Eigenfunktionen eines regularen SLEWPreell sind und dass sie ganz ahnliche Eigenschaften wie in Beispiel 6.8 haben, d.h. dassgilt:

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Kap. 6: Randwertprobleme - 121 -

1. Es existieren unendlich viele Eigenwerte λ1 < λ2 < λ3 < · · · mit limk→∞ λk = ∞.

2. Alle EW sind einfach.

3. Die Eigenfunktionen u1, u2, u3, . . . sind paarweise orthogonal und spannen den RaumL2[a, b] auf.

Separationsansatze fur den Laplaceoperator in Polarkoordinaten, Kugelkoordinaten, Zy-linderkoordinaten, etc. fuhren auf singulare SLEWP. Diese spielen daher in vielen An-wendungen eine wichtige Rolle. Fur singulare SLEWP gelten ahnliche Resultate, dieallerdings einen hoheren technischen Aufwand erfordern. So ist z.B. fur p(a) = 0 oderp(b) = 0 bzw. auf unbeschrankten Intervallen die Charakterisierung von sinnvollen Rand-bedingungen zunachst unklar.

Beispiel 6.10 In Polarkoordinaten x = r cosϕ, y = r sinϕ hat das EWP

−Δu = λu

fur den (negativen) Laplaceoperator die Form

−1

r(rur)r − 1

r2uϕϕ = λu.

Der Separationsansatzu(r, ϕ) = v(r)w(ϕ)

fuhrt auf

−1

r(rvr)rw − v

1

r2wϕϕ = λvw.

Dabei muss w eine 2π periodische Funktion sein. Multiplikation mit r2

vw ergibt

−r(rvr)rv

− wϕϕ

w= λr2.

Dies ist nur moglich, wenn ein c ∈ R existiert mit

−wϕϕ = cw.

−r(rvr)r + cv = λr2v.

Wegen der der geforderten 2π-Periodizitat von w hat diese DG fur w genau die Losungen

ck = k2, wk = ak sin kϕ + bk cos kϕ, ak, bk ∈ R, k ∈ N.

Fur v erhalt man das SLEWP

−(rvr)r +k2

rv = λrv (6.23)

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- 122 - Kap. 6: Randwertprobleme

mit p(r) = r, q(r) = k2/r und der Gewichtsfunktion r(r) = r. Bei r = 0 ist diesesSLEWP singular, da p(0) = 0 gilt und q einen Pol bei r = 0 hat. �

Ausfuhren der Ableitung in Gleichung (6.23) und Multiplikation mit r ergibt die DG

r2v′′ + rv′ + (λr2 − k2)v = 0

Durch Umbenennen und Skalieren der unabhangigen Variable

r =x√λ

und Umbenennen von v zu y erhalt man die Besselsche Differentialgleichung

x2y′′ + xy′ + (x2 − k2)y = 0, k ∈ N. (6.24)

Ihre Losungen sind die Besselfunktionen, ein wichtiges Beispiel fur die sogenanntenspeziellen Funktionen der mathematischen Physik. Weitere durch Separations-ansatze gewonnene DG, die wichtige spezielle Funktionen definieren, sind:

1. Legendresche Differentialgleichung

((1 − x2)y′)′ + n(n + 1)y = 0, n ∈ N0, (6.25)

2. Laguerresche Differentialgleichung

xy′′ + (1 − x)y′ + ny = 0, n ∈ N0, (6.26)

3. Hermitesche Differentialgleichung

y′′ − 2xy′ + ny = 0, n ∈ N0. (6.27)

Satz 6.12 Ein regulares Sturm-Liouville Differentialoperator L ist symmetrischbezuglich des L2[a, b] Skalarprodukts, d.h. es gilt

〈Lu, v〉 = 〈u, Lv〉fur alle u, v ∈ C2(I,C), welche die homogenen Randbedingungen erfullen.

Beweis: Man muss mit dem Skalarprodukt

〈u, v〉 :=∫ b

a

u(x)v(x)dx

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Kap. 6: Randwertprobleme - 123 -

arbeiten, da die Eigenwerte und Eigenfunktionen zunachst auch komplex sein konnten.Erst aus der Symmetrie wird folgen, dass die Eigenwerte und Eigenfunktionen reell sind.

Da p, q reell sind, gilt

Luv − uLv = −(pu′)′v + quv + u(pv′)′ − uqv =

= −pu′′v − p′u′v + upv′′ + up′v′ = (p(−u′v + uv′))′.

Daraus folgt ∫ b

a

(Luv − uLv)dx = p(−u′v + uv′)|ba.

Aus den homogenen Randbedingungen folgt

p(−u′v + uv′) = 0 fur x = a, x = b.

Fur Dirichlet oder Neumann RB ist dies offensichtlich. Fur gemischte RB gilt bei x = a

α1u(a) + β1p(a)u(a) = 0, α1v(a) + β1p(a)v(a) = 0

mit (α1, β1) = (0, 0). Aus

p(a)u′(a) = −α1

β1u(a), p(a)v′(a) = −α1

β1v(a)

folgt durch Einsetzen das Verschwinden des Randterms bei x = a (und analog bei x = b).Damit ist der Satz bewiesen. �Die Wronski Determinante von zwei Losungen einer Sturm-Liouville DG hat folgendespezielle Eigenschaft.

Lemma 6.1 Es seien u1, u2 zwei beliebige Losungen einer DG Lu = 0 inSturm-Liouville Form. Dann gilt

p(x)W (x) = p(x)[u1(x)u′2(x) − u′1(x)v2(x)]

ist konstant in [a, b].

Beweis: Man rechnet nach, dass gilt (p(x)W (x))′ = 0. �Aus der Symmetrie von L folgt, dass die Eigenwerte und Eigenfunktionen reell sind. Esgilt

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- 124 - Kap. 6: Randwertprobleme

Satz 6.13 Fur regulare SLEWP gilt:

1. Die Eigenwerte sind reell und einfach.

2. Die Eigenfunktionen sind reell.

3. Eigenfunktionen u, v zu verschiedenen EW sind r-orthogonal, d.h.∫ b

a

r(x)u(x)v(x)dx = 0.

Beweis: ad 1) Es gelte Lu = λru. Da r reell ist gilt

λ〈ru, u〉 = 〈Lu, u〉 = 〈u, Lu〉 = 〈u, λru〉 = λ〈ru, u〉.Wegen 〈ru, u〉 = 0 folgt λ = λ, d.h. λ ∈ R.Angenommen der EW λ ist nicht einfach. Dann gibt es zwei l.u. Eigenfunktionen u, vmit

Lu = λru, Lv = λrv,

d.h. u, v sind l.u. Losungen der homogenen linearen DG zweiter Ordnung.

−(p(x)y′)′ + (q(x) − λr(x))y = 0.

Nach Lemma 6.1 gilt fur die Wronski Determinante w = (uv′ − u′v)

p(x)w(x) = const.

Aus den Randbedingungen

α1u(a) + β1p(a)u′(a) = 0

α1v(a) + β1p(a)v′(a) = 0

und (α1, β1) = (0, 0) folgt p(a)w(a) = 0. Wegen p(a) = 0 folgt w(a) = 0. Aus w(a) = 0folgt w(x) = 0 fur x ∈ I und auch, dass u und v linear abhangig sind. Widerspruch.

ad 2) Sei u eine komplexwertige Eigenfunktion zum EW λ ∈ R. Da p, q, r reell sindsind dann u1 := Reu und u2 := Imu zwei reelle Eigenfunktionen. Aus 1) folgt, dassdiese beiden Eigenfunktionen linear abhangig sein mussen, d.h. es existiert s ∈ R mitu2 = su1. Daraus folgt

u = u1 + isu1 = (1 + is)u1,

d.h. u ist ein konstantes Vielfaches der reellen Eigenfunktion u1. Daher sind Eigenfunk-tionen - bis auf Multiplikation mit einer komplexen Zahl - reell.

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 6: Randwertprobleme - 125 -

ad 3) Es seien u und v reelle Eigenfunktionen zu den reellen EW λ und μ mit λ = μ.Dann gilt

λ〈ru, v〉 = 〈Lu, v〉 = 〈u, Lv〉 = 〈u, μrv〉 = μ〈ru, v〉und weiter

(λ − μ)〈ru, v〉 = 0.

Daher sind u und v r-orthogonal. �Im weiteren spielt die Greensche Funktion eines Sturm Liouville Problems eine wichtigeRolle.

Satz 6.14 Es sei L ein regularer Sturm-Liouville Differentialoperator mit derEigenschaft, dass λ = 0 kein Eigenwert ist. Dann existiert die Greensche Funk-tion G(x, s) von L. Es gilt

1. G(x, s) ist symmetrisch, d.h.

G(x, s) = G(s, x), (x, s) ∈ [a, b] × [a, b].

2. Sei u1, u2 Losungen von Lu = 0, die R1u1 = 0 bzw. R2u2 = 0 erfullen.Dann gilt

G(x, s) =

⎧⎨⎩

1Ku2(s)u1(x), a ≤ x ≤ s ≤ b

1Ku1(s)u2(x), a ≤ s ≤ x ≤ b.

(6.28)

mit der Konstanten K := −p(x)[u1(x)u′2(x) − u′1(x)u2(x)].

Beweis: Die Voraussetzung, dass λ = 0 kein Eigenwert von L ist, ist aquivalent zuder Bedingung, dass das homogene RWP Lu = 0 nur die triviale Losung hat. Dahersind die Voraussetzungen von Satz 6.10 erfullt. Die Darstellung (6.7) mit a2 = −p undLemma 6.1 ergibt die behauptete Formel fur G(x, s), aus der auch die Symmetrie folgt.

�Anmerkung: Die Symmetrie von G folgt allgemeiner aus der Symmetrie von L, daG(x, s) der Integralkern der Inversen von L ist. Dies sieht man folgendermaßen. Es seienu und v Losungen der RWP

Lu = f und Lv = g

mit beliebigen reellen Funktionen f, g ∈ C[a, b]. Dann gilt

u(x) =

∫ b

a

G(x, s)f(s)ds und v(x) =

∫ b

a

G(x, s)g(s)ds.

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 126 - Kap. 6: Randwertprobleme

Weiters gilt (unter Verwendung der Integrationsvariable x im L2 Skalarprodukt)

〈Lu, v〉 =∫ b

a

[f(x)

∫ b

a

G(x, s)g(s)ds ] dx =

∫ b

a

∫ b

a

G(x, s)f(x)g(s)d(x, s)

und (unter Verwendung der Integrationsvariable s im L2 Skalarprodukt)

〈u, Lv〉 =∫ b

a

[

∫ b

a

G(s, x)f(x)dx g(s) ] ds =

∫ b

a

∫ b

a

G(s, x)f(x)g(s)d(x, s).

Die Gleichheit der iterierten Integrale mit den zweidimensionalen Integralen gilt wegender Stetigkeit alle auftretenden Funktionen. Aus

〈Lu, v〉 = 〈u, Lv〉folgt ∫ b

a

∫ b

a

G(x, s)f(x)g(s)d(x, s) =

∫ b

a

∫ b

a

G(s, x)f(x)g(s)d(x, s).

Da die Funktionen f und g beliebig waren, muss gelten

G(x, s) = G(s, x).

Die folgenden zwei Satze enthalten die wichtigsten Aussagen uber SLEWP.

Satz 6.15 [ Existenz- und Oszillationssatz ]

Fur regulare Sturm-Liouville Eigenwertprobleme gilt:

1. Es existieren abzahlbar unendlich viele Eigenwerte λ0 < λ1 < λ2 < . . . mit

limn→∞λn = ∞

und Eigenfunktionen un, n ∈ N0.

2. Die Eigenwerte sind einfach.

3. Die Eigenfunktion un, n ∈ N0 hat n Nullstellen in (a, b). Zwischen zweiaufeinanderfolgenden Nullstellen von un liegt eine Nullstelle von un+1.

Aus dem Satz folgt auch, dass i) die Eigenwerte nach unten beschrankt sind und ii) nurendlich viele Eigenwerte negativ sein konnen. Falls alle Eigenwerte positiv sind, sagt mander Operator L ist positiv (definit), was aquivalent zu 〈Lu, u〉 > 0 ist.

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 6: Randwertprobleme - 127 -

Die Eigenfunktionen un, n ∈ N0 konnen bezuglich des mit der Funktion r(x) gewichtetenL2-Skalarprodukts normiert werden, sodass gilt∫ b

a

r(x)u2n(x)dx = 1.

Ganz analog zu den Sinus-Fourierreihen in Beispiel 6.8 bilden die Eigenfunktionen einesSLEWP ein vollstandiges Orthogonalsystem.

Satz 6.16 [ Entwicklungssatz ]

Fur regulare Sturm-Liouville Eigenwertprobleme gilt:

1. Die normierten Eigenfunktionen un, n ∈ N0 bilden bezuglich des mit derFunktion r(x) gewichteten L2-Skalarprodukts ein Orthonormalsystem, d.h.∫ b

a

r(x)um(x)un(x)dx =

{1, n = m

0, n = m.

2. Jede Funktion f ∈ C1(I,R) mit R1u = 0 und R2u = 0 lasst sich in einepunktweise konvergente Fourierreihe

f(x) =∞∑n=0

cnun(x)

entwickeln. Dabei sind die Fourierkoeffizienten durch

cn :=

∫ b

a

r(x)f(x)un(x)dx, n ∈ N0

gegeben. Die Reihe konvergiert absolut und gleichmassig.

3. Die Funktionen u0, u1, u2, . . . bilden eine vollstandige Orthonormalbasis des(mit r gewichteten) Hilbertraums L2[a, b], d.h. fur f ∈ L2[a, b] konvergiertdie Fourierreihe

∑∞n=0 cnun in der (mit r gewichteten) L2-Norm gegen f .

Anmerkung: 1) Fur singulare SLWEP gelten ganz ahnliche Resultate. Das Spektrumvon L kann dann aber auch kontinuierliche Anteile besitzen. Die Entwicklung nach Ei-genfunktionen enthalt dann Integralanteile.

2) Die mit r(x) > 0 gewichtete L2-Norm ist aquivalent zur ublichen (ungewichteten)L2-Norm. Daher bilden die Eigenfunktionen auch bezuglich der ublichen L2-Norm eineBasis des L2.

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1

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- 128 - Kap. 6: Randwertprobleme

Fur diese beiden Satze gibt es verschiedene Beweismethoden. Hier wird der Beweis vonSatz 6.15 unter Verwendung von Methoden der gewohnlichen DG, die in der Vorlesungentwickelt wurden, gefuhrt. Der Beweis von Satz 6.16 stutzt sich auf den Spektralsatzfur kompakte selbstadjungierte Operatoren. Dabei wird der Spektralsatz allerdings nichtauf L sondern auf L−1 angewandt. Dabei wird L−1 unter Verwendung der GreenschenFunktion von L als Integraloperator auf L2[a, b] dargestellt. Dieser Zugang hat den Vorteilder großeren Allgemeinheit und der Erweiterbarkeit auf Eigenwertprobleme fur partielleDG. Andererseits liefert der hier gefuhrte Beweis von Satz 6.15 mehr Details, z.B. uberdie Nullstellen der Eigenfunktionen und das asymptotische Verhalten der Eigenwerte undEigenfunktionen fur λ → ∞.

Beweis: (von Satz 6.15) Untersucht wird das regulare SLEWP

Lu := −(pu′)′ + qu = λru. (6.29)

mit den Randbedingungen

R1u = α1u(a) + β1p(a)u′(a) = 0, α2

1 + β21 = 1

R2u = α2u(b) + β1p(b)u′(b) = 0, α2

2 + β22 = 1.

Diese skalare DG 2. Ordnung wird als lineares System 1. Ordnung in den Variablen (u, v)mit v := pu′ geschrieben. Dies ergibt

u′ = 1p(x)v

v′ = (q(x) − λr(x))u.(6.30)

Die Randbedingungen lauten(u(a)v(a)

)(α1

β1

)= 0,

(u(b)v(b)

)(α2

β2

)= 0.

Im weiteren wird (u, v) in Polarkoordinaten (ρ, φ) dargestellt. Man setzt

u = ρ sinφ, v = ρ cosφ.

Diese (etwas unubliche) Form der Polarkoordinaten hat den (kleinen) Vorteil, dass φ sichals eine wachsende Funktion von x erweisen wird.Das folgende Argument zeigt, dass die Variable φ die wesentliche Information enthalt.Mit (u(x), v(x)) ist jedes Vielfache (su(x), sv(x)), s ∈ R Losung der linearen DG (6.30).Daher entspricht jeder Losung (u, v) an jeder Stelle x ∈ [a, b] ein eindimensionaler Un-terraum U(x) ⊂ R

2, der durch seine “Richtung”, d.h. durch φ eindeutig bestimmt ist.Der Randbedingung R1 = 0 entspricht dabei der Raum U(a) orthogonal zu (α1, β1),U(b) ist orthogonal zu (α2, β2). Fur den Winkel φ ergibt dies die Randbedingung

φ(a) = ϕ1, φ(b) = ϕ2 mod(π), (6.31)

Differentialgleichungen 1 Ed. 2013

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Kap. 6: Randwertprobleme - 129 -

mit eindeutig bestimmten Winkeln ϕ1 ∈ [0, π) und ϕ2 ∈ (0, π].Die unterschiedliche Definition bei φ = 0 bzw. φ = π ist im Folgenden vorteilhaft, daz.B. den RB u(a) = 0, u(b) = 0 die RB ϕ1 = 0 und ϕ2 = π entsprechen. Allgemeinergilt u(x) = 0 genau dann, wenn φ(x) = kπ mit k ∈ Z gilt. Diese Eigenschaften spielenim weiteren eine zentrale Rolle.

Fur ρ, φ gelten die DG

ρ′ = cosφ sinφ(1

p+ q − λr)ρ (6.32)

und

φ′ =1

pcos2 φ + (λr − q) sin2 φ =: f(x, φ, λ). (6.33)

Die Gleichung fur φ hangt nicht von ρ ab. Falls φ bekannt ist, kann ρ als Losung einerskalaren linearen DG berechnet werden. Insbesondere gilt ρ(x) = 0 falls ρ(a) = 0 gilt. Inder DG (6.33) multipliziert der Eigenwert λ einen nichtnegativen Term und ubt dahereine “monotone” Wirkung auf das Richtungsfeld aus, d.h.

λ1 < λ2 =⇒ f(x, φ, λ1) ≤ f(x, φ, λ2)

mit strikter Ungleichung fur φ = kπ. Offensichtlich dominiert in f(x, φ, λ) fur |λ| großder Term λrsin2φ.

Es sei φ(x, λ) die Losung der DG (6.33) mit der Anfangsbedingung φ(a, λ) = ϕ1. DieseFunktion entspricht Losungen der DG (6.29), die die Randbedingung R1u = 0 erfullen.Da die C1 Funktion f(x, φ, λ) fur x ∈ [a, b] und φ ∈ R beschrankt ist, existiert φ(x, λ) furx ∈ [a, b] und λ ∈ R und ist zumindest einmal stetig differenzierbar bezuglich x und λ.Tatsachlich ist φ(x, λ) sogar analytisch bezuglich λ, was aber im weiteren nicht benutztwird. Der Beweis von Satz 6.15 beruht auf der Untersuchung der Funktion φ(x, λ) undspeziell von φ(b, λ), denn aus den obigen Uberlegungen folgt unmittelbar

Lemma 6.2 Eine Zahl λ ist Eigenwert genau dann, wenn gilt

φ(b, λ) = ϕ2 + kπ, k ∈ Z.

Die Gleichung φ(b, λ) = ϕ2 + kπ bedeutet, dass die φ(x, λ) entsprechende Funktionu(x, λ) auch die Randbedingung R2u = 0 erfullt und somit eine Eigenfunktion ist. Wirwerden zeigen, dass genau fur k ∈ N0 ein Eigenwert λk existiert und dass beim Ubergangvon einem Eigenwert zum nachsten der Winkel φ(b, λ) genau um π zunimmt. Dies erklartauch, warum die Eigenfunktion uk+1 eine Nullstelle mehr als die Eigenfunktion uk besitzt.Dafur sind die folgenden Eigenschaften der Funktion φ(x, λ) wesentlich.

Ed. 2013 Differentialgleichungen 1