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Kapitel 5
Differentialrechnung fur
Funktionen einer reellen
Veranderlichen
Die Grundidee der Differentialrechnung ist die Approximation einer Funktion in der Umge-
bung eines Punktes durch lineare Abbildungen. Dadurch kann man viele Aussagen uber das
lokale Verhalten der Funktion machen.
5.1 Differenzierbare Abbildungen
Sei E ein reeller normierter Vektorraum, U ⊂ R und x0 ∈ U Haufungspunkt von U .
Definition 5.1 Eine Abbildung f : U ⊂ R −→ E heißt differenzierbar im Haufungspunkt
x0 ∈ U , falls der Grenzwert
f ′(x0) :=df
dx(x0) := lim
x→x0
f(x) − f(x0)
x − x0
existiert. Dieser Grenzwert heißt Ableitung von f in x0.
Bemerkung: Ist U offen oder ein Intervall, so ist jeder Punkt von U ein Haufungspunkt.
Definition 5.2 Sei jeder Punkt der Menge U ⊂ R ein Haufungspunkt. f : U −→ E heißt
auf U differenzierbar, falls f in jedem Punkt x0 ∈ U differenzierbar ist. In diesem Fall heißt
die Abbildung
f ′ : U ⊂ R −→ E
x 7→ f ′(x)
1. Ableitung von f .
Geometrische Interpretation: Die Motivation fur die Entwicklung der Differentialrech-
nung durch Leibniz war das Tangentenproblem: Man approximiere eine gegebene Kurve
moglichst gut durch eine Gerade, die durch einen festen Punkt der Kurve geht.
1
Sei f : U −→ E, x0 ∈ U . Wir betrachten die Sekante
durch P0 = (x0, f(x0)) und P = (x0 + h, f(x0 + h)).
Dies ist die Gerade, die durch die Abbildung
Sh(x) := f(x0) +f(x0 + h) − f(x0)
h︸ ︷︷ ︸
Anstieg
·(x − x0)
gegeben ist.
-
6
X
E
• •
x0 x0 + h
f(x0)
graph(Tx0)
graph(Sh)
graph(f)
Was passiert mit den Sekanten Sh bei h → 0 ? Ist f in x0 differenzierbar, so gilt
f ′(x0) = limh→0
f(x0 + h) − f(x0)
h,
das heißt, bei h → 0 konvergieren die Anstiege der Sekanten gegen f ′(x0). Somit konvergieren
die Sekanten Sh bei h → 0 gegen die Geraden, die durch die Funktion
Tx0(x) := f(x0) + f ′(x0)(x − x0)
gegeben sind. Die durch Tx0definierte Gerade heißt Tangente an die Kurve graph(f) im
Punkt P0. Tx0 ”approximiert f in erster Naherung in einer Umgebung um x0 “, das heißt,
es gilt
(1) f(x0) = Tx0(x0),
(2) limx→x0
f(x)−Tx0(x0)
x−x0= 0.
Bemerkung: In der Mechanik wurde die Differentialrechnung insbesondere durch Newton
benutzt, um ein mathematisches Modell fur Großen wie die Geschwindigkeit oder die Be-
schleunigung zu entwickeln. Sei zum Beispiel P ein Massepunkt und s(t) ∈ R3 gebe den Ort
von P zur Zeit t an. Dann ist die Ortsanderung pro Zeiteinheit
s(t) − s(t0)
t − t0.
Folglich gibt s′(t0) = limt→t0
s(t)−s(t0)t−t0
die Geschwindigkeit von P zur Zeit t = t0 an.
Satz 5.1 Sei f : U ⊂ R −→ E. Ist f in einem Haufungspunkt x0 ∈ U differenzierbar, so ist
f in x0 stetig.
Beweis: Sei (xn) ⊂ U eine Folge die gegen x0 konvergiert. Es ist zu zeigen, dass dann auch
(f(xn)} gegen f(x0) konvergiert. Es gilt
‖f(xn) − f(x0)‖ = |xn − x0|∥∥∥∥
f(xn) − f(x0)
xn − x0
∥∥∥∥
n→∞−→ 0 · ‖f ′(x0)‖.
Somit ist f(xn)) gegen f(x0) konvergent. 2
Folgerung 5.1 Sei jeder Punkt von U ⊂ R ein Haufungspunkt. Ist f : U −→ E differen-
zierbar, so ist f : U −→ E stetig.
2
Rechenregeln fur differenzierbare Funktionen
Satz 5.2 Sei K = R, C und E ein normierter K-Vektorraum. Sei weiterhin U ⊂ R und
x0 ∈ U sei Haufungspunkt von U . Die Abbildungen f, g : U −→ E und h : U −→ K seien in
x0 differenzierbar. Dann gilt:
(1) – Summenregel
f + g : U −→ E ist in x0 differenzierbar und
(f + g)′(x0) = f ′(x0) + g′(x0).
(2) – Produktregel
h · f : U −→ E ist in x0 differenzierbar und
(h · f)′(x0) = h′(x0) · f(x0) + h(x0) · f ′(x0).
(3) – Quotientenregel
Sei weiterhin h(x0) 6= 0. Dann ist fh
: {x ∈ U | h(x) 6= 0} → K in x0 differenzierbar
und (f
h
)′
(x0) =f ′(x0)h(x0) − h′(x0)f(x0)
h2(x0).
Insbesondere gilt auch(
1
h
)′
(x0) = − h′(x0)
h2(x0).
Beweis: (1) Da f und g in x0 stetig sind, folgt durch Limesbildung aus
f(x) + g(x) − (f(x0) + g(x0))
x − x0=
f(x) − f(x0)
x − x0+
g(x) − g(x0)
x − x0.
sofort die Behauptung.
(2) Wegen der Stetigkeit von f und h in x0 folgt auch hier wieder mit Limesbildung aus
(h · f)(x) − (h · f)(x0)
x − x0= h(x) · f(x) − f(x0)
x − x0+
h(x) − h(x0)
x − x0· f(x0).
die Behauptung.
(3) Es gilt
( 1h)(x) − ( 1
h)(x0)
x − x0=
1h(x) − 1
h(x0)
x − x0=
h(x0) − h(x)
x − x0· 1
h(x)h(x0)
x→x0−→ −h′(x0) ·1
h2(x0).
Durch Limesbildung folgt dann die zweite Behauptung. Mit Hilfe der Produktregel erhalt
man sofort die Quotientenregel. 2
Beispiel 1
Jedes Polynom P (x) = xnan + xn−1an−1 + . . . + a0, ai ∈ E fur alle i ∈ {0, . . . , n}, ist auf R
differenzierbar und es gilt
P ′(x) = nanxn−1 + (n − 1)an−1xn−2 + . . . + 2a2x + a1,
denn f(x) = x ist differenzierbar und f ′(x) = 1 nach Definition. Dann ist auch
fk(x) = xk = x · . . . · x︸ ︷︷ ︸
k−mal
differenzierbar und nach Satz 5.2 gilt f ′k(x) = k · xk−1.
3
Beispiel 2
Sei
R(x) =P (x)
Q(x)=
a0 + a1x + . . . + anxn
b0 + b1x + . . . + bmxm
eine rationale Funktion auf R \ {x ∈ R | Q(x) = 0} und ai, bj ∈ R oder ai, bj ∈ C. Dann ist
R : R \ {x ∈ R | Q(x) = 0} −→ R (C) differenzierbar.
Satz 5.3 (Kettenregel) Seien U1, U2 ⊂ R, f : U1 −→ E, g : U2 −→ U1 und E ein
normierter Vektorraum. Sei g in einem Haufungspunkt x0 ∈ U2 differenzierbar und sei f im
Haufungspunkt g(x0) ∈ U1 differenzierbar. Dann ist f ◦ g : U2 −→ E in x0 differenzierbar
und es gilt 1
(f ◦ g)′(x0) = g′(x0) · f ′(g(x0)).
Beweis: Fur g(x) 6= g(x0) gilt
(f ◦ g)(x) − (f ◦ g)(x0)
x − x0=
g(x) − g(x0)
x − x0· f(g(x)) − f(g(x0))
g(x) − g(x0).
Sei (xn) eine gegen x0 konvergente Folge mit xn 6= x0 fur alle n ∈ N.
(1) Sei g(xn) 6= g(x0) fur alle n ≥ n0. Da g in x0 stetig ist, folgt dann g(xn)n→∞−→ g(x0).
Folglich gilt
f(g(xn)) − f(g(x0))
xn − x0
n→∞−→ f ′(g(x0)) · g′(x0).
(2) Es gelte nun g(xn) = g(x0) fur unendlich viele n ∈ N. Da g in x0 und f in g(x0)
differenzierbar ist, gilt
g′(x0) = limn→∞
g(xn) − g(x0)
xn − x0= 0,
und wegen
f(g(xn)) − f(g(x0))
xn − x0= 0 = g′(x0) · f ′(g(x0))
fur alle n mit g(xn) = g(x0), gilt die Behauptung auch fur den zweiten Fall. 2
Satz 5.4 (Ableitung der inversen Abbildung) Es seien U1, U2 ⊂ R und f : U1 −→ U2
sei bijektiv. Sei x0 ∈ U1 ein Haufungspunkt von U1 und f(x0) ∈ U2 ein Haufungspunkt von
U2. Es gelte:
(1) f−1 ist in f(x0) stetig,
(2) f ist in x0 differenzierbar und f ′(x0) 6= 0.
Dann ist f−1 : U2 −→ U1 in f(x0) differenzierbar und es gilt
(f−1)′(f(x0)) =1
f ′(x0).
1Die Reihenfolge der Faktoren wurde so gewahlt, weil man die Vektoren aus E nach Vereinbarung von
links mit den Skalaren multipliziert.
4
Beweis: Fur y ∈ U2 mit y = f(x) gilt
f−1(y) − f−1(f(x0))
y − f(x0)=
x − x0
f(x) − f(x0)=
1f(x)−f(x0)
x−x0
.
Sei nun (yn) = (f(xn)) eine Folge in U2, die gegen f(x0) konvergiert. Da f−1 in f(x0) stetig
ist, konvergiert xn = f−1(yn) gegen x0 = f−1(f(x0)). Da f in x0 differenzierbar ist, folgt
dannf−1(yn) − f−1(f(x0))
yn − f(x0)
n→∞−→ 1
f ′(x0).
2
Bemerkung: Satz 5.4 gilt nicht ohne die Voraussetzung f ′(x0) 6= 0, denn sei zum Beispiel
f : R −→ R
x 7→ x3.
Dann ist f bijektiv und differenzierbar. Es gilt f(0) = 0 und f ′(0) = 0. Die inverse Abbildung
f−1 : R −→ R
x 7→ 3√
x
ist in 0 nicht differenzierbar, denn der Grenzwert fur x gegen 0 von
f−1(x) − f−1(0)
x=
3√
x
x=
13√
x2
existiert nicht in R.
Ableitungen elementarer Funktionen
(1) Die Exponentialfunktion
exp : R −→ R
x 7→ ex =
∞∑
n=0
xn
n!
ist differenzierbar und es gilt (ex)′ = ex.
Beweis: Die Potenzreihe
eh − 1
h=
∞∑
n=1
hn−1
n!= 1 +
h
2!+
h2
3!+ . . .
ist auf cl(K(0, 1)) gleichmaßig konvergent. Deswegen sind lim und∑
vertauschbar und es
gilt
limh→0
eh − 1
h= 1
und folglich
exp′(x0) = limh→0
ex0+h − ex0
h= lim
h→0ex0 · eh − 1
h= ex0 .
2
5
(2) Die Logarithmusfunktion
ln : R+ −→ R
x 7→ ln(x)
ist differenzierbar und es gilt ln′(x) = 1x.
Beweis: ln ist die Umkehrfunktion von exp : R −→ R+, ln ist stetig, exp ist differenzierbar
und exp′(x) = exp(x) 6= 0 fur alle x ∈ R. Somit sind die Voraussetzungen des Satzes 5.4
erfullt und es folgt
ln′(ex) =1
(ex)′=
1
ex.
Somit ist
ln′(y) =1
y∀ y ∈ R
+.
2
(3) Die Potenzfunktion
Wir betrachten fur a ∈ R die Funktion
pa : R+ −→ R
x 7→ xa = eln(x)·a.
pa ist differenzierbar und p′a(x) = a · xa−1.
Beweis: Nach der Kettenregel (Satz 5.3) gilt:
p′a(x) = exp′(ln(x) · a) · a · ln′(x) = eln(x)·a · a · 1
x=
xa
x· a = a · xa−1.
2
(4) Die Exponentialfunktion zur Basis a
Die Funktion
expa : R −→ R+
x 7→ ax = eln(a)·x
ist fur a ∈ R+ differenzierbar und es gilt
(expa)′(x) = eln(a)·x · ln(a) = ln(a) · ax.
2
(5) Sinus-und Cosinusfunktion
Die Funktionen cos, sin : R −→ R sind differenzierbar und es gilt
cos′(x) = − sin(x), sin′(x) = cos(x).
6
Beweis: Die Reihen∞∑
n=0(−1)n x2n+1
(2n+1)! = sin(x) und∞∑
n=0(−1)n x2n
(2n)! = cos(x) sind gleichmaßig
konvergent auf jeder kompakten Menge. Es folgt
limh→0
sin(h)
h=
∞∑
n=0
(−1)n 1
(2n + 1)!· lim
h→0h2n = 1
und
limh→0
cos(h) − 1
h=
∞∑
n=1
(−1)n limh→0
h2n+1
(2n)!= 0.
Daher gilt
sin(x + h) − sin(x)
h=
sin(x) cos(h) + cos(x) sin(h) − sin(x)
h
= cos(x)sin(h)
h+ sin(x)
cos(h) − 1
hh→0−→ cos(x)
und
cos(x + h) − cos(x)
h=
cos(x) cos(h) − sin(x) sin(h) − cos(x)
h
= cos(x)cos(h) − 1
h− sin(x)
sin(h)
hh→0−→ − sin(x).
2
(6) Die Funktionen sinh und cosh
Die Funktionen sinh, cosh : R −→ R sind differenzierbar und es gilt (sinh)′(x) = cosh(x),
(cosh)′(x) = sinh(x).
Beweis: Nach Definition gilt
sinh(x) =1
2
(ex − e−x
)und cosh(x) =
1
2
(ex + e−x
)
Daraus folgt sofort
(sinh)′(x) =1
2(ex + e−x) = cosh(x),
(cosh)′(x) =1
2(ex − e−x) = sinh(x).
2
Definition 5.3 Sei f : U ⊂ R −→ E differenzierbar und x0 ∈ U ein Haufungspunkt von U .
f heißt in x0 2-mal differenzierbar, falls die Ableitung von f ′ : U −→ E in x0 existiert.
Bezeichnung: limh→0
f ′(x0+h)−f ′(x0)h
=: f ′′(x0)
Bemerkung: Allgemein definiert man die n–te Ableitung f (n)(x0) als Ableitung
(f (n−1))′(x0), falls die (n − 1)–te Ableitung f (n−1) : U −→ E existiert (und differenzierbar
7
ist).
Bezeichnung: f (n)(x0) = dnfdxn (x0).
Definition 5.4 Eine Abbildung f : U ⊂ R −→ E heißt stetig differenzierbar, wenn f
auf U differenzierbar und f ′ : U −→ E stetig ist. f : U ⊂ R −→ E heißt n–mal stetig
differenzierbar, falls alle Ableitungen f (1), f (2), . . . , f (n) existieren und stetig sind.
Eine Abbildung f : U ⊂ R −→ E heißt glatt, wenn sie beliebig oft differenzierbar ist, das
heißt, wenn fur alle n ∈ N die Ableitungen f (n) existieren (und stetig sind).
Bezeichnung: C(k)(U ;E) bezeichne den Vektorraum aller k-fach stetig differenzierbaren
Abbildungen von U nach E. C∞(U ;E) bezeichne den Vektorraum aller glatten Abbildungen
von U nach E.
Beispiel 1
Wir betrachten die Funktion f : R −→ R definiert durch
f(x) :=
{
x2 sin( 1x), falls x 6= 0
0, falls x = 0.
Die Funktion f ist differenzierbar und f ′ ist in 0 unstetig: Wenn x 6= 0 ist, dann ist
f ′(x) = 2x · sin(
1
x
)
+ x2 · cos
(1
x
)
·(
− 1
x2
)
= 2x · sin(
1
x
)
− cos
(1
x
)
.
Sei nun x = 0. Dann gilt
f(h) − f(0)
h=
h2 · sin( 1h)
h= h · sin
(1
h
)
︸ ︷︷ ︸
beschrankt
h→0−→ 0
und daher f ′(0) = 0. Da cos( 1x) fur x gegen 0 keinen Grenzwert hat, hat auch f ′ keinen
Grenzwert in x = 0. Somit ist f ′ nicht stetig in x = 0. Insbesondere ist f nicht 2–mal
differenzierbar in x = 0.
Beispiel 2
Folgende Betrachtungen (Tagaki, 1903) liefern uns eine auf ganz R stetige, aber nirgends
differenzierbare Funktion. Wir betrachten die stuckweise lineare Funktion f0 : R −→ R
definiert durch
f0(x) :=
x − [x] falls x ∈ [[x], [x] + 12 ]
1 − x + [x] falls x ∈ [[x] + 12 , [x] + 1]
, (5.1)
wobei [x] wie ublich das kleinste Ganze von x bezeichnet (Gaußklammer-Funktion).
-
6
R
R
12
12 1− 1
2−1
f0
f1
8
Die Funktion f0 hat also die Periode 1. Wir definieren nun fn(x) := 4−nf0(4n ·x). Dann hat
fn die Periode 4−n. Sei weiterhin f :=∞∑
n=0fn. Dann gilt
(1) fn : R −→ R ist stetig.
(2) Es gilt |fn(x)| ≤ 124−n = Mn fur alle x ∈ R. Aus den Eigenschaften der geometrischen
Reihe folgt∞∑
n=0
Mn =1
2
∞∑
n=0
(1
4
)n
=2
3< ∞.
Somit ist∞∑
n=0fn gleichmaßig konvergent auf R.
Aus (1) und (2) folgt, dass f : R −→ R stetig ist. Trotzdem ist f nirgends differenzierbar.
Beweis: Sei x ∈ R beliebig gegeben. Sei n ∈ N und hn := 14 · 4−n oder hn := − 1
4 · 4−n, so
dass fn zwischen x und x + hn linear ist. Nach Konstruktion ist fk fur alle k ≤ n zwischen
x und x + hn linear. Da die linearen Abschnitte von fn den Anstieg ±1 haben, folgt
fk(x + hn) − fk(x)
hn
= ±1 ∀ k ≤ n.
Fur k > n ist hn = 4−(n+1) eine Periode von fk. Folglich ist fk(x+hn)−fk(x)hn
= 0 fur alle
k > n und daher gilt
f(x + hn) − f(x)
hn
=
n∑
k=0
fk(x + hn) − fk(x)
hn
=
n∑
k=0
±1,
und diese Partialsummenfolge kann nicht (fur n → ∞) konvergent sein, denn die Basisfolge
ist keine Nullfolge. Somit existiert f ′(x) = limn→∞
f(x+hn)−f(x)hn
nicht. 2
5.2 Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung
Definition 5.5 Sei f : [a, b] −→ R. Man sagt: f nimmt in x0 ∈ (a, b) ein lokales Maximum
(Minimum) an, falls gilt
∃ ε > 0 ∀ y ∈ [a, b] mit |y − x0| < ε : f(y) ≤ f(x0) (f(y) ≥ f(x0)).
Satz 5.5 Ist f : [a, b] −→ R differenzierbar
und hat f in x0 ∈ (a, b) ein lokales Maximum
(Minimum), so gilt f ′(x0) = 0.
6
-
R
R
lok. Maximum
lok. Minimum
f(x01)
f(x02)
x01x02
a b
Beweis: Sei f(x0) lokales Maximum von f . Dann existiert einerseits ein ε > 0, so dass fur
alle x > x0 mit |x − x0| < εf(x) − f(x0)
x − x0≤ 0
9
gilt und somit
limx→x
+
0
f(x) − f(x0)
x − x0≤ 0. (?)
Andererseits einerseits ein ε > 0, so dass fur alle x < x0 mit |x − x0| < ε
f(x) − f(x0)
x − x0≥ 0
gilt und daher
limx→x
−
0
f(x) − f(x0)
x − x0≥ 0. (??)
Da f ′(x0) = limx→x0
f(x)−f(x0)x−x0
existiert, muss gelten
f ′(x0) = limx→x
+
0
f(x) − f(x0)
x − x0= lim
x→x−
0
f(x) − f(x0)
x − x0.
Aus (?) und (??) folgt dann, dass f ′(x0) = 0 ist. 2
Bemerkung: Aus f ′(x0) = 0 folgt im Allgemeinen nicht, dass f in x0 ein lokales Maximum
oder Minimum hat. Wir betrachten zum Beispiel f(x) = x3. Dann ist f ′(0) = 0, aber 0 ist
kein lokaler Extremwert von f .
Satz 5.6 (Satz von Rolle) Sei f : [a, b] −→ R stetig und f : (a, b) −→ R differenzierbar.
Weiterhin gelte f(a) = f(b). Dann existiert ein Punkt x0 ∈ (a, b) mit f ′(x0) = 0.
Beweis: Ist f konstant auf [a, b], so ist die Behauptung trivial. Ist f nicht konstant, so
existiert ein x1 ∈ (a, b), so dass entweder
f(x1) > f(a) = f(b)
oder
f(x1) < f(a) = f(b)
gilt. Wir betrachten zunachst den ersten Fall. Da f : [a, b] −→ R stetig und [a, b] kompakt
ist, nimmt f auf [a, b] ein globales Maximum und ein globales Minimum an. Das Maximum
liegt wegen obiger Aussage nicht auf den Randpunkten. Folglich existiert ein x0 ∈ (a, b)
f(x0) = max{f(x) | x ∈ [a, b]}.
Nach Satz 5.5 folgt dann f ′(x0) = 0. Der Beweis fur den zweiten Fall ist analog. 2
Satz 5.7 (Verallgemeinerter Mittelwertsatz der Differentialrechnung von Cauchy)
Seien f, g : [a, b] −→ R stetig und auf (a, b) differenzierbar. Dann existiert ein x0 ∈ (a, b)
mit
(f(b) − f(a)) · g′(x0) = (g(b) − g(a)) · f ′(x0).
Beweis: Wir betrachten die Funktion
h(x) = [f(b) − f(a)] · g(x) − [g(b) − g(a)] · f(x).
10
Dann ist h stetig in [a, b] und differenzierbar in (a, b) und es gilt
h(a) = f(b)g(a) − g(b)f(a) = h(b).
Nach dem Satz von Rolle existiert ein x0 ∈ (a, b) mit h′(x0) = 0. Wir erhalten somit
0 = h′(x0) = (f(b) − f(a))g′(x0) − (g(b) − g(a))f ′(x0).
2
Satz 5.8 (Mittelwertsatz von Lagrange) Sei f : [a, b] −→ R stetig und in (a, b) diffe-
renzierbar. Dann existiert ein x0 ∈ (a, b), so dass
f(b) − f(a)
b − a= f ′(x0).
Beweis: Folgt aus Satz 5.7 mit g(x) := x. 2
Geometrische Bedeutung:
Es existiert ein x0 ∈ (a, b), so dass der Anstieg der
Tangente in (x0, f(x0)) gleich dem Anstieg der Se-
kante durch (a, f(a)) und (b, f(b)) ist.
-
6
R
R
a b
•
•
•
x0
Anwendung des Mittelwertsatzes auf den Kurvenverlauf der durch f definierten
Kurve
Satz 5.9 Sei f : (a, b) −→ R differenzierbar, a, b ∈ R ∪ {±∞}. Dann gilt:
(1) Ist f ′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ (a, b), so ist f monoton wachsend. Ist f ′(x) > 0 fur alle
x ∈ (a, b), so ist f streng monoton wachsend.
(2) Ist f ′(x) ≤ 0 (< 0) fur alle x ∈ (a, b), so ist f (streng) monoton fallend.
(3) Ist f ′ ≡ 0 auf (a, b), so ist f konstant.
Beweis: Seien x1, x2 ∈ (a, b), x1 < x2. Wir wenden den Mittelwertsatz von Lagrange auf
f |[x1,x2] an. Dann existiert ein y ∈ (x1, x2), so dass
f ′(y) =f(x2) − f(x1)
x2 − x1.
Da x2 − x1 > 0, folgen die Behauptungen aus Satz 5.8. 2
Anwendung:
Seien c,A ∈ R gegebene konstanten. Dann existiert genau eine differenzierbare Funktion
11
f : R −→ R mit f ′ = c · f und f(0) = A. Diese Funktion ist gegeben durch f(x) = Aecx.
Zum Beweis setzen wir F (x) = f(x) · e−cx. Dann gilt
F ′(x) = f ′(x) · e−cx − c · f(x) · e−cx = (cf − cf)e−cx = 0.
Somit ist F konstant. Da F (0) = A ist, gilt A = f(x) · e−cx. Folglich ist f(x) = Aecx. 2
Satz 5.10 Sei f : (a, b) −→ R differenzierbar. Weiterhin sei f in x0 ∈ (a, b) 2–mal diffe-
renzierbar und es gelte
(1) f(x0) = 0,
(2) f ′′(x0) < 0 (bzw. f ′′(x0) > 0).
Dann hat f in x0 ein isoliertes lokales Maximum (Minimum), das heißt, es existiert ein
ε > 0, so dass fur alle x mit 0 < |x − x0| < ε
f(x) < f(x0) (bzw. f(x) > f(x0)).
gilt.
Beweis: Wir beweisen nur den Fall f ′′(x0) < 0. (f ′′(x0) > 0 analog.) Aus
f ′′(x0) = limx→x0
f ′(x) − f ′(x0)
x − x0< 0
folgt, dass ein ε > 0 existiert, so dass fur alle x mit 0 < |x − x0| < ε
f ′(x) − f ′(x0)
x − x0< 0
gilt. Da f ′(x0) = 0 ist, erhalt man
f ′(x) < 0, fur alle x > x0 mit x − x0 < ε
und
f ′(x) > 0, fur alle x < x0 mit x0 − x < ε.
Nach Satz 5.9 ist daher f |(x0−ε,x0) streng monoton wachsend, wahrend f |(x0,x0+ε) streng
monoton fallend ist. Somit hat f in x0 ein isoliertes lokales Maximum. 2
Definition 5.6 Sei D ⊂ R offenes Intervall. Eine Funktion f : D −→ R heißt
(1) konvex, falls
f(λx1 + (1 − λ)x2) ≤ λf(x1) + (1 − λ)f(x2) ∀x1, x2 ∈ D, λ ∈ (0, 1),
(2) konkav, falls
f(λx1 + (1 − λ)x2) ≥ λf(x1) + (1 − λ)f(x2) ∀x1, x2 ∈ D, λ ∈ (0, 1).
12
Geometrische Bedeutung:
Ist f konvex, so liegt die Kurve graph(f) unterhalb der Geraden durch (x1, f(x1)) und
(x2, f(x2)) fur beliebige x1, x2 ∈ D. Ist f konkav, so liegt graph(f) oberhalb der Geraden
durch (x1, f(x1) und (x2, f(x2)) fur beliebige x1, x2 ∈ D.
-
6
R
R
•
•
x1 x2
f ist konkav
f(x1)
f(x2)
-
6
R
R
•
•
x1 x2
f ist konvex
f(x1)
f(x2)
Satz 5.11 Sei D ⊂ R ein offenes Intervall und f : D −→ R zweimal differenzierbar. Dann
gilt:
(1) f ist genau dann konvex, wenn f ′′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ D.
(2) f ist genau dann konkav, wenn f ′′(x) ≤ 0 fur alle x ∈ D.
Beweis: Wir zeigen nur die Behauptung (1). Der Beweis der Behauptung (2) ist analog.
(⇐)
Sei f ′′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ D. Nach Satz 5.9 ist f ′ auf D monoton wachsend. Seien x1, x2 ∈D, λ ∈ (0, 1). Wir setzen x := λx1 + (1 − λ)x2 mit x1 < x2. Dann ist x1 < x < x2. Nach
dem Mittelwertsatz existieren ein ξ1 ∈ (x1, x) und ein ξ2 ∈ (x, x2), so dass
f(x) − f(x1)
x − x1= f ′(ξ1) ≤ f ′(ξ2) =
f(x2) − f(x)
x2 − x.
Da x − x1 = (1 − λ)(x2 − x1) und x2 − x = λ(x2 − x1) gilt, erhalten wir
f(x) − f(x1)
1 − λ≤ f(x2) − f(x)
λ.
Daraus folgt
f(x) ≤ λf(x1) + (1 − λ)f(x2).
Somit ist f konvex.
(⇒)
Sei f konvex. Wir nehmen an, dass ein x0 ∈ D existiert mit f ′′(x0) < 0. Sei c := f ′(x0) und
ϕ := f(x) − c(x − x0) fur x ∈ D. Dann ist ϕ zweimal differenzierbar und es gilt ϕ′(x0) = 0,
ϕ′′(x0) < 0. Nach Satz 5.10 hat daher ϕ in x0 ein isoliertes lokales Maximum, das heißt, es
existiert ein h > 0 mit [x0 − h, x0 + h] ⊂ D, so dass
ϕ(x0 − h) < ϕ(x0), wahrend ϕ(x0 + h) < ϕ(x0)
ist. Deshalb gilt
f(x0) = ϕ(x0) >1
2(ϕ(x0 − h) + ϕ(x0 + h)) =
1
2(f(x0 − h) + f(x0 + h)).
Mit λ = 12 , x1 = x0 − h und x2 = x0 + h folgt, dass f nicht konvex ist. 2
13
Definition 5.7 Sei D ⊂ R ein offenes Intervall und f : D −→ R stetig. Der Punkt x0 ∈ D
heißt Wendepunkt, wenn eine Umgebung (x0 − ε, x0 + ε) ⊂ D von x0 existiert, so dass
entweder f |(x0−ε,x0) konkav und f |(x0,x0+ε) konvex ist oder Umgekehrtes gilt.
Satz 5.12 Sei f : (a, b) ⊂ R −→ R zweimal stetig differenzierbar. Ist x0 ∈ (a, b) ein
Wendepunkt von f , so gilt f ′′(x0) = 0.
Beweis: Folgerung aus Satz 5.11 2
Bemerkung: Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung gilt nicht fur vektorwertige Funk-
tionen. Wir betrachten dazu die Funktion
f : [0, 2π] −→ R2
t 7→ f(t) = (cos(t), sin(t)).
Es gilt f(2π) − f(0) = (0, 0), also f(2π)−f(0)2π−0 = 0. Betrachten wir aber die Ableitung f ′,
dann erhalten wir f ′(t) = (− sin(t), cos(t)). Somit ist |f ′(t)| = 1, d.h. f ′(t) 6= 0 fur alle
t ∈ [0, 2π]. 2
Satz 5.13 (Mittelwertsatz fur Vektorfunktionen) Sei (E, ‖ · ‖) ein normierter Vek-
torraum, f : [a, b] −→ E stetig und auf (a, b) differenzierbar. Dann existiert ein Punkt
x0 ∈ (a, b), so dass gilt
‖f(b) − f(a)‖ ≤ (b − a)‖f ′(x0)‖.
Zum Beweis des Satzes benotigen wir das folgende Lemma:
Lemma 5.1 Sei f : [a, b] −→ E in x0 ∈ (a, b) differenzierbar, seien (αk), (βk) ⊂ [a, b]
Folgen mit αk < x0 < βk, αkk→∞−→ x0, und βk
k→∞−→ x0 fur alle k ∈ N. Dann gilt
limk→∞
f(βk) − f(αk)
βk − αk
= f ′(x0).
Beweis: Wir betrachten yk := βk−x0
βk−αk
∈ (0, 1). Es gilt
f(βk) − f(αk)
βk − αk
− f ′(x0)
= yk︸︷︷︸
beschr.
(f(βk) − f(x0)
βk − x0− f ′(x0)
)
︸ ︷︷ ︸
k→∞
−→0
+(1 − yk)︸ ︷︷ ︸
beschr.
(f(αk) − f(x0)
αk − x0− f ′(x0)
)
︸ ︷︷ ︸
k→∞
−→0
.
Damit folgt die Behauptung. 2
Beweis:[des Satzes 5.13]
Sei L := b−a3 und M := ‖f(b)−f(a)‖. Wir betrachten die Funktion g : [a, a+2L] ⊂ R −→ E,
definiert durch g(s) := f(s + L) − f(s). Dann folgt
g(a) + g(a + L) + g(a + 2L) = f(b) − f(a)
und somit
M ≤ ‖g(a)‖ + ‖g(a + L)‖ + ‖g(a + 2L) (?).
14
Wir zeigen zunachst, dass ein s1 ∈ (a, a + 2L) mit ‖g(s1)‖ ≥ 13M existiert. Wir nehmen an,
dass fur alle s1 ∈ (a, a + 2L) gilt ‖g(s1)‖ < 13M . Da g : [a, a + 2L] −→ E stetig ist, erhalten
wir auch
‖g(a)‖ ≤ 1
3M, ‖g(a + 2L)‖ ≤ 1
3M,
im Widerspruch zu (?). Sei nun t1 := s1 + L ∈ (a, b). Dann gilt
(1) a < s1 < t1 < b und t1 − s1 = L =b − a
3,
(2) ‖g(s1)‖ = ‖f(t1) − f(s1)‖ ≥ 1
3M.
Wir wiederholen nun diese Konstruktion, indem wir statt des Intervalls [a, b] das Intervall
[s1, t1] betrachten. Dadurch erhalten wir Folgen (sn) und (tn), so dass gilt
tn − sn =1
3n(b − a), ‖f(tn) − f(sn)‖ ≥ 1
3n· M, [sn, tn] ⊂ [sn−1, tn−1].
Wir haben also eine Intervallschachtelung In := [sn, tn], bei der die Lange der Intervalle In
gegen 0 konvergiert. Nach dem Satz uber die Intervallschachtelung existiert dann ein x0 ∈ R
mit∞⋂
n=1In = {x0}. Es gilt somit
sn −→ x0, tn −→ x0, sn < x0 < tn,‖f(tn) − f(sn)‖
tn − sn
≥ M
(tn − sn) · 3n=
M
b − a.
Aus Lemma 5.1 folgt nun
f ′(x0) = limn→∞
f(tn) − f(sn)
tn − sn
und damit
‖f ′(x0)‖ = ‖ limn→∞
f(tn) − f(sn)
tn − sn
‖ = limn→∞
‖f(tn) − f(sn)‖tn − sn
≥ M
b − a=
‖f(b) − f(a)‖b − a
.
2
Satz 5.14 Sei f : [a, b] −→ E stetig–differenzierbar. Dann ist f Lipschitz-stetig.
Beweis: Nach Voraussetzung ist f ′ ∈ C([a, b], E). Folglich existiert
‖f ′‖∞ := max{‖f ′(x)‖E | x ∈ [a, b]} ∈ R.
Seien x1, x2 ∈ [a, b] und o.B.d.A. x1 > x2. Dann folgt aus Satz 5.13, dass ein ξ ∈ [x2, x1]
existiert, so dass
‖f(x1) − f(x2)‖ ≤ ‖f ′(ξ)‖E · |x1 − x2| ≤ ‖f ′‖∞︸ ︷︷ ︸
=:L
·‖x1 − x2‖.
Dies aber bedeutet, dass f Lipschitz-stetig mit der Lipschitz-Konstanten L ist. 2
15
Die Regeln von L’Hospital
Satz 5.15 Sei [a, b] ⊂ R ein beschranktes Intervall und x0 ∈ [a, b]. Es seien f, g : (a, b) \{x0} −→ R differenzierbare Funktionen mit
(1) limx→x0
f(x) = limx→x0
g(x) ∈ {0,±∞},
(2) g′(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a, b) \ {x0},
(3) limx→x0
f ′(x)g′(x) = c ∈ R ∪ {±∞}.
Dann gilt limx→x0
f(x)g(x) = c.
Beweis: 1. Fall: limx→x0
f(x) = limx→x0
g(x) = 0.
Wir setzen f und g in x0 durch f(x0) := g(x0) := 0 fort. Dann sind f, g : (a, b) −→ R stetig
in x0. Wir betrachten nun eine Folge (xn), die gegen x0 konvergiert, wobei xn 6= x0 fur alle
n ∈ N gelten soll. Dann sind f, g : [xn, x0] −→ R stetig und in (xn, x0) differenzierbar, falls
xn < x0 (ansonsten betrachten wir [x0, xn]). Weiterhin gilt f(x0) = g(x0) = 0. Nach dem
verallgemeinerten Mittelwertsatz (5.7) existiert ein ξn ∈ (xn, x0) (bzw. ξn ∈ (x0, xn)), so
dass gilt
f(xn)g′(ξn) = g(xn)f ′(ξn).
Nach dem Satz von Rolle (5.6) ist g(xn) 6= 0 = g(x0). Anderenfalls existierte ein ξn ∈ (xn, x0)
(bzw. ein ξn ∈ (x0, xn)), so dass g′(ξn) = 0 ware, im Widerspruch zur Voraussetzung (1).
Damit folgtf(xn)
g(xn)=
f ′(ξn)
g′(ξn).
Da (xn) gegen x0 konvergiert, ist auch (ξn) gegen x0 konvergent und wir erhalten
limn→∞
f(xn)
g(xn)= lim
n→∞
f ′(ξn)
g′(ξn)= lim
x→x0
f ′(x)
g′(x)= c.
2. Fall: limx→x0
g(x) = +∞ und limx→x0
f ′(x)g′(x) = 0.
Es sei ε > 0 und (xn) eine gegen x0 konvergente Folge mit xn < x0. Dann existiert ein
x? ∈ (a, x0), so dass fur alle x ∈ (x∗, x0) gilt
g(x) > 0, und
∣∣∣∣
f ′(x)
g′(x)
∣∣∣∣< ε.
Weiterhin giltf(xn)
g(xn)=
f(x?)
g(xn)+
f(xn) − f(x?)
g(xn) − g(x?)·(
1 − g(x?)
g(xn)
)
. (?)
Ab einem Index n0 ist jedes xn ∈ (x?, x0). Durch Anwendung des verallgemeinerten Mittel-
wertsatzes auf das Intervall [x?, xn] erhalten wir daher, dass fur alle n ≥ n0 ein ξn ∈ (x?, xn)
existiert, so dassf(xn) − f(x?)
g(xn) − g(x?)=
f ′(ξn)
g′(ξn).
Eingesetzt in Gleichung (?), ergibt dies
∣∣∣∣
f(xn)
g(xn)
∣∣∣∣≤
∣∣∣∣
f(x?)
g(xn)
∣∣∣∣+
∣∣∣∣
f ′(ξn)
g′(ξn)
∣∣∣∣
︸ ︷︷ ︸
<ε
∣∣∣∣1 − g(x?)
g(xn)
∣∣∣∣
16
und damit ∣∣∣∣
f(xn)
g(xn)
∣∣∣∣≤
∣∣∣∣
f(x∗)
g(xn)
∣∣∣∣+ ε
∣∣∣∣1 − g(x∗)
g(xn)
∣∣∣∣.
Da g(xn) gegen +∞ fur xnn→∞−→ x0 konvergiert, folgt∣∣∣∣
f(x?)
g(xn)
∣∣∣∣−→ 0, lim
n→∞
g(x?)
g(xn)= 0
und somit
lim supn→∞
∣∣∣∣
f(xn)
g(xn)
∣∣∣∣< ε.
ε kann beliebige Werte annehmen kann, deshalb erhalten wir
limn→∞
∣∣∣∣
f(xn)
g(xn)
∣∣∣∣= 0
fur alle Folgen (xn) mit xn −→ x0,xn < x0.
Analog behandelt man Folgen xn −→ x0 mit xn > x0. Somit gilt fur alle Folgen (xn) mit
xn −→ x0
limn→∞
f(xn)
g(xn)= 0,
also
limx→x0
f(x)
g(x)= 0.
3. Fall: limx→x0
g(x) = +∞ und limx→x0
f ′(x)g′(x) = c ∈ R beliebig, aber endlich.
Wir betrachten die Funktion f1(x) := f(x) − c · g(x). Dann ist
limx→x0
f ′1(x)
g′(x)= lim
x→x0
f ′(x)
g′(x)− c = 0.
Da limx→x0
g(x) = ∞ ist, konnen wir den Fall 2 anwenden und erhalten
limx→x0
f1(x)
g(x)= 0.
Daraus folgt
limx→x0
f(x)
g(x)= c + lim
x→x0
f1(x)
g(x)= c.
4. Fall: limx→x0
f(x) = limx→x0
g(x) = +∞ und limx→x0
f ′(x)g′(x) = ∞.
Dann gilt limx→x0
g′(x)f ′(x) = 0 und aus Fall (2) folgt sofort lim
x→x0
g(x)f(x) = 0. Da f(x) und g(x) fur
x −→ x0 gegen +∞ konvergieren, sind f und g positiv in einer Umgebung von x0. Folglich
gilt limx→x0
f(x)g(x) = +∞.
5. Fall: limx→x0
f(x) = limx→x0
g(x) = +∞.
Dann ist limx→x0
f ′(x)g′(x) = −∞ unmoglich, denn sonst ware f oder g in einer Umgebung von x0
eine monoton fallende Funktion. 2
Satz 5.16 Seien f, g : (a,∞) −→ R differenzierbar und g′(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a,∞). Ist
limx→∞
f(x) = limx→∞
g(x) ∈ {0,±∞} und limx→∞
f ′(x)g′(x) = c ∈ R ∪ {±∞}, so gilt
limx→∞
f(x)
g(x)= c.
17
Beweis: O.B.d.A. sei a > 0. Wir betrachten die Funktionen f1(x) = f( 1x) und g1(x) = g( 1
x)
auf dem Intervall (0, 1a). Dann gilt
f ′1(x) = − 1
x2f ′
(1
x
)
und g′1(x) = − 1
x2g′
(1
x
)
6= 0
und daher
limx→0
f ′1(x)
g′1(x)= lim
x→0
f ′( 1x)
g′( 1x)
Vor.= c
Mit Satz 5.15 folgt dann
limx→∞
f(x)
g(x)= lim
x→0
f1(x)
g1(x)= c.
2
Beispiele:
(1) limx→0
ln(1+x)x
= limx→0
11+x
1 = 1,
(2) limx→0
ex−1x
= limx→0
ex
1 = 1,
(3) limx→0
(cos x)1x = lim
x→0e
1x
ln(cos x) = elimx→0
1x
ln(cos x)= e
limx→0
1cos x
·(− sin x)= e0 = 1.
5.3 Differentiation von Funktionenfolgen und -Reihen
Sei fn : [a, b] −→ R eine Folge differenzierbarer Funktionen, die gleichmaßig gegen eine
Funktion f konvergiert. Dann muß (f ′n) im Allgemeinen nicht konvergieren. Sei zum Beispiel
fn(x) = 1n
sin(nx). Dann konvergiert (fn) gleichmaßig auf [0, 2π] gegen 0, aber f ′n(x) =
cos(nx) konvergiert in keinem Punkt x 6= 0. Fur x = π gilt z.B.
f ′k(π) =
{
1, falls k gerade
−1, falls k ungerade.
Satz 5.17 Sei E ein Banachraum, fn : [a, b] ⊂ R −→ E differenzierbar fur alle n ∈ N und
gelte
(1) ∃ x0 ∈ [a, b] : (fn(x0)) konvergiert in E,
(2) (f ′n) konvergiert gleichmaßig auf [a, b].
Dann konvergiert auch (fn) gleichmaßig auf [a, b] gegen eine Funktion f : [a, b] −→ E. f ist
differenzierbar und es gilt
f ′(x) = limn→∞
f ′n(x).
Das heißt: lim und ddx
sind vertauschbar.
Beweis: (1) Sei ε > 0. Da (fn(x0)) konvergent ist und (f ′n) gleichmaßig konvergiert, gilt
∃n0 ∈ N, so dass ‖fn(x0) − fm(x0)‖ <ε
2∀m ≥ n ≥ n0 (A)
∃n0 ∈ N, so dass ∀ t ∈ [a, b] : ‖f ′n(t) − f ′
m(t)‖ <ε
2(b − a)∀m ≥ n ≥ n0. (B)
Wir wenden den Mittelwertsatz fur Vektorfunktionen auf fn −fm : [a, b] −→ E an: Fur zwei
Werte x, t ∈ [a, b] existiert ein ϑm,n ∈ [x, t] (bzw. ∈ [t, x]) mit
‖fn(x) − fm(x) − fn(t) + fm(t)‖ ≤ |x − t| · ‖f ′n(ϑm,n) − f ′
m(ϑm,n)‖.
18
Mit (B) folgt dann ∀m ≥ n ≥ n0 und ∀x, t ∈ [a, b]
‖fn(x) − fm(x) − fn(t) + fm(t)‖ ≤ |x − t| · ε
2(b − a)≤ ε
2. (C)
Daher ist fur t = x0 mit (C) und (A)
‖fn(x) − fm(x)‖ ≤ ‖fn(x) − fm(x) − fn(x0) + fm(x0)‖ + ‖fn(x0) − fm(x0)‖<
ε
2+
ε
2= ε. (D)
∀m ≥ n ≥ n0 und ∀x, t ∈ [a, b].
Somit ist (fn(x)) eine (gleichmaßige) Cauchyfolge in E. Da E vollstandig ist, existiert eine
Funktion f : [a, b] −→ E, so dass
f(x) = limn→∞
fn(x) ∀x ∈ [a, b].
Gehen wir in (D) mit m gegen ∞, so folgt
∀x ∈ [a, b] ∀n ≥ n0 : ‖fn(x) − f(x)‖ < ε.
Folglich konvergiert (fn) gleichmaßig gegen f auf [a, b].
(2) Es ist zu zeigen, dass f differenzierbar ist und f ′(x) = limn→∞
f ′n(x) gilt.
Sei x ∈ [a, b] fest. Wir definieren ϕn : [a, b] −→ E durch
ϕn(t) :=
{fn(t)−fn(x)
t−xx 6= t
f ′n(x) x = t.
Da fn stetig und limt→x
fn(t)−fn(x)t−x
= f ′n(x) existiert, ist ϕn : [a, b] −→ E stetig. Fur x 6= t gilt
mit (C)
‖ϕn(t) − ϕm(t)‖ =1
|t − x| ‖fn(t) − fm(t) − fn(x) + fm(x)‖
≤ ε
2(b − a)∀n,m ≥ n0.
Da ϕn − ϕm stetig ist, haben wir auch eine Abschatzung fur x = t. Also ist
‖ϕn(t) − ϕm(t)‖ ≤ ε
2(b − a)∀n,m ≥ n0 ∀ t ∈ [a, b].
Somit konvergiert die Folge (ϕn) gleichmaßig auf [a, b] fur festes x ∈ [a, b]. Wir setzen
ϕ(t) = limn→∞
ϕn(t). Da ϕn stetig ist fur alle n ∈ N und die Folge (ϕn) gleichmaßig gegen ϕ
konvergiert, ist auch ϕ stetig. Wir erhalten
ϕ(x) = limt→x
ϕ(t) = limt→x
limn→∞
ϕn(t)
= limt→x
(
limn→∞
fn(t) − fn(x)
t − x
)
= limt→x
f(t) − f(x)
t − x.
Folglich ist f in x ∈ [a, b] differenzierbar und es gilt
f ′(x) = ϕ(x) = limn→∞
ϕn(x) = limn→∞
f ′n(x).
2
Als Anwendung erhalten wir
19
Satz 5.18 Sei E ein Banachraum und fn : [a, b] −→ E eine Folge differenzierbarer Funk-
tionen mit
(1)∞∑
n=1fn(x0) konvergiert fur mindestens ein x0 ∈ [a, b].
(2)∞∑
n=1f ′
n konvergiert gleichmaßig auf [a, b].
Dann konvergiert∞∑
n=1fn gleichmaßig auf [a, b], die Grenzfunktion f(x) :=
∞∑
n=1fn(x) ist
differenzierbar und
f ′(x) =d
dx
(∞∑
n=1
fn(x)
)
=∞∑
n=1
f ′n(x).
Anwendung auf Potenzreihen
Satz 5.19 Sei E ein Banachraum und P (x) =∞∑
n=0an(x − x0)
n eine Potenzreihe mit dem
Zentrum x0 ∈ R, dem Konvergenzradius R und an ∈ E. Dann ist P : (x0 − R, x0 + R) ⊂R −→ E differenzierbar und es gilt
P ′(x) =
∞∑
n=1
ann(x − x0)n−1.
Beweis: Sei fn(x) := an(x − x0)n. Nach Satz 5.18 ist fn : R −→ E differenzierbar und es
gilt
f ′n(x) = ann(x − x0)
n−1, f ′0(x) = 0.
Offensichtlich konvergiert P (x) fur x = x0. Wir betrachten nun die Reihe
Q(x) :=
∞∑
n=1
n · an(x − x0)n−1 =
∞∑
n=0
f ′n(x).
und berechnen den Konvergenzradius der Potenzreihe Q:
λ := lim supn→∞
n
√
n‖an‖ = lim supn→∞
n
√
‖an‖ =1
R,
wobei R der Konvergenzradius von P ist. Folglich ist R auch der Konvergenzradius von Q.
Nach Satz 4.30 konvergiert Q gleichmaßig auf jedem kompakten Teilintervall des Konver-
genzintervalls (x0 − R, x0 + R).
P ist also fur alle ε > 0 auf dem Intervall Iε = [x0 − R + ε, x0 + R − ε] differenzierbar und
es gilt
P ′(x) =∞∑
n=1
nan(x − x0)n−1 ∀x ∈ Iε.
Mit ε gegen 0 folgt die Behauptung. 2
20
Anwendung: Berechnung von π.
Dazu betrachten wir arctan : R −→ (−π2 , π
2 ). Ei-
nerseits gilt arctan′(x) = 11+x2 (Ubungsaufgabe).
Andererseits folgt aus der geometrischen Reihe
fur x ∈ (−1, 1), dass∞∑
k=0
(−x2)k = 11+x2 .
-
6
R
R
1
π4
π2
−π2
•
arctan
Folglich gilt arctan′(x) =∞∑
k=0
(−1)kx2k fur alle x ∈ (−1, 1). Die Reihe∞∑
k=0
(−1)kx2k konver-
giert auf (−1, 1) und ist die Ableitung der auf (−1, 1) konvergenten Potenzreihe
Q(x) =
∞∑
k=0
(−1)k x2k+1
2k + 1.
Folglich ist arctan′(x) = Q′(x) auf (−1, 1) und es gilt
arctan(x) = Q(x) + C, Q(0) = 0, arctan(0) = 0
Daher ist C = 0 und damit
arctan(x) =
∞∑
k=0
(−1)k x2k+1
2k + 1, fur alle |x| < 1.
Nach dem Leibnizkriterium fur alternierende Reihen ist Q(1) = 1− 13 + 1
5 − 17 ±. . . konvergent
und es gilt Q(−1) = −Q(1).
Nach dem abelschen Grenzwertsatz (Satz 4.31) ist damit Q in x = ±1 (einseitig) stetig und
Q(±1) = limx→±1
Q(x) = limx→±1
arctan(x) = arctan(±1).
Wir erhalten
arctan x =∞∑
k=0
(−1)k x2k+1
2k+1 ∀ |x| ≤ 1.
Da arctan(1) = π4 ist, gilt die Leibnizformel
π
4= 1 − 1
3+
1
5− 1
7± . . . .
Diese Reihe konvergiert sehr langsam gegen π4 . Man benotigt 1000 Summanden, um π auf
3 Stellen genau zu erhalten. Schneller konvergente Reihen erhalt man folgendermaßen:
Durch Umkehrung der Additionstheoreme folgt
arctan(x) + arctan(y) = arctan
(x + y
1 − x · y
)
(x · y 6= 1)
und daher mit x = y = 15
2 arctan
(1
5
)
= arctan
(5
12
)
,
bzw. mit x = y = 512
2 arctan
(5
12
)
= arctan
(120
119
)
.
21
Einsetzen von x = 1 und y = 1239 in obige Formel liefert
arctan(1) + arctan
(1
239
)
= arctan
(120
119
)
.
Daraus folgt
π
4= arctan(1)
= 4 · arctan1
5− arctan
1
239(?)
= 4 ·∞∑
k=0
(−1)k
2k + 1
(1
5
)2k+1
−∞∑
k=0
(−1)k
2k + 1
(1
239
)2k+1
(??).
(?) heißt die Machinsche Formel. Ist∞∑
k=0
(−1)kak eine alternierende Reihe mit monoton
fallender Nullfolge (ak), ak > 0 fur alle k ∈ N0, dann erhalt man fur den Fehler bei der
Naherungsrechnung (nach Satz 3.9)
|s −n∑
k=0
(−1)kak| ≤ an+1.
Fur den Fehler F1 bei Addition von 8 Reihengliedern der ersten Reihe in (??) gilt
F1 ≤ 4
17· 1
517︸ ︷︷ ︸
=a8
< 4 · 10−13.
Fur den Fehler F2 bei Addition von 2 Reihengliedern der zweiten Reihe in (??) gilt
F2 ≤ 1
5· 1
2395︸ ︷︷ ︸
a2
< 3 · 10−13.
Somit ist der Fehler bei Addition der ersten 8 Reihenglieder kleiner als 3 · 10−12 und wir
erhalten eine Naherung fur π:
π = 3.1415926535 + R, |R| < 10−11.
5.4 Taylorreihen
Das Ziel dieses Abschnitts ist die Approximation von Funktionen durch Polynome und die
Entwicklung von Funktionen in Reihen. Dazu werden wir zunachst zur Abkurzung eine
Bezeichnung einfuhren.
Die Landau-Symbole
Sei h : I ⊂ R → E eine Funktion mit Werten in einem reellen normierten Vektorraum E,
g : I ⊂ R → R eine reellwertige Funktion und x0 ∈ I.
• h(x) = o(g(x)) fur x → x0 , ist die Abkurzung fur die Eigenschaft
limx→x0
h(x)
g(x)= 0.
22
• h(x) = O(g(x)) fur x → x0 , ist die Abkurzung dafur, dass es eine Konstante C > 0
und ein Intervall (x0 − ε, x0 + ε) gibt mit
‖h(x)‖ ≤ C |g(x)| fur alle x ∈ (x0 − ε, x0 + ε) ∩ I.
• h1(x) = h2(x) + o(g(x)) fur x → x0 , ist die Abkurzung fur h1(x) − h2(x) = o(g(x))
fur x → x0 . Analog fur O(g(x)).
• Insbesondere heißt h(x) = o((x − x0)n) fur x → x0 , dass
limx→x0
h(x)
(x − x0)n= 0.
h(x) geht fur x → x0 also schneller gegen 0 als (x−x0)n. Man sagt auch
”h verschwindet
in x0 von hoherer als n-ter Ordnung “.
Fur h1(x) = h2(x) + o((x − x0)n) fur x → x0, sagt man auch
”h2 approximiert h1 in
x0 von hoherer als n-ter Ordnung “.
• Zur Eigenschaft h(x) = O((x − x0)n) fur x → x0 , d. h.
‖h(x)‖ ≤ C |x − x0|n, fur alle x ∈ (x0 − ε, x0 + ε) ∩ I
sagt man auch”h wachst in x0 von hochstens n-ter Orndung “.
Definition 5.8 Sei U ⊂ R offen und E ein normierter Vektorraum. Eine Abbildung
f : U ⊂ R −→ E
heißt reell–analytisch in x0 ∈ U , falls eine Potenzreihe∞∑
k=0
ak(x − x0)k, ak ∈ E fur alle
k ∈ N0, mit Zentrum x0 ∈ R und positivem Konvergenzradius ρ(x0) > 0 existiert, so dass
gilt
f(x) =
∞∑
k=0
ak(x − x0)k, ∀x ∈ U ∩ (x0 − ρ, x0 + ρ).
Bemerkung:
(1) Man sagt auch: f ist in einer Umgebung von x0 in eine Potenzreihe entwickelbar.
(2) f : U ⊂ R −→ E heißt reell–analytisch, wenn f in jedem Punkt x0 ∈ U reell–analytisch
ist.
(3) Cw(U ;E) bezeichne den Vektorraum der reell–analytischen Funktionen.
Beispiele
(1) Sei f(x) :=∞∑
k=0
ak(x − x0)k Potenzreihe mit ρ > 0, dann ist f in x0 reell–analytisch.
(2) exp, sin, cos, sinh, cosh sind reell–analytisch auf R.
Satz 5.20 Sei E ein Banachraum und f : U ⊂ R −→ E reell–analytisch in x0 ∈ U . Dann
ist f in einer Umgebung U von x0 unendlich oft stetig differenzierbar und es gilt:
f(x) =
∞∑
n=0
f (n)(x0)
n!· (x − x0)
n, ∀x ∈ U .
23
Beweis: Sei f(x) =∞∑
k=0
ak(x − x0)k fur alle x ∈ U ∩ (x0 − ρ, x0 + ρ) =: U . Nach Satz 5.19
existiert f ′ auf U und
f ′(x) =
∞∑
k=1
k · ak(x − x0)k−1, ∀x ∈ U .
Diese Potenzreihe hat den gleichen Konvergenzradius wie f . Nach Satz 5.19 existiert wie-
derum f ′′(x) mit
f ′′(x) =
∞∑
k=2
k(k − 1)ak(x − x0)k−2, ∀x ∈ U .
Durch weiteres Anwenden des Satzes 5.19 erhalten wir alle Ableitungen von f in der Um-
gebung U von x0:
f (n)(x) =
∞∑
k=n
k(k − 1) · . . . · (k − n + 1)ak(x − x0)k−n.
Da offensichtlich fur jedes n ∈ N0
f (n)(x0) = n! · an
gilt, folgt die Behauptung. 2
Wir suchen nun nach einer hinreichenden Bedingung dafur, dass eine Funktion
f : U ⊂ R −→ E in einem Punkt x0 reell–analytisch ist.
Definition 5.9 Sei I ⊂ R ein beliebiges Intervall, x0 ∈ I und f : I −→ E n–mal in x0
differenzierbar. Dann heißt
Tn(f, x0)(x) :=n∑
k=0
f (k)(x0)
k!(x − x0)
k
n–tes Taylorpolynom von f in x0.
Sei f : I ⊂ R −→ E unendlich oft differenzierbar in x0 ∈ U . Dann heißt die Reihe
T (f, x0)(x) :=∞∑
k=0
f (k)(x0)
k!(x − x0)
k
Taylorreihe von f in x0 (formale Reihe).
Bemerkung:
(a) Tn(f, x0)(x) ist n–te Partialsumme von T (f, x0)(x).
(b) Tn(f, x0) ist n–mal differenzierbar und es gilt
dl
dxlTn(f, x0)(x0) = f (l)(x0), ∀ l ≤ n
24
Definition 5.10 Sei f : I → E (I ⊂ R Intervall, E Banachraum) n-fach differenzierbar.
Dann heißt
Rn(f, x0) := f − Tn(f, x0) ∈ C(n)(I, E)
das n-te Restglied von f in x0.
Rn beschreibt also die Abweichung des n-ten Taylorpolynoms von f .
Satz 5.21 Sei f : I ⊂ R −→ E n–mal differenzierbar, x0 ∈ I. Dann gilt
(1)d(l)
(dx)(l)(Rn(f, x0))(x0) = 0, ∀ l ∈ {0, . . . , n},
(2) limx→x0
‖Rn(f, x0)(x)‖|x − x0|n
= 0.
Beweis: Wir beweisen den Satz durch Induktion uber n:
Ind.–Anfang: Sei n = 1. Dann definiert T1(f, x0) die Tangente an den Graphen graph(f)
der Funktion f in (x0, f(x0)), das heißt, die Behauptung ist erfullt.
Ind.–Voraussetzung: Die Behauptung sei fur n richtig.
Ind.–Behauptung: Die Behauptung ist fur n + 1 richtig.
Ind.–Beweis: Sei f : I ⊂ R −→ E (n + 1)–mal differenzierbar. Dann ist
Rn+1 := Rn+1(f, x0) = f − Tn+1(f, x0)
(n + 1)–mal differenzierbar und R(l)n+1(x0) = 0 fur alle l ∈ {0, . . . , n + 1}. Wir betrachten
nun die Funktion R′n+1 : I −→ E. Offensichtlich ist R′
n+1 n–mal differenzierbar und es gilt
(R′n+1)
(l)(x0) = 0 fur alle l ∈ {0, . . . , n}. Folglich ist Tn(R′n+1, x0) ≡ 0 auf I und es gilt nach
Induktionsvoraussetzung
limx→x0
‖R′n+1(x)‖
|x − x0|n= 0.
Folglich existiert fur alle ε > 0 ein δ > 0, so dass
‖R′n+1(x)‖
|x − x0|n< ε fur alle x mit 0 < |x − x0| < δ (?).
Sei x ∈ I mit 0 < |x − x0| < δ. Dann ist Rn+1 auf [x, x0] bzw. [x0, x] differenzierbar und
nach dem Mittelwertsatz fur Vektorfunktionen existiert ein ξ ∈ (x, x0) bzw. ξ ∈ (x0, x), so
dass gilt
‖Rn+1(x) − Rn+1(x0)︸ ︷︷ ︸
=0
‖E ≤ ‖R′n+1(ξ)‖E |x − x0|
(?)< ε · |x − x0|n+1.
Wir erhalten ‖Rn+1(x)‖|x−x0|n+1 < ε fur alle x mit 0 < |x − x0| < δ und somit
limx→x0
‖Rn+1(f, x0)(x)‖|x − x0|n+1
= 0.
2
Eigenschaft (2) von Satz 5.21 besagt, dass Tn(f, x0) die Funktion f in der Umgebung von
x0 in hoherer als n–ter Ordnung approximiert:
f(x) = Tn(f, x0) + o((x − x0)n) fur x → x0.
Die Taylorreihe T (f, x0)(x) konvergiert nicht in jedem Fall und wenn sie es tut, muss sie
nicht notwendigerweise gegen die Funktion f konvergieren:
25
Beispiel 1
Die Taylorreihe kann den Konvergenzradius 0 haben. Wir zitieren dazu den
Satz von Borel:
Seien c0, c1, c2, . . . beliebige reelle Zahlen. Dann existiert eine C∞–Funktion f : R −→ R mit
T (f, 0) =
∞∑
n=0
cnxn.
Diese Reihe ist im Allgemeinen nicht konvergent. Der Beweis dieses Satzes kann z.B. in”R.
Narasimham: Analysis on real and complex manifolds, Nord Holland, 1968“, nachgelesen
werden.
Beispiel 2
Die Taylorreihe T (f, x0) kann den Konvergenzradius ρ = ∞ haben, aber es gilt T (f, x0)(x) 6=f(x). Sei zum Beispiel
f(x) :=
{
e−1
x2 fur x > 0
0 fur x ≤ 0.
Dann ist f (k)(0) = 0 fur alle k ∈ N0 und f eine C∞–Funktion (siehe Ubungsaufgabe 94).
Also ist T (f, 0)(x) ≡ 0, aber f(x) 6= 0 fur alle x > 0.
Wir mochten nun untersuchen, wann die Taylorreihe T (f, x0)(x) konvergiert und insbeson-
dere, wann sie gegen f(x) konvergiert.
Satz 5.22 Sei f : I ⊂ R −→ E eine C∞–Funktion und x0 ∈ I. Wenn fur x ∈ I gilt
limn→∞
‖Rn(f, x0)(x)‖E = 0,
so konvergiert T (f, x0)(x) und es gilt f(x) = T (f, x0)(x).
Beweis: Fur alle n ≥ 0 ist f(x) = Tn(f, x0)(x) + Rn(f, x0)(x). Folglich gilt
‖f(x) − Tn(f, x0)(x)‖ = ‖Rn(f, x0)(x)‖ n→∞−→ 0,
und daher
limn→∞
Tn(f, x0)(x) = T (f, x0)(x) = f(x).
2
Im Fall f : I −→ R kann man das Restglied explizit angeben:
Satz 5.23 Sei I ⊂ R ein beliebiges Intervall, x0 ∈ I, f : I −→ R (n+1)–mal differenzierbar
und Rn(f, x0) := f − Tn(f, x0) das Restglied. Dann existieren ϑ, θ ∈ (0, 1), so dass gilt
Rn(f, x0)(x) =f (n+1)(x0 + ϑ(x − x0))
(n + 1)!(x − x0)
n+1 Lagrange-Form des Restgliedes,
Rn(f, x0)(x) =f (n+1)(x0 + θ(x − x0))
n!(1 − θ)n(x − x0)
n+1 Cauchy-Form des Restgliedes.
26
Beweis: Sei x ∈ I fest. Wir definieren eine differenzierbare Funktion g : I −→ R durch
g(y) := f(x) − Tn(f, y)(x). Dann ist g(x) = 0, g(x0) = Rn(f, x0)(x) und
g′(y) = − d
dy
(n∑
k=0
f (k)(y)
k!(x − y)k
)
= −n∑
k=0
(f (k+1)(y)
k!(x − y)k − f (k)(y)
k!k(x − y)k−1
)
= − (x − y)n
n!f (n+1)(y).
(2) Nach dem Mittelwertsatz der Differentialrechnung existiert ein θ ∈ (0, 1), so dass
g(x) − g(x0) = g′(
=y︷ ︸︸ ︷
x0 + θ(x − x0)) · (x − x0)
= − (x − x0)n+1(1 − θ)n
n!f (n+1)(x0 + θ(x − x0)).
Folglich ist
Rn(f, x0)(x) =(1 − θ)n(x − x0)
n+1
n!f (n+1)(x0 + θ(x − x0)).
(1) Wir betrachten zusatzlich die differenzierbare Funktion h : I −→ R, definert durch
h(y) := (x − y)n+1. Dann gilt h(x) = 0, h(x0) = (x − x0)n+1 und
h′(y) = −(n + 1)(x − y)n.
Nach dem verallgemeinerten Mittelwertsatz existiert daher ein ϑ ∈ (0, 1), so dass
(g(x) − g(x0))h′(x0 + ϑ(x − x0)) = (h(x) − h(x0))g
′(x0 + ϑ(x − x0)).
Fur das Restglied folgt
Rn(f, x0)(x) · (n + 1)(x − x0)n(1 − ϑ)n
= (x − x0)n+1 (x − x0)
n(1 − ϑ)n
n!f (n+1)(x0 + ϑ(x − x0)).
und somit
Rn(f, x0)(x) =(x − x0)
n+1
(n + 1)!f (n+1)(x0 + ϑ(x − x0)).
2
Bemerkung: Satz 5.23 ermoglicht die Abschatzung des Fehlers bei der Approximation von
f(x) durch Tn(f, x0).
Beispiel 1
Die Taylorentwicklung von f(x) = ln(1 + x) in x = 0 auf (−1, 1] ist
ln(1 + x) =∞∑
n=1(−1)n+1 · xn
n.
Insbesondere gilt fur die alternierende, harmonische Reihe
∞∑
n=1
(−1)n+1
n= ln(2).
27
Beweis: Die Abbildung f(x) := ln(x + 1) ist auf (−1,∞) beliebig oft differenzierbar und es
gilt f(0) = 0 sowie
f (n)(x) =(n − 1)!(−1)n+1
(1 + x)n, ∀n > 0.
Folglich ist T (f, 0)(x) =∞∑
n=1(−1)n+1 · xn
ndie Taylorreihe von f in x0 = 0.
T (f, 0)(x) konvergiert fur alle x ∈ (−1, 1). Zum Beweis betrachten wir die Cauchy–Form des
Restgliedes:
∃ θ ∈ (0, 1) : Rn(f, 0)(x) =f (n+1)(θx)
n!(1 − θ)nxn+1 =
(−1)nxn+1
(1 + θx)n+1(1 − θ)n
Ist |x| < 1, so gilt 1−θ1−θ|x| < 1. Folglich erhalten wir
|Rn(f, 0)(x)| = |x|n+1 (1 − θ)n
|1 + θx|n+1.
Es gilt 1 + θx ≥ 1 − θ|x| > 1 − |x| fur alle |x| < 1 und somit folgt
|Rn(f, 0)(x)| <|x|n+1
1 − |x| ·(
1 − θ
1 − θ|x|
)n
<|x|n+1
1 − |x|n→∞−→ 0, ∀ |x| < 1.
Nach Satz 5.22 konvergiert die Taylorreihe in x0 = 0 fur x ∈ (−1, 1) gegen f(x):
ln(1 + x) =
∞∑
n=1
(−1)n+1
nxn, ∀ |x| < 1.
Nach dem Leibnizkriterium (Satz 3.9) existiert T (f, 0)(1) = 1 − 12 + 1
3 ± . . .. Wenden wir
nun den Satz von Abel (4.31) an, so gilt wegen der Stetigkeit von ln
limx→1
ln(1 + x) = limx→1
T (f, 0)(x) = T (f, 0)(1).
Somit gilt ln(1 + x) = T (f, 0)(x) auch in x = 1.
Beispiel 2
Sei α ∈ R. Dann gilt fur x ∈ (−1, 1):
(1 + x)α =∞∑
k=0
(αk
)xk.
Die Reihe∞∑
k=0
(αk
)xk heißt auch ’Binomialreihe’.
Beweis: (1) f(x) = (1+x)α ist auf (−1,∞) beliebig oft differenzierbar und es gilt f(0) = 1
sowie
f (k)(x) = α(α − 1) · . . . · (α − k + 1)(1 + x)α−k,
und daherf (k)(0)
k!=
α(α − 1) · . . . · (α − k + 1)
k!=
(α
k
)
Die Taylorreihe in x0 = 0 ist damit
T (f, 0)(x) =∞∑
k=0
(α
k
)
xk
28
(2) Wo konvergiert diese Reihe und gegen welchen Wert konvergiert sie? Wir betrachten
dazu die Cauchy–Form des Restgliedes
Rn(f, 0)(x) =f (n+1)(θx)
n!(1 − θx)nxn+1
=α(α − 1) · . . . · (α − n)
n!(1 + θx)α−n−1(1 − θ)nxn+1
= α ·(
α − 1
n
)
(1 − θ)nxn+1(1 + θx)α−n−1
= α ·(
α − 1
n
) (1 − θ
1 + θx
)n
︸ ︷︷ ︸
<1 fur |x|<1
xn+1(1 + θx)α−1
Daher gilt fur |x| < 1
|Rn(f, 0)(x)| ≤∣∣∣∣
(α − 1
n
)
xn
∣∣∣∣· |αx(1 + θx)α−1|︸ ︷︷ ︸
=M unabh. von n
.
Die Binomialreihe Bα−1(x) =∞∑
k=0
(α−1
n
)xk ist konvergent fur alle |x| < 1 (siehe Ubungsauf-
gabe 62). Folglich gilt (nach Satz 3.2)
∣∣∣∣
(α − 1
n
)
xn
∣∣∣∣
n→∞−→ 0
und somit |Rn(f, 0)(x)| n→∞−→ 0 ∀ |x| < 1. Nach Satz 5.22 konvergiert die Taylorreihe fur
|x| < 1 gegen f(x) = (1 + x)α, das heißt
(1 + x)α =
∞∑
k=0
(α
k
)
xk.
Anwendung auf Extremwertaufgaben
Satz 5.24 (Hinreichende Bedingung fur lokalen Extremwert) Sei f : (a, b) −→ R
n–mal differenzierbar, n ≥ 2, x0 ∈ (a, b) und sei
f (1)(x0) = f (2)(x0) = . . . = f (n−1)(x0) = 0, f (n)(x0) 6= 0.
Dann gilt:
Ist n ungerade, so hat f in x0 keinen lokalen Extremwert.
Ist n gerade und f (n)(x0) > 0, so hat f in x0 ein isoliertes lokales Minimum. Ist n gerade
und f (n)(x0) < 0, so hat f in x0 ein isoliertes lokales Maximum.
Beweis: Sei zunachst f (n)(x0) > 0. Es gilt
f (n)(x0) = limx→x0
f (n−1)(x) − f (n−1)(x0)
x − x0= lim
x→x0
f (n−1)(x)
x − x0> 0
Deshalb gibt es ein δ > 0, so dass fur alle x mit 0 < |x − x0| < δ gilt
f (n−1)(x)
x − x0> 0.
29
Daraus folgt
f (n−1)(x) < 0 auf (x0 − δ, x0),
f (n−1)(x) > 0 auf (x0, x0 + δ).
Nach Voraussetzung ist
f(x) = Tn−2(f, x0) + Rn−2(f, x0)
5.23= f(x0) +
1
(n − 1)!f (n−1)(
ξ︷ ︸︸ ︷
x0 + θ(x − x0))(x − x0)n−1 fur ein θ ∈ (0, 1).
Ist n gerade, so ist f (n−1)(ξ)(x − x0)n−1 > 0 fur alle x mit 0 < |x − x0| < δ. Somit ist
f(x) > f(x0) fur alle x mit 0 < |x−x0| < δ und f hat in x0 ein lokales Minimum. Ist n nun
ungerade, so gilt
f (n−1)(ξ)(x − x0)n−1
{
> 0 auf (x0, x0 + δ)
< 0 auf (x0 − δ, x0).
Folglich hat f in x0 keinen lokalen Extremwert. Analog behandelt man f (n)(x0) < 0. 2
Bemerkung:
(1) Ist f in x0 ∈ (a, b) ∞-oft differenzierbar und f (n)(x0) = 0 fur alle n, so kann man keine
Aussage machen.
(2) Sollen die Extrema von f auf [a, b] bestimmt werden, so sind außer den Stellen x0 ∈ (a, b)
mit f ′(x0) = 0 auch noch die Intervallenden zu untersuchen.
30