diogenes magazin nr 8 | 2o11 herbst

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Diogenes Magazin Nr. 8 Herbst 2011 9 783257 850086 www.diogenes.ch 4 Euro / 7 Franken Alles inklusive! Multitalent Doris Dörrie Faule Kredite in Griechenland Petros Markaris hat die Krise zum Krimi gemacht Loriot im Gespräch Bitte sagen Sie jetzt nichts 80 Jahre Tomi Ingrid Noll und Percy Adlon über Tomi Ungerer

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diogenes.ch

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Diogenes Magazin

Nr. 8 Herbst 2011

9 7 8 3 2 5 7 8 5 0 0 8 6

www.diogenes.ch4 Euro / 7 Franken

Alles inklusive!MultitalentDoris Dörrie

Faule Kredite in GriechenlandPetros Markaris hat die Krise zum Krimi gemacht

Loriot im GesprächBitte sagen Sie jetzt nichts

80 Jahre TomiIngrid Noll und Percy Adlon über Tomi Ungerer

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1Diogenes Magazin

Als wir fertig gefrühstückt hatten, fiel mir etwas Eigenartiges auf.

»Schau!«, sagte ich zu Frank und deu-tete auf den Zuckerstreuer in der Mit-te des Tisches, in dem eine Fliege auf-geregt hin und her schwirrte.

Frank sagte nichts, doch noch ehe ich etwas dagegen tun konnte, hatte er sich das Zuckerglas geschnappt und die Fliege freigelassen.

»Wieso hast du das getan?«, fragte ich ihn entsetzt.

»Damit sich die anderen Gäste kei-ne Fliege über ihr Essen schütten.«

»Hast du mal eine Sekunde an das arme Tier gedacht?«, sagte ich und fühlte mich der Fliege seltsam verbun-den. »Wahrscheinlich schafft sie es nie mehr in ihrem kurzen, hektischen Le-ben, durch den engen Schlitz des Zu-ckerstreuers hineinzufliegen. In die-sem kleinen Glas gab es keinen Stress mehr, kein planloses Rumgefliege, sondern so viel Zucker, wie sie nur wollte. Das Paradies! Diese Fliege war bestimmt total glücklich. Sie war al-lein und geschützt, es gab keine Ge-fahr für sie, bis du sie wieder rausge-schmissen hast.«

»Jesper, das war doch nur eine kleine Fliege in einem Zuckerglas, reg dich ab.«

»Du verstehst es nicht, du verstehst es einfach nicht.«

Frank lachte nur, aber mir war nun klar, wieso mich das kleine Tier so in seinen Bann gezogen hatte. Das war ich. Ich hatte mich nicht freige-schwommen, sondern war stattdessen einfach abgehauen, geflüchtet, in den Schutz meines einsamen Lebens.

In mein Zuckerglas.Natürlich hatte man als kleines

Insekt Abstriche zu machen, aber andererseits waren einem alle Sorgen genommen. Man hatte nichts zu be-fürchten. Es gab nur einen selbst. Und ähnlich wie bei der Fliege, fühlte ich durch die vergangenen Ereignisse die-ses Dasein bedroht und wehrte mich.

Als wir zahlten und nach Hause gingen, warf ich noch einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das Zucker-glas, dessen Bewohnerin nun gezwun-genermaßen wieder frei umher-schwirrte.

Viel Glück, kleine Fliege.•Entfallene Szene aus Benedict Wells Roman Spinner (Diogenes Taschenbuch detebe 24054, 320 Seiten). Von Benedict Wells ist neu der Roman Fast genial erschienen (siehe auch Interview und Buchhinweis auf Seite 25).

Benedict Wells

Viel Glück, kleine Fliege!

Erste Seite

Darf ich? Danke! Solche Fliegen sind rar geworden.

Buchtipp

Diogenes Taschenbuchdetebe 22035, 400 Seiten

Vor lauter Glückssuche sind die einen ganz unglücklich, während

die anderen jammern: Wenn Glück doch nur glücklich machen würde! Zum Glück nimmt sich das Tinten­

fass nun des Themas an. So kann man bei Arnon Grünberg eine kleine

Schule des Glücks besuchen, dem philosophischen Glücksgedanken

von Ludwig Marcuse folgen oder in André Comte-Sponvilles Essay Der Geschmack des Lebens neue Lebens-lust tanken. Aber auch Erzählungen von Doris Dörrie, Bernhard Schlink, Astrid Rosenfeld und vielen anderen

bieten jede Menge Leseglück.

Macht Glück unglücklich?

Doris Dörrie · Yael Hedaya · Bernhard Schlink

Astrid Rosenfeld · Urs Widmer · Viktorija Tokarjewa

Arnon Grünberg Ein Grundkurs in Sachen Glück

Ludwig Marcuse Philosophie des Glücks

André Comte-Sponville Der Geschmack des Lebens

Mit Zeichnungen von Jean-Jacques Sempé

Bosc · Chaval

Das Magazin für den überforderten Intellektuellen · Nr. 35

Ich ertrage

nur das Glück!

Macht Glück unglücklich?

Doris Dörrie · Yael Hedaya · Bernhard Schlink

Astrid Rosenfeld · Urs Widmer · Viktorija Tokarjewa

Arnon GrünbergEin Grundkurs in Sachen Glück

Ludwig Marcuse Philosophie des Glücks

André Comte-Sponville Der Geschmackdes Lebens

Mit Zeichnungen von Jean-Jacques Sempé

Bosc · Chaval

Das Magazin für den überforderten Intellektuellen · Nr. 35

Ein Grundkurs in Sachen Glück

Philosophie des Glücks

André Comte-Sponville Der Geschmack

Mit Zeichnungen von Ich ertrage Ich ertrage

nur das Glück!

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Ersatz für das leidige

iPad-Archiv

Editorial

Dürrenmatt-Magazin

Anstelle eines langweiligen Editorials hier eine Mini-Erzählung von Max Goldt, passend zu unserem Dürren-matt-Sonderteil. Für den müssen Sie aber dieses Magazin umdrehen – und vor allem lieber Dürrenmatt lesen wollen.

Na, Fräulein, was sitzenwa denn so alleine herum? Was lesenwa denn

Schönes?– Dürrenmatt.– Was?– Dürrenmatt.– Ach, Dürrenmatt. Sagense mal

Fräulein, habense nicht Lust, mit mir heute Abend ins Kino zu gehen?

– Ins Kino? Nein!– Nein?– Nein.– Sie lesen wohl lieber Dürrenmatt!– Ja.– Na, dann lesense doch Ihren

Dürrenmatt.

Bücherliebe 28Anthony McCarten und Hans Werner Kettenbach erzählen, wie schön das Zwischenmenschliche durch Litera-tur seinen Anfang nehmen kann.

Die aktuelle Ausgabe und alle bereits erschienenen Ausgaben des Diogenes Magazins seit 2009 gibt es für das iPad gratis unter www.diogenes.ch als PDF-Download: über 600 Seiten zum Anschauen und Lesen, Lesen, Lesen …

Der Dürrenmatt-Kenner 4Peter Rüedi hat fast zwanzig Jahre an seiner Dürrenmatt- Biographie gearbeitet, die nun endlich erscheint – ein Ereignis.

Intimitäten 6Drei Streiflichter aus Dürrenmatts Leben: der Durchbruch mit Der Besuch der alten Dame, die Liebe zum Wein und verquere Fahrkünste

Ein homerisches Lachen 14Diogenes Verleger Daniel Keel erinnert sich an den Jahr hundert-autor, der zum Freund wurde.

Denken mit Dürrenmatt 16

Lesestoffe 17Dürrenmatt in neun Büchern

Ein literarisches Gedächtnis 18Wie Dürrenmatt die Schweiz zwang, ein Literaturarchiv zu gründen. Von Peter von Matt.

Ein Bilderbuch-Leben? 26Dürrenmatts Leben in Bildern

Bitte für diesen Sonderteil das Heft umdrehen

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Bitte sagen Sie jetzt nichts 14Aus Loriots letztem Buch: 37 Fragen und Antworten

All die falschen Pferde 54Eine neue Erzählung von Astrid Rosenfeld

Banana Yoshimoto 60schreibt aus Tokio über den japanischen Alltag nach Fukushima.

Christoph Poschenrieder 75besucht den Schauplatz seines neuen Romans: ein Ort ohne Namen, aber voller Erinnerungen.

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Diogenes Magazin Nr. 8

Interviews

Rubriken

Inhalt

Tomi Ungerer 40Regisseur Percy Adlon über Tomi und die vier gemeinsamen Filme. Und ein Geburtstagsständchen zum Achtzigsten, angestimmt von Ingrid Noll.

Petros Markaris 46Wenn der bekannteste griechische Schriftsteller über die Schuldenkrise in seiner Heimat spricht, ist er in seinem Element, denn sein neuer Roman heißt Faule Kredite.

Carson McCullers 64Ihren Roman Das Herz ist ein einsamer Jäger kennen und lieben Leser weltweit. Doch wer war Carson McCullers?

Multitalent Doris Dörrie 4Sie hat erfolgreiche Kino- und Fernsehfilme gedreht und pro duziert und Opern inszeniert, aber wir lieben sie vor allem als grandiose Erzählerin. Endlich ist ein neuer Roman von Doris Dörrie erschienen. Ein Interview und ein Portrait in Bildern.

Doris Dörrie 4

Loriot 14

Benedict Wells 25

Anthony McCarten 26

Petros Markaris 46

Suzanne Vega 73über Carson McCullers

Denken mit 16Friedrich Dürrenmatt Im Dürrenmatt-Magazin

Lesefrüchtchen 21

Top 10 31Klassiker von Paulo Coelho

Erste Seite 1Schaufenster 18Abo-Service 39Impressum 44Vorschaufenster 78

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Die einsame Insel Jakob Arjouni 36

Mag ich – Mag ich nicht 80Alfred KomarekGünther Anders

Außerdem:Wer schrieb hier? Gewinnspiel 79

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»Dass anspruchsvolle Literatur nicht schwierig sein muss, beweisen zeitgenössische Erzähler wie Doris Dörrie«, könnte ›Der Spiegel‹ auch über Doris Dörries neuen Roman ›Alles inklusive‹ schreiben. Es ist ein Roman, den man an einem Nach mittag am Pool atemlos durchliest (oder schon im Flugzeug). Die perfekte Ferienlektüre also, aber eben auch viel mehr.

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SPIEGEL: Sie erzählen in Ihrem neuen Buch von einer Hippie-Mut-ter aus Göttingen, die Mitte der 1970er in Spanien herumgammelt, sich kaum um ihre Tochter küm-mert, mit einem spießigen Familien-vater eine Affäre beginnt und damit so viel Unglück anrichtet, dass die Beteiligten dreißig Jahre später noch schwer daran zu tragen haben. Woll-ten Sie mit den Hippies abrechnen?Doris Dörrie: Nein, es geht mir nicht ums Abrechnen. Ich will weder die Ideen der Hippies noch die Romanfi-gur Ingrid verurteilen, ich will sie aber auch nicht entschuldigen. Mich inte-ressiert die Ambivalenz. Ingrid lebt als junge Frau eine große Freiheit, und natürlich sieht sie darüber hinweg, dass die Freiheit, die sie in Anspruch nimmt, sich für ihre Tochter nicht so toll anfühlt. Aber diese Ingrid ist eben auch ein Kind ihrer Zeit. Sie ist eine alleinerziehende, unglücklich verlieb-te Mutter, die niemandem Böses will.

Die ihrer Tochter aber dennoch schadet. Ihre Ingrid lässt an die Ver-wünschungen des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq denken, der unter seiner eigenen Hippie-Mutter angeblich schwer ge-litten hat. Houellebecq hat geschrie-ben, für ihn seien Hippies wie Seri-enkiller, weil sie die Erfüllung der eigenen Wünsche über das Gemein-wohl stellten und über alle Moral.Kann sein, dass Houellebecq diese au-tobiographische Erfahrung hat. Ich habe die nicht. Ich bin kein Kind von Hippies und war nie ein Hippie. Ich war im Grunde nie Teil von irgendwas, ich habe mich immer als Beobachterin gefühlt. Ich war zu jung für 68 und zu jung für die Hippies. Als Schülerin in Hannover, so mit zwölf Jahren, bin ich Marxistin-Leninistin geworden, aber nur weil ich total verknallt war in einen Typen, der steinalt war: Der war schon 17 und bei der Kommunisti-schen Partei Deutschlands, Unterab-

teilung Marxisten-Leninisten. Als ich dann nach dem Abitur 1973 zum Stu-dieren in die USA ging, habe ich dort sehr viel von den Nachwirkungen der Hippie-Zeit mitbekommen.Was haben Sie dort erlebt? Ich war in Kalifornien, auf der Uni- versität in Stockton, nicht weit ent-fernt von San Francisco. Dort gab es viele Drogenwracks, die Überbleibsel der Hippie-Bewegung waren, und Kriegsheimkehrer aus Vietnam. Ich erinnere mich, dass in diesem wun-derschönen, friedlichen College wirk-lich nachts Leute auf der Straße lagen und schrien wie am Spieß, weil sie ge-rade auf einem schlechten Trip waren. Man musste immer den Betreuer an-rufen, wenn es Krach gab. Dort kam schon damals ein psychotherapeuti-scher Betreuer auf zehn Studenten. Ich fand das sehr befremdlich. Ich hatte noch nie einen Psychotherapeu-ten zu Gesicht bekommen. Ich habe das alles wie auf einer Bühne gesehen.

Doris Dörrie im Gespräch über Fluch und Segen der Hippie-Bewegung, gute Geschichten, Glück, Scheitern, ihren nächsten Kinofilm – und natürlich ihren neuen Roman Alles inklusive.

Claudia Voigt / Wolfgang Höbel

Das Glück rennt hinterher

Interview

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6 Diogenes Magazin

Mich interessieren nicht Themen, sondern

Geschichten … Selbst in der Oper interessiert mich

nie die Musik allein, sondern auch die Frage:

Ist es gut erzählt?

In Ihrem Buch beschreiben Sie das Hippie-Leben der Siebziger als ab-surdes Theater, in dem Ihre Helden tagsüber halbnackt am Strand von Torremolinos in der Hitze herum-hüpfen, abends auf Bongos trom-meln und nachts in ihre stinkenden Schlafsäcke heulen. War es wirklich so schlimm? Ich war Ende der Siebziger öfter in Spanien und habe damals genau das beobachtet und mich etwa gefragt, ob die Kinder dieser Hippies so glück-lich sind mit ihren Rastazöpfen und damit, dass sie sich ihren Po von mor-gens bis abends im Sand wundscheu-ern. Oft haben sich diese verwilderten kleinen Kinder auf mich gestürzt, wohl weil ich jünger war als ihre El-tern, ihre Verlorenheit hat mich sehr berührt. Ihre Ingrid hat ihrer Roman-Toch-ter den typischen Hippie-Namen Apple gegeben. Sie schreiben, Kinder wie Apple würden ihren Eltern spä-ter »hauptberuflich ihr Leben von damals übelnehmen«. Zu Recht?Wissen Sie, ich versuche zu erzählen, nicht zu urteilen. Ich glaube, dass El-tern auf sehr unterschiedliche Weise das Leben ihrer Kinder versauen kön-nen. Was die Hippies auf ihre Art falsch gemacht haben, machen heutige Eltern vielleicht auf andere Art falsch. Ist unser Eltern-Egoismus heute wirklich besser? Verbrämen viele von uns mit ihrer großen Fürsorge für die Kinder nicht ganz eigene Interessen? Beobachten wir womöglich unsere ei-genen Kinder zu sehr, versuchen wir viel zu stark, über sie zu leben, und werden ihnen damit zur Last? Diese ständige Kontrolle in den sehr kleinen Familien, in denen wir inzwischen le-ben, ist auch eine Form von Egozent-rik. Es kann gut sein, dass unsere Kin-der uns das später auch um die Ohren hauen und sagen: Mein Gott, ihr habt ja irgendwie immer nur auf uns ge-starrt!Sie schicken im Buch die altgewor-denen Egozentriker der siebziger Jahre an die Costa del Sol der Ge-genwart, wo sie in den dortigen deutschen Altenheimen auf ziem-

lich komische Art den Traum vom Lebensabend in der Sonne hassen lernen. Ist das der Beitrag zum Mo-dethema alternde Gesellschaft?Mich interessieren nicht Themen, sondern Geschichten.Klingt sehr nach amerikanischer Schule. Wie stark hat Ihre Studien-zeit in den USA Ihre Vorstellung vom Schreiben und vom filmischen Erzählen geprägt?Ich hatte in Amerika ein Erweckungs-erlebnis. Ich kam aus Hannover, aus einer humanistisch geprägten Umge-bung mit Griechisch und Latein, mein Vater hatte schon Griechisch und La-tein gelernt, meine Mutter auch. In der ersten Vorlesung in Theaterwis-senschaften in Stockton zog der Pro-fessor dann die Antigone heraus. Ich dachte sofort an die gefühlten fünf Jahre mit dieser Tragödie im Grie-chischunterricht: Um Gottes willen, jetzt geht das wieder los! Doch dieser Professor hat nur gesagt: Okay, Sie le-sen das jetzt, und ich will von Ihnen nur eines wissen – is it a good story, yes or no? Das fand ich großartig. Das hat mich sehr befreit.

Für viele deutsche Literaturkritiker ist es ein eher nachrangiges Kriteri-um, ob die Geschichte, die ein Ro-man erzählt, nun ein Reißer ist. Die interessiert mehr die Eleganz der Sprache oder die Entwicklung von Figuren.Ich finde, diese Dinge müssen etwas mit der Story zu tun haben. Selbst in der Oper interessiert mich nie die Musik allein, sondern auch die Frage: Ist es gut erzählt? In der Oper ist es

fast ein Tabu zu fragen, ob Rigoletto oder Don Giovanni eine gute Ge-schichte erzählen. Mich würden diese Opern aber nicht interessieren, wenn nicht großartige Storys in ihnen ste-cken würden. In fast allen Ihren Büchern und in Filmen strampeln sich Leute ab, weil sie partout glücklich sein möchten. Sie haben mal den schönen Satz ge-sagt: Die größte Befreiung für die Menschen bestünde darin, nicht ständig glücklich sein zu wollen.Das ist so. Warum hetzen dann auch in Ihrem neuen Werk alle Ihre Figuren diesem Glücksanspruch, den sie sich in den Kopf gesetzt haben, wie besessen hinterher – weil man ihnen diesen Anspruch nicht ausreden kann? Wir alle rennen dem Glück nach, das Glück rennt hinterher. Die Suche nach dem Glück ist ein klares Indiz dafür, wie gesättigt eine Gesellschaft ist. Es gibt diese Glücks-Nationen-wertungen, für die man die Bewohner sämtlicher Länder der Welt befragt, wie glücklich sie sich fühlen. In denen erkennt man, dass mehr Reichtum nicht automatisch glücklicher macht. Auch Bewohner von Ländern mit ge-ringem Bruttosozialprodukt können sich als glücklich einschätzen. War-um? Sie haben gar nicht so viel Zeit, darüber nachzudenken, ob sie jetzt glücklich sind oder nicht. Sondern sie denken darüber nach, ob ihre Kinder und sie heute oder morgen was zu es-sen haben. Erst wenn unsere Grund-bedürfnisse abgesichert sind, machen wir uns Gedanken darüber, ob wir ei-gentlich glücklich sind. Dann definie-ren wir uns aus dem Mangel heraus, darüber, was wir alles nicht haben. Dann sind wir plötzlich nicht jung ge-nug, dann sind wir nicht schön genug, dann sind wir nicht schlank genug, dann kommen halt sehr, sehr viele Dinge, die mit den Grundbedürfnis-sen erst mal gar nichts zu tun haben. Die Hippies haben ihre Vorstellung vom Glück einerseits vom materiel-len Reichtum abgekoppelt, anderer-seits haben sie den Anspruch auf Glück zum Maßstab dafür gemacht,

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ob das Leben gelingt oder nicht. War das der Grundirrtum? Die Idee, den zu lieben, der neben mir steht, nach dem Hippie-Motto »love the one you’re with«, war gar nicht so schlecht. Aber die Abkopplung vom Materiellen hat nicht funktioniert. Die meisten Hippies waren gutsituier-te Kinder des Mittelstandes. Die wa-ren keine armen Schlucker. Und bei allem Hippie-Gehabe hatten sie spä-ter oft genug Geld, um sich in den Hippie-Paradiesen auch Häuser und Altenheimplätze zu kaufen. Selbst im Spanien der siebziger Jahre hatten die Hippies im Vergleich zu den Fischern viel Geld. Und wenn es nur Bafög war.Trotz des schärferen Blicks zeichnet Ihre Bücher und Filme eine Milde aus. Sie geraten Ihnen immer zu Ko-mödien. Fehlt Ihnen der Mut zur Tragödie?Nein, ich möchte unterhalten! Nicht langweilen. Ob eher traurig oder ko-misch – es sind andere, die auf alles, was ich mache, immer Komödie draufschreiben. Weil sich das halt gut verkauft oder weil es ab und zu mal was zu lachen gibt. Ich habe mich da-gegen immer gewehrt, auch der Film Männer war für mich keine Komödie. Ich würde mich solchen Bezeichnun-gen gern verweigern. Warum lassen Sie Ihre Geschichten fast nie tragisch ausgehen?Weil die Tragödie großes Pathos be-hauptet und meistens nicht der Wahr- heit entspricht. Die ganz große Tragö-die in der Kunst ist oft eine Einladung, sich erhaben zurückzulehnen. Des-halb begegnet man bei mir so oft die-ser fatalen Mischform, die im Leben besonders schwer zu ertragen ist. Bei mir sind die Dinge immer in der Schwebe und können auch in ihrer größten Tragik durchaus komisch sein. Vielen von uns Deutschen fehlt der schwarze Humor, um diese Ko-mik zu sehen, die Engländer zum Bei-spiel sind darauf einfach besser trai-niert oder sogar gedrillt. Ihr nächstes Filmprojekt ist die Ver-filmung einer Erzählung des An-walts und Bestsellerautors Ferdi-nand von Schirach, die ausgerechnet

Glück heißt. Was reizt Sie an dem Stoff, außer dem Titel? Glück hat mich sofort angesprungen, weil diese Geschichte verdreht und kompliziert ist. Es ist erst mal die tra-gische Story von zwei Außenseitern, die in Berlin zueinanderfinden, einem Punk und einer Prostituierten. Ihr Glück ist extrem, kippt und wird zer-stört, als ein Freier tot in der Woh-nung der Prostituierten liegt. Am Ende schaffen die beiden dann doch fast ein Happy End. Dabei haben sie, auch weil sie traumatisiert sind, eine sehr bescheidene und vielleicht sogar spießige Vorstellung vom Glück. O Gott, die sind glücklich, wenn sie zu-sammen im Zimmerchen sitzen und Abendbrot essen am gedeckten Tisch mit Messer und Gabel! So was finde ich interessant, gerade weil es von meiner Glücksvorstellung ziemlich weit weg ist. Wie sieht die aus?Abendbrot auch ab und zu, absolut! Aber ansonsten die Fähigkeit, von ei-nem Moment zum nächsten zu gehen und dabei zu schauen: Wie beschenkt mich dieser Moment, oder wie kann ich ihn so gestalten, dass es ein glück-licher Moment wird, nicht nur für mich, sondern auch für andere?Das hört sich an wie aus einem die-ser Glücksratgeberbücher. Kann es sein, dass Sie mit Ihren Filmen und mit Ihren Büchern auch Lebenshilfe geben? Ich glaube, dazu sind meine Figuren zu widersprüchlich, als dass es so funktionieren könnte.Der strenge Filmtheoretiker Georg Seeßlen hat Ihre Werke trotzdem mal als »Feelgood-Pharmaka« be-zeichnet. Steckt darin für Sie ein Kompliment? Ich hoffe jedenfalls, der Herr hat viel davon eingeschmissen. Im Ernst glau- be ich, dass Kunst eine Form von Energie vermitteln kann. Ich sehe kei-ne gute Grundvoraussetzung darin, sich vorzunehmen, dass jemand mei-ne Romane liest oder in meine Filme geht und sich danach beschissener fühlt als vorher. Ich erwarte, wenn ich ein Buch lese oder wenn ich ins Kino

gehe oder in eine Ausstellung, dass ich Freude oder Begeisterung empfinde, dass ich innerlich etwas in Bewegung komme durch Gefühle, Gedanken oder auch durch Mitleiden. Und ich erhoffe mir von meinen Arbeiten, dass sie diese Art von Energie in die Welt setzen. War es für Sie ein Akt der Selbstver-wirklichung, Regisseurin zu werden und Bücher zu schreiben? War es ein Versuch, Ihr persönliches Glück zu finden? Ich hätte das nie so bezeichnet, nein. Es war keine Selbstverwirklichung. Sondern der eigentlich sehr kühle Wunsch, diesen Beruf zu ergreifen.•Aus: Der Spiegel 30/2011.

Buchtipp

Roman · Diogenes

Doris DörrieAlles

inklusive

Roman · Diogenes

Doris DörrieAlles

inklusive

Doris DörrieAlles

inklusive

Roman

DiogenesHörbuch

Gelesen vonMaria Schrader

Maren KroymannPetra Zieser

Pierre Sanoussi-Bliss

»Doris Dörrie besitzt einen durch

Lebensklugheit geschärften Blick auf das Komische

und Tragische im Menschenzoo.«

Irmgard Hochreither/ Stern, Hamburg

5 CD

256 Seiten, LeinenISBN 978-3-257-06781-1

5 CD, Spieldauer 377 Min.Ungekürzt gelesen von Maria Schrader,

Maren Kroymann, Petra Zieser und Pierre Sanoussi-Bliss

ISBN 978-3-257-80309-9

Ein Sommer in Spanien, nach dem nichts mehr so sein kann, wie es war.

Vier äußerst unterschiedliche Menschen, alle auf der Suche nach der Sonnenseite des Lebens. Aber kann man das Glück buchen wie

einen Urlaub, alles inklusive?

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8 Diogenes Magazin

Doris Dörrie lebt in München, ist die »erfolgreichste deutsche Film-regisseurin der Gegenwart« (Süd­deutsche Zeitung) und »eine der besten Erzählerinnen der deutschen Gegenwarts literatur« (Die Zeit): Neben zahlreichen Erzählungen hat sie auch vier Romane geschrieben. Bücher waren schon in ihrer Kindheit wichtig: »Meine Familie ist wirklich bücherverrückt, besonders meine Eltern, die wie Wahnsinnige lesen. Ohne ein Buch hätte man keinen von uns jemals antreffen können.«

»Als Kind erschien mir das Schreiben als das größte Wunder auf diesem Planeten. Wie konnte

man mit den immer gleichen 26 Buchstaben so viele Türen zu so

vielen fremden Welten öffnen? Es war mir unbegreiflich.«

Sie dreht erfolgreiche Kino - und Fernsehfil-me, die das Publikum liebt und die die Kri-tiker entzücken, sie hat Opern inszeniert und Kinderbücher geschrieben. Egal in wel-chem Genre: Wir lieben sie überall als grandiose Erzählerin. Ihre neueste Ge-schichte ist ein Roman: Alles inklusive – ein Titel, der auch als Lebensmotto zum Multita-lent Doris Dörrie passen würde.

Doris Dörrieim Portrait

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9Diogenes Magazin

Die SchriftstellerinZum literarischen Schreiben kam Doris Dörrie über ihre Filmarbeit. Um besser in ihre Filmfiguren hin-einschlüpfen zu können, fing Doris Dörrie an, Pro-sageschichten über sie zu schreiben. So bekam sie ein Gespür dafür, wer sie eigentlich waren und war-um sie taten, was sie taten. »Mitten ins Herz war meine allererste Kurzgeschichte, an der ich auch als Prosageschichte feilte, bevor ich sie zum Drehbuch umschrieb.« Als Diogenes Verleger Daniel Keel da-von hörte, rief er die Filmemacherin an und wollte die Geschichten lesen. »Nur schwarzer Fliegen-dreck auf weißem Papier, und sonst gar nichts«, wimmelte Doris Dörrie ihn zuerst ab. 1987 erschien dann doch der erste Erzählband Liebe, Schmerz und das ganze verdammte Zeug bei Diogenes. »Da-niel Keel brachte mich dazu, Geschichten nicht mehr nur für meine Filme zu schreiben, sondern den sechsundzwanzig Buchstaben zu vertrauen und den Leser seinen eigenen Film drehen zu lassen – der sowieso immer der beste aller möglichen Filme ist. Ich bin ihm ewig dankbar dafür.«

»Wenn ein Mann sich langweilt, fällt ihm

nur Sex ein.«

Die FilmregisseurinEs begann damit, dass die Eltern keinen Fernseher hatten, Doris Dörrie als Kind zu Hause Märchen inszenierte und ihre jüngeren Schwestern zum Mit-spielen zwangsverpflichtete. Das Theater wurde zum Berufsziel. In Stockton in Südkalifornien stu-dierte sie Theaterwissenschaften und Schauspiel. Und entschied sich dann, die Seite zu wechseln, statt zu schauspielern selbst Filme zu machen. Män­ner, ihr dritter Kinofilm, der beinahe nicht in die Kinos gekommen wäre, weil er für die Verleiher »zu klein« war, wurde zu einem der erfolgreichsten deutschen Filme aller Zeiten. Das war vor 26 Jahren. Jetzt hat Doris Dörrie gerade ihren neuesten Kino-film abgedreht: Sie bringt die Erzählung Glück aus Ferdinand von Schirachs Bestseller Verbrechen auf die Leinwand – Kinostart ist voraussichtlich Febru-ar 2012.

DiogenesHörbuch

Gelesen vonAnna König

»Doris Dörrie ist eine beneidenswert

phantasiebegabteAutorin. Ironische

Märchen derGegenwart – Kino

im Kopf.« Kurier

1 CD

Doris DörrieMänner

EineDreiecksgeschichte

1 CD, Spieldauer 44 Min.ISBN 978-3-257-80070-8

Doris DörrieLiebe

Schmerzund das ganze

verdammteZeugVier Geschichten

DiogenesDiogenes Taschenbuchdetebe 21796, 176 Seiten

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Doris Dörrie in Zürich vor einem Plakat ihres Kinofilms, 1986

München, 1987

Doris Dörrie und Daniel Keel auf der Frankfurter Buchmesse, 1991

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10 Diogenes Magazin

Die MutterAls ihre Tochter noch klein war, schrieb Doris Dör-rie täglich von 10 bis 15 Uhr, »wie ein Beamter, weil in der Zeit meine Tochter im Kindergarten war«. Als die Tochter in die Schule kam, fing Doris Dörrie an, Romane zu schreiben. Ihr erster, Was machen wir jetzt?, wurde sofort ein Bestseller. Heute ist ihre Tochter erwachsen – und Doris Dörrie produktiver denn je!

Die OpernregisseurinDoris Dörrie inszeniert seit mehr als zehn Jahren auch Opern, im September zum Beispiel Don Gio­vanni in der Staatsoper Hamburg. »Opern sind be-stimmt das Aufregendste, was es gibt, weil so viel schiefgehen kann. Ein Film, ein Erzählband ist fer-tig, wenn er veröffentlicht wird, aber bei der Opern-premiere ist man komplett angewiesen auf die Leis-tung des gesamten Teams. Der Moment entscheidet.«

Sehnsucht nach JapanJapan ist Doris Dörries Sehnsuchtsland, nicht erst seit ihrem letzten Kinoerfolg Kirschblüten – Hana­mi. Bereits ihr Kinofilmdebüt Mitten ins Herz wur-de auf das Filmfestival Tokio eingeladen, und 1999 drehte sie Erleuchtung garantiert im Land des Lä-chelns. »Oberflächlich ist kein Land Deutschland so ähnlich wie Japan. Sauber, gedämpft, verklemmt. Dennoch ist Japan ungemein exotisch. Das wirkt sich aus wie ein Stromausfall im Gehirn.«

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»Hochkonzentriert und selbst vergessen – das ist der

ideale Glückszustand.«

Doris DörrieWas

machen wirjetzt?

Roman · Diogenes

Diogenes Taschenbuchdetebe 23270, 304 Seiten

Doris DörrieKirschblüten

HanamiEin Filmbuch

Diogenes

Diogenes Taschenbuchdetebe 24067, 216 Seiten

Tocher Carla neben der Schreibmaschine, 1988

Szene aus dem Film ›Kirschblüten – Hanami‹ von Doris Dörrie, 2008

Bei den Proben zu ›Turandot‹ an der Staats­oper Berlin, 2002; Plakat der ›Don Giovanni‹­Inszenierung Hamburg, 2011

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Der Star?Schreiben oder Filmemachen ist für Doris Dörrie kein Entweder-oder – sie macht beides leidenschaft-lich gerne. Beim Filmen liebt sie die Arbeit im Team, genießt es aber genauso, »ganz allein an meinem Schreibtisch zu sitzen und alles in meinem Kopf entstehen zu lassen«. Dabei hat Prosa eindeutig den Vorteil, dass man nicht »bei jedem Satz nachdenken muss, was er kostet«. Doris Dörries Rezept, wenn sie Regie führt: »Man muss sich der Lächerlichkeit preisgeben können. Nur dann trauen sich die ande-ren auch. Deshalb versuche ich immer, am Set der allererste Depp zu sein. Jeder darf sich lächerlich machen. Daraus entsteht in der Regel sehr viel mehr, als wenn alle aus Angst heraus behaupten: Ich bin cool, ich bin super.«Weniger gern steht Doris Dörrie vor den Kameras. »Ich bin nicht gerne öffentlich«, sagt die Regisseu-rin, die liebend gerne auf Pressearbeit oder Premie-ren mit rotem Teppich verzichten würde – aber das gehört notgedrungen zum Job dazu.

Die DozentinAls Kind war Doris Dörrie keine Musterschü-lerin: »Ich habe das Leben außerhalb der Schu-le meist interessanter und wichtiger gefunden«, verrät sie. Eine brave Schülerin sei sie nie gewe-sen: »Ich hatte nur dummes Zeug im Kopf.« Zum Glück war der Vater sehr verständnisvoll und unterschrieb alle Verweise mit »Dein dich liebender Vater«. Heute lehrt Doris Dörrie selbst – seit 1997 ist sie Dozentin an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film.

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»Bis heute habe ich Angst, ohne Buch irgendwo zu stranden.

Filme geben mir bis heute kein Zuhause, sondern eher einen

Unterstand im Regen. Wirklich leben kann ich in ihnen nicht.

In Büchern schon.«

Doris DörrieUnd was wird

aus mir?Roman · Diogenes

Diogenes Taschenbuchdetebe 23777, 432 Seiten

Doris Dörrie als Dozentin auf dem Talent Campus des Internationalen Film festivals von

Guadalajara (Mexiko), 2010

Doris Dörrie in Berlin während der Eröffnung des Boulevards der Stars am Potsdamer Platz, 2010

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12 Diogenes Magazin

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Gibt es etwas, das Sie nach all den Jahren an Ihrem eigenen großen Œuvre nervt?Loriot: »Die Fragen dazu.«

Es wurde sicherlich viel gelacht beim Drehen.Loriot: »Nein, gar nicht.«

Haben Sie deutsche Lieblingswörter?Loriot: »›Zahnersatzzusatv ersicherung‹ würde sicher dazugehören, aber auch ›Rentnerschwemme‹. Eigentlich bereits ›Gesundheitsreform‹. Denn Gesundheit soll dabei ja nicht refor­miert werden, soweit ich das be urteilen kann. Unsere Sprache wird leider immer unschöner – trotz durchaus wachsenden Vokabulars.«

Welcher Gegenstand in Ihrer Küche ist Ihnen am wichtigsten?Loriot: »Meine Frau.«

Humor ist doch wohl nicht die schlechteste Charaktereigenschaft?Loriot: »Es gibt Schlimmeres.«

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15Diogenes Magazin

Frage: Das Mikrophon ist jetzt an, Herr von Bülow. Wussten Sie, dass so ein Gerät bis zu zwölf Stunden aufnehmen kann?Loriot: Dann halte ich jetzt einfach den Mund.Frage: Ich würde doch gerne noch dieses Gespräch mit Ihnen führen. Herr von Bülow, in Umfragen zu den beliebtesten Schauspielern und Entertainern landen Sie oft auf Platz eins. Sie gelten als einer der be-kanntesten Deutschen überhaupt. Wollen Sie versuchen, Ihre Populari-tät zu erklären?Loriot: Nein.Frage: Fühlen Sie sich beobachtet?Loriot: Merkwürdig war es schon, als ich einmal ein neues Bett benötigte und es ausprobieren musste. Da lag ich nun, der ganze Laden stand um mich rum, und jeder konnte den Text auswendig.

Frage: Hatte das Bett wenigstens Spannfedermuffen?Loriot: Das sind Ausgeburten meiner hemmungslosen Phantasie.Frage: Waren Sie ein fröhliches Kind?Loriot: Nicht besonders. Ich war still und schüchtern.Frage: Wird bei Ihnen alles komisch?Loriot: Alles, was ich zu machen ver-suche, ist dazu verurteilt, komisch sein zu müssen.Frage: Sie sagen das so traurig.Loriot: Nein, nein. Eine starke Mutter, die zur Unzeit ein Brahms-Lied singt, ist nun mal komischer als eine Leiche.Frage: 1968 schrieben Sie in das Vor-wort Ihres Buchs Loriots großer Rat -geber: »Nach etwa zwanzig Lehr-jahren sah ich mich nun im Stande, ein kleines Männchen zu zeichnen, das mich bis heute ernährt.« Womit fangen Sie an, wenn Sie das Knollen-nasenmännchen zeichnen?

Loriot: Mit den Haaren. Nicht mit der Nase.Frage: Wie viele waren das wohl so im Lauf der Jahre?Loriot: Keine Ahnung … vielleicht 20 000.Frage: Zu Ihren populärsten Figu-ren gehörten Wum und Wendelin. War Wendelin schwul?Loriot: Ach nein, er sprach nur so na-sal, weil er einen Rüssel hatte.Frage: Aber er wirkte schon sehr weiblich.Loriot: Er war wohl noch vor der Pu-bertät, da kann man das nicht so ge-nau unterscheiden.Frage: Sie sind in Brandenburg an der Havel geboren und in Berlin aufgewachsen. Wann fangen Ihre Erinnerungen an diese Stadt an?Loriot: Nachdem sich meine Eltern getrennt hatten, kam ich im Alter von vier Jahren zusammen mit meinem

Kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe des Diogenes Magazins erschütterte uns die trau-rige Nachricht, dass Loriot am 22. August im Alter von 87 Jahren in Ammerland gestorben ist. Die Tagesschau kommentierte: »Mit seinem Tod hat Loriot sein Publikum zum ersten Mal nicht zum Lachen, sondern zum Weinen gebracht.« Loriots letztes Buch, das soeben erschienen ist, versammelt die besten Gespräche mit ihm aus vierzig Jahren.

Loriot

Bitte sagen Sie jetzt nichts

Interview

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16 Diogenes Magazin

Bruder nach Berlin zu meiner Groß-mutter, die da mit ihrer Mutter lebte, also meiner Urgroßmutter. An diese Zeit habe ich sehr gute Erinnerungen. Wir bewohnten die beiden oberen Etagen der Pariser Straße 55, Ecke Fa-sanenstraße. Schräg gegenüber hatten sich Weizsäckers eingemietet. Wir kannten sie damals nicht. Richard war wohl um die zehn Jahre alt und darum noch nicht Bundespräsident.Frage: Kann jemand, der viel Hu-mor hat, ein schlechter Mensch sein?Loriot: Entscheidend ist wohl, wor-über er lacht. Sein sonniges Gemüt könnte ja auch auf Schadenfreude be-ruhen. Es wäre zu schön, wenn allein der Humor dem Menschen einen ed-len Charakter verliehe.Frage: Was ist im Leben wichtiger, der Ernst oder die Heiterkeit?Loriot: Heiterkeit ist ohne Ernst nicht zu begreifen. Frage: Woher kommt Ihr Humor?Loriot: Das hat wohl etwas mit den Genen zu tun. Humor ist kein Ver-dienst und nicht erlernbar. Es mag aber sein, dass Umgebung, Schule und Familie die Entwicklung beein-flussen.Frage: Hatte Ihr Vater Humor?Loriot: Sehr. Ich habe niemals über jemanden mehr gelacht als über mei-nen Vater. Er war der witzigste Mann, den man sich überhaupt vorstellen kann. Dabei sehr ernst, wenn es sein musste. Frage: Können Sie seinen Witz be-schreiben? Erinnern Sie sich an eine Begebenheit, in der er besonders witzig war? Loriot: Es gibt da eine Geschichte, die mir besonders in Erinnerung ist, weil mein Vater auf dem Totenbett lag. Ich saß mit meiner Frau an seinem Bett, und ich wusste, es würde zu Ende ge-hen. Wir waren alle Berliner und spra-chen zwar keinen Berliner Dialekt, aber das Berlinerische war eine komi-sche Form, sich zu unterhalten. Das voraus … Meine Frau begann einen Satz und sagte: Weißt du, ich kann mir nicht vorstellen … Und in die Pause rein sagte er sofort: Du brauchst dir nich vorzustellen, ick kenn dir ja

schon! Das war nur so eine ganz klei-ne Sache, aber wenn jemandem auf dem Totenbett liegend und fast nicht mehr am Leben, wenn ihm das dazu einfällt – das ist typisch für dieses ständige Wachsein, etwas in bewusster Absurdität zu verstehen.Frage: Sie kommen aus einer Solda-tenfamilie. Was haben Sie im Krieg gemacht?Loriot: Ich machte mit 17 das Notabi-tur, begann als Panzergrenadier eine Offizierslaufbahn, wurde Oberleut-nant und verbrachte drei Jahre in Russland.

Loriot: Nein. Er war ein Mann ohne Vorurteile. Er erkannte einen künstle-rischen Beruf für seinen Sohn als rich-tig, obwohl er selbst, abgesehen von einer Neigung zum Vortragen klassi-scher Balladen, nicht musisch veran-lagt war. Mit dem Tage der Währungs-reform 1949 erhielt jeder Bürger vierzig Mark der neuen Währung. Mein Vater kaufte von dem Geld ei-nen Zauberkasten.Frage: Für Sie?Loriot: Nein, für sich. Er kaufte sich einen Zauberkasten und reiste zu mir nach Hamburg, um meine Freundin und mich mit einer magischen Vor-stellung zu verblüffen. In meinem Acht-Quadratmeter-Zimmer steiger-te sich diese Darbietung dann zwi-schen guter Absicht und missratenen Effekten zu einem Desaster von schier wahnsinniger Komik. Die vierzig Mark hätten nicht besser angelegt sein können. Und aus der Freundin wurde meine Frau, mit der ich noch immer verheiratet bin.Frage: Wie wurden Sie in die Kunst-akademie angenommen?Loriot: Alfred Mahlau gab mir auf, ei-nen kleinen Stapel von Zeichnungen zu fertigen und sie dann einzuschi-cken. Also ging ich nach Hause in mein Mietszimmer und habe meine Freundin gezeichnet, meine erste Freundin, 25 Mal, und zwar unbeklei-det – warum sollte man sonst eine Freundin zeichnen? Ich reichte die Werke ein und wurde angenommen.Frage: Sie sind seit über fünfzig Jah-ren mit Ihrer Frau verheiratet, wie haben Sie es geschafft, so lange zu-sammenzubleiben?Loriot: Meine Frau meint, das könnte wohl auch Phantasielosigkeit gewesen sein! Nett, nicht?Frage: Ist Treue wichtig?Loriot: Ja, natürlich.Frage: Aber wer ist immer treu?Loriot: Emil, mein Mops.Frage: Seit wann glauben Sie zu al-tern?Loriot: Wenn ich zum Arzt komme und sage, ich habe da was, mir wird öfter mal schwindlig – dann sagt der: Sie haben gar nichts, Sie sind alt.

Frage: Warum wollten Sie Soldat werden?Loriot: Es war eine Familientradition und wurde seit Jahrhunderten nicht in Frage gestellt.Frage: Waren Sie ein guter Soldat?Loriot: Nicht gut genug, sonst hätte ich am 20. Juli 1944 zum Widerstand gehört. Aber für den schauerlichen deutschen Beitrag zur Weltgeschichte werde ich mich schämen bis an mein Lebensende.Frage: Was machten Sie nach dem Krieg?Loriot: Ich folgte dem Rat meines un-geduldigen Vaters und begann ein Studium an der Hamburger Kunst-akademie.Frage: War das nicht eine Überwin-dung für Ihren Vater? Ill

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17Diogenes Magazin

Frage: Ein Anlass zur Besorgnis?Loriot: Karl Valentin sagte, man liest jeden Tag die Traueranzeigen, damit man weiß, wer noch lebt. Eine gewis-se Ängstlichkeit macht sich breit, die Ungewissheit über die Fortdauer der Gesundheit. Frage: Halten Sie sich fit, treiben Sie Sport?Loriot: Ich sage mir Hamlet­Monolo-ge auf, die ich noch aus der Schulzeit kann. Aber das wollten Sie wohl nicht hören. Ich glaube, dass mir das Leben weniger gefiele, wenn ich es durch täg-liches, stundenlanges Training zu ver-längern trachtete. Allerdings ist diese Methode nur mit Vorsicht weiterzu-empfehlen.Frage: Bei welchen Gelegenheiten könnten wir Loriot unfreiwillig ko-misch erleben?Loriot: Ich hatte – ein eher seltener Fall – den Einkauf übernommen, eilte in das Lebensmittelzentrum unserer Kleinstadt, kannte mich nicht mehr aus, verharrte ärgerlich und belehrte die Chefin, eine derart verwirrende Umgruppierung des Warenangebots behindere den Einkauf, verärgere die Kundschaft und senke den Umsatz. Ich deutete auf ein Arrangement preis-günstiger Herrenwäsche, dekoriert mit gestreiften Freizeithemden. »Hier«, sagte ich, »finde ich sonst mit einem Griff die Spreewalder Senfgurken.« Mit ernstem Gruß verließ ich die Ein-kaufsstätte. Seither hält man mich dort für geisteskrank. Ich hatte mich in der Tür geirrt.Frage: Gibt es Themen, über die Sie keine Witze machen?Loriot: Ich kann mich nicht über Din-ge amüsieren, die anderen heilig sind. Es ist verhängnisvoll, fremde Glau-bensrichtungen nicht ernst zu neh-men. Ich finde es aber nicht schlimm, über den eigenen Glauben hier und da eine heitere Sicht durchblicken zu las-sen. Ich glaube, dass der liebe Gott lachen kann.Frage: Haben Sie selbst schon Vor-kehrungen für Ihren eigenen Tod getroffen?Loriot: Da berühren Sie ein sehr aktu-elles Thema. Ich muss mir ja mal ein

Plätzchen aussuchen, wo ich mich dann eine gewisse Weile ausruhen werde. Das habe ich bisher versäumt, weil ich so viel zu tun hatte. Aber ich habe kürzlich damit angefangen.Frage: Wie sahen Ihre Vorbereitun-gen konkret aus?Loriot: Ich bin mit meiner Frau und Freunden schon über einige Friedhöfe marschiert, und wir haben uns ange-guckt, wo wir am liebsten liegen wür-den. Hinterher haben wir im Café Apfelkuchen mit Schlagsahne geges-sen und hatten den Eindruck, wir wä-ren auf unserer eigenen Beerdigung gewesen.Frage: Wissen Sie, was auf Ihrem Grabstein stehen soll?Loriot: Zweckmäßig wäre es, wenn der Name darauf stünde.Frage: Was kommt nach dem Tod?Loriot: Der Himmel, hoffe ich. Ich habe mir meinen Kinderglauben an den lieben Gott bewahrt.Frage: Gibt es in Ihrem Leben einen unerfüllten Wunsch?Frage: Einen Traum? Für einen Hu-moristen vielleicht etwas seltsam: ein gutes Ende, aber keine Pointe.•

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Die Fragen und Antworten sind dem Buch Loriot, Bitte sagen Sie jetzt nichts entnommen und Zitate aus Interviews mit: Franziska Sperr und Jan Weiler im Süddeutsche Zeitung Magazin, 2002; Angelika Helle-mann in Bild am Sonntag, 2006; Marcus Krämer in der Sächsischen Zeitung, 2008; Hanns-Bruno Kammertöns und Stephan Lebert in Die Zeit, 2008; Gero von Boehm im Südwestrundfunk, 1986, und mit Der Spie­gel, 1988 und 2006.

Buchtipp

Diogenes

LoriotBitte sagen Sie

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256 Seiten, LeinenISBN 978-3-257-06787-3

Loriots letztes Buch: Die besten Gespräche aus vierzig Jahren

Exquisiter Lese- und Sehgenuss

Das Buch zur anderen Kinodimension

Roman und Film in einer Box

Sechs Meisterwerke

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Dürrenmatt in Afrika

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www.trigon-film.org

Bestellung und Information

Page 20: diogenes magazin nr 8 | 2o11 herbst

18 Diogenes Magazin

Schaufenster

Lektorat

Scrooge

Ehrungen

»Der Papierkorb ist der beste Freund des Schriftstellers«, behauptete Lite-ratur-Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer. Aber Literaten haben auch an-dere Freunde. In einem früheren Dio­genes Magazin berichteten wir, wie Leon de Winters Hund Senta einmal ein ganzes Manuskript des niederlän-dischen Romanciers auffraß – und Leon de Winter war voller Bewunde-rung für seine Hündin, einen Misch-ling aus Mastiff und Golden Retriever: »Sie hatte recht, es war ein schlechtes Buch.« Am Schluss von Martin Suters neuem Roman Allmen und der rosa Diamant, dem zweiten Fall des chro-nisch geldklammen Ermittler-Duos Allmen und Carlos, bedankt sich Martin Suter bei seiner Tochter für ihre hilfreiche Mitarbeit: »Ana hat am Bildschirm versehentlich eine Passage gelöscht, die sich im Nachhinein als überflüssig herausstellte.« Nach die-sem Lektorat durch die vierjährige Ana stürmte Allmen und der rosa Di­amant die Bestsellerlisten.

Der amerikanische Milliardär John Pierpont Morgan kaufte neben Eisen-bahnlinien, Stahlwerken und Banken auch schöne Bücher und Orginalma-nuskripte und erwarb in den 1890er-Jahren das handschriftliche Original-manuskript von Charles Dickens’ Weihnachtsklassiker Ein Weihnachts­lied. Mr. Morgan ließ sich die welt-berühmte Geschichte vom Geizhals Scrooge, der in der Weihnachtsnacht geläutert wird, zu jedem Weih-nachtsfest von seinem Butler vorle-sen – ab Original-Handschrift. Und vermachte die Handschrift und seine ganze kostbare Bibliothek der Öffent-lichkeit. Für alle, die nicht in New York leben und die Morgan Library in der East 36th Street nicht besuchen können, gibt es das Weihnachtslied zum 200. Geburts tag von Charles Di-ckens bei Diogenes in einer neuen Übersetzung von Melanie Walz, wun-derschön illustriert von Tatjana Haupt-mann.

Den Diogenes Verlegern Daniel Keel und Rudolf C. Bettschart wurde die Friedrich-Perthes-Medaille verliehen, die höchste deutsche buchhändleri-sche Auszeichnung. Als Begründung nannte der Börsenverein des Deut­schen Buchhandels die wichtigen und vorbildhaften Impulse, die beide seit der Gründung des Verlags im Jahr 1952 in die deutschsprachige Literatur und Buchbranche eingebracht haben. Namensgeber der Ehrung ist der Ver-leger und Buchhändler Friedrich Per-thes, der maßgeblich an der Grün-dung des Börsenvereins im Jahr 1825 beteiligt war und als eine herausra-gende Persönlichkeit in der Geschich-te der Buchbranche gilt. Rudolf C. Bettschart bedankte sich beim Vor-steher des Börsenvereins Herrn Dr. Gott fried Honnefelder für den Orden und wies darauf hin, dass er schon zu-vor mit einem Orden bedacht worden sei, dem Orden »Für nichts und wie-der nichts«.

Die Ehrungen nahmen mit der Per-thes-Medaille noch kein Ende: Daniel Keel wurde vom französischen Kul-turminister Frédéric Mitterrand zum

»Chevalier dans l’ordre des Arts

et des Lettres« ernannt, eine

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19Diogenes Magazin

Petros Markaris

Le Parfum

Lukas Hartmann

Der grosse Abriss

In Griechenland spitzte sich die Schulden krise zu, und der Diogenes Verlag hatte mit Petros Markaris’ neu-em Roman Faule Kredite den perfek-ten Krimi zum Geschehen. Da musste sofort reagiert werden. Der Erschei-nungstermin wurde kurzerhand von Oktober auf Juli vorverlegt. Alles war bestens organisiert, bis auf – einen Streik in der Druckerei! Welch wun-derbare Absurdität. Petros Markaris amüsierte sich köstlich, als er im streikgeplagten Athen vom Streik in der deutschen Druckerei hörte, die das Erscheinen seines Romans verzö-gerte, in dem neben Morden an Ban-kern vor allem gestreikt und demons-triert wird. Zum Glück handelte es sich bei der Verzögerung lediglich um einen Tag.

Das Parfum – nicht von Patrick Süs-kind, sondern von Karl Lagerfeld, dessen große Leidenschaft, neben der Mode, Bücher sind, von denen er an-geblich über 300 000 besitzt. Jetzt ha-ben sie ihn zu einer Parfumkreation inspiriert, die Paper Passion heißen und schlicht »wie bedrucktes Papier riechen« soll. Wahrscheinlich wird es wie jedes Parfum 40 bis 60 Euro kos-ten und sehr viele Käufer finden, die sich sonst darüber beklagen, dass Bü-cher viel zu teuer seien.

Auf der Buchmesse von Abu Dhabi wurden am Stand des Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverbands auch Diogenes Bücher gezeigt. Dabei erregte das Cover von Lukas Hart-manns historischem Roman Bis ans

»Die Front gliederte sich in eine Reihe Fenstertüren, die golden in der Sonne funkelten und gegen die warme Nach-mittagsbrise weit geöffnet waren …« Gatsbys Traum ist endgültig ruiniert: Das prächtige Herrenhaus, das für das Haus von Gatsbys großer Liebe Daisy Modell stand, wurde im April abgeris-sen. Es war eines der größten histori-schen Säulenhäuser am Ufer von Long Island und musste fünf Neubauten weichen. In den 1920er- und 30er-Jah-ren gingen hier namhafte Persönlich-keiten von den Marx Brothers bis Winston Churchill ein und aus. Fitz-gerald wohnte in der Nähe in einem Haus zur Miete und war vielleicht Foto

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Ende der Meere mit der barbusigen Südseeprinzessin des Malers und Ro-manhelden John Webber Anstoß, durfte aber weiterhin ausgestellt wer-den: allerdings nur umgedreht.

auch auf Partys eingeladen gewesen, genau wie der Erzähler in seinem Meisterwerk Der große Gatsby. Ein anderes Haus in der Gegend, Beacon Towers, aus dem Fitzgerald in seinem Roman das Anwesen von Gatsby in West Egg machte, wurde übrigens be-reits in den 1940er-Jahren abgerissen. Im Roman wird es so beschrieben: »Eine kolossale Angelegenheit. Es war die genaue Kopie irgendeines mittel-alterlichen Rathauses in der Norman-die, mit einem funkelnagelneuen Turm, an dem ein dünner Efeubart sprosste, einem Schwimmbassin ganz aus Mar-mor und mehr als vierzig Morgen Ra-sen und Parklandschaft.«

LukasHartmann

Bis ans Endeder Meere

Roman · Diogenes

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Wie soll manleben?

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Dalai LamaMeine spirituelleAutobiographie

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Dalai LamaRatschlägedes Herzens

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Vollendung

Paulo CoelhoSei wie ein Fluß,

der still die Nachtdurchströmt

Geschichten und Gedanken

Diogenes

Paulo Coelho

durchströmtGeschichten und Gedanken

Diogenes

Montesq

uieu

Vom

weisen und

glücklichen

Leben

Diogenes

Montesq

uieu

weisen und

lücklichen

Leben

Diogenes

H. D. Th

oreau

Waldenoder

Leben in den

Wäldern

Diogenes

H. D. Th

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Waldenoder

Leben in den

Wäldern

Diogenes

Lao Tse

Tao-Te-King

Diogenes

Lao Tse

Tao-Te-King

Diogenes

KrishnamurtiMeditationen

Diogenes

KrishnamurtiMeditationen

Diogenes

Dasgute Leben

Ein Wegweiserzum Buddhismus

für den Westenvon

Gerald RoscoeDiogenes

Dasgugug tetet Lebebe enene

EiEiE nini WeWeW gege wgwg ewew isisi eses rerezuzuz mumu BuBuB ddddd hdhd isisi msms ususu

füfüf rürü deded nene WeWeW sese tetet nenevonono

Gerald RoRoR scoeDiogogo egeg nene esese

Diogenes

EpikurÜber

das Glück

Diogenes

EpikurÜber

das Glück

Relax and read a book

Der grosse Nick

Irland, Griechenland, Portugal, Itali-en … Vor lauter Finanzkrisen liegen die EU-Politiker diesen Sommer nicht am Strand, sondern müssen von einer Krisensitzung zur nächsten eilen. Und immer geht es um das Gleiche: Geld, mehr Geld, noch mehr Geld. Kein Wunder, wenn es einem da langweilig wird. Präsident Nicolas Sarkozy hatte

im Juli zu einer Sitzung in Brüssel ne-ben grünen und blauen Aktenstößen eine spannende Lektüre unter dem Arm: einen Sonderband mit drei Ro-manen von Georges Simenon.

Martin Walker hat während seiner Lesetour in Deutschland in einem In-terview verraten, dass er in seinem Haus im Périgord Federvieh hält. Der

Hahn heißt Sarko nach dem französi-schen Präsidenten, und dann gibt es noch vier Hennen: »Angela ist das flo-ckigste Tier von allen und gibt am meisten Eier, die Hübscheste ist Carla, legt dafür aber die wenigsten Eier.« Auch Margaret Thatcher wohnt in der Feder-WG. Am ausdauerndsten stei-ge jedenfalls Hillary dem Gockel Sar-kozy nach, so Martin Walker.

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durch bedeutungsvolles Lächeln, gurrendes Lachen und intensives Wimperngeklappere auch beachtet wurde. Mein Gott, warum hatte ich das nicht dreißig Jahre früher ka-piert!«Ingrid Noll, ›Der Hahn ist tot‹ (detebe 22575). Eingeschickt von A. Pikosz, Hamm

»Wenn jeder sich nur um das Glück eines einzigen Menschen kümmern würde, wäre die ganze Welt glück-lich.«Georges Simenon, ›Der große Bob‹ (detebe 20585). Eingeschickt von Axel Zschippang, Wolfsburg

»Ich halte es für ein Missverständ-nis, dass Schriftsteller ein besseres politisches Verständnis haben. Wir können uns vielleicht besser aus-drücken. Das heißt aber nicht, dass wir recht haben.«Meir Shalev in der ›Jüdischen Allgemeinen‹, 12. Mai 2011

»Das Geheimnis des Friedens ist Erschöpfung. Aber wann sind wir schon alle erschöpft? Wir wollen froh sein, wenn die meisten erschöpft sind. Aber nicht zu erschöpft – sie müssen die am Kämpfen hindern, die weiterkämpfen wollen.«Bernhard Schlink, ›Liebesfluchten‹, Erzählung ›Der Sohn‹ (detebe 23299). Eingeschickt von Lieselotte Frei, Stuttgart

»Schon verrückt, wie etwas seinen Wert verliert, wenn es in großen Mengen vor dir liegt.«Martin Suter, ›Der letzte Weynfeldt‹ (detebe 23933). Eingeschickt von Wolfgang Berndt, Dresden

»In meinem schönen Kleid, mit von Kaffee geröteten Wangen und dem neuen überdrehten Gefühl im Bauch, entdeckte ich auf einmal, dass ich

Schicken Sie uns bitte Ihre Lieblings -sätze aus einem Diogenes Buch.

Jedes veröffentlichte Zitat wird mit einem Bücherpaket im Wert von

€ 50.– honoriert. Bitte per E-Mail an [email protected] oder auf einer Postkarte an: Diogenes Magazin,

Sprecherstr. 8, 8032 Zürich, Schweiz

»Er las hauptsächlich zum Vergnügen …

Damit er seine Gedanken besser ordnen konnte,

exzerpierte er ein oder zwei Zeilen in sein Notizbuch.« Aus: Anthony McCarten, Liebe am Ende der Welt

Lese­früchtchen

sie ist dann noch nicht einmal eine Minderheit; unwiderstehlich aber ist sie, wenn sie ihr ganzes Gewicht einsetzt.«D. H. Thoreau, ›Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat‹ (detebe 20063). Eingeschickt von Gerda Walter, Ingersheim

»Silvia ist für mich wie das Seil für einen Akrobaten: Wenn ich glück-lich bin, tanze ich darauf mit einem bunten Schirmchen, wenn ich trau-rig bin, halte ich mich daran fest.«Fabio Volo, ›Noch ein Tag und eine Nacht‹ (detebe 24090). Eingeschickt von Silvia Horn, Grünwald

»Hundert Werst öder, eintöniger, ausgebrannter Steppe können einen nicht so melancholisch machen wie ein einziger Mensch, wenn er da-sitzt und redet und man nicht weiß, wann er weggehen wird.«Anton Čechov, ›Rothschilds Geige‹, Erzählung ›Das Haus mit dem Zwischenstock‹ (detebe 20265)

»Für einen Autor ist ein guter Ver-lag der, der seine Bücher druckt, und ein guter Verleger geht mit ihm essen (zum Italiener, mit einem ta-dellosen Rotwein) und gibt ihm, wenigstens für einen Abend lang, das Gefühl, er sei wenn nicht der einzige, so doch der wichtigste Au-tor seines Verlags.«Urs Widmer in der ›Neuen Zürcher Zeitung‹, 11. Juni 2011

»Ich habe immer gern auf beschla-genen Scheiben geschrieben und ge-malt. Diese Materie ist so glatt; beim Zeichnen freut sich das äußere Licht und dringt vollkommen ein. Bald darauf verschwimmt die Zeich-nung, schrumpft zu einer formlosen Menge von Tränen.«Julio Cortázar, ›Andrés Favas Tagebuch‹, Suhrkamp

»Er liebt sie jedenfalls noch mehr als sie ihn. Er macht ihr ihre Fehler nicht zum Vorwurf. Im Gegenteil. Damit muss er anfangen: ihr erklä-ren, dass er sie ihrer Fehler wegen liebt, weil sie es sind, die sie mensch-lich machen.«Georges Simenon, ›Antoine und Julie‹ (detebe 21047). Eingeschickt von Karin Stephan, Berlin

»Schweine über einer gewissen Grö-ße werden nicht mehr als Glücks-schweine angesehen.Merke: Ein großes Schwein ist schlimmer als viele kleine.«Loriot, ›Der gute Ton‹ (detebe 20934). Eingeschickt von Rolf­Peter Kleinjohann, Essen

»Eine Minderheit ist machtlos, wenn sie sich der Mehrheit anpasst;

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Oliver Voss

SONNTAG Es ist der Tag, an dem uns niemand einen „Schönen Tag“ wünscht,und wohl auch deshalb der schönste von allen: der Sonntag. Genießen Sie ihnmit einer Zeitung, die für diesen Tag gemacht ist. Vier Exemplare kommen kostenlos direkt zu Ihnen nach Hause: Tel. 0800/8 �50�80�30. Gebührenfrei aus dem deutschen Festnetz. Oder einfach unter www.wams.de/lesen

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Oliver Voss

SONNTAG Es ist der Tag, an dem uns niemand einen „Schönen Tag“ wünscht,und wohl auch deshalb der schönste von allen: der Sonntag. Genießen Sie ihnmit einer Zeitung, die für diesen Tag gemacht ist. Vier Exemplare kommen kostenlos direkt zu Ihnen nach Hause: Tel. 0800/8 �50�80�30. Gebührenfrei aus dem deutschen Festnetz. Oder einfach unter www.wams.de/lesen

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Mit Ihnen Literatur entdecken.Montags 14.05 Uhr HörSpiel – Hörgeschichten für das Kino im Kopf

Dienstags 14.05 Uhr Schwiiz und quer – Für Liebhaber von Mundart und Brauchtum

Mittwochs 14.05 Uhr HörBar – Literatur fürs Ohr

Donnerstags 14.05 Uhr WortOrt – Orte und ihre Geschichten

21.05 Uhr Schnabelweid – Die Schweiz und ihre Mundarten

Freitags 14.05 Uhr BuchZeichen – Weckt die Lust am Lesen

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Was haben Sie aus Romanen gelernt?

Dass ich nicht allein bin.

Was stört beim Schreiben am meisten?In die Geschichte reinzukommen –und der Gedanke an die jahrelange Arbeit, die noch vor einem liegt, ehe das Buch auf dem Papier so ist, wie man es immer schon im Kopf hatte. Welches Buch hat Ihr Leben verän-dert?Das Hotel New Hampshire von John Irving – es erweckte in mir die Liebe zum Schreiben. Und dann noch: Alles, was wir geben mussten von Kazuo Ishiguro. Welches Kleidungsstück kaufen Sie am liebsten ein?Pullover und Jacketts.

Welches Buch würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?Krieg und Frieden. Vielleicht lese ich es dann endlich einmal fertig.

Wann waren Sie am glücklichsten?In diesen seltenen Momenten, in de-nen ich nicht nachgedacht habe, in de-nen ich einfach nur war.

Nach dem Abitur entschied sich der »scheu wirkende, hochbegabte« (Volker Hage, Der Spiegel) Benedict Wells – zur großen Freude seiner Fans – gegen ein Studium und für ein Leben als Schrift steller. 2008 erschien sein Debüt-roman Becks letzter Sommer, ein Jahr später Spinner und jetzt Fast genial. Weil schreiben aber nicht ganz alles ist, spielt Benedict zudem leidenschaft-lich Fußball und war Mitglied in einer Band. Zur Zeit lebt er in Barcelona.

Haben Sie eine tägliche Schreibrou-tine?Aufwachen, Sandwich, Eiskaffee, Mu-sik an und los.

Welche Musik hilft Ihnen beim Schreiben?Jene, die am besten zur Geschichte und zu den Figuren passt.

Das erste Diogenes Buch, das Sie sich gekauft haben?Mit vierzehn Das Parfum von Patrick Sükind, als Taschenbuch. Das erste Hardcover war Jahre später Vincent von Joey Goebel.

Mit wem würden Sie gern in einem Lift stecken bleiben?Scarlett Johansson.

Welches ist Ihre liebste Romanfigur?Peter Parker, wenn auch Comics zäh-len. Sonst: Holden Caulfield. Was tun Sie am Morgen als Erstes?Jammern, wenn ich aufstehen muss. Ansonsten genüsslich weiterschlafen. Wo schreiben Sie am liebsten?Am Schreibtisch bei offenem Fenster. Was mögen Sie an Barcelona?Das Meer, die Sonne im Winter, die Entspanntheit und Offenheit der Menschen, das gemeinsame Kochen, die Sprache, die bunten Nächte, die Architektur, Lionel Messi.

Bier oder Wein?Wein. Hardcover oder Taschenbuch?Hardcover. Richtiges Buch oder E-Book?Ein richtiges Buch natürlich, ich mag keine E-Books.•kam / js / ng

Benedict WellsSmall Talk

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Roman · Diogenes

Benedict Wells

Fast genial

Roman · Diogenes

Benedict Wells

Fast genial

336 Seiten, LeinenISBN 978-3-257-06789-7

Die unglaubliche, aber wahre Geschichte über einen mittellosen

Jungen aus dem Trailerpark, der eines Tages erfährt, dass sein ihm unbe-

kannter Vater ein Genie ist, und sich auf die Suche nach ihm macht – das Abenteuer seines Lebens.

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Los ging es mit dem Theaterstück Ladies Night, das Anthony McCarten als 25- Jähriger schrieb. Nach den mittlerweile weltbekannten strippenden Männern erzählte der Neuseeländer in seinem Roman Superhero die Geschichte des todkranken Donald, dann widmete er sich in Englischer Harem der Polygamie im heutigen London, schließlich, in Hand aufs Herz, einem Wettbewerb, bei dem es ein Auto zu gewinnen gilt – aber dazu darf es niemals losgelassen werden; und in seinem neuesten Roman Liebe am Ende der Welt erleben wir die Schwangerschaft eines Mädchens auf dem Lande mit. Der Vater? Ein Außer-irdischer … Willkommen in der bunten Welt von Anthony McCarten!

Wo haben Sie Ihren letzten Urlaub verbracht?Nicht weit von München, in meinem liebsten Hotel auf der Welt, Schloss Elmau; ich habe erfolglos versucht, die Besitzer davon zu überzeugen, dass dem Haus ein ständiger Writer in Residence gut anstehen würde.

Was war die schönste SMS, die Sie je bekommen haben?»Ich liebe dich. Und kannst du auf dem Rückweg noch eine Packung Milch mitbringen? xxxxx«

Was ist die schlimmste Frage, die Ihnen je in einem Interview gestellt wurde?»Wer sind Sie?« Mit dieser Frage und mit todernster Miene begann eine junge Journalistin einmal ein Ge-spräch.

Was war der letzte Satz, den Sie in einem Roman unterstrichen haben?»Ich hatte, indem ich zehn Meilen weit fortgezogen war, endlich Freun-de gefunden – ein Beispiel für jenes merkwürdige Gesetz, demzufolge wir, so wie Orpheus, als er Eurydike führt, unser Ziel erreichen, indem wir ihm den Rücken kehren.«

Welches Buch liegt derzeit auf Ihrem Nachttisch?Die besten amerikanischen Kurzge­schichten des Jahrhunderts, herausge-geben von John Updike.

Worüber haben Sie sich zuletzt geärgert?Ein Filmdeal, aus dem nach fünf Jah-ren Arbeit nichts geworden ist.

Tee oder Kaffee?Tee, intravenös.

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Was lässt Sie nachts nicht schlafen?

Alles, was auch bis morgen warten kann.

Wann waren Sie am glücklichsten? Als mir bewusst wurde, dass eine an-genehme Monotonie das beste ist, wo-rauf man hoffen kann. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war und was ich ge-rade tat – aber ich könnte dreizehn gewesen und mit einem schweren Rucksack an einem schönen Tag den Mount Egmont hinaufgestapft sein.

Wenn Sie einen Freiflug erster Klasse bekämen, wohin würden Sie fliegen?In meine Jugend, und ich wünschte mir, dass meine sieben Geschwister mitflögen.

Gehen Sie bei Rot über die Ampel?Fußgängerampeln sind für Kinder und Blinde. Wenn ich zu Fuß un-terwegs bin, bin ich nur mir gegen-über verantwortlich.

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Wie feiern Sie es, wenn ein Roman fertig ist?Ein Roman ist, um den Dichter W. H. Auden zu paraphrasieren, nie-mals fertig, wir können ihn nur im Stich lassen.

Hilft Alkohol Ihnen beim Schrei-ben?Nein, aber die Vorfreude darauf kann mich sehr beflügeln.

Sollte man Frauen immer die Wahrheit sagen?Auf gar keinen Fall. Sie schätzen die Wahrheit nur in den seltensten Fällen und verstehen sie nie; eine Schmeiche-lei hingegen ist immer willkommen und wird auf Anhieb verstanden.

Was würden Sie machen, wenn Sie kein Schriftsteller wären?Filme drehen und Theaterstücke von anderen inszenieren.

Haben Sie eine Routine beim Schreiben?Meine Strategie besteht darin, mir Aufgaben zu stellen, die nichts mit dem Schreiben zu tun haben, so dass nur noch wenig Zeit dafür übrigbleibt. Das heißt, wenn ich Zeit zum Schrei-ben habe, dann ist es ein Luxus, es sind gestohlene Minuten, etwas Heim-liches, beinahe Verbotenes.

Was ist Ihre liebste Romanfigur?Ich habe immer Mr. Micawber in Da­vid Copperfield von Dickens ge-mocht – ein Mann, der vollkommen hilflos ist, wenn er sein eigenes Leben organisieren soll, aber unglaublich zielstrebig und tatkräftig, wenn er an-deren helfen muss: »ein durch und durch herzensguter Mann, und der geschäftigste Mensch, den man sich vorstellen kann, solange es nicht um seine eigenen Belange geht«.

Welches Buch haben Sie vor kurzem verschenkt?Agatha Christies Zehn kleine Neger­lein – das habe ich der dreizehnjähri-gen Tochter meiner Partnerin ge-schenkt, die gerade erst anfängt, eng lische Romane zu lesen.

Welches ist der schönste Liebes-roman?Liebe in Zeiten der Cholera. Wenn nach einem Leben der Trennung zwei alte Leute ihre Abscheu vor alten Leuten überwinden und sich in einem Boot auf einem mückenverseuchten Fluss lieben – romantischer kann ein Liebesroman nicht sein.

Der schönste Buchtitel?The Days Run Away Like Wild Hor­ses over the Hills von Charles Bukow-ski, 1969.

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Sind Leser liebenswertere Menschen?Kein Mord, keine Sünde, kein barbari-scher Akt ist je von einem Menschen begangen worden, der ganz in die Lektüre eines Buches vertieft war. Al-lein daraus schon können wir schlie-ßen, dass Leser liebenswertere Men-schen sind, zumindest bis sie das Buch aus der Hand legen. Wenn wir lesen, sind wir bessere Menschen. • kam / js / ng

Aus dem Englischen von Manfred Allié

Buchtipp

Roman · Diogenes

AnthonyMcCarten

Liebe am Endeder Welt

Roman · Diogenes

AnthonyMcCartenAnthonyMcCartenAnthony

Liebe am Endeder Welt

368 Seiten, LeinenISBN 978-3-257-06764-4

Drei Mädchen, die plötzlich schwanger sind. Von Außerirdischen,

versichern sie. Ein spannender Roman über Träume, Wunder und die Wahrheit von Lügen. Und eine

phantastische Liebesgeschichte.

D I E A U T O R E N Z E I T S C H R I F T F Ü R P O L I T I K , W I R T S C H A F T U N D K U L T U R

« Ich freue mich auf jede Ausgabe!»Thomas Hürlimann, Schriftsteller

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Kritiken

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Als Phillip die Bibliothek erreichte, wo er nun am liebsten auch seine

Freizeit zubrachte, sah er zu seiner Verblüffung, dass Delia wie ein Ge-spenst vor der verschlossenen Tür im Schatten saß und auf ihn wartete. Sie stand auf, lächelte unsicher, versuchte ihre Panik zu verbergen, und ihr Atem ging schwer, als sei sie gelaufen, um noch rechtzeitig zu einer Ver abredung zu kommen. Er bemühte sich zurück-zulächeln und fragte mit auf Biblio-theklautstärke gedämpfter Stimme, ob sie hereinkommen wolle.

»Ich wollte einfach nur … Da sind ein paar Bücher … Die wollte ich mir gern ansehen. Und mir ist aufgefallen, dass Sie abends oft ziemlich lange ge-öffnet haben«, sagte sie. »Das ist alles. Ich gehe manchmal einfach so spazie-ren.«

»Na ja, geöffnet habe ich eigentlich nicht«, antwortete er schnell. »Ich mache um fünf Uhr zu. Aber kom-men Sie rein.«

Er ging geradewegs zu seinem Pult, senkte den Kopf und versuchte Delia, die nun in der leeren, stillen Biblio-thek stand, nicht anzusehen. Sie blick-

te sich um. Sie hatte das Gefühl, dass seit ihrem letzten Besuch viel mehr Bücher dazugekommen waren. Viele Regale waren nun dicht bestückt, und sie nahm an, dass es wohl die ver-schollenen und nun wiederaufgetauch-

ten Liebesromane waren, von denen Phillip gesprochen hatte. Die stille Emsigkeit, mit der Phillip seine Kar-ten ausfüllte, und die heitere Gelas-senheit der leeren Bibliothek, die sich langsam, aber sicher mit diesen billi-gen Liebesgeschichten füllte, brachten einen ersten Hauch von Frieden in ein Leben, das ansonsten in völliger Auf-lösung war. Sie beobachtete ihn ver-stohlen bei der Arbeit und war faszi-niert. Sie sagte sich, dass es seine Hingabe war, die sie anzog, seine Klarheit und sein Glaube an Ordnung.

Sie gestand sich nicht ein, dass sie den Anblick seiner Hände attraktiv fand, die sich präzise und mit großer Kon-zentration bewegten, obwohl sie nach ihren Maßstäben nicht sauber genug waren. Sein Hals war lang und von Adern durchzogen, seine Arme braun wie poliertes Teakholz. Er war ein gu-ter Bibliothekar, fand sie, weil er für ehrfürchtige Stille sorgte, genau wie in einer Kirche.

Er war ein Spinner, genau wie sie am Anfang ja auch gedacht hatte, ein Bü-cherwurm, ein Einsiedler. Trotzdem fühlte sie sich immer wieder zu ihm hingezogen, denn genau diese Eigen-schaften waren es ja, die ihn von den Scharen von jungen Männern der Ge-gend unterschied, die sie kannte und die sie verachtete. Wie kam sie auf die Idee, sich für so jemanden zu interes-sieren: einen Mann wie eine Wand?

Aber Phillip fand, dass es ihm nicht zukam, Delia Ratschläge zu geben, je-denfalls nicht, bevor sie ihn ausdrück-lich darum gebeten hatte. Er zwang sich zur Zurückhaltung, auch wenn er vor Neugier platzte. Er war sich sicher,

Eine verstaubte Bibliothek in einem neuseeländischen Provinzstädtchen. Darin der neue, schüchterne Bibliothekar und ein 16-jähriges Mädchen. Kann eine Liebesgeschichte poetischer anfangen? Wer Anthony McCartens neuen Roman Liebe am Ende der Welt liest, wünscht sich nur eins: dass Phillip und Delia nicht nur über Bücher reden.

Anthony McCarten

Bücherliebe

Er war ein Spinner, ein Bücherwurm, ein

Einsiedler. Trotzdem fühlte sie sich immer wieder zu ihm hingezogen …

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Es ist wichtig, dass wir lesen. Das ist meine

Philosophie.

dass es eine unausgesprochene Über-einkunft zwischen ihnen beiden gab, dass keiner sich ins Privatleben des anderen einmischte, es sei denn, der andere lud ihn dazu ein, und in dem Augenblick war Phillip sich alles an-dere als sicher, ob er eine solche Einla-dung erhalten hatte. Also schwieg er.

Still kehrte er an seine Arbeit zu-rück, und Delia, schwer enttäuscht von dieser Abfuhr, musste ihre Lage ohne ihn be denken. Er schob den Bü-cherwagen zum nächsten Regal.

»Sie sind ein Intellektueller, was?« Es klang wie ein Schimpfwort.

»Eigentlich nicht«, sagte er.»Ich denke schon.«»Kommt drauf an, wie man einen

Intellektuellen definiert.«»Und wie definieren Sie ihn?«Ohne seine Arbeit zu unterbrechen,

antwortete er: »Ein Intellektueller ist ein Mensch, der in seinem Kopf eine ganze Welt aus Widersprüchen bewe-gen kann.«

Er sagte es mit einer Nüchternheit, die Delia auf Anhieb überzeugte, dass dies die einzig mögliche Antwort auf die Frage war, und dachte eine Weile über den Ausdruck »Welt aus Wider-sprüchen« nach.

»Warum lesen Sie gern?«»Lesen? Das hilft uns, eine Lebens-

philosophie zu entwickeln. Mehr nicht.«

Er war so lässig, er sprach so spon-tan, dass Delia nichts davon hochge-stochen fand. Ja, es machte ihr Spaß: Das war, als ob man an einem Com-puter einen Knopf drückte, und so-fort spuckte er eine wohlgesetzte Ant-wort aus.

»Oh«, sagte sie.»Wissen Sie, was ich meine?«»Einigermaßen.«»Ich halte das für wichtig, für jeden,

dass man eine Lebens philosophie hat, und zwar eine, die man in klare Worte fassen kann. Wenigstens eine.«

Delia hatte keine, keine einzige. Es war schrecklich. Sie versuchte, sich et-was auszudenken. Ihr fiel nichts ein.

»Wie viele haben Sie?«, fragte sie. »Philosophien.«

»Eine oder zwei.«

»Und wie sehen die so aus?«Phillip schaute sie an, und aus sei-

nem verblüfften Blick schloss sie, dass es das erste Mal überhaupt war, dass jemand ihn so zur Rede stellte. »Kom-men Sie«, drängte sie, »erzählen Sie es mir.«

»Na gut. Sind Sie sicher, dass Sie das hören wollen?«

»Jetzt machen Sie schon.«»Na gut. Also, wir können wahr-

scheinlich bei Heidegger anfangen, oder?« Er atmete tief durch, lud sich einen Armvoll Bücher auf und stellte sie eins nach dem anderen in die Rega-le, wobei er ihr mehr oder weniger den Rücken zuwandte.

»In Ordnung«, sagte sie.»Also, der Stammvater des Existen-

tialismus, wie die meis ten ihn sehen, leugnete die Existenz eines geordne-ten metaphysischen Universums und ging stattdessen davon aus, dass jeder von uns sein spezifisches Wesen selbst schafft, und das gefällt mir, das gefällt mir sehr, aber andererseits fühle ich mich auch zur Gegenseite hingezogen, zum Romantischen, zur Rousseau-schen Schule, könnte man sagen, die nicht das geringste Besondere in uns sieht, die uns als Teil der Natur ver-steht, wie einen Baum, woher ja auch der Ausdruck ›mensch liche Natur‹ kommt, so dass wir uns also als eine nicht weiter differenzierte Kraft anse-hen sollten, so wie in den Gemälden von Picasso oder in der Musik von Rachmaninow, in die das Individuum eintaucht und vollkommen darin auf-geht. Denn für meine Begriffe lässt sich auf diese Weise der Gedanke an den Tod leichter ertragen, er kommt uns dann als kein ganz so katastro-phaler Einschnitt vor. Mit anderen Worten, ich sehe durchaus, was Kier-kegaard zu sagen hat, ich sehe Hus-serls positiven Idealismus, William Blakes Vorstellung, dass ein eigenes Universum in jedem Sandkorn steckt,

aber ich finde, wir sollten auch die simple Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass nichts so Groß artiges an uns ist, dass wir nicht morgen schon als Regentropfen wiederkehren könnten oder als Lichtreflex auf der Oberfläche eines Sees.«

Delia nickte.»Verstehen Sie, was ich meine?«Sie nickte noch einmal. Nach Kräf-

ten mühte sie sich, das zu tun, was ih-rer Meinung nach in diesem Augen-blick von ihr gefordert war, nämlich eine Welt aus Widersprüchen in ihrem Kopf zu bewegen. Es gelang ihr nicht allzu gut. Sie konnte an nichts anderes denken als daran, dass sie keine einzi-ge Lebensphilosophie hatte. Es war so peinlich.

»Wow«, sagte sie. »Aber haben Sie auch was Eigenes?«

»Bitte?«»Das sind doch Philosophien von

anderen. Haben Sie auch eine eigene?«Phillip lächelte. »Nur diese eine: Es

ist wichtig, dass wir lesen. Das ist mei-ne Philosophie.«

Delia nickte. Das war es also. Das war einfach. Dann konnte sie sein wie Phillip, mit einer Philosophie, die ihr durch das ganze Leben half. Man musste ihn doch nur anschauen: ein Bibliothekar; zuerst hatte er eine Phi-losophie gehabt, und daraus hatten sich ein Ziel, ein Zweck, eine Arbeits-stelle ganz von selbst ergeben. »Wow«, sagte sie noch einmal.

Sie war allein auf der Welt. Ihre Philosophie musste sie sich selbst aus-denken. Sie brauchte dazu keine frem-de Hilfe. Hatte sie noch nie gebraucht.

Er sah, dass sie nach ihrer Jacke griff. »Oh, wollen Sie schon gehen?«

»Hm-hm.«Phillip konnte nicht sagen, ob sie

sich geärgert hatte, und er war froh, dass er ihr nicht mit unnötigen Fragen oder Rat schlägen zur Last gefallen war.

»Gute Nacht«, sagte er sanft.»Gute Nacht«, antwortete sie. Sie

ging, ohne ihn anzusehen, fest ent-schlossen, dass sie erst zurückkehren würde, wenn sie eine Philosophie hät-te, eine, die wirklich ihre eigene war.• Fo

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31Diogenes Magazin

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Paulo Coelho

Top 10 Klassiker

Top 10 Hollywood-Kinoschurken von Adam Davies

Im nächsten Magazin

1. Der Prolog zu den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht Am Anfang der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht erfahren wir die Geschichte von Scheherazade und ihrem Schicksal: Als Todgeweih-te erzählte sie um ihr Leben. Imagi-nation und Erfindung bilden zusam-men den tiefen Ursprung unseres Geistes, der uns viele Schätze offen-baren kann.

2. Hans Christian Andersen: Das hässliche EntleinIm Hässlichen Entlein werden wir mit der Unbeholfenheit und Hilflo-sigkeit eines andersartigen Lebens unter ›normalen‹ Leben konfrontiert, und mit dem Ringen darum, etwas Wertvolles zu behaupten.

3. Oscar Wilde: De ProfundisIn De Profundis drückt Oscar Wilde die extreme Verzweiflung aus, ver-lassen und mit sich allein zu sein und die geheimen Räume seiner Seele zu finden. Man muss mit diesen Gedan-ken auf mutigste Weise ringen, um sie zu überwinden.

4. D. H. Lawrence: Lady Chatterley’s LoverEin Neuanfang ist immer möglich, dürfen wir in Lady Chatterley’s Lover erfahren. Der Walzer der Jah-reszeiten und das Lied des Be gehrens verschmelzen zu einer kraftvollen Hymne irdischer Ver gnügen. Regen und die zarten Küsse verschmelzen und schaffen eine einzigartige Szene-rie von Liebe und Zuneigung. Das Irdische kann also Leben erretten, Körper regenerieren und Hoffnung geben.

7. Bram Stoker: DraculaBram Stokers Dracula zeigt uns die Dunkelheit der menschlichen Seele und die Gefahr des Verlusts der Menschlichkeit. Wenn der Meister Dracula sich nähert, wird der Diener wahnsinnig und entdeckt weitere Teile von sich selber, ist aber ohne Schutz.

8. Khalil Gibran: Der ProphetLiebe ist ein großes und gefährliches Feuer, das töten oder Leben schenken kann. Davon spricht Der Prophet. Wieso Feuer und Liebe? Beide sind mit Blut verschmolzen. Und das Herz ist der Schmelztiegel der Liebe. Allerdings gibt es so viele verschie-dene Arten von Liebe. Die Liebe, von der Gibran spricht, gehört uns nicht …

9. Gabriel García Márquez: Hundert Jahre EinsamkeitDas Leben und das Schicksal von ›Remedios der Schönen‹ transportiert uns in ein übernatürliches Amerika, wo die Toten nach starkem Parfum riechen und Frauen in weiße Laken gewickelt fliegen können.

10. Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von BabelBorges’ Bibliothek von Babel prä-sentiert sich als bemerkenswerter Spiegel, trotz Borges’ eigener Furcht vor diesem Objekt. Die spektakuläre Struktur der Bibliothek wirft uns in das Labyrinth, ein weiteres Lieb-lings thema des Autors. Aber die Beschreibung der Bibliothek offen-bart eine Obsession mit der Ent-deckung des Buches, des Buches aller Bücher …

5. Robert Louis Stevenson: Dr. Jekyll und Mr. HydeRobert Louis Stevensons Meister-werk erzählt von der Verwandlung eines Wissenschaftlers in etwas ganz anderes. Die Verzerrung von Form und Moral, die Jekyll erschafft, zeigt, was geschieht, wenn Willen und Unbewusstem freie Hand gegeben

wird. Dr. Jekyll imaginiert ein neues Verhalten, symbolisch ausgedrückt durch einen Zaubertrank. Aber es ist dies nicht das ›trinkbare Gold‹ des Alchemisten, es ist vielmehr eine große Auflösung des Selbst und die Beschwörung unerreichter Teile der Persönlichkeit.

6. George Orwell: 1984Die vielleicht eindrücklichste Illus-tration dieser Idee zeigt sich im Zwei-Minuten-Hass in George Orwells 1984, wo die Menschen ihre innersten Ängste in einer öffentli-chen Explosion von Hass austoben. Die (umgestaltende) Revolution hat sich in etwas Desas tröses verwandelt, die Leute werden manipuliert und langsam von Big Brother und seinen Agenten zerstört.

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Dass er die Angel ein wenig unbe-dacht ausgeworfen hatte, merkte

Glock erst, als sie sich vorbeugte und ihn mit großen Augen ansah: »Wür-dest du mir mal was zeigen von dem, was du geschrieben hast?« Sie richtete sich auf, schüttelte den Kopf, lachte. »Entschuldige, wenn ich so direkt fra-ge, aber ich find das einfach aufregend. Ich hab mir schon immer gewünscht, mal einen Schriftsteller kennenzuler-nen. Ich find das … faszinierend, dass ein Mensch sich hinsetzen und das ausdrücken kann, was so in einem vorgeht. Auch in einem selbst. In mir selbst, meine ich. Verstehst du?«

Glock lächelte, er hob abwehrend die Hände. »Na ja, so faszinierend ist das gar nicht.«

»Doch, doch, das ist es ganz be-stimmt. Ich könnte so etwas nicht, wer kann das schon? Das sind doch nur ganz wenige. Mich interessiert das, verstehst du«, sie hob die Schul-tern, bewegte vage die Hand, »wie so

etwas zustande kommt. Und wie es aussieht, bevor es gedruckt wird. Musst du da viele Korrekturen ma-chen?« Und bevor Glock antworten konnte, beugte sie sich wieder vor und fragte: »Schreibst du mit der Hand?!«

»Nein, nein.« Glock nahm sein Glas von der Theke und trank. Er wartete, bis der Büfettier, der den Aschbecher austauschte, sich wieder entfernt hatte. Sie sah ihn noch immer an, große Augen, halb geöffnete, feuchte Lippen. Glock lächelte. »Das ist ja nicht mehr wie zu Goethes Zei-ten.«

Er versuchte, das Gespräch in eine weniger riskante Richtung zu lenken, indem er vor ihr ausbreitete, was er über den Einfluss der Technik auf die Literatur gelesen hatte. Tödlich, dieser Einfluss, um es mit einem einzigen Wort zu sagen. Massenproduktion. Ein von Hand geschriebenes Manu-skript – du liebe Zeit, das würde der Verlag sofort zurückschicken, ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben! Keine Zeit. Die lasen ja nicht einmal mehr die sauber getippten Manu-skripte. Veröffentlichten nur, was ein Geschäft versprach. Die großen Na-men, klar, die druckten sie, egal, was dahinter kam.

Sie hörte gespannt zu, nickte. Sie stützte das Kinn in die Hand. Blaue Augen, aber nicht dieses Allerwelts-blau, sondern heller. Als ob zwei Flämmchen dahinter brannten. Die Hand ein wenig gepolstert, nicht zu üppig, gerade richtig. In Glock regte sich eine undeutliche, aber angeneh-

»Ich bin Schriftsteller.« Diese Bemerkung scheint Glock eine gute Methode, um bei den Frauen Interesse zu wecken und ›zu landen‹. Ein paar Mal hat das auch schon funktioniert, denn die Damen wollten nie Beweise sehen oder sich gar vorlesen lassen. Im Gegensatz zu dem Mäd-chen, welches nun neben ihm sitzt. Doch was vorlesen, wenn aus ein paar Zeilen bisher nie mehr wurde?

Hans Werner Kettenbach

Ein bisschen Plagiat

Ich find das einfach aufregend. Ich hab mir

schon immer gewünscht, mal einen Schriftsteller

kennenzulernen.

Erzählung

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Auf einigen Blättern hatte er das Wort ›Ende‹ probiert,

hand geschrieben und von Schnörkeln

umgeben.

me Vorstellung, wie ihre bloßen Füße aussehen mochten. Runde, feste Fer-sen? Die Zehen jedenfalls nicht kno-chig.

Er spann seinen Faden weiter, führ-te das Gespräch immer weiter weg von seiner waghalsigen Eröffnung, er sei im Nebenberuf Schriftsteller. Die Technik also, das werde ja immer ver-rückter. Mit Computern arbeiteten sie mittlerweile doch alle, die Bestseller-Autoren, schrieben ihre Werke auf ei-nen Bildschirm, wie die Bankbeamten ihre Zahlen. Seelenlos. Und vom Bild-schirm direkt in die Druckerei, alles möglichst schnell, möglichst glatt. Ob sie sich vorstellen könne, dass ein gu-tes Gedicht, sagen wir mal: von Hein-rich Heine, per elektronischem Befehl hätte vollendet werden können?

Sie sagte: »Bestimmt nicht!« Glock nickte schwer, griff nach seinem Glas und trank. Während er noch überlegte, wie er zu einem völlig neuen Thema überleiten könne, legte sie die Finger-spitzen auf seinen Arm, lächelte ihn an und sagte:

»Wann zeigst du mir mal was? Ich meine, von dem, was du geschrieben hast?«

Verfluchtes Pech. Es war zum Ver-zweifeln.

Vor ein paar Wochen hatte er sie zum ersten Mal in der Kneipe gesehen, danach noch ein paarmal, aber immer in Begleitung. Glock hatte es trotz-dem versucht, sie gefiel ihm zu gut, die dichten, dunklen Augenbrauen unter den blonden Haaren, die run-den Schultern, der Gang, sie bewegte sich ein bisschen träge, nein, nicht trä-ge, eher ruhig, gelassen. Aber sooft er ihr auch einen Blick geschickt hatte, sie hatte durch ihn hindurchgesehen, es war ihm nicht gelungen, ihre Au-gen festzuhalten.

Heute Abend war sie zum ersten Mal allein gekommen, und als Glock sich neben sie stellte, war sie ein wenig zur Seite gerückt, um ihm an der The-ke Platz zu machen, und hatte ihn an-gelächelt. Glock hatte ein paar polier-te Sprüche fallenlassen. Als gegenüber ein Mädchen mit vorstehenden Zäh-nen zu laut lachte, hatte er gesagt, sie

sehe aus wie die Rättin, nur nicht so weise, und eine Minute später hatte er zitiert: »Totschlagen. Erst die Zeit, dann eine Fliege, vielleicht eine Maus, dann möglichst viele Menschen, dann wieder die Zeit.« Sie hatte gesagt: »Das find ich gut. Ist das von dir?«

»Nein. Leider nicht. Von Erich Fried.«

»Und warum leider nicht?«»Weil ich’s gern geschrieben hätte.«»Schreibst du? Ich meine, bist du

Schriftsteller?«Er hatte genickt, ein kleines, melan-

cholisches Lächeln aufgesetzt. Und mit einem Seufzer hatte er gesagt: »Ja. Im Nebenberuf. Einstweilen.«

»Was heißt einstweilen? Es wird noch nichts gedruckt von dem, was du schreibst?«

»Doch, doch.« Er hatte nicht ange-nommen, dass sie allzu lange darauf herumreiten werde. Schon zweimal hatte er mit diesem Einstieg Erfolg ge-habt, es hatte sich jedenfalls Handfes-tes daraus ergeben, und von diesen beiden Frauen war keine dem Thema nachgegangen, sie hatten nie nach sei-nen Veröffentlichungen gefragt. Sie schienen vollauf zufrieden mit den Aphorismen, die er in die Gespräche zwischen Abenddämmerung und Sonnenaufgang einzustreuen wusste.

Diese hier ließ nicht locker. Was er denn schreibe? Gedichte? Nein, nein. Oder nur ausnahmsweise einmal. Nein, in der Hauptsache Erzählungen. Die kleine, in sich geschlossene Form. Das reize ihn. Vielleicht gerade des-halb, weil es das Schwierigste sei. Ein Roman, nun gut, er habe auch einen Roman begonnen, aber das Manu-

skript halbfertig liegenlassen. Es kom-me nicht von ungefähr, dass die meis-ten Romane geschwätzig seien, das liege an dieser schwer definierbaren, uferlosen Gattung, sie zwinge den Autor nicht zur Beschränkung auf das Wesentliche. Und geschwätzig wolle er nicht sein. Er halte das für eine der schlimmsten Untugenden. Nervtö-tend. Zeitraubend.

Er hatte sich auf dem besten Wege geglaubt. Noch ein paar von diesen ja nicht gerade süffigen Gedanken, und sie würde abschalten und nur noch beeindruckt sein und keine lästigen Fragen mehr stellen.

Irrtum. »Wann zeigst du mir mal was von dem, was du geschrieben hast?«

Es war zum Auswachsen. Er hatte sie genau dorthin gebracht, wo er sie haben wollte, er brauchte nur die Ant-wort zu geben, auf die sie offensicht-lich wartete: »Warum nicht jetzt? Wenn du Zeit und Lust hast? Wir können zu mir gehen und noch ein Glas trinken. Und wenn du willst, lese ich dir was vor.«

Das Problem lag nur darin, dass er nichts vorzulesen hatte. Keine Veröf-fentlichungen. Nicht einmal ein ferti-ges Manuskript. Die Mappe, ja, in der er die Blätter gesammelt hatte. Einige noch aus seiner Schulzeit. Die meisten von Hand vollgekrakelt, nachts, wenn ihn das Gefühl überkommen hatte, nun könne er bändigen und festhalten, was ihn aufwühlte. Liebesfreud, Lie-besleid. Die jähe Gewissheit, endlich die Welt zu begreifen und ihr Herz in sich schlagen zu spüren.

Manche dieser Blätter waren auch mit der Maschine geschrieben. Die erste Szene eines Drehbuchs, ein Mann fährt über eine gespenstisch fahle Autobahn, kahle Bäume biegen sich im Wind, am Horizont taucht eine Gestalt auf wie ein winziger Scherenschnitt, er kommt ihr fahrend immer näher und erkennt, dass es ein Mädchen ist, lange, wehende Haare, sie hebt den Daumen.

Erzählungen, aber sie brachen alle unversehens ab, vier schon auf der ersten Seite, er hatte voller Lust be-

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gonnen, aber plötzlich nicht mehr weitergewusst. Auf einigen der Blätter hatte er das Wort ›Ende‹ probiert, handgeschrieben und von Schnörkeln umgeben.

Nichts, was sich vorzeigen ließe. Er hätte sich damit nur lächerlich ge-macht. Er konnte diese Frau nicht mit nach Hause nehmen. Nicht heute schon. Nicht nach diesem Gespräch.

Glock sagte: »Ich würde gern in al-ler Ruhe was aussuchen. Verstehst du … Man ist ja nicht mit allem zu-frieden, was man geschrieben hat. Man findet immer noch etwas, das man hätte besser machen können.« Er lächelte. »Und dir möchte ich nur das Allerbeste zeigen. Oder vorlesen, wenn du magst.«

»Und ob ich mag! Das fände ich super!«

»Ich auch.« Glock zögerte, dann fragte er: »Wann hättest du denn Zeit?«

Sie überlegte einen Augenblick. »Nächsten Freitag? Dann könnte ich wieder hierherkommen.«

Glock sagte: »Okay. Nächsten Freitag um die gleiche Zeit.«

Er war schon vor seiner Haustür angelangt, als er umkehrte, um noch einmal ums Geviert zu laufen. Vor einem der unbebauten, düsteren Grundstücke blieb er stehen. Er sog den Geruch der wildwuchernden Sträucher, der kniehohen Gräser ein,

starrte empor zum schwarzen Him-mel über der Vorstadt.

Das Problem musste lösbar sein. Die Frau war es wert. Er empfand das Gefühl nicht zum ersten Mal, aber dieses Mal war er ganz sicher: Das war die Frau, die er suchte. Und vielleicht konnte sie ihm auch den Antrieb ver-leihen, der ihn endlich über die Schwelle hinwegheben würde. Eine Erzählung, mehr brauchte es für den Anfang ja nicht zu sein, zehn Seiten vielleicht oder nur ein halbes Dutzend. Er musste nur eine Geschichte finden, die sich plausibel entwickeln ließ. Zu Beginn ein wenig rätselhaft, um Span-nung zu erzeugen. Und zum Schluss eine überraschende Erklärung, eine Wende.

Zu Hause brauchte er lange, um sich auszuziehen. Er stand da neben dem Klappbett, hielt die Hose, dann das Hemd in der Hand, bevor er sie auf den Sessel warf, und dachte ange-strengt nach.

Eine Frau, die eines Tages im Büro anfängt, sich merkwürdig zu verhal-ten. Ein Kollege beobachtet sie, er folgt ihr heimlich. Gute Ausgangs-situation. Spannend. Aber warum verhält die Frau sich merkwürdig?

Nachdem er eine Weile im Bett ge-legen hatte, die Arme im Nacken ver-schränkt, stand er plötzlich wieder auf, schaltete die Lampe ein. Er sah sich um. Mit dem Fuß schob er die

Zeitschriften, die neben dem Bett la-gen, beiseite. Ein paar Illustrierte, die Fußballzeitung.

Er starrte auf den Tisch. Der Sup-penteller, aus dem er seine Nudeln ge-gessen hatte. Das Bierglas, trüb von den eingetrockneten Schaumresten, die leere Flasche. Die Jacke, die er vor drei Tagen auf dem Tisch abgelegt hatte, um einen Knopf anzunähen, den er nicht hatte finden können. Das Nähzeug, die Schere. Der Kaffeebe-cher vom Frühstück, die Einkaufstüte mit den Konserven, das Fernsehpro-gramm.

Er räumte den Tisch leer, stapelte das Geschirr auf die Töpfe und Teller, die den Rand des Spülbeckens bereits überragten. Mit einem Lappen rieb er den Tisch blank. Dann zog er die rote Mappe mit seinen Blättern aus dem Regal, ein paar der Briefe und Rech-nungen, die darauf gelegen hatten, fie-len zu Boden, er raffte sie zusammen.

Er legte die Mappe auf die rechte Seite der leeren Tischplatte, baute in der Mitte die Schreibmaschine auf, abgeschabte Hinterlassenschaft seines Vaters, nahm den Deckel ab und spannte ein Blatt Papier ein. An die linke Seite des Tisches stellte er die Stehlampe, er rückte sie im Sitzen hin und her, um auszuprobieren, in wel-cher Position sie das beste Licht gab, ohne ihn beim Schreiben zu behin-dern.

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Serie

Fabio Volo

Im nächsten Magazin

Roman Richard Yates, Zeiten des Aufruhrs

Sachbuch Tobias Wolff, In der Armee des Pharaos

Lyrik Heinrich Heine, Gesammelte Gedichte

Theaterstück Georg Büchner, Dantons Tod

Erzählung Franz Kafka, Brief an den Vater

Zeitung Süddeutsche Zeitung

Zeitschrift Paris Match

TV-Sender Arte

Radiosender France Inter

Film Sergio Leone, Es war einmal in Amerika

TV-Serie Für alle Fälle Fitz

Schauspieler John Cassavetes

Schauspielerin Anna Magnani

Klassik Friedrich Gulda, The Mozart Tapes

Jeder kennt die Frage: »Welches Buch würden Sie auf die einsame Insel mitnehmen?« Wir haben diesmal Jakob Arjouni gefragt – und um es ein wenig spannender (und bequemer) zu machen, durfte er mehr als nur ein Buch mitnehmen. Von Jakob Arjouni sind zuletzt die hinreißende Gaunerkomödie Der heilige Eddy erschienen und Cherryman jagt Mr. White, ein spannender Roman, der zeigt, wie verschwommen die Grenze zwischen Gut und Böse sein kann.

Jakob Arjouniauf der einsamen Insel

Oper Ennio Morricone, Spiel mir das Lied vom Tod

Jazz Keith Jarrett, The Melody At Night With You

Pop / Rock Alles von Richard Hawley

Lieblingsessen (nichtsüß) Austern mit Bratwurst und Rosé

Lieblingsessen (süß)Schwarze Schokolade

Lieblingsgetränk (nichtalkoholisch) Wasser

Lieblingsgetränk (alkoholisch)Rotwein Gemälde Maurice de Vlaminck, Rue à Marly­le­Roi

Foto 1945, die sowjetische Fahne auf dem Berliner Reichstag

Musikinstrument CD-Player

Möbelstück Bett

Technisches Gerät Korkenzieher

Kleidungsstück Bademantel

Parfum Eau Sauvage

Spiel Ball

Lebenspartner Meine Kinder

Lebensretter Dashiell Hammett

Gesprächspartner Chilly Gonzales

Streitpartner Winston Churchill

Briefpartner Rosa Luxemburg

Nachbar Das Restaurant Biquet Plage

Haustier Eine Ziege

Was würden Sie sonst noch mitnehmen? Eine Yacht

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Buchtipp

HansWernerKettenbachDie

KonkurrentinRoman · Diogenes

HansWernerKettenbachDie

KonkurrentinRoman · Diogenes

Diogenes Taschenbuchdetebe 23392, 528 Seiten

Ein satirischer Politthriller über Rituale und Taktiken, ohne die in der

Demokratie keine Wahlen zu gewinnen sind. Und ein ergreifender

Roman über den Konflikt zweier ungleicher Schwestern.

Schließlich suchte er die Stifte zu-sammen, die er finden konnte, und legte sie mit dem Radiergummi auf die Mappe. Er überprüfte das Arran-gement aus verschiedenen Perspekti-ven, von der Tür, vom Sessel, aus dem Bett, bevor er das Licht löschte und sich wieder ausstreckte.

Am nächsten Abend aß er, sobald er nach Hause gekommen war, im Ste-hen ein Butterbrot, räumte Brot und Butter sofort weg und setzte sich an den Tisch. Er schrieb zwei Sätze, die er schon über Tag in Gedanken for-muliert hatte, in die Maschine, hielt dann ein. Er hob ein paarmal die Hän-de über die Tasten, ließ sie jedes Mal wieder sinken. Schließlich lehnte er sich zurück, mit hängenden Armen.

Nach einer langen Zeit schob er die Maschine zur Seite, nahm seine Map-pe und schlug sie auf. Diese Frau, die sich so merkwürdig verhielt, das war kein schlechter Ansatz, aber solange er nicht eine plausible Erklärung für ihr Verhalten fand, hatte es keinen Sinn, an der Geschichte weiterzuschreiben. Es war wahrscheinlich leichter, eine seiner alten Ideen auszuführen, man-che waren ja doch ziemlich weit ge-diehen, und steckengeblieben war er bei einigen mit Sicherheit nur deshalb, weil er sich hatte ablenken und aus dem Tritt bringen lassen. Weiber, ja. Es waren die falschen gewesen.

Er las sich in seinen Blättern fest. Nach Mitternacht entschied er sich, es am darauffolgenden Abend, er war nun zu müde, mit der Geschichte zu versuchen, deren Titel er schon vor ei-nigen Jahren in die Mitte eines Blattes geschrieben hatte: Springer a 3. Ein Mann aus kleinen Verhältnissen, un-gebildet, mit Namen Verdcheval, steigt dank seiner ungewöhnlichen Begabung für das Schachspiel bis zum Kampf um die Weltmeisterschaft auf. Zum Entsetzen seiner Sekundanten eröffnet er die erste Partie, indem er seinen Damenspringer auf den Rand stellt, ein absolut törichter Zug, der ihm den Verlust der Partie und das Gespött der Fachwelt einbringt.

Diese Geschichte hatte nicht nur den Vorzug einer klaren Idee, Glock

wusste auch, wie sie enden musste: Es ist die unbarmherzige, erstickende Gesetzmäßigkeit des Schachspiels, des Spiels wie des Lebens, gegen die Verdcheval revoltiert, weil er sie nicht mehr ertragen zu können glaubt. Aber das Gesetz ist stärker, er kann es nicht aufbrechen. Verdcheval endet, als Narr verachtet und ausgestoßen, in der Gosse.

An den beiden darauffolgenden Abenden versuchte Glock, die Ge-schichte von Verdcheval zu Ende zu erzählen. Er erkannte, dass die ersten zweieinhalb Seiten, die er einst nach dem Entwurf des Titels in einem Zug geschrieben hatte, stilistische Mängel aufwiesen, hielt sich lange mit der Verbesserung auf, schaffte trotzdem am ersten Abend noch fast eine ganze Seite der Fortsetzung. Am zweiten Abend geriet er in Schwierigkeiten: Würde die Frau, mit der Verdcheval zusammenlebte, ihn erst nach seinem Scheitern verlassen oder schon vorher, weil er immer häufiger mitten im Lie-besakt einhielt, sie anstierte und Springer a 3 flüsterte?

Glock konnte sich nicht entschei-den. Nachdem er eine volle Stunde regungslos vor der Maschine gesessen hatte, stand er auf, löschte die Lampe und legte sich in den Kleidern aufs Bett. Er lag da bis zum Morgengrauen, Ill

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Schau mal, die Fliege: Sieht aus, als würde sie sich erfreut die Hände reiben. Muss gut sein, was ich da geschrieben habe!

mit offenen Augen. Als er von fern das Kreischen der ersten Straßenbahn hörte, sprang er auf, als habe er ein Si-gnal empfangen. Er nahm den Band aus dem Regal, den er vor langer Zeit beim Antiquar gekauft hatte, Die schönsten Erzählungen der Nach­kriegsliteratur. Glock blätterte und las, bis es Zeit wurde, ins Büro zu gehen.

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Seine Stimme zitterte ein wenig, als er

zu lesen begann.

Am darauffolgenden Abend, es war der Donnerstag, schrieb er mit der Maschine aus dem Buch die Erzäh-lung eines Autors ab, dessen Name ihm außer in diesem verschlissenen Band noch nie begegnet war. Es war keine sehr gute Geschichte, ein alter Mann sucht verzweifelt seine Katze und findet sie, als er erschöpft nach Hause kommt, vor der Tür – für Glocks Geschmack zu blumig, zu ly-risch geschrieben, aber der Schluss ging zu Herzen. Glock veränderte den Text schon während des Ab-schreibens. Er schnitt die stilistischen Wucherungen zurück, verlieh der Katze statt der stumm glimmenden schlicht grüne Augen und machte aus dem holzig verwitterten Gesicht des alten Mannes ein faltiges.

Die sieben Seiten, die am Ende vor ihm lagen, bearbeitete er noch einmal von Hand, er strich hier und da einen Satz, trug neue Formulierungen ein. Er fand, als er nichts mehr zu bean-standen wusste und sich die Ge-schichte halblaut vorlas, dass sie ge-wonnen hatte und so übel nicht war. Und nicht nur das: Der Anblick des Manuskripts wirkte überzeugend. Mit Glocks Korrekturen offenbarte es die Spuren der Werkstatt. Glock wollte sich schon zufrieden zurücklehnen, als ein jäher Schweißausbruch ihn in die Höhe trieb. Er schob die Blätter von sich, als fürchtete er sich vor ih-nen.

Sie saß schon an der Theke, als er am Freitagabend in die Kneipe kam. Neben ihrem Glas lag ein kleines Päckchen, in Geschenkpapier einge-schlagen, rotes Band, Schleife. Bevor sie sich auf den Weg machten, gab sie es ihm. »Ich hab dir was mitgebracht.«

»Was ist das?«»Du kannst ja später nachsehen.«

Sie lächelte ein bisschen verlegen. »Ich weiß gar nicht, ob du so etwas über-haupt magst.«

Glock, der das Geschirr abgewa-schen, Staub gewischt und seine Sie-bensachen in den Schrank gepfercht hatte, bot ihr den Sessel an. Als er sich, das Weinglas in der Hand, nahe ihren Knien auf dem Bett niederlassen woll-

te, sagte sie: »Mach dir’s nicht zu ge-mütlich. Jetzt will ich was hören. Ich hab mich schon die ganze Woche dar-auf gefreut.«

Er setzte sich an den Tisch, schob die Schreibmaschine zur Seite, zog die Mappe heran und schlug sie auf. Jäh wurde ihm wieder heiß, er glaubte, den Schweiß auf seiner Oberlippe zu spüren, strich sich wie beiläufig über den Mund. Seine Stimme zitterte ein wenig, als er zu lesen begann. Aber je länger er las, umso mehr nahm ihn der Text gefangen. Er lebte sich in die Ge-schichte hinein, unterstrich sie hier und da mit einer Handbewegung, schüchtern zuerst, dann immer siche-rer.

Es war eine gute Geschichte gewor-den, und er spürte, dass es ihm gelang, ihr Ausdruck zu verleihen. Den Schluss, die erlösende Heimkehr der Katze, trug er ein wenig stockend vor,

es kostete ihn Mühe, seiner Rührung Herr zu werden, aber seine Stimme geriet nicht ins Schwanken.

Er schloss die Mappe. Es war sehr still. Nach einer Weile hob er den Blick. Sie hatte einen Arm auf die Ses-sellehne gestützt, die Hand über die Augen gelegt. Er stand auf, wollte zu ihr gehen, blieb stehen.

Sie sagte: »Willst du nicht mal nachsehen, was ich dir mitgebracht habe?«

»Natürlich. Entschuldige.« Was war das? Kein Wort zu seiner Ge-schichte?!

Er kämpfte mit seiner Enttäu-schung, während er die Schleife auf-band und das Papier öffnete. Es war ein Buch, ein wenig abgegriffen. Er ließ das Papier fallen.

Er starrte auf den Einband, den Ti-tel, als müsste er ihn buchstabieren,

um ihn zu verstehen. Die schönsten Erzählungen der Nachkriegsliteratur.

Sie sagte: »Ich hab das von meinem Vater geerbt. Ich hab sie alle gelesen. Und keine vergessen. Vielleicht, weil’s ein Geschenk von meinem Vater war. Aber sie haben mir auch gut gefallen.«

Er wollte etwas sagen, aber es wur-de nur ein halbes Räuspern daraus, fast klang es wie ein Ächzen. Er ließ sich langsam auf das Bett nieder, mit dem Buch in der Hand.

Sie nahm die Hand von den Augen. »Ich hab schon ziemlich schnell den Verdacht gehabt, dass du ein bisschen aufschneidest.«

Er stieß die Luft durch die Nase. »Ein bisschen?!«

»Ja. Nur ein bisschen.« Sie sah ihn an. »Es war doch nicht alles heiße Luft. Du schreibst doch tatsächlich, oder?«

Er lachte bitter. »Ja, ich schreibe. Das ist wohl wahr.«

»Na also.«»Ja, ja.« Er ließ sich auf das Bett zu-

rücksinken. »Nur hab ich noch nie was zu Ende geschrieben. Und veröf-fentlicht …«

Er lachte, hob den Arm und ließ ihn aufs Bett fallen.

Sie sagte: »Aber hat denn nicht je-der mal so angefangen? Jeder Schrift-steller, meine ich? Mehr oder weni-ger?«

Er hob im Liegen den Kopf und sah sie an.

Sie sagte: »Ich will dir mal was sa-gen. So, wie du mir die Geschichte vorgelesen hast … Ich hab die zum ersten Mal richtig verstanden. Du hast was drauf. Vielleicht langt’s nicht zum Schriftsteller. Das wird sich ja noch herausstellen. Aber selbst wenn es nicht langt: Wäre das so schlimm? Schriftsteller, das ist doch auch nur ein Beruf wie alle anderen.«

Er richtete sich langsam auf, stützte sich auf einen Ellbogen.

Sie trank ihr Glas leer. »Was bist du eigentlich von Beruf?«

»Angestellter. Versicherung.«Sie nickte. Dann hielt sie ihm das

leere Glas entgegen. »Gibst du mir noch einen Schluck?«• Ill

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Diogenes Magazin

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Bei Tomi Ungerer kann man eines ganz

sicher erwarten: das Unerwartete.

Unter diesem Motto von Ungerer vereint der vorliegende Band

Essays über den Ausnahmekünstler.

Ein Schatzkästlein mit vier der tollsten und

beliebtesten Kinder- bücher von Tomi Ungerer:

Die drei Räuber, Der Mondmann,

Papa Schnapp und Crictor.

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Robert Walter: Wie bist du Tomi erstmals begegnet, wie sind die Fil-me zustande gekommen? Percy Adlon: An einem späten Vor-mittag 1971 ging ich mit einem Kame-rateam in eine kleine Galerie bei der Münchner Frauenkirche, um eine kurze Reportage über Ungerer zu drehen. Ich kam in den Raum und schaute in ein Gesicht, wie ich noch keines gesehen hatte. Er zeigte dieses wunderbar wilde Gebiss, die Augen lachten, es war eine merkwürdige Mi-schung aus Freude und Nervosität, und er fing an zu reden in diesem un-verwechselbaren Gemisch aus Deutsch, Elsässisch und Französisch. Als wir mit der Reportage fertig waren, fragte ich ihn: »Wo kommen Sie her?«, und er sagte: »Aus Straßburg.« – »Kann ich Sie besuchen?«– »Nein«, sagte er. »Ich wohne in Kanada, in Nova Scotia. Da habe ich ein großes Stück Land ge-kauft, eine Landzunge mit einem al-

ten Fischerhaus. Das haben wir ausge-baut«, und plötzlich öffnete sich sein Gesicht noch mehr, und er sagte: »Wir haben keine Bilder im Haus, die Fens-ter sind unsere Bilder.« Und damit hatte er mich an der Angel.

Ich ging zu einer jungen Redakteu-rin, mit der ich noch nie gearbeitet hat-te. Bis dahin hatte ich nur Fünf- oder Sieben-Minuten-Filme gemacht, aber mit dem Tomi-Ungerer-Portrait woll-te ich etwas Größeres machen. Der Programmdirektor sagte: »Was wollen Sie? Ich habe keine Ahnung, wer Herr Ungerer ist. Ich kann mir nicht vor-stellen, dass man über ihn einen Film machen kann.« Aber meine Redak-teurin Begnina gab nicht auf, hat fast ein Jahr lang gebohrt, und eines Tages kam sie zu mir und sagte: »Du kannst deinen Ungerer-Film machen.«

Und dieser Film, Tomi Ungerers Landleben, wurde zur besten Sende-zeit in der ARD gesendet, und Tomi

war in Deutschland in aller Munde. Es gab eine Szene, die immer genannt worden ist, in der war gar nicht der Tomi, sondern Yvonne (lacht). Und zwar sagten die Leute immer: »Die schöne Frau auf dem Pferd.« Sie ritt auf dieser Landzunge auf uns zu, und das war wie ein Märchen.Welches Jahr war das?1973. Tomi und Yvonne waren ein wunderbares Paar. Die beiden haben gekocht, für uns und das Kamerateam. Natürlich wusste Tomi als guter Ge-schäftsmann schon, was er von uns wollte, warum er uns so gut bekochte: Wir sollten einen guten Film machen. Tomi ist sparsam. Es war kalt in Nova Scotia zu der Zeit, obwohl es Juni war, Yvonne kam mit einem Pelzmantel. Ich sagte: »O Yvonne, ist der toll!«, und Tomi erwiderte: »Der ist von der Müllkippe.«

Dieser Film war mein erster großer Erfolg – vor fast vierzig Jahren.

Percy Adlon hat die schönsten Filme über Tomi Ungerer gedreht, die beiden kennen sich seit über 35 Jahren. Für den Regisseur von Out of Rosenheim oder Salmonberries ist Tomi Ungerer, der vier Mal für ihn vor der Kamera stand, »einer der ganz großen Zeichner« der Welt, aber vor allem eins: ein Freund und eine nie versiegende Inspirationsquelle.

Percy Adlon im Gespräch mit Robert Walter

Regisseur vor wilder Landschaft

Interview

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Tomi Ungerer und Percy Adlon

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Ich glaube, Tomi wird bis zum letz-ten Atemzug immer noch das nächs-ten Bonmot, die nächste wunderbare Wortschöpfung produzieren und übersprudeln vor Ideen. Er ist immer schnell entflammbar, und das kann er so lange halten, bis er unterbrochen wird, bis man irgendetwas tut oder sagt, was ihn nicht interessiert. Und pffff ist die ganze Energie weg, für ei-nen Moment ist alles weg, die Batterie leer. Er sagt: »Ich kann nicht mehr. Ich bin fertig.« Aber plötzlich zündet es wieder, ein kleiner Funke genügt, dass er wieder in die Luft kommt, dass der Ballon seiner Phantasie wie-der hochsteigt. Es ist unglaublich. Das habe ich nie mehr erlebt, nie, bei kei-nem, nicht davor und nicht danach.

In Kanada hatte er schon angefan-gen, über das Liederbuch nachzuden-ken und in seinem Waldstück Pflan-zen und Tiere detailgenau zu studieren.

Er ist ja ein Chirurg, sozusagen, der nicht nur die menschlichen Schwä-chen seziert, sondern auch die Zu-sammenhänge analysiert, die Techni-ken, und wie die Dinge funktionie-ren … Tomi, der Nachkomme von

Uhrmachern. Aber was er damals, in dem Sommer 1973, eigentlich gemacht hat, waren diese großformatigen, an-spruchsvollen Zeichnungen, schwarz-weiß, stark, die damals, glaube ich, gar nicht gut angekommen sind. Er wollte sich wieder einmal selbst herausfor-dern. Das war schwierig für ihn, weil man von ihm erwartete, dass alles im-mer pfiffig und lustig und scharf sein müsse, aber das war plötzlich Kunst. Es war anspruchsvolle, kompromiss-lose, moderne Kunst. Und das war immer etwas, was ich an ihm beson-ders geliebt habe: den reinen Künstler. Für mich ist er einer der ganz großen modernen Zeichner. Und gleichzeitig war er damals in Kanada auf dem Land auf dem Weg zum Liederbuch, das hat sich so bei ihm im Kopf entwi-ckelt.

Ich fragte ihn damals, ob er einen Liederbuchfilm mit mir machen möchte, er sagte zu. Ein fränkischer Zeichner, der in Bayern auf dem Land einen großen Hof besaß, hatte mich eingeladen, dort mit Tomi zu drehen. Wir hatten Musiker. Tomi saß im Frei-en an einem schönen Holztisch und

erzählte. Das Pensum war groß, aber Tomi blieb frisch vom Anfang bis zum Ende und pfefferte die lieben Geschichten mit kleinen Bosheiten. Er brauchte nichts vorzubereiten. Er hat es einfach. Der Liederbuchfilm wurde auch ein paar Mal im Fernse-hen gezeigt.

Danach hatten wir einige sporadi-sche Begegnungen, durch die beiden Filme war natürlich eine Nähe ent-standen.

Dann kam der dritte Film. Als er Babylon vorbereitete, interessierte ich mich sofort dafür. Ein intellektuelles Werk, unglaublich kreativ, wo er die Schrecken und Krankheiten der Welt darstellt, den kranken Menschen. Ich habe nur ein paar Blätter von diesem großartigen Werk gesehen und ge-dacht: ›Wir müssen etwas machen.‹ Da haben wir uns in Zürich verabre-det, in der Galerie, wo die Ausstellung stattfand, der Schauplatz des Films war noch nicht entschieden. Da rief mich Tomi an uns sagte: »Ich kann es nicht erzählen, ich habe eine Verlet-zung. Wir müssen es verschieben. Ich bin im Krankenhaus. Es ist mir was

Tomi Ungerer im Web: www.tomiungerer.comwww.twitter.com/tomiungerer und www.facebook.com/tomiungerer

2007 ist in Straßburg das Tomi Ungerer Museum eröffnet worden. Neben einer Dauerausstellung werden jährlich drei wechselnde thematische Ausstellungen gezeigt. Zum 80. Geburtstag von Tomi präsentiert das Museum die Ausstellung »Tomi Ungerer et les maîtres«, vom November 2011 bis Februar 2012. Musée Tomi Ungerer · 2, avenue de la Marseillaise · F-67076 Strasbourg www.musees-strasbourg.orgÖffnungszeiten: 12 –18 Uhr, Sa & So: 10 –18 Uhr, Di geschlossen

Werden Sie Mitglied der Internationalen Vereinigung der Freunde Tomi Ungerers. Association Internationale des Amis de Tomi Ungerer, BP 12 Cathédrale, F-67000 Strasbourg, [email protected]

TomiUngerer

Zum 80. Geburtstag am 28. November 2011 erscheint ein 20-seitiges Booklet zu Leben und Werk. Erhältlich in jeder guten Buchhandlung oder als PDF auf www.diogenes.ch.

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Karikatur von Max Frisch, 1971

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Furchtbares passiert.« Ich sagte: »Dann komme ich ins Krankenhaus.« – »Du kannst doch nicht ins Krankenhaus kommen.« – »Doch, ich komme.« Ich dachte, wenn er im Krankenhaus ist, vielleicht in so einem Krankenhaus-bett liegt, nicht in einem Empfangs-raum, sondern in so einem Eisenbett mit dem Buch auf dem Bauch – das könnte die Szene für dieses Babylon sein. Und ich wusste, er hat das auch gleich so begriffen, als Chance, etwas zu machen, das stimmig war. Wir gin-gen also hin, haben aufgebaut, Kame-ra, Licht, Ton. Er lag im Eisenbett. »Eine Eisenstange, vier Meter lang, ist von der Wand gerutscht, und die Spit-ze ist mir unterm Knie in den Muskel gesaust und hat den ganzen Muskel abgerissen.« Ich hörte Tomi nur etwas sagen wie: »Thrombose … Blutvergif-tung … blaues Bein …« Ja, und dann begannen wir zu drehen, während er im Bett lag. Er sah aus wie der als Großmutter verkleidete Wolf. Den ganzen Film hindurch, 45 Minuten lang, ist Tomi nur in diesem Eisenbett zu sehen, mit der Brille, die er mit einer Büroklammer repariert hat, und seinen Handwerkerhänden mit den schwarzgeränderten Fingernä-geln. Und diese furchtbaren Blätter, diese Monstrositäten: Was der Mensch ist, was er mit sich macht, wie er sich mit Deodorants die Achselhöhle aus-sprüht, bis die Knochen zu sehen sind. Auf diesen Film bin ich sehr stolz, weil er so konsequent ist.

Vor seinem 65. Geburtstag kamen Philippe Muller und Hans Robert Ei-senhauer von Arte, die einen Themen-abend über Tomi machen wollten. Ich sagte ihnen: »Vor allen Dingen muss ich in Irland drehen, weil da Tomis Leben ist.« Ich rief ihn an, aber er sag-te: »Nein, nein, nein. Entschuldige. Ja gut, komm, wenn du magst. Aber ein Kamerateam kann ich nicht ertragen. Das geht einfach nicht.« Also be-schloss ich, nur mit meiner Frau Mele und meiner Kamera hinzugehen. Ich würde die Kamera, sie den Ton ma-chen. Und das wurde das große Ir-land-Erlebnis. Es war eine Art Pen-dant zu diesem Kanada-Erlebnis, nur

war Tomi eben 25 Jahre älter. Ich habe den Film »Mann vor wilder Land-schaft« genannt. Das war nur mein eigener Titel. Da habe ich das Gefühl, als ob ich Tomi in einen großen Zu-sammenhang stelle, mitten in die Na-turgewalten. Ich zeige gern sein We-sen als eine Naturgewalt, sein Gesicht, seine Augen, seinen Ausdruck, seine Ängste, seine Träume. Wenn ich daran denke, wie wir da standen mit dem Wind, der See und der Felsküste, und meine Frau mit dem Mikrophon und ich mit meiner kleinen Kamera … Wir waren uns so nah. Tomi hat da eine große Kraft entwickelt. Da war er ja schon krank gewesen und fühlte sich wie ein alter Mann. Andererseits war er auf einer unglaublich kreativen, philosophischen Ebene. Ein Ausrei-ßer, einer, der entkommen ist und sich eine Selbständigkeit bewahrt, umge-ben von Naturgewalten und auch kämpfend gegen sie. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, dass ich diese großen Worte verwende, aber ich fühle es so.

Bei Mann vor wilder Landschaft war eine Sache enttäuschend für mich – das Wetter war zu schön. Na-türlich waren wir vorher einmal da gewesen, im Winter, und ich hatte im-mer dieses Winterbild vor mir. Da-mals war es so krachend kalt, dass ir-gendwie immer alles eingefroren war. Wir haben in einem freistehenden Gästehaus gewohnt, es war furchtbar kalt. Morgens kam ich runter, zitterte vor Kälte, freute mich auf Tomis guten Kaffee. Die schönste Szene passierte in seinem Schuppen, seiner Werkstatt. Da waren Fundstücke aus Metall, Holz, Ketten, Plastik, woraus er seine Collage-Skulpturen machte. Plötzlich fing er an zu suchen, er stapfte herum in dem Gerümpel, wie ein Junge im Tiefschnee. Er suchte etwas Bestimm-tes und fand es. Es war ein rostiges Sieb. Ein normales altes Haushalts-sieb. Das hatte er eingebeult und in die beiden Henkel zwei Schrauben gesteckt. Tomi hielt es vor die Kamera. Das Sieb war ein Frosch mit einem breiten Maul, das sich vor der Kamera bewegte, als ob es spricht. Plötzlich sagt Tomi: »Das kannst du haben«,

und ich habe mit meiner einen Hand das Geschenk genommen und vor Freude angefangen, mit dem Ding zu tanzen, hab mich mit dem Frosch ge-dreht, mit der Kamera, es war wie ein Tanz, in dem Tomi auf- und weg-tauchte, der ganze Schuppen drehte sich und kam genau zur Ruhe, als Yvonne in der Schuppentür auftaucht und fragt: »Do you want coffee?«

Diese schöne Szene wurde gleich von allen geliebt, weil eine wirklich gelungene Szene immer sofort ver-standen wird und nicht erklärt wer-den muss.

Tomi ist der eindrucksvollste Mensch, der mir je begegnet ist, der weitaus eindrucksvollste. Wir sind uns sehr nah. Gestern haben wir zu-sammen zu Mittag gegessen und eine Bioweinflasche Côtes du Rhône ge-trunken. Eigentlich mag Tomi nur Bordeaux. Er nahm den ersten Schluck. Es traf ihn wie ein Blitzschlag. Und der Wein wurde mit jedem Schluck besser. Es war ein Wein, wie man ihn früher gemacht hat – kein Kompro-miss, nichts Weiches, nichts Rundes. Fabelhaft. Nachher war die Flasche leer, und er bestellte sich noch einen Bordeaux. Hat ein ganz trauriges Ge-sicht bekommen. Das war plötzlich wie die B-Mannschaft. Der Wein hatte keine Chance. So etwas mit Tomi zu erleben ist schön. Immer sind alle sei-ne Sinne voll bei der Sache.

Unvergesslich sind die Essen, die Tomi und Yvonne damals in Kanada für uns und das Kamerateam aus Bay-ern gekocht haben. Sein Roastbeef mit Yorkshirepudding gehört zum Bes-ten, was ich je gegessen habe. Eigent-lich wollten wir das Essen damals fil-men, aber die Crew war so ins Essen vertieft, dass kein Gedanke daran auf-kam, aufzustehen und zu drehen. Wir haben stundenlang gegessen.

Auch mit fast achtzig Jahren hat sich Tomi überhaupt nicht geändert. Bei ihm ist immer alles neu. Ich habe gerade in den Katalog der Ausstellung in Schwäbisch Hall geschaut. Diese neuen Collagen – wieder so ein Tomi-Wunder.•Robert Walter

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Impressum

Ehren-Herausgeber: Daniel KeelGeschäftsleitung: Katharina Erne, Ruth Geiger, Stefan Fritsch, Daniel Kampa, Winfried StephanChefredaktion: Daniel Kampa ([email protected])Mitarbeiterinnen dieser Ausgabe: Julia Stüssi (js), Nicole Griessmann (ng), Martha Schoknecht (msc)Grafik-Design: Catherine BourquinFotograf: Bastian SchweitzerScans und Bildbearbeitung: Catherine Bourquin, Tina Nart, Hürlimann Medien (Zürich)Webausgabe: Susanne Bühler ([email protected])Korrektorat: Franca Meier, Dominik SüessBildredaktion: Regina Treier, Nicole GriessmanFreier Mitarbeiter: Jan Sidney (sid)Vertrieb: Renata Teicke ([email protected])Anzeigenleitung: Simone Wolf ([email protected])Zurzeit gilt Anzeigenliste Juni 2011Abo-Service: Christine Baumann ([email protected])Für ein Abonnement benutzen Sie bitte die auf Seite 39 eingedruckte Abokarte. Abonnements-preise: € 10.– für drei Ausgaben in Deutschland und Österreich, sFr 18.– in der Schweiz, andere Länder auf Anfrage.Herzlichen Dank allen Autoren und Fotografen.Beim Gewinnspiel sind Mitarbeiter/-innen des Diogenes Verlags von der Teilnahme aus-geschlossen. Die Gewinner werden schriftlich benachrichtigt. Die Preise sind nicht in bar auszahlbar. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.Programmänderungen vorbehalten. Alle Angaben ohne Gewähr.Redaktionsschluss: 1.8.2011 / ISSN 1663-1641Diogenes MagazinSprecherstr. 8, 8032 Zürich, SchweizTel. +41 44 254 85 11, Fax +41 44 252 84 07Über unverlangt eingesandte Manuskripte kann leider keine Korrespondenz geführt werden.

cd-tipp

Distribution: Membran Music Ltd.www.membran.net

Tomi Ungerers Zeichnungen zieren sieben CD-Cover von Oksana

Sowiak. Die Sängerin hat sich ein Gegengeschenk ausgedacht: ihre CD

Memento Tomi – Hommage à Tomi Ungerer mit deutschen und

jiddischen Chansons, Kinderliedern und natürlich dem Evergreen

Die Gedanken sind frei.

Seit 70 Jahren das Beste aus Literatur, Kunst, Musik,

Fotografie, Film, Architektur, Design und Gesellschaft.

[email protected] +41(0)44 266 85 62 www.du-magazin.com

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Ein Geburtstagsständchen von Ingrid Noll zur Melodie von Tomi Ungerers Lieblingslied Die Gedanken sind frei.

Der Tomi ist toll! Das singt ihm Ingrid Noll

Der Tomi ist freivon prüden Gedanken. Und fromme Heuchelei,die bringt er ins Wanken. Mit Charme und mit Witzen,die haargenau sitzen,mit Feder und Blei:Der Tomi ist frei! Der Tomi ist frei,das sei Euch verraten!Greis, Räuber, Nackedei,Weiber und Soldaten –der Tomi malt alle,auch Hund, Katz’ und Qualleund noch so mancherlei.Der Tomi ist frei!

Der Tomi ist frei,das soll jeder wissen!Denn seine MalereiWill niemand mehr missen.Seine kauzigen Lehrenkann niemand entbehren.Es bleibet dabei:Der Tomi ist frei!

Der Tomi bleibt jung!Mit kindlichen Scherzenund Skizzen voller SchwungBetört er die Herzen!Auch unsre Nachfahrenin einhundert Jahren,die lässt er nicht kalt,denn der Tomi wird nie alt.

Der Tomi ist gut,ein ganz großer Meister!Mit Lust und mit Mutbeschwört er die Geister:von Liedern und Märchen,von Miedern und Bärchen,von Otto und Flix!Über Tomi geht halt nix.

272 Seiten, PappbandISBN 978-3-257-01005-3

zum 80. Geburtstag von Tomi für kurze Zeit als Sonderausgabe

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Petros Markaris

Griechenland in der Krise

»Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?«, fragt Bertolt Brecht in der Dreigroschenoper. Diesen Satz hat Petros Markaris als Motto seinem »Roman zur Krise« (Süddeutsche Zeitung) vorangestellt. Das Diogenes Magazin traf den Autor von Faule Kredite am Schauplatz des Gesche-hens – in Athen – und sprach mit ihm natürlich über Griechen und Schuld en, aber auch über die Liebe zum Schreiben und vieles mehr.

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Diogenes Magazin: Sie haben immer in Großstädten gelebt. Geboren in Istanbul studierten Sie in Wien und leben seit 1964 in Athen … Lauter Metropolen, die einst Zentren gro-ßer Reiche waren. Was bedeutet Ih-nen Athen? Petros Markaris: In Athen gehen Hass und Liebe Arm in Arm spazieren. Ich glaube, die Gemütsumschwünge der Athener haben mit ihrer Stadt zu tun. Die Athener umarmen einen und sa-gen Nettigkeiten, und im nächsten Moment wird man beschimpft. Mor-gens treten Sie auf die Straße, die Son-ne scheint, alles glüht, alles ist in ei-nem Lichtschleier, die Leute sitzen in Cafés, plaudern und trinken Kaffee, alles ist schön. Dann biegen Sie in eine neue Straße ein, und plötzlich rasen Autos auf Sie zu, und Sie denken: ›O Gott, jetzt bin ich tot!‹ Sie retten sich auf den Bürgersteig, aber der ist so ka-putt, dass Sie stürzen und sich Ihr Bein brechen, dann verfluchen Sie die Stadt. Das ist Athen. Alle Athener ha-ben eine Hassliebe zu ihrer Stadt. Das andere, was ich an Athen liebe, ist die Nacht. In der Nacht ist diese Stadt noch viel schöner als tagsüber. Athen wird schön entweder im Sonnenschein oder im Dunkeln. Ganz im Gegensatz übrigens zu Istanbul, das schön wird in diesem leisen Regen, Istanbul braucht den Regen, um schön zu wer-den. Athen braucht Sonnenschein. Wie hat sich die Stadt seit Ihrer An-kunft verändert?Athen war damals eine andere Stadt. Eine schöne, ruhige, eine sehr mensch-liche und humorvolle Stadt, man konnte jeden Tag an jeder Ecke lachen. Ich frage mich immer, wo dieser Hu-mor heute ist, er ist einfach ver-schwunden. Griechenland war sehr arm, als ich es Mitte der 60er-Jahre kennenlernte. Aber seine Armut hatte Niveau, das Land hatte eine Kultur der Armut entwickelt. An den Dich-tern, dem Theater und den Kompo-nisten konnte man das erkennen. Die haben vom Staat keinen einzigen Gro-schen erhalten. Die haben geschuftet, um Kunst zu schaffen, und waren großartig.

In Ihren Romanen pulsiert Athen. Wenn ich einen Roman schreibe, weiß ich immer, wo der spielt, in welchem Stadtteil. Ich gehe zu Fuß hin und ma-che eine kleine Recherche.Sie fahren kein Auto?Nein.Im Gegensatz zu Kommissar Chari-tos, der ein neues Auto fährt? Ja, sein altes Auto, der Mirafiori, ist weg. Eine Freundin, die in meinem italienischen Verlag arbeitet, sagte zu mir: »Ich weiß nicht, wie viele Mira-fiori in Griechenland noch auf den Straßen unterwegs sind, aber eines sage ich dir, in Italien findest du einen Mirafiori nur noch im Fiat-Museum.« Gut, dann musste er eben weg, diese Entscheidung war leicht zu treffen. Die Frage nach dem neuen Auto war schwieriger zu beantworten.

Die Krise hat ihm dann die Antwort gegeben. Aus Solidarität mit Spani-en, das – im Unterschied zu Japan – auch in der Krise steckt, kaufte er sich ein spanisches Auto.Ja, Kommissar Kostas Charitos fährt jetzt einen Seat Ibiza. Ich erzählte in meinem spanischen Verlag vom Pro-blem des neuen Autos, als eine junge Dame aus der Presseabteilung kam, Delia Louzan, und mir ein kleines Ge-schenk brachte: einen Seat-Katalog mit Modellen in allen Farben, damit ich eine Auswahl treffen konnte. Das war schön! Und wegen der Bezah-lung: Charitos sagt ja später: »Hätte ich das gewusst, hätte ich keinen Wa-gen gekauft«, was bedeutet, dass er in Raten zahlt.

Woher kommt Ihre Familie?Mein Vater war Armenier, die Mutter Griechin, zu Hause sprachen wir Griechisch. Und zwar dank einer Lie-besgeschichte: Mein Großvater väter-licherseits stammte aus einer reichen armenischen Familie in Istanbul, sein Vater war einer der Banker von Sultan Abdul Hamid. Sie hatten ein großes Haus und eine Köchin, die von der Kykladeninsel Andros kam. Diese Köchin bat meinen Urgroßvater um Erlaubnis, ihre Nichte eine Zeitlang bei sich wohnen lassen zu dürfen. Mein Urgroßvater willigte ein und bot der Köchin ein Zimmer für ihre Nich-te an. Die Nichte, damals 17 Jahre alt, kam direkt von der Insel und soll sehr hübsch gewesen sein. Mein Großvater verliebte sich auf der Stelle. Er ging zu seinem Vater und eröffnete ihm: »Ich habe mich in die Nichte unserer Kö-chin verliebt und möchte sie heira-ten.« Sein Vater sagte, er sei nicht bei Trost, er könne nicht die Nichte der Köchin heiraten, die zudem auch noch Griechin sei, und drohte ihm mit Ent-erbung. Doch mein sturer Großvater kam eines Sonntags beim Mittagessen mit dem Mädchen herein und sagte: »Ich will euch meine Frau vorstellen.« Am nächsten Tag wurde er von sei-nem Vater enterbt. Da nahm er seine junge Frau, zog aus, mietete eine Zwei-zimmerwohnung, lernte die Sprache seiner Frau und sprach kein Arme-nisch mehr. Er sprach ein furchtbares, elendes Griechisch, aber das war un-sere Sprache, die Folge einer Liebes-geschichte. Der Diogenes Verleger Daniel Keel fand die Geschichte übri-gens herrlich und wollte, dass ich ein Buch darüber schreibe. Aber ich kann keine Liebesromane schreiben. In Istanbul gingen Sie auf eine deut-sche Schule …Auf eine österreichische Schule. Die Türkei war im Krieg ja neutral geblie-ben; als sich aber abzeichnete, dass die Alliierten gewinnen würden, erklärte die Türkei Deutschland den Krieg, und man schloss die deutsche Schule. So gab es für mich keine deutschspra-chige Alternative zum österreichi-schen St.-Georg-Gymnasium.Fo

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Istanbul braucht den Regen, um schön zu

werden. Athen braucht Sonnenschein.

Wie kam es dazu?Mein Vater hatte in seinem Leben zwei Träume und wurde in beiden enttäuscht. Er führte eine Import- Firma und wollte, dass ich sie über-nehme. 1949 begann das deutsche Wirtschaftswunder, und mein Vater glaubte, Deutsch würde zur internati-onalen Unternehmersprache werden, ich sollte also Deutsch lernen. Er wur-de doppelt enttäuscht: Deutsch wur-de nicht zur Unternehmersprache, und ich habe seine Firma nicht über-nommen. Aber ich habe Deutsch ge-lernt, das ist geblieben. … und heute muss Deutschland Griechenland retten. – In Wien be-gannen Sie dann ein Wirtschafts-studium. Auch das war der Wunsch meines Va-ters. Ich wollte nicht Wirtschaft stu-dieren, ich verabscheute das Fach. Aber schon damals zog es mich weg von Istanbul. Also sagte ich mir: Das Studium ist deine Chance. Dabei habe ich gar nicht fertig studiert. Nach fünf Jahren wusste ich, dass ich auf Grie-chisch schreiben wollte, also ging ich nach Griechenland, wo das moderne Griechisch gesprochen wird. Sie waren aber in Griechenland län-ger in der Wirtschaft tätig, nicht wahr? Ja, von 1966 bis 1976 war ich bei einer Zementfabrik, also elf Jahre lang. Den großen Sprung habe ich 1976 gewagt, als ich es nicht mehr aushielt in der Fabrik. Hat da Ihr Vater noch gelebt?Nein. Meine Mutter aber hat es mir nie verziehen. Es war und ist eine sehr gute Firma. Da gab es zwei Mal jähr-lich Gehaltserhöhungen und außer-dem Boni für die besten Angestellten. Nur einmal bekam ich etwas weniger. Am nächsten Tag meldete sich der Ge-schäftsführer der Firma: »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, das nächste Mal bekommen Sie mehr, ma-chen Sie sich keine Sorgen.« Dann sagte er wie nebenbei: »Abgesehen davon werden Sie nächstes Jahr Di-rektor sein, dann bekommen Sie so-wieso ein besseres Gehalt.« Ich war völlig perplex. Ich sagte mir: »Wenn

du jetzt Direktor wirst und weiter-machst, dann musst du das Schreiben vergessen.« Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und nachgedacht. Am nächsten Tag ging ich zum Ver-antwortlichen und sagte: »Ich bin sehr geehrt. Das ist wirklich nett von Ih-nen, hier ist mein Rücktritt.« Er be-zahlte mir den vollen Lohn, als ob er mich gefeuert hätte, um mich an sich zu binden, falls ich es mir anders über-legte. Ich sagte: »Wissen Sie, ich wer-de nie zurückkommen.« Er darauf: »Ich bin Unternehmer, ich kenne mei-ne Risiken. Dieses nehme ich auf mich.« Ich ging nie zurück, und er hat das Geld verloren.

Wie entschied sich, in welcher Spra-che Sie schreiben würden?Ich bin dreisprachig, spreche Grie-chisch, Türkisch und Deutsch. Am Anfang schrieb ich einiges auf Deutsch, auch auf Türkisch, seltsamerweise we-niger auf Griechisch. Und auf einmal, in Wien, kam ein Sinneswandel. Wis-sen Sie, die österreichische Gesell-schaft – besonders die Wiener –, das ist eine geschlossene Gesellschaft. Und ich hatte oft dieses Gefühl der Einsamkeit – mit seinen negativen und seinen positiven Seiten. Jeder, der Schriftsteller sein möchte, muss ler-nen, seine Einsamkeit zu lieben, da der Schriftsteller immer einsam ist. Er lebt alleine, er schreibt alleine, er denkt alleine. Man muss diese Ein-samkeit nicht nur ertragen, man muss sie lieben lernen. Ich habe sie mir zu eigen gemacht. Andererseits war ich durch sie auch befremdet. Ich be-schloss damals: Wenn ich schreibe, dann nur auf Griechisch. Ich wollte irgendwie an den Busen der Mutter-sprache. Im Griechischen fühlte ich mich sicher.

Wusste Ihr Vater, dass Sie schon früh mit dem Schreiben begonnen haben?Ja. Aber er hoffte immer, dass es eine jugendliche Krankheit sei, die vorbei-gehen würde. Thomas Mann schrieb immer mor-gens. Haben Sie Schreibrituale?Wenn ich zu Hause bin, arbeite ich jeden Tag, Samstag und Sonntag in-begriffen, von 10 bis 14 Uhr und von 16 bis 20 Uhr. In der Zeit von 14 bis 16 Uhr lese ich, meistens Zeitungen. Wenn ich mit einem neuen Roman an-fange, dann muss ich die ersten drei Monate immer zu Hause sein, bis ich den Roman im Griff habe. Danach kann ich überall arbeiten, im Hotel-zimmer, sogar im Zug. Aber die ersten drei Monate brauche ich meine Woh-nung, meinen Schreibtisch und mei-nen Kater. Der neue Roman ist teil-weise dem Kater gewidmet: ›Für Josephine und Gian‹. Gian heißt der Kater. Ich mag Katzen sehr. Ich bin verliebt in Katzen.Haben Sie einen ersten Leser?Ich schreibe die ersten zwei Kapitel, dann redigiere ich das erste, dann schreibe ich das dritte, und am Ende redigiere ich das zweite, dann kommt das vierte und so weiter. Eigentlich habe ich am Ende zwei Versionen, die ich dann nochmals drei, vier Wochen liegenlasse, um dann eine dritte Kor-rektur zu machen. Diese Fassung be-kommen mein Verleger, meine grie-chische Lektorin und meine Tochter. Wenn ich ihre Kommentare habe, ma-che ich die endgültige Fassung. Mit der deutschen Lektorin bei Diogenes erstellen wir eine weitere Fassung: die europäische Version. Nach meinem ersten Roman sind wir daraufgekom-men, dass vieles, was ich schreibe und zitiere, spezifisch auf Griechenland bezogen und für den europäischen Leser nicht verständlich ist. Da muss man mutig sein und kürzen. So ent-steht eine Fassung, die für alle auslän-dischen Verleger verbindlich ist. Sie haben in einem Interview vor fünf Jahren gesagt: »Ein Grieche will sein Geld nicht in eine Firma stecken, er baut sich lieber eine Villa. Fo

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»Der neue Roman ist teilweise dem Kater gewidmet: ›Für Josephine und Gian‹. Gian heißt der Kater. Ich mag Katzen sehr. Ich bin verliebt in Katzen.«

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»London hat Sherlock Holmes, Venedig Commissario Brunetti, Athen hat Kostas

Charitos.« Wien live

Zivilstand Seit Jahren verheiratet mit Adriani

Wohnort Athen

Aussehen Jeder Leser darf ihn sich vorstellen, wie er will.

Marotten Hasst das Fernsehen – und Presse konferenzen.

Laufbahn Begann als Gefängniswärter unter der Militärjunta.

Methode Konsultiert alte Wörterbücher – die Begriffs erklärungen inspirieren ihn. Grübelt, brütet und spricht mit seiner Frau Adriani.

Isst Morgens ein Croissant, seit es in Athen keine Sesamkringel mehr gibt; unterwegs Souflaki. Sein Leibgericht: gefüllte Tomaten

Trinkt Griechischen Mokka

Fährt Jahrelang einen alten Fiat Mirafiori, den er im neusten Fall gegen einen auf Pump gekauften Seat eintauscht

Kostas

Charitosvon der Athener Mordkommission

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Ich will, dass die Krise vorbei ist. Nicht, damit die Griechen besser

leben können, sondern damit ich wieder meine

Ruhe habe.

Ich bin pessimistisch. Viel ausgeben, wenig investieren – irgendwann wird das zu Ende sein.« Sie sind ein Pro-phet. Ich bin kein Prophet, das war voraus-zusehen. Haben die Griechen das auch vor-ausgesehen?Eine Minderheit schon, aber nur eine Minderheit. Die meisten waren ganz glücklich und haben geglaubt, es wür-de unendlich so weitergehen. Das war der eine Fehler. Der noch größere Fehler war der des politischen Sys-tems, das das Ganze eifrig unterstützt hat. Diesmal sind die Griechen wirk-lich überfordert.Wer ist nach Meinung der Griechen denn schuld an der Krise?Die Regierung natürlich, die EU, die Banken und Finanzchefs … eigentlich alle. Aber besonders eben die Regie-rung, die sie ja selbst gewählt haben. Aber dann sagen meine Landsleute: Was blieb uns denn anderes übrig? Es sind doch alle Politiker korrupt. Also fühlen sie sich unschuldig.Sie haben die Krise essayistisch und als Roman verarbeitet. Ja, in zwei Büchern. Weil ich so viel über die Krise gesprochen habe, kommt fast jeden Tag eine Interview-Anfrage. Ich will, dass die Krise vorbei ist. Nicht, damit die Griechen besser leben können, sondern damit ich wie-der meine Ruhe habe. Darum bringen Sie im neuen Buch Banker aus Rache um. Als die Olym-pischen Spiele stattfanden, waren Sie als Sprachrohr für Olympia ge-fragt und nun für die Krise. Wissen Sie, warum? Weil ich immer dagegen bin. Vor den Olympischen Spielen bekam ich einen Anruf von einem Deutschen, der sagte: »Ich bin der technische Berater des deutschen Olympia-Komitees. Ich bin hier, um die olympischen Anlagen zu besichti-gen, und ich möchte auch mit Ihnen sprechen.« – »Und was habe ich damit zu tun?« – »Um ehrlich zu sein, Herr Markaris, alle haben immer nur von Olympia geschwärmt. Ich fragte, ob es denn keinen gäbe, der dagegen sei. Da verwies man mich an Sie.«

Ist der Kriminalroman eine Art, ge-gen die Dummheit anzuschreiben?In dem Sinn, dass der Kriminalroman am Ende immer eine Art Klarheit schafft, ja.Ein Autor hat mal gesagt, dass der Kriminalroman heute vielleicht die einzige Möglichkeit ist, eine Idee un-ters Volk zu bringen. Einer der Gründe, warum der Krimi-nalroman so beliebt ist, ist, dass der Kriminalroman der religiöseste von allen Romanen ist: Die Schlechten werden am Ende immer bestraft. Weil der Leser sozusagen aus der Predigt weiß, dass das Böse auf der Welt re-giert, ist er beruhigt zu sehen, dass im Kriminalroman das Böse am Ende im-mer bestraft wird. In diesem Sinne sind die Detektive und Polizisten Missionare, haben eine Missionars-mentalität.

Sie sind Verfasser von Theaterstü-cken, haben wichtige Werke aus dem Deutschen ins Griechische über-setzt, außerdem haben Sie für Film und Fernsehen gearbeitet. Stimmt, Anfang der Neunziger habe ich für eine Fernsehserie namens Ana­tomie eines Verbrechens die Drehbü-cher geschrieben, ein Riesenerfolg. Aber am Anfang des dritten Jahres habe ich die Familie Charitos kennen-gelernt. Ich wollte mit den Leuten gar nichts zu tun haben, sie nervten mich.Wie haben Sie sie kennengelernt?Alle drei standen eines Morgens vor meinem Schreibtisch. Kennen Sie das Stück Sechs Personen suchen einen Autor von Luigi Pirandello? Bei mir waren es drei, nicht sechs. Ich glaube, es hat sich während des Schreibens an

der Serie eine andere Idee im Unter-bewusstsein entwickelt, und auf ein-mal ist sie auf die bewusste Ebene ge-kommen, und ich stand vor drei Leuten. Vor dem Film war die Leidenschaft für das Theater?Ich wollte ja erst Dramatiker werden und habe einige Bühnenstücke ver-fasst. Eins davon, Die Geschichte des Ali Retzo, wurde 1971 während der Militärdiktatur zum großen Bühnen-stück gegen die Junta. Damals musste alles durch die Zensur, doch in mei-nem Stück wurde kaum etwas gestri-chen. Diese Idioten hatten das Stück, das in der Türkei spielt, gelesen und durchgewinkt, weil sie glaubten, es sei ein Stück gegen die Türkei. Zwei Mo-nate später wurde das Stück aufge-führt. Das Theater war so voll, dass die Leute sogar im Foyer warteten, und man traute sich nicht, das Stück einfach absetzen zu lassen. Es lief wo-chenlang, und eine Wiederholung war geplant. Damals arbeitete ich in der Zementfabrik. Eines Tages rief mich ein Bulle an: »Sie sind Herr Markaris? Mit Vornamen Petros? Und Sie haben ein Stück verfasst mit dem Titel Die Geschichte des Ali Retzo?« Ich: »Ja, Sie wissen ja alles, was langweilen Sie mich?« Darauf er: »Sie laufen Gefahr, Ihre Aufenthaltserlaubnis in Griechen-land zu verlieren«, denn damals war ich noch Türke. Als er fertig war, sagte ich ihm, dass ich in der Zementfabrik X arbeitete. Es folgte eine Pause, dann sagte er: »Na ja, das ist natürlich ein Problem.«Und wie kam es zu diesem irrsinni-gen Projekt, den Faust zu überset-zen? Der ehemalige Intendant des Natio-naltheaters rief mich eines Tages an und sagte: »Petros, ich habe einen Vorschlag für dich. Setz dich hin. Übersetze den Faust, und zwar beide Teile, wir wollen eine Aufführung.« Ich sagte: »Vergiss es, das mach ich nicht.« Da sagte er zu mir: »Petros, das ist ein Lebenswerk.« Das ist das Schlimmste, was man einem Autor oder Übersetzer sagen kann: ›Lebens-werk‹. Also setzte ich mich hin und Fo

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Bislang war für mich die Freundschaft zwischen Griechen und Deutschen immer eine Art Wunder: Wieso sind den Griechen die Deutschen als ehe-malige Besatzer des Landes sympathi-scher als die Befreier England und Amerika? Das war schon ungewöhn-lich. Aber nun ist dieses Verhältnis

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konnte sechs Monate lang kein einzi-ges Wort schreiben außer der Über-setzung. Das war eine höllische Zeit. Als ich endlich den ersten Teil hinter mir hatte, sagte er die Aufführung ab. Ich erzählte meinem Verleger die gan-ze Geschichte, und er meinte: »Gut, ich mach das!« Ich sagte ihm, dass er verrückt sei und nur 50 Exemplare da-von verkaufen würde. Er hat bis jetzt knapp 4000 Exemplare verkauft. Un-glaublich! An einer Veranstaltung im Goethe-Institut kam eine Dame zu mir: »Ich kenne Ihre Kriminalromane, aber ich bewundere Sie für die Faust­Übersetzung«, und ich erwiderte: »Hauptsache, Sie bewundern mich.«Und wie sind die ersten Reaktionen auf Ihren neuen Roman?Die Griechen scheinen begeistert. Es bewegt mich sehr, wenn ich auf der Straße angesprochen werde und die Menschen sagen: »Das haben Sie ge-nau richtig gemacht! Wann kommt Ihr nächstes Buch?« Ich habe ja wirk-lich nicht mit Kritik an den Griechen gespart und reibe ihnen auch unter die Nase, dass sie mit schuld sind an der momentanen Situation. Da freut es mich sehr, dass Faule Kredite so gut ankommt.Wie sehen Sie die Beziehung zwi-schen Deutschland und Griechen-land? Ist da zu viel vorgefallen in den letzten Jahren? Ein zu großer Schaden entstanden?

gestört, was mich sehr traurig macht. Und ich muss sagen, dass die Deut-schen ihren Teil dazu beigetragen ha-ben. Die Schmährufe der Boulevard-zeitungen, auch die Äußerungen der Bundeskanzlerin, und immer wieder dieses Klischee vom faulen Griechen – das hilft nicht weiter.•kam

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Eine Frau rollt ihren grünen Trolley über meine Füße. »Können Sie

nicht aufpassen«, rufe ich ihr hinter-her. Aber die Ansage auf Gleis 5 über-tönt meine Worte.

Bevor mein Vater in den Zug ge-stiegen ist, hat er mich angerufen. »Hör ma’«, hat er gesagt, »ich steige jetzt ein. Ich rufe von meinem neuen Telefon an, hat dein Onkel Toni mir geschenkt.«

Seit vier Jahren bin ich mit Helena zu-sammen. Ihre Eltern, die Spicherts, haben sie nach der schönen Helena benannt. Sie waren sich sicher, dass ihre Helena auch einmal schön sein würde.

Herr Spichert hat vor vielen Jahren, nachdem er in kürzester Zeit sein Stu-dium absolviert hatte, eine Werbe-agentur gegründet. Das war zu einer Zeit, als es noch nicht hunderte Wer-beagenturen gab. Er verdiente einen

Haufen Geld. Mit fünfzig verkaufte er seine Agentur und wurde in den Auf-sichtsrat eines gigantischen Unter-nehmens gewählt. Die Familie zog in das wiedervereinigte Berlin und er-

stand, als die Immobilienpreise güns-tig lagen, eine denkmalgeschützte Vil-la in Potsdam. Frau Spichert, die keinen Beruf, sondern nur Hobbys hat, interessiert sich unter anderem für Kunst. Dann und wann ersteigert sie ein Bild oder eine Skulptur. Mitt-lerweile leihen sich Museen Exponate aus der Sammlung aus, die Frau Spi-

chert mit ihrem phänomenalen In-stinkt zusammengetragen hat.

Die Spicherts sind großzügig. Sie spenden beträchtliche Summen. In der Mongolei gibt es eine Schule für Taubstumme, die mit dem Geld der Spicherts erbaut wurde. Die Spicherts sind da so ähnlich wie Gott, sie helfen nur denen, die sich selber helfen wol-len.

Ein paar Monate nachdem die schöne Helena das Licht der Welt erblickt hatte, presste meine Mutter mich un-ter unerträglichen Schmerzen heraus. Als Frau Spichert sich in einem ande-ren Krankenhaus die Bauchdecke straffen ließ, hielt meine Mutter mich im Arm und heulte. Postnatale De-pression.

Mein Vater tätschelte Mamas Kopf und küsste uns beide auf die Stirn. »Hör ma’«, sagte er, »das wird schon.« Dann ging er in die Kneipe und trank

Ihr Debütroman Adams Erbe, der im Frühjahr 2011 erschien, begeisterte schon unzählige Leser. Adams Schicksal wird noch viel mehr Herzen erobern – bisher sind die Rechte am Buch in acht Länder verkauft. Hier nun eine bislang unveröffentlichte Kurzgeschichte der »erstaunli-chen Begabung« (Elmar Krekeler, Die Welt) Astrid Rosenfeld.

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All die falschen PferdeMit Zeichnungen von Monica Valdivia

Eigentlich ist es absurd, dass mein Vater an das

Glück glaubt, denn er hat niemals Glück gehabt.

Erzählung

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mit seinem Kumpel und Arbeitgeber Gustav und dessen dreijährigem Sohn Toni auf das Wohl seines Erstgebore-nen.

In dieser Nacht, mein Vater schlief bereits, klingelte das Telefon. Wäh-rend Frau Spichert ihren flachen Bauch und die winzige Narbe be-staunte, lag meine Mutter zermatscht auf dem Asphalt. Mein erstes Familien-fest war eine Beerdigung.

Vier Jahre lang habe ich es vermeiden können, dass mein Vater auf die Spi-cherts trifft. Aber in wenigen Mona-ten werden die schöne Helena und ich heiraten, deshalb haben die Spicherts meinen Vater eingeladen.

Mein Vater sollte eigentlich Schorn-steinfeger werden. Mit siebzehn fiel er vom Dach. Seither hat er vier Schrau-ben im Bein und kann nicht mehr auf Dächer klettern. Er ging dann bei Gustavs Vater in die Lehre. Einzel-handelskaufmann.

In dem Geschäft von Gustavs Vater konnte man Zigaretten, Zeitschriften, Lottoscheine, zeitweise Lebensmittel und mittlerweile auch Töpferwaren kaufen. Als Gustavs Vater seinen ers-ten Schlaganfall erlitt, übernahm Gus-tav den Laden, und als Gustav vom Bus überfahren wurde, trat sein Sohn Toni sein Erbe an.

Mein Vater arbeitet noch immer dort. Schwarz. Zwei Tage die Woche. Mittwochs und samstags, wenn das Lottofieber ausbricht. Der Laden läuft schon lange nicht mehr, weil die meisten Leute jetzt im Supermarkt ihre Zigaretten holen und Lotto spie-len.

»Die Großen fressen die Kleinen«, da sind sich mein Vater und Toni einig. Die Spicherts würden sagen, das sei eine abgedroschene Phrase. Globali-sierung!, würden sie sagen, Wett-kampf! Veränderung! Aber davon verstehen Toni und mein Vater nichts.

Mein Vater hat einen Hang zum Glücksspiel. Nicht nur Lotto, auch Pferderennen. Seit Toni einen Com-puter hat, gebraucht erstanden, muss er auch nicht mehr zum Buchmacher

rennen. »Hör ma’«, hat mein Vater zu mir gesagt, »das kann man jetzt alles hiermit machen.« Und stolz hat er auf Tonis Schrottcomputer gezeigt. Da habe ich schon nicht mehr zu Hause gewohnt, sondern in Berlin studiert und mir mein erstes PowerBook ge-kauft.

Eigentlich ist es absurd, dass mein Vater an das Glück glaubt, denn er hat niemals Glück gehabt.

Ich hingegen hatte oft Glück. Es war Glück, dass ich auf dem Spiel-platz Lukas kennenlernte. Lukas wohnte nicht in unserer Gegend, aber seinem Vater, Herrn Rüders, gehörten mehrere Häuser in unserer Straße.

»In Gustavs Laden arbeiten.«Ob ich denn nicht studieren möch-

te, wollte er wissen. Ob ich denn nicht Anwalt oder Arzt oder Unterneh-mensberater werden wolle.

Herr Rüders hat mit meinem Vater gesprochen, hat ihm gesagt, dass er mich aufs Gymnasium schicken soll, damit ich einmal Arzt oder Anwalt oder Unternehmensberater werden kann.

Es war pures Glück, dass Toni an diesem Nachmittag Lukas das Maul mit Sand stopfen wollte. Es war Glück, dass Lukas in Berlin studieren wollte, allein wäre ich niemals dorthin gegan-gen. Es war Glück, dass Helena genau vor mir von ihrem Fahrrad fiel, sonst hätte ich sie niemals kennengelernt. Ich habe Helena aufgeholfen und sie und ihr kaputtes Fahrrad nach Hause begleitet.

Obwohl ich ständig Glück habe, weigere ich mich, an das Glück zu glauben. Denn Glück hat keinen Stil, sagen die Spicherts. Leistung dagegen schon. Die Spicherts mögen mich, weil ich ihre fleischgewordene Über-zeugung bin. In ihren Augen bin ich ein Junge, der dabei ist, sich aus dem Nichts hochzuarbeiten.

Ein einziges Mal habe ich Helena in die Stadt meiner Kindheit mitgenom-men. Es war ein Sonntag. Es gab auf-getauten Stachelbeerkuchen in der Zweizimmerwohnung meines Vaters.

Wir saßen auf der früher einmal sandfarbenen Couch im Wohnzim-mer, aßen die labbrigen Beeren und versuchten uns zu unterhalten. Hele-na lächelte unaufhörlich. Ihr Lächeln schwand nur ein Mal, das war, als mein Vater die Sprühsahne in ihren Kaffee spritzte und »Ein Cappuccino für die Dame« sagte.

Später kam Onkel Toni mit seinen Söhnen vorbei. Ich weiß nicht, warum ich Toni ›Onkel Toni‹ nenne. Er ist ja nur drei Jahre älter als ich und nicht mit mir verwandt.

In der zweiten Klasse saß ich sogar neben ihm. Onkel Toni verweilte sehr lange in der zweiten Klasse. Er ist am Plus und Minus gescheitert. Das woll-

Einmal, ein einziges Mal, hat Herr Rüders seinen Sohn in unser Viertel mitgenommen. Deshalb saß Lukas an einem Mittwoch in meinem Sandkas-ten. Während Herr Rüders in Gustavs Geschäft einen Lottoschein ausfüllte, wollte Toni, der drei Jahre älter und wahnsinnig stark war, Lukas ein paar Kellen Sand in den Mund stopfen. Ich bin dazwischengegangen.

An diesem Nachmittag sind wir Freunde geworden, Lukas und ich. Die Rüders lebten in einem Haus, das dem der Spicherts ähnelte. Lukas’ Zimmer war größer als unsere Woh-nung.

Ich war acht, als mich Herr Rüders fragte, was ich denn später einmal ma-chen möchte.

»Hör ma‘, die haben aber Glück gehabt«, sagt

mein Vater, als wir vor der Villa der Spicherts stehen. Die haben sich angestrengt, die haben was geleistet, die haben

nicht nur auf Pferde gesetzt, will ich antwor-ten, aber da geht schon

die Tür auf.

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te einfach nicht in seinen Kopf. Gus-tav, mein Vater und unser Lehrer ha-ben sich alle Mühe gegeben, dem Toni das Rechnen plausibel zu machen, aber er verstand es nicht.

Obwohl er noch immer nicht rech-nen konnte, durfte er auf die Haupt-schule gehen. Hier muss ich erwäh-nen, dass Toni nicht nur stark war, sondern auch ein sehr hübscher Junge mit einem gewissen Charme. Das hat auch seine neue Klassenlehrerin so ge-sehen. Der Toni ist ihr ein paar Mal ›unter den Rock gegangen‹, so nannte er das. Toni hat seinen Abschluss ge-schafft, nicht mit Rechnen, sondern mit ›unter den Rock Gehen‹.

Toni hat zwei Söhne, Bronco und Rokko, eineiige Zwillinge. Bis zu ih-rem dritten Lebensjahr ähnelten sie dem Mogwai Gizmo aus Gremlins. Zwei niedliche, mit Fell bedeckte Tierchen. Aber wie in dem Film ver-wandelte sich dann das Süße und Put-zige in etwas Unheimliches. Bronco und Rokko sind jetzt sechs, und ich habe Angst vor ihnen.

Helena lächelte, als Bronco ihr sei-nen kleinen, dicken Ellbogen in die Rippen stieß. Seitdem die Niedlichkeit

von den Zwillingen abgefallen war, waren sie auf eine merk würdig un-kindliche Weise permanent schlecht-gelaunt. Die schlechte Laune legte sich ein wenig, als Onkel Toni seinen Söhnen einen Pitbull-Terrier-Welpen schenkte, den sie Igor tauften. Aber eines Tages setzte Ela, die Mutter von Bronco und Rokko, Igor einfach aus, und die schlechte Laune kehrte zu-rück.

Nachdem die Zwillinge jeder vier Stück Kuchen verschlungen hatten, bestanden Toni und mein Vater dar-auf, der schönen Helena den Laden zu zeigen. Helena lächelte, als mein Vater ihr Tonis Schrottcomputer vorführte. Zu diesem Zeitpunkt wohnten Hele-na und ich in Berlin schon zusammen und besaßen beide ein MacBook Pro.

Vier Jahre lang habe ich es vermeiden können, dass mein Vater auf die Spi-cherts trifft. Aber in wenigen Mona-ten werden die schöne Helena und ich heiraten, deshalb haben die Spicherts meinen Vater eingeladen.

Ich entdecke sein Gesicht sofort in der Menge auf dem Bahnsteig. Es äh-nelt ein wenig dem meinen. Er trägt

eine dunkelblaue Wildlederjacke mit roten und grünen Nappalederstreifen. Vielleicht war das Teil irgendwann einmal modern, aber jetzt erzählt es nur noch von Häuserzeilen, in denen sich niemals etwas verändern wird. Es erzählt von dem Lottofieber, das jetzt in den Supermärkten und nicht mehr in Tonis Laden ausbricht. Es erzählt von all den falschen Pferden, auf die mein Vater gesetzt hat.

Ich umarme ihn. Er riecht nach dem Unisex-Parfum, das ich ihm vor sechs Jahren zum Geburtstag ge-schenkt habe. Es war ein Sonderange-bot. Er trägt den Duft mit Stolz, wie etwas Kostbares.

»Hör ma’, gib dem Mann da mal was«, sagt mein Vater, als wir an einem Penner mit zwei verlausten Hunden vorbeikommen.

»Der muss hier nicht betteln«, antworte ich und höre mich selbst lange Sätze sprechen, in denen die Wörter ›Jobcenter‹, ›Umschulung‹ und ›Hartz IV‹ vorkommen.

Mein Vater schmeißt einen Euro in den Pappbecher, nennt den Penner ›Kumpel‹ und streichelt die verwahr-losten Tiere.

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58 Diogenes Magazin

Frau Spichert hat mir ihren BMW geliehen. Mein Vater klopft anerken-nend auf die sandfarbene Ledergarni-tur, als wir einsteigen.

»Hör ma’, zeigst du mir auch deine Wohnung?«

Ich verneine und erkläre ihm, dass es ein riesiger Umweg sei, was nicht stimmt.

»Schade, wenn ich schon einmal hier bin.«

»Das nächste Mal«, antworte ich und fahre ein wenig zu schnell Rich-tung Potsdam.

Ich habe dafür gesorgt, dass mein Vater nicht in der denkmalgeschütz-ten Villa, sondern in einem kleinen Hotel gleich um die Ecke übernachten wird. Während mein Vater sich um-zieht, klappe ich mein MacBook Air auf und schreibe E-Mails.

»Und?«, fragt er und deutet auf sei-nen Anzug, der wie ein Kostüm für eine Achtzigerjahre-Party aussieht.

»Sobald ich richtiges Geld verdiene, kaufe ich dir einen neuen«, sage ich.

»In dem hier habe ich deine Mutter geheiratet.«

»Hör ma’, die haben aber Glück ge-habt«, sagt mein Vater, als wir vor der Villa der Spicherts stehen.

Die haben sich angestrengt, die ha-ben was geleistet, die haben nicht nur auf Pferde gesetzt, will ich antworten, aber da geht schon die Tür auf.

Wir sitzen alle an einem langen Tisch, der engste Familien- und Freundeskreis, etwa dreißig Leute. Neben mir Helena und gegenüber von uns mein Vater. Frau Spichert unter-hält sich mit ihm. Ihre Höflichkeit ist absolute Höflichkeit, potenziert mit unerträglicher Höflichkeit. Ihr Ton-fall so beruhigend, als spräche sie zu einem gefährlichen Tier oder einem Irren, der jeden Moment ausrasten kann. Ich bemerke die Blicke der an-deren, die dann und wann ganz un-auffällig meinen Vater streifen. Drei lange Gänge. Selbst der Duft des Schokoladensoufflés kann sein billi-ges Parfum nicht überdecken. Herr Spichert erhebt sich. Er räuspert sich, anstatt stillos mit dem Löffel gegen das Champagnerglas zu klopfen. Er heißt mich willkommen in der Fami-lie. Verneigt sich mit Worten vor mir, vor meiner Leistung, meinem Fleiß. Applaus. In das Klatschen mischt sich das Geräusch von Silber gegen Glas. Mein Vater steht auf. Gabel und Kelch in der Hand. Die goldenen Knöpfe seines Anzugs funkeln im Kerzenlicht. »Hör ma’«, sagt er, »ich wünsche euch beiden alles Glück der Welt.« Stille. Man wartet, aber da kommt nichts mehr. Applaus.

Nach dem Essen sehe ich meinen Vater in der Eingangshalle mit einem lila Plastikhandy telefonieren. Ich gehe zu ihm.

»Was machst du da?« Ich klinge wie ein Lehrer.

Mein Vater steckt sein Telefon wie-der ein.

Ich führe ihn in das Kaminzimmer, führe ihn zu dem kleinen Kreis, der sich um Herrn Spichert gebildet hat. Jemand drückt meinem Vater und mir ein Glas Whiskey in die Hand. Man unterhält sich über die Schönheit der Toskana. Mein Vater schweigt. Seine Finger zittern, er steckt sie in die Ta-sche seines albernen Jacketts. Ich är-gere mich, ist es denn zu viel verlangt, etwas Belangloses wie ›Italien ist wirklich schön‹ zu sagen? Auch wenn man noch nie in Italien war.

Während die anderen Männer re-den und an den richtigen Stellen la-chen, starrt mein Vater in das Feuer im Kamin.

Nachdem sich die ersten Gäste ver-abschiedet haben, verlassen auch wir die denkmalgeschützte Villa.

Im Hotel holt mein Vater seinen Koffer aus dem Schrank. »Hör ma’«, sagt er, »sei nicht böse, aber ich möch-te nach Hause.«

»Das geht nicht. Es fährt kein Zug mehr.«

»Toni kommt mich holen.«»So?«»Ich habe ihn angerufen. Nach dem

Essen.«»Warum?« Wieder klinge ich wie

ein Lehrer.

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Mein Vater setzt sich auf das unbe-nutzte Hotelbett und steckt sich das Schokoladenbonbon, das auf dem Kopfkissen liegt, in den Mund. Ich lasse mich auf den Sessel fallen.

»Das nächste Mal zeige ich dir mei-ne Wohnung«, sage ich.

Er lächelt. Sein Lächeln ähnelt ein wenig dem meinem.

Irgendwann klopft es an der Tür. Bronco und Rokko tragen Lederja-cken über ihren Pokémon-Schlafan-zügen.

Das Gepäck meines Vaters ver-schwindet im Kofferraum. Tonis Opel Kadett setzt sich in Bewegung. Ich winke ihnen hinterher. Ich kann nicht aufhören.

Auf einmal steht Herr Spichert ne-ben mir. »Was machst du hier drau-ßen?«, fragt er.

»Ich bin mir nicht sicher«, antwor-te ich, ohne meinen Arm zu senken. »Ich bin mir nicht ganz sicher.«•

Buchtipp

Astrid Rosenfeld

Adams ErbeRoman · Di ogenes

Astrid Astrid Rosenfeld

Adams ErbeRoman · Di ogenes

400 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06772-9

Ein Roman, dem es mit Humor ge-lingt, von großen Gefühlen zu erzäh-len; der auf berührende und literarisch

außergewöhnliche Weise zeigt, wie sehr Gegenwart und Vergangenheit

miteinander verbunden und voneinan-der durchdrungen sind. Beginnend auf einem Berliner Dachboden bis hinein ins Polen unter der Nazi-Besatzung.

»Ein wirklich ganz besonderes Buch. Sehr empfehlenswert.

Diesem Buch wünsche ich, dass es viele Leute lesen.«

Christine Westermann / WDR

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60 Diogenes Magazin

Einfach gesagt, würde ich mich und meinen Lebensstil ungefähr so

beschreiben: Eine von der Kultur der 70er-Jahre geprägte, hippie-inspirier-te Frau, die es zu einem bescheidenen Vermögen gebracht hat. Meine Klei-der sind aus Baumwolle, Kunstfasern trage ich nicht. Kleider, die gebügelt oder chemisch gereinigt werden müs-sen, kaufe ich kaum. Orte, an denen ein elegantes Jackett erwartet wird, meide ich, bin mir aber bewusst, dass man nicht überall barfuß daherkom-men kann. Ich mag Naturkost, ernäh-re mich aber nicht vegetarisch. Beim Kochen, was ich in der Regel selber tue, achte ich darauf, keine künstli-chen Würzmittel zu verwenden. Tra-ditionelles japanisches Essen wie Miso oder in Reiskleie eingelegtes Gemüse liegt mir am Herzen, aber Vollwert-köstlerin bin ich nicht. Ich liebe das Reisen, übernachte aber nur sehr sel-ten in Luxushotels, außer wenn die Arbeit es mit sich bringt.

Weil ich kein Leben führen möchte, das mich vom Geld total abhängig macht, versuche ich, auf diese und jene Art sparsam zu sein. Das war nicht immer so. Insbesondere die Ge-burt meines Kindes war ein wesentli-cher Anlass dafür, aber schon in den 80er-Jahren sah ich, wie der Wirt-schaftsboom die Leute offensichtlich verrückt machte. Ich sah auch, wie die Zerstörung der japanischen Natur-landschaft immer weiter um sich griff. So begann ich, mir Gedanken zu ma-chen, und je länger ich das tat, umso mehr fühlte ich mich vom Lebensstil der Hippies angezogen.

Geht man seinen eigenen Weg, gibt es immer wieder Zeiten, wo man sich einsam und allein fühlt; die hässliche Seite der kapitalistischen Gesellschaft jedoch erschien mir wie ein Alptraum.

Wonach streben die Leute? – Ich verstand es nicht.

Im Verborgenen fanden sich zwar noch Relikte einer großartigen, von kleinen Läden und Betrieben gepfleg-ten Kultur. Aber wie sehr man sich auch bemühte, sie zu unterstützen – ihre Zeit neigte sich dem Ende zu. Das Feuer der Leidenschaft aber erlischt

nicht. Und genau wie das ums Über-leben kämpfende Kleingewerbe woll-te auch ich beharrlich und unerschüt-terlich mit kleinen Schritten durchs Leben gehen. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Erdbeben und Tsunami haben dies-mal sehr viele Menschen brutal aus dem Leben gerissen. Dass eine so schreckliche Katastrophe überhaupt möglich war – ich konnte es nicht glauben. Noch jetzt bin ich fassungs-los. Auch in Tokio hat es heftig gerüt-telt. Die Züge blieben stehen und die Telefonleitungen stumm, in den Häusern gingen Gegenstände kaputt, Unternehmen erlitten durch die wiederholten Stromunterbrechungen Einbußen; aber im Vergleich zum Leid, das den Menschen im Norden des Landes widerfuhr und noch im-mer widerfährt, ist das kaum der Rede wert.

Während meiner mittlerweile fast fünfzig Lebensjahre stürzte in den Bergen ein Flugzeug ab, bebte in Kobe, Niigata und anderen Gegenden Japans die Erde, verübte die Aum-Sekte einen Giftgasanschlag. Bei je-dem Unglück kamen auf einen Schlag viele Menschen ums Leben, in den Herzen der Japanerinnen und Japaner wurde es finster. Auch jetzt wieder liegt eine große Trauer über Japan. Das grausame Schicksal schlägt meis-tens auf diese Weise zu. Dennoch ha-ben die Menschen gelernt, damit zu leben. Sich an die fruchtbaren Flecken der Erde klammernd, hartnäckig, stark.

Das stelle ich nicht in Frage.Aber ich frage mich, beschämt und

bestürzt zugleich: Warum nur war ich bezüglich der Atomkraft so vollkom-men ahnungslos?

Über Jahre hinweg lasche Kontrol-len, sich selbst überlassene Arbeiter am Unglücksort, halbherzige Schutz-maßnahmen … Lauter deprimierende Nachrichten, doch gab es auch ande-re, die einem ein Gefühl vermittelten von Japans technologischer Leis-tungsfähigkeit und dem Vermögen, eine Situation genau einzuschätzen. In diesen Momenten erinnerte ich mich

Banana Yoshimotohat sich über Atomkraft

nie Gedanken gemacht –bis zur Katastrophe in

Fukushima.

Ein weiter Weg

Brief aus Japan

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Ich frage mich, beschämt und bestürzt zugleich:

Warum war ich bezüglich der Atomkraft so voll-kommen ahnungslos?

wieder an dieses wundervolle Bild – ein Bild, das viele Leute in sich tragen.

Was macht einen Japaner zum Japa-ner? Die Antwort auf diese Frage er-schien mir plötzlich einfach und klar. Ich sah Menschen, die der Macht des Geldes erlegen waren und die gewalti-gen Probleme um sie herum völlig aus den Augen verloren hatten; ich sah aber auch Menschen, die nicht so wa-ren, Menschen, die unbeirrt und tap-fer ihre Arbeit verrichteten, zum Wohle aller. Hier, glaube ich, offen-barte sich das eigentliche Wesen der japanischen Seele.

Wie es weitergehen wird, ist schwer abzuschätzen.

Die Situation bezüglich der Stillle-gung des Atomkraftwerks Fukushima hat sich kaum verbessert. Wie es scheint, sind Technik und Kapazität vor Ort vorhanden, um gerade noch Schlimmeres zu verhindern – bezie-hungsweise die Gefahr zu dämmen, dass die Kernschmelze weiter voran-schreitet. Dennoch haben wir keinen Grund, zuversichtlich zu sein. Wie die Sache unter Kontrolle gebracht wer-den soll, steht nach wie vor in den Sternen. Außerdem würde es mir nicht leichtfallen, Tokio zu verlassen und irgendwo anders Unterschlupf zu suchen, weil schwer abzuschätzen ist, für wie lange das wäre und wohin man überhaupt fahren könnte.

Dass es in Fukushima ein Atom-kraftwerk gibt, wusste ich nicht, und schon gar nicht, dass es der Strom aus eben jenem Atomkraftwerk war, der Tokio nachts so hell leuchten ließ. Obwohl das Erdbeben allein schon einen gewaltigen Schaden anrichtete, müssen die Bewohnerinnen und Be-wohner von Fukushima neben der Evakuierung und dem Leben in Not-unterkünften auch noch die Angst vor radioaktiver Verstrahlung ertragen. Was kann ich diesen Menschen sa-gen … Es ist eine Zumutung, dass Bürger einem derartigen Stress ausge-setzt sind. Japan hätte nämlich das technische Know-how, um so etwas zu verhindern. Doch Japan verlor den Zweiten Weltkrieg, und ich kann ver-stehen, dass sich das Land auf dem

langen Weg der Erneuerung mit sei-nem Energiehunger in diese Situation manövriert hat.

Ich kann es verstehen, aber ich bin damit nicht einverstanden.

Die Probleme lassen sich nicht ein-fach lösen. Nach wie vor ist vieles un-durchsichtig, die Bürgerinnen und Bürger plagen Ängste, ihre Nerven

wird versucht werden, die Augen der Öffentlichkeit von den Protestaktio-nen engagierter Bürgerbewegungen wegzulenken, um möglichst schnell zum gewohnt bequemen, friedlichen Alltag zurückzukehren – als wäre nichts geschehen.

Aber: Ein Unglück dieser Dimen-sion kann man nicht ungeschehen ma-chen, unmöglich.

Durch die Stromrationierung sind die Nächte in Tokio jetzt so dunkel wie in Europa. Ähnlich wie damals, als ich noch ein Kind war. Dunkelheit ist Dunkelheit, Nacht ist Nacht. Ver-steht sich eigentlich von selbst, deswe-gen macht es mir nichts aus. Alle ha-ben sich daran gewöhnt und sagen, es sei gut so. In die Gesichter der Men-schen ist wieder eine gewisse Ruhe und Natürlichkeit zurückgekehrt. Noch bis vor kurzem sind sie gehetzt umhergerannt, immer weiter, weiter, haben wie verrückt gearbeitet und sich gegen die Rezession gestemmt; jetzt sitzen sie im flackernden Schein einer Kerze und reden stundenlang über den Sinn und Wert des Lebens. Liebespaare sind glücklich, beieinan-der sein zu können, Eltern drücken jeden Tag ihre Kinder an sich. Natür-lich gilt das nicht für alle, aber im

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werden weiterhin strapaziert. Egal, ob die Situation in Fukushima sich stabi-lisiert oder die Katastrophe noch mehr Opfer fordert – die Atomkraft werden wir wohl nicht allzu schnell los. Unter dem Druck des Auslands winden sich die Verantwortlichen zwar, suchen beschwichtigend nach Ausflüchten, aber am Ende läuft es vermutlich darauf hinaus, dass man so weitermacht wie bisher. Geschickt

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Großen und Ganzen haben die Men-schen wieder gelernt, das Wichtige im Leben auch als etwas Wichtiges wahr-zunehmen. Und insgeheim denken sie: Langsam reicht es. Nicht weil die Dunkelheit sie stört, sondern der Un-gewissheit wegen: Wie geht es mit dem Atomkraftwerk weiter, wo ist die radioaktive Wolke, wie verseucht ist das Wasser … Sich um derlei Informa-tionen kümmern zu müssen, macht uns kaputt! So denken die Menschen, auch wenn sie es nicht laut sagen.

Dieses Kerzenlicht – welchen Weg wird es uns weisen?

Als Schriftstellerin möchte ich kei-ne platten politischen Statements von mir geben. Vielmehr versuche ich in meinem Schaffen – nicht nur für mich – das strahlende, funkelnde Licht des Lebens einzufangen. Was uns in schwierigen Zeiten hilft, sind Menschen, die wir lieben, mit denen wir unser Essen teilen und nicht zu-letzt Musik, Filme, Bücher. Wir tau-chen ein in eine andere Welt, lassen für eine Weile unsere Herzen fliegen, schöpfen frische Kraft und kehren in die rauhe Realität zurück. Das ist Bal-sam für die Seele.

Noch nie bin ich so dankbar und glücklich gewesen wie jetzt, mit mei-ner Arbeit einen Beitrag leisten zu können, und so lange ich lebe, will ich schreiben und meine Gedanken und Gefühle mit anderen Menschen teilen.

Mag der Weg noch so weit sein – ich möchte dem Licht folgen, es nicht aus den Augen verlieren. Möchte, wie zaghaft auch immer, an die unaus-löschliche Kraft glauben, die trotz al-ler Widrigkeiten die Menschheit bis zum heutigen Tag am Leben erhalten hat.•Aus dem Japanischen vonThomas Eggenberg

Diogenes

Günther Anders

Die Zerstörung

unsererZukunft

Ein Lesebuch

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Günther Anders

Die Zerstörung

unsererZukunft

Ein Lesebuch

Diogenes Taschenbuchdetebe 24166, 352 Seiten

»Was alle treffen kann, das betrifft uns alle.« So warnte der Philosoph Günther Anders vor einem halben

Jahrhundert hellsichtig vor der atomaren Katastrophe. Die Ereignisse

von Tschernobyl und Fukushima zeigen uns auf schreckliche Weise, dass wir auf dem besten Weg sind,

unsere eigene Zukunft zu zerstören. Dieses Lesebuch versammelt das Wichtigste aus Günther Anders’

Schriften.

Buchtipps

Diogenes

BananaYoshimoto

Mein Körperweiß allesDreizehn Geschichten

Diogenes

BananaYoshimoto

Mein Körperweiß allesDreizehn Geschichten

Diogenes Taschenbuchdetebe 24154, 208 Seiten

Das Herz hat manchmal Gründe, die der Verstand nicht kennt – wohl

aber der Körper. Etwa, wenn die Hormone verrückt spielen bei einem Sexabenteuer mit riskantem Ausgang.

Bei der Nachricht einer schlimmen Erkrankung. Oder wenn kostbare, verschüttete Erinnerungen aus dem

Gefängnis einer Blockade befreit werden. Berührende Erfahrungen, die dem Leben eine neue Wende geben können. Geschichten wie

kleine Blumenbeete in den Häuser-schluchten der Großstadt.

Banana Yoshimoto schrieb diesen Essay für das Greenpeace Magazin. Das Magazin erscheint alle zwei Monate mit kritischen und engagierten Berich-ten über Umwelt, Politik und Wirtschaft. Sehen Sie selbst! Im Jahresabo für € 28.50, in der Schweiz für sFr 50–. Und im Bahnhofszeitschriftenhandel. www.greenpeace-magazin.de

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Setz dich auf deine drei Buchstaben.Die SZ-Magazin Designedition. Folge 2: Der Hocker.

Stellt man dieses Ding auf seine Füße, bekommt man ein N und einen Hocker. Dreht man es nach links, sieht man ein C und einen Beistelltisch. Und dreht man es noch ein wenig, ein U und einen Zeitschriftenständer. N, U und C. Nuc? Unc? Cun? Dieses Objekt heißt Echo und sein Designer Egon Chemaitis sagt, er wollte bei diesem Möbel das Innen nach Außen holen. Einen Raum nutzen, den es sonst nicht gibt; die Gestalt des Möbels erlaubt es so, etwas hineinzustellen oder draufzulegen, es zu stapeln oder aneinanderzureihen. Man kann dieses Etwas also drehen und wenden, wie man will: Seinen eigentlichen Sinn gibt Echo erst preis, wenn es jemandem gehört. Echo | Design: Egon Chemaitis | Hersteller: MAGAZIN für SZ-Magazin Designedition | HPL Vollkernmaterial | 45 x 32 x 45 cm | 335 Euro inkl. Versand

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Bleibt Carson McCullers nicht eine große Autorin, auch wenn ihre

Bücher kaum gekauft werden? Ich könnte mir vorstellen, dass jener so-eben geborene Leser, wenn er erst ein-mal fünfzehn geworden ist, sich eines ihrer Bücher aus dem Ramschkasten fischt und bei der Lektüre vom Fieber ergriffen wird«, schrieb Heinrich Böll Ende der 1960er Jahre. Viele Jahre später, ich war gerade sechzehn, fand ich in einem Ramschkasten vor einer kleinen, verlotterten Buchhandlung das Buch Die besten Geschichten von Carson McCullers. Ich kannte die Au-torin und ihre Erzählungen nicht, sonst hätte ich sofort gemerkt, dass der wortkarge Buchhändler eigentlich eine typische McCullers-Figur abgab. Das Buch war in lindgrünes Leinen gebunden, erschienen in der Reihe Diogenes Evergreens. Der Neupreis wäre 19 Mark 80 gewesen – mich kos-tete es nur ein Viertel davon. Auf dem Schutzumschlag war das berühmte Gemälde von Edward Hopper abge-bildet: Automat, 1927 gemalt, das heu-te im Des Moines Art Center in Iowa hängt. Es zeigt eine blasse Frau, die nachts in einem leeren Café sitzt, mit einer Tasse Kaffee in der Hand, als ob diese Tasse ihr einziger Halt im Leben wäre. Die Szene ist in diffuses Licht getaucht, nur die rot geschminkten Lippen der Frau stechen heraus und ihr gelber Hut, den sie, wie ihren Mantel, im Café anbehalten hat. Es ist eine der melancholischen Frauenge-stalten, die Edward Hopper so oft ge-malt hat.

Ich las und wurde wirklich vom Fieber ergriffen. Und die Erzählun-gen Madame Zilensky und der König von Finnland oder Ein Baum, ein Fel­sen, eine Wolke gehören bis heute zu meinen Lieblingsgeschichten in der Weltliteratur.

Irgendwie stellte ich mir Carson McCullers lange Zeit wie die Frau auf dem Gemälde von Edward Hopper vor. Erst später sah ich ein Foto der Autorin, ich glaube, das Portrait mit den über dem Kopf verschränkten Armen und der Zigarette in der Hand. Danach die berühmte Serie von Henri

Cartier-Bresson, die sie am Schreib-tisch und in ihrem Garten zeigt. Auf all diesen Fotos trägt Carson McCul-lers burschikose Hemden, ihre kurzen Haare wirken wie selbst geschnitten und betonen noch ihre androgynen Züge. Doch ihr rundes Gesicht hat auch etwas Kindliches, auch wegen der großen, träumerisch schauenden Augen, die stets dunkel umrandet sind. »Das Mädchen aus dem Süden« – so nannte sie nicht nur Hans Magnus Enzensberger, sondern viele andere Kritiker, auch als die Autorin längst über vierzig war. Klaus Mann notierte: »26. Juni 1940. Seltsame neue Bekannt-schaft: die junge Carson McCullers, Autorin des schönen Romans Das Herz ist ein einsamer Jäger. Sonderbar die Mischung aus Raffinement und Wildheit, morbidezza und Naivität.«

Zum Glück ist Carson McCullers im deutschsprachigen Raum heute be-kannter als zu Lebzeiten Heinrich Bölls, doch nach wie vor kennt man vor allem ihren legendären De-bütroman und die Novelle Die Balla­de vom traurigen Café. Mit vielen Autoren teilt sie das Schicksal, an ein, zwei Hauptwerken festgemacht zu werden, so wie George Orwell an Farm der Tiere und 1984 oder Fried-rich Dürrenmatt an Der Besuch der alten Dame und Die Physiker, wäh-rend andere Schätze aus dem großen Werk dieser Autoren Geheimtipps bleiben. Die Neuausgabe ihrer Roma-ne in revidierten Übersetzungen und in schöner Ausstattung bietet nun die Gelegenheit, alle vier Romane von Carson McCullers neu zu entdecken.

1967, wenige Monate vor ihrem Tod, diktierte Carson McCullers, schwer krank und ans Bett gefesselt: »Mein Leben war, dem Himmel sei Dank, fast vollständig ausgefüllt mit Arbeit und Liebe. Die Arbeit war nicht im-mer einfach, die Liebe auch nicht.« Das alles andere als einfache Leben der Carson McCullers beginnt am 19. Februar 1917 in Columbus, Georgia, im Süden der USA. Der Vater der kleinen Lula Carson Smith ist Juwe-

»Jeder sollte Carson McCullers lesen.«

Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Ihre Romane und Kurz- geschichten sind Literatur von

der erlesensten, aber auch privatesten Art; Einsamkeit und

Außenseitertum sind ihre Domäne, die sie in einfalls-reichen und verblüffenden

Variationen vor der sommerlich durchglühten Kulisse ver- schlafener Provinznester

Georgias durchgespielt hat.«

Alexandra Lavizzari / Neue Zürcher Zeitung

»Ihr Werk ist unvergänglich. Lakonie, äußerste Ökonomie

der Mittel, zeigen statt behaup-ten. In ihrem Blick wie in ihrer

erzählerischen Haltung ist Carson McCullers mit Čechov verglichen worden. Der Ver-

gleich ist nicht nur unter diesem Aspekt zutreffend,

sondern auch, was den Rang angeht. Ihr Werk gehört zwei-fellos der Weltliteratur an.«

Jochen Schimmang / Die Welt, Berlin

Jetzt neu: Carson McCullers – Die Romane In revidierter Übersetzung und

in der Lieblingsausstattung der Autorin

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lier und Uhrmacher, die Mutter ist schon früh davon überzeugt, dass die erstgeborene Tochter etwas Besonde-res ist: ein Genie. Als Carson im Alter von fünf Jahren erste Anzeichen für eine musikalische Begabung zeigt, kauft der Vater ein Klavier, zu ihrem vierzehnten Geburtstag bekommt sie eine Schreibmaschine. Carson ist so-fort fasziniert von dieser ›neuen Mu-sik‹, führt mit ihren Geschwistern selbstverfasste Theaterstücke auf und versucht sich an ersten Romanen. Am Plan, Konzertpianistin zu werden, hält sie zunächst fest. Nach der High-school schreibt sie eine Weile als Lokal reporterin für die örtliche Zei-tung, den Columbus Enquirer, doch immer größer wird die Sehnsucht, aus der verschlafenen Kleinstadt auszu-brechen. Ihr Sehnsuchtsort heißt New York.

Elke Heidenreich:

«Mit fünfzehn las ich dieses Buch zum ersten Mal

und wusste: Das handelt von mir. Ich wollte Ungerech-tigkeit und Dummheit aus der

Welt vertreiben. (Ach!) Als es mit den Leidenschaften

nicht so klappte, wie ich wollte, war Biff Brannon mein

Mann, der melancholische, unglücklich verheiratete Wirt mit der heimlichen Liebe im Herzen. Und heute weiß ich: Mr. John Singer ist die rätsel-

hafte Hauptfigur dieses verzweifelt schönen Buches über das Scheitern menschli-cher Sehnsucht. John Singer,

der sanfte Taubstumme, zu dem alle mit ihren Sorgen kommen, sich verstanden fühlen, weil da

einer einfach nur mal still zuhört, und Singer versteht gar nicht, was all diese Menschen von ihm wollen, und reagiert

mit einer Verzweiflungstat. Was für ein Buch!«

einfach damit verschwand und das Südstaatenmädchen allein in der Met-rostation zurückließ. Tennessee Wil-liams, der Schriftstellerkollege und Freund, meinte dazu: »Jedenfalls wur-de die musikalische Laufbahn zu-gunsten der Schriftstellerei aufgege-ben, und irgendwann einmal sollte irgendwo in den dumpfen und laby-rinthischen Abgründen der New Yor-ker Subway – vielleicht zwischen ei-nem Kaugummi-Automaten und einer Waage mit Charakteranalyse – eine Bronzetafel zum Andenken an die böse Kameradin angebracht wer-den, die sich mit Carsons Geld für das Klavierstudium davonmachte.«

Carson belegt Kurse in Creative Writing an der Columbia University, daneben jobbt sie als Sekretärin, Kell-nerin und Barpianistin und lektoriert die Witzseiten für ein Comic-Maga-zin. Doch sie will eine ernsthafte Schriftstellerin werden, und das scheint ihr auch zu gelingen: Die re-nommierte Zeitschrift Story, in der auch die ersten Texte von Truman Ca-pote, Jerome D. Salinger, Norman Mailer oder Graham Greene erschei-nen, druckt 1936 ihre Erzählung Wun­derkind. Im selben Jahr lernt sie den Unteroffizier Reeves McCullers ken-nen: »Als ich ihn das erste Mal sah, traf es mich wie ein Schock, ein Schock reinster Schönheit«, erinnert sie sich, »er war der bestaussehende Mann, den ich je gesehen hatte.« Und er wusste genau, wie er sie beeindru-cken konnte: Zum ersten Rendez-vous brachte er ihr Zigaretten und Bier, keine Blumen. Schon als Teen-ager war Carson McCullers eine star-ke Raucherin und Trinkerin – und blieb es ihr ganzes Leben. Ein Jahr später heiratet das Paar und zieht nach North Carolina. Auch Reeves hat schriftstellerische Ambitionen, und die beiden schließen einen Pakt: Jeder soll ein Jahr lang schreiben dürfen, während der andere den Lebensunter-halt für beide verdient. Danach sollten die Rollen getauscht werden.

1940 erscheint der Roman Das Herz ist ein einsamer Jäger und macht Carson McCullers auf einen Schlag

CARSO N MCCU LLERS

Das Herzist ein

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ROMAN

IM DIOGENES VERLAG

Carson ist gerade siebzehn, als sie 1934 von Savannah aus per Dampfer aufbricht, mit 500 Dollar, die in ihre Hose eingenäht sind. Die Eltern haben einen kostbaren Ring der Großmutter verkauft, um ihr das Klavierstudium an der renommierten Juilliard-Musik-schule zu ermöglichen. Doch kaum ist sie in Manhattan angekommen, verschwindet das Geld. Verloren? Ge-stohlen? Sie sollte es nie verraten. Eine Version der Geschichte: Carson hatte das Geld einer vermeintlichen Freun-din zur Aufbewahrung anvertraut, die Fo

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berühmt. Kritiker und Schriftsteller-kollegen sind verblüfft über die Meis-terschaft und die Lebensweisheit, die sich in diesem Debüt offenbarten. Die 23-Jährige gilt als literarisches Wun-derkind: »Ich wurde über Nacht zu einer etablierten literarischen Persön-lichkeit, und ich war viel zu jung, um zu verstehen, was da mit mir geschah oder welche Verantwortung damit verbunden war. Ich muss unerträglich gewesen sein.«

Gleichzeitig erreicht ihre Ehe den Tiefpunkt. Für Reeves, der im Gegen-satz zu seiner Frau keine Zeile zu Pa-pier bringt, ist Carsons Erfolg schwer zu verkraften, und seine Trunksucht tritt immer deutlicher zutage. Endlose Streitereien, Enttäuschungen, Ver-trauensbrüche, auch Gewalttätigkei-ten machen die Beziehung zur Hölle. Als Reeves wiederholt die Unter-schrift seiner Frau fälscht, um Geld von ihrem Konto abzuzweigen, lässt sie sich scheiden.

Zusammen mit dem Dichter W. H. Auden mietet sie in Brooklyn ein Haus, das rasch zum Mittelpunkt der New Yorker Bohème wird. Das soge-nannte February-Haus, das seinen Namen dem Umstand verdankt, dass die meisten Bewohner im Februar ge-boren sind, ist eine schillernde Künst-lerkommune mit wechselnden Mie-tern und Gästen wie Salvador Dalí, Benjamin Britten, Paul und Jane Bow-les, John Steinbeck, Erika Mann oder Annemarie Schwarzenbach – »von keinem Menschen wird hier erwartet, dass er wie jedermann ist«. Trotz des Trubels arbeitet Carson McCullers unermüdlich, überarbeitet einzelne Manuskriptseiten bis zu zwanzig Mal. 1941 erscheint ihr zweiter Roman, Spiegelbild im goldnen Auge. Ein ›Huis clos‹, das um Gesellschaftskon-ventionen, Obsessionen, Liebe und Hass kreist – mit dramatischem Aus-gang.

Das Setting ist, typisch für Carson McCullers, wieder ein trostloses, ver-lassenes Südstaatennest. Neu ist die relative Offenheit, mit der McCullers das Thema der Homosexualität the-matisiert. Über Carson McCullers’ ei-gene Homosexualität wurde wild spe-kuliert, es wurde ihr eine Affäre mit Annemarie Schwarzenbach angedich-tet, aber heute nimmt man an, dass es bei einer unerfüllten Sehnsucht blieb. »Ich weiß von keiner Freundin, die ich mehr geliebt habe«, bekannte McCul-lers in ihrer Autobiographie.

1941 erleidet Carson McCullers einen Schlaganfall, mit gerade 24 Jahren. Die Schriftstellerin wird nie wieder ganz gesund werden. Doch ihrer fra-gilen Gesundheit zum Trotz – mitten im Zweiten Weltkrieg, in den nun auch die USA eingetreten sind –, er-

lebt sie eine höchst produktive Zeit. Sie beginnt den Roman Frankie und unterbricht die Arbeit daran nur, um zwischendurch Die Ballade vom trau­rigen Café zu schreiben, die meis-terhafte Novelle einer tragischen Dreiecksbeziehung, »um derentwillen man sich vermutlich noch an die Au-torin erinnern wird, wenn Faulkner und Wolfe längst vergessen sind«, so Tilman Spreckelsen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

In dieser Zeit tritt Reeves erneut in ihr Leben. Zunächst schreibt er ihr Briefe, darauf besucht sie ihn in New Jersey, wo er als Infanterist ausgebil-det wird, und bald ist auch von Wie-derheirat die Rede. Als er 1943 an die Front nach Europa geschickt wird, vergeht McCullers fast vor Sorge. Nach Kriegsende kehrt Reeves mit ei-ner leichten Verletzung nach Amerika zurück, und das Paar heiratet ein zweites Mal. Hat Carson McCullers nun ihr ›Wir‹ gefunden? »Das Schlim-me bei mir ist, dass ich so lange bloß eine Ich-Person gewesen bin. Alle Menschen gehören zu einem Wir, bloß ich nicht. Es macht einen zu ein-sam, wenn man nicht einem Wir ange-hört« – das beklagt sehnsüchtig die zwölfjährige Titelheldin von McCul-lers’ drittem Roman Frankie, der 1946 erscheint. Die störrische, musikali-sche Frankie Addams ist ein frühreifes Mädchen, hin- und hergerissen zwi-schen dem Wunsch dazuzugehören und dem Drang auszureißen, zwi-

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Carson Mc Cullers (2. von rechts) mit Arthur Miller, Marilyn Monroe und Tania Blixen in New York, 2. Mai 1959

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In unserem alten Georgia-Haus hat- ten wir zwei Wohnzimmer: eins

zum Hof und eins nach vorne hinaus, und dazwischen eine Schiebetür. Es waren die Wohnzimmer der Familie und der Theaterraum für meine Vor-stellungen. Das vordere Wohnzimmer war der Zuschauerraum, das hintere war die Bühne. Die Schiebetür ersetz-te den Vorhang. Im Winter flackerte der Flammenschein dunkelglühend über die Mahagonitüren, und wäh-rend der letzten gespannten Augen-blicke vor dem Vorhang fiel einem das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims auf – der großen alten Uhr und ihrer gläsernen Vorderseite mit den gemal-ten Schwänen. Im Sommer war es in den Zimmern erstickend heiß, im Winter erblühten Eisblumen auf den Fensterscheiben (in Georgia sind die Winter sehr kalt), und in den Zim-mern war es still und zugig. In der freien Sommerluft hoben sich die Gardinen bei jedem Windhauch, und Düfte von sonnenwarmen Blumen wehten herein und (später, in der Dämmerung) von gesprengtem Rasen.

Als ältestes Kind unserer Familie war ich der Verwalter und Küchen-wärter und der Boss über all unsre Vorstellungen. Das Repertoire war ein buntes Allerlei und reichte von bear-beiteten Filmen bis zu Shakespeare und zu Shows, die ich mir ausdachte und manchmal in meine Fünf-Cent-Notizbücher Marke Big Chief eintrug. Das Ensemble war ewig das gleiche: mein jüngerer Bruder, meine kleine Schwester und ich. Das Ensemble war das schwierigste Problem. Baby-Sister war damals zehn Jahre alt und eigen-sinnig: in Todesszenen, bei Ohn-machtsanfällen und ähnlichen not-wendigen Rollen war sie schrecklich. Wenn Baby-Sister in einem jähen Tod hinsinken sollte, sah sie sich vorher

stolz um und ließ sich dann sehr vor-sichtig auf ein Sofa oder einen Stuhl fallen.

Als Direktor der Vorführungen konnte ich mich zwar mit schlechtem Spielen abfinden, aber eins konnte ich einfach nicht ertragen. Manchmal, nachdem ich den halben Nachmittag mit ihnen geprobt und alles eingedrillt hatte, beschlossen die Schauspieler kurz vor dem Vorhangzeichen, das ganze Unternehmen im Stich zu las-sen und in den Garten zu strolchen, um dort für sich zu spielen. »Ich ra-ckere mich ab und arbeite den ganzen Nachmittag an der Vorstellung, und jetzt lauft ihr mir davon!«, schrie ich dann und fand es unausstehlich. »Ihr seid Kinder! Nichts als Kinder! Am liebsten würde ich euch totschießen!« Aber sie stürzten nur die Getränke hi-nunter, nahmen sich Kuchen und rannten hinaus.

Die Vorführungen im Wohnzim-mer hörten auf, als ich Eugene O’Neill

entdeckte. Es war in einem Sommer, als ich in der Bibliothek unten seine Bücher fand und sein Bild im hinteren Wohnzimmer auf den Kaminsims stellte. Bis zum Herbst hatte ich einen Dreiakter verfasst, der von Rache und Inzest handelte: Der Vorhang hob sich über einem Friedhof, und nach vielen Szenen mit allem erdenklichen Unheil senkte er sich über einem Ka-tafalk. Die Besetzung bestand aus ei-nem Blinden, mehreren Idioten und einer gemeinen, hundert Jahre alten Frau. Das Stück war unter den alten Bedingungen im Wohnzimmer nicht gut durchführbar. Vor meinen gedul-digen Eltern und einer Tante, die zu Besuch war, veranstaltete ich eine ›Le-sung‹, wie ich es nannte.

Im Laufe des Winters schienen die Wohnzimmer, ja, die ganze Stadt mein Herz immer mehr einzuengen und zu behindern. Ich sehnte mich fort. Vor allem sehnte ich mich nach New York. Der Flammenschein auf den Mahago-nitüren machte mich traurig, ebenso das langweilige Ticken der alten Schwanenuhr. Ich träumte von der fernen Stadt der Wolkenkratzer und vom Schnee, und New York war der heitere Hintergrund des ersten Ro-mans, den ich mit fünfzehn Jahren schrieb. Die Einzelheiten in dem Buch waren seltsam – Schaffner in der Untergrundbahn und New Yorker Vorgärten –, doch mittlerweile kam es nicht mehr so darauf an, denn ich hatte bereits eine andre Reise unternommen. Es war das Jahr für Dostojewskij, Čechov und Tolstoi – Ankündigungen eines ungeahnten Bereichs, der ebenso fern wie New York war. Das alte Russland und unsre Georgia-Zimmer, der wunderbar einsame Bereich einfacher Geschich-ten und des nach innen gekehrten Geistes.•

Wie ich zu schreiben begann

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schen Kindheit und Erwachsenwer-den, zwischen Sehnsüchten und Ängsten. Widerborstig und jungen-haft, aber auch sensibel und verträumt, ist die mutterlos aufgewachsene Fran-kie eine Art melancholischer Tom Sawyer und eine vorweggenomme re-bellische Schwester von Salingers Holden Caulfield. Frankie ist der rüh-rendste – und wohl auch autobiogra-phischste – Roman von Carson Mc-Cullers – und die amerikanische Leserschaft schließt die junge, wilde Heldin sofort in ihr Herz.

Auf Anregung des Dramatikers Ten-nessee Williams adaptiert McCullers Frankie für die Bühne. Das Stück feiert am Broadway Erfolge. Die Tan-tiemen machen die Schriftstellerin fi-nanziell unabhängig, so dass sie unbe-schwert mit Reeves nach Europa reisen und sich bei Paris ein Haus kaufen kann. In Paris schlägt das Un-glück erneut zu: Nach einer Reihe schwerer Schlaganfälle ist Carson Mc-Cullers ab 1947 halbseitig gelähmt. Während sie sich langsam erholt, wird das Eheleben mehr und mehr zur Hölle: Reeves, der ein guter Soldat war, weiß als Zivilist wenig, als Möch-tegern-Schriftsteller gar nichts mit sich anzufangen und versinkt in De-pressionen und Trunksucht. Nach-dem Reeves im Spätsommer 1953 ver-sucht, seine Frau zum gemeinsamen Selbstmord zu überreden, flieht sie entsetzt und um ihr Leben fürchtend zurück nach Amerika. Monate später nimmt sich Reeves im Delirium in ei-

nem Hotelzimmer in Paris das Leben. »Das Verlorene in Reeves erkannte ich erst, als es viel zu spät war, ihn oder mich zu retten«, wird sie über diese schweren Zeiten schreiben.

Carson McCullers übersiedelt nach Nyack bei New York und beginnt ei-nen neuen Roman, doch geht es ihr gesundheitlich so schlecht, dass sie bisweilen befürchtet, dieses Buch über einen Mann, der auf den Tod wartet, nicht beenden zu können. Mit einer Hand tippend – die andere ist ge-lähmt – setzt die Schriftstellerin ihre Arbeit fort. 1961 endlich erscheint Uhr ohne Zeiger und wird ein großer Pub-likumserfolg. Hauptfigur ist der Apo-theker Malone, verheiratet und Vater zweier Kinder, der ein gewöhnliches kleinbürgerliches Leben führt, das man weder glücklich noch unglück-lich nennen kann. Dann erfährt er von seinem Arzt, dass er nur noch ein gu-tes Jahr zu leben hat. Was bisher wich-tig war, verliert über Nacht jegliche Bedeutung. Hat Malone genügend Zeit, das Sterben zu akzeptieren? Rei-chen ihm die verbleibenden Monate, um sich damit abzufinden, dass ein Leben nie voll gelebt werden kann? Kann er in der kurzen Zeit, die ihm noch bleibt, herausfinden, was er im Leben übersehen hat?

Carson McCullers’ Gesundheit ver-schlechtert sich zusehends. Mehrmals wird sie operiert, immer häufiger muss sie im Rollstuhl bleiben und das Bett hüten. Das Haus in Nyack ver-lässt sie nur noch selten, höchstens

ein- bis zweimal im Jahr, um ein paar Tage im Hotel Plaza in New York zu verbringen, wo sie Freunde, Bekannte und Journalisten empfängt. 1959 fin-det hier ein legendäres Treffen mit Tania Blixen statt, zu dem sie auch Marilyn Monroe und Arthur Miller einlädt. Ihr Lebenswille blieb bis zuletzt ungebrochen. Die Schriftstel-lerkollegin Ulla Isaksson erzählt von einem Besuch bei der von Krankheit schwer gezeichneten Autorin. Als die Haushälterin der Besucherin Cham-pagner serviert, greift auch die tod-kranke McCullers in einer schmerz-haften Verdrehung zum Glas, »neigte sich mir entgegen, erhob mit einer gewaltsamen Geste das Glas in die Luft und sagte mit heiserer Stimme: ›To the joy of life!‹«.

»Der Tod bleibt sich immer gleich, doch jeder Mensch stirbt seinen eige-nen Tod«, lautet der erste Satz ihres letzten Romans Uhr ohne Zeiger. 1967 erleidet Carson McCullers erneut einen Schlaganfall, und am 29. Sep-tember, nach 47 Tagen im Koma, hört ihr Herz auf zu schlagen. »Carsons Herz«, schreibt Tennessee Williams, »war oft einsam, und es war ein uner-müdlicher Jäger auf der Suche nach Menschen, denen sie es anbieten konnte; aber es war ein Herz, das mit einem Licht gesegnet war, das seine Schatten überstrahlte.«

Und dieses Licht strahlt noch heu-te. In ihrer Autobiographie schreibt Carson McCullers von ihrer Vorliebe für Bücher, die »klein und exakt sind, wie Vermeer«, und unbewusst hat sie damit vielleicht die beste Beschrei-bung für ihre eigenen Romane und Erzählungen gegeben. Wie Vermeers Gemälde sind Carson McCullers’ Erzählungen knapp und präzise beob-achtet, liebevoll den Figuren ge-genüber, die sie in ein poetisches, war-mes Licht taucht. Unabhängig davon, wie melancholisch Carson McCullers die Welt zeichnet, wie unzulänglich und zerbrechlich sie ihre Helden por-traitiert, ihre Geschichten strahlen et-was aus, das die Seele des Lesers streichelt.•kam

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Henri Cartier-Bresson (1908 – 2004), der berühmte französische Fotograf und Mitbegründer der Fotoagentur Magnum, fotografierte Carson McCullers 1947 in Nyack für die Zeitschrift Harper’s Bazaar und traf die Schrift-stellerin wieder, als sie bis Juni 1947 in Frankreich lebte. 1995 schilderte Henri Cartier-Bresson der McCullers-Biographin Josyane Savigneau seine Eindrücke. Das Foto unten zeigt McCullers mit ihrem Freund George Da-vis, Redakteur bei Harper’s Bazaar.

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»Meine Schwester war von Carson, von ihrer Empfindsamkeit ebenso angerührt wie ich. Sie waren oft zusammen. (…) Nicole lud Carson und Reeves auf ein paar Tage zu meinen Eltern

in die Sologne ein. (…) Von Carsons Ankunft hielt sich in unserer Familie eine berühmte Anekdote. Sie brachte eine Kiste Whisky für meinen Vater mit, der aber zeitlebens nur Rotwein und

Weißwein trank. Er schob die Kiste unter sein Bett, und dort blieb sie für lange Zeit. – Als ich Carson in den Vereinigten Staaten kennenlernte, machte ich an einem Strand Fotos

von Georges Davis und Carson. Mir gefiel an ihr sofort dieses Junge, so hochempfindlich wie stark, ihr Feinsinn, etwas gleichsam Durchscheinendes. Ich spürte sofort, dass ihre Beziehung zu Reeves

nicht stimmte, ja beinahe gestört war. Carson war die Empfindsamkeit selbst. Wenn ich an sie denke, drängt sich mir das Wort ›vibrierend‹ auf.«

Henri Cartier­Bressonfotografiert

Carson McCullers

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Die Romane In revidierter Übersetzung und in der Lieblingsausstattung

von Carson McCullers: als Faksimile der Diogenes Erstausgabe von 1963

»Carson McCullers deutete auf einen Bücherschrank, in dem einige ihrer

Bücher standen – und ich holte ihr einen Band, den sie als ihren schönsten

bezeichnete: ›Von meinem Schweizer Verleger!‹ Als Carson hörte, dass eine

deutsch sprachige Gesamtausgabe geplant sei, von der jeder einzelne Band die

alter tümliche Rose auf dem Umschlag zeigen würde, lächelte sie erfreut –

wie über ein Geschenk.«

Elisabeth Schnack kurz vor Carson McCullers’ Tod

Vier Romane im Schuber, alle Bände auch einzeln erhältlich

Die besten Geschichten und die Autobiographie von Carson McCullers als Diogenes Taschenbücher

Parallel erscheinen drei McCullers-Hörbücher, gelesen von Elke Heidenreich

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Bereits als Teenager stolperte Vega über eine Biographie von Carson Mc-Cullers, und obwohl sie das Buch da-mals gar nicht las, hinterließ das Foto der Autorin auf dem Umschlag einen tiefen Eindruck: »Ich fühlte eine Ver-bindung mit Carson McCullers, ihr Gesicht sah aus wie meines auf Kinder-fotos.« Als Studentin am Barnard College in New York (eine frühere Absolventin der Schule war übrigens Patricia Highsmith) schrieb Suzanne Vega einige Storys von McCullers zu Songs um und entwickelte daraus ei-nen Einakter. Dreißig Jahre später ist daraus ein abendfüllendes Stück ge-worden, in dem Suzanne Vega, zwi-schen Monologen und Songs abwech-selnd, das Leben von McCullers nacherzählt – und sie sogar selbst spielt. Carson McCullers Talks About Love wurde im Mai im Rattlesticks Theater in New York uraufgeführt.

Sie haben sich seit Ihrer Jugend mit Carson McCullers beschäftigt. War-um?Carson McCullers’ Charakter faszi-niert mich – sie war brillant, witzig, lustig, einfühlsam, bitchy, bedürftig,

aber nie erbärmlich. Und ich liebe ihre Bücher, ihre Sicht auf die Gesell-schaft ist so unüblich für ein Mädchen, das mit 23 Jahren Das Herz ist ein ein­samer Jäger schrieb. Wie wunder-schön und menschlich sie ihre Sicht auf die Welt sprachlich und bildlich wiedergibt. Viele Details klingen in mir nach, zum Beispiel wie Mick Kel-ly im Roman einen staatlich unter-stützten Kunstkurs besucht – genau wie ich als Kind.War es schwierig, Carson McCullers Leben einzuhauchen? Das Schwierigste war, ihre körperli-chen Gebrechen und Schmerzen mit einzubeziehen, ohne sie direkt zu ver-körpern. Ich war viele Jahre Tänzerin, also habe ich mich ihrem Charakter von außen nach innen angenähert, in-dem ich mir Fotos von ihr ansah und ihre Körpersprache imitierte. Dann sah ich mir Filmaufnahmen von ihr an und entwickelte ein Gefühl für ihre Bewegungen. Durch Sprachaufnah-men wusste ich, dass sie eine sehr idiosynkratische Sprecherin mit lan-gen Pausen und einem distinkten Vo-kalklang war. Mich in ihren Charakter hineinzufühlen war einfach.

Welches ist ihr Lieblingsbuch von Carson McCullers? Am meisten liebe ich Das Herz ist ein einsamer Jäger. Carsons Fähigkeit, so-wohl aus Sicht der männlichen wie auch weiblichen Figuren zu schreiben, ist erstaunlich, und den Charakter von Dr. Copeland kenne ich aus mei-nem eigenen Leben, da ich in East Harlem aufgewachsen bin. Ich liebe den Mangel an Romantik bei Carson McCullers. Was mich sehr beein-druckt, ist die Vision, die Dr. Cope-land gegen Ende des Buches hat: Er träumt von einem Marsch der Schwar-zen nach Washington, im Kampf für Bürgerrechte. Carson erzählt, was erst 25 Jahre später Wirklichkeit wurde.•Aus dem Amerikanischen von Julia Stüssiund Martha Schoknecht

Man kennt Suzanne Vega als Sängerin und Songwriterin, die sieben Grammys gewonnen hat und deren Alben sich millionenfach verkauft haben. Doch die Musikerin ist auch ein großer Fan von Carson McCullers.

Interview copyright © 2011 The Library of America, publishers of Carson McCullers: Complete Novels, edited Carlos L. Dews, 2001. Reprinted by permission.

Suzanne Vega

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Suzanne Vega verkörpert Carson McCullers im Singspiel ›Carson McCullers Talks About Love‹.

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Ehud Asherie | Julien Brunetaud | Claude Diallo | Chris Hopkins | Yelena Jurayeva | Dado Moroni | Frank Muschalle | Ayako Shirasaki | Rossano Sportiello | Alkis Steriopoulos

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Ein Ort, der keiner mehr ist, der nur noch in seinen Koordinaten existiert. Christoph Poschen-rieder erweckt ihn und eine ganze Epoche in seinem neuem Roman Der Spiegelkasten zum Leben. Es ist die Zeit des Ersten Weltkriegs. Über den Schützengräben und Bombentrichtern von einst wogen heute Getreideähren. Lässt sich nach fast hundert Jahren der Geist dieses Ortes aufspüren? Ein Besuch und eine Suche.

Ich stehe in einem Getreidefeld und fühle mich wie meine eigene Ro-

manfigur. Das ist der Ort. Er hat keinen Namen, nur Koordinaten: 50° 20 02,16 Nord, 2° 48 08,24 Ost. Nichts Besonderes, nur ein Feld bei Arras in Nordfrankreich, es ist Som-meranfang, früher Nachmittag nach kräftigem Regen. An meinen Sohlen klebt dick der Schlamm. Stramme Halme rundherum, sie stemmen pral-le Ähren im agro-industriellen Gleich-maß. Wie tief reichen wohl ihre Wur-zeln?

Hier, um ein paar Meter hin oder her, kam am Ostermontag 1917, etwa um die Mittagszeit, mein Großonkel, der Oberleutnant Ludwig Rechenma-cher, zurück auf die Erde. Ich würde gerne sehen, was er gesehen hat, als ihn die Engländer entwaffneten.

Mit der Reise nach Arras holte ich nur etwas nach; eigentlich sehe ich mir die Schauplätze lieber vorher an. Aber Der Spiegelkasten ist (auch) aus der Perspektive eines Mannes erzählt, der

Christoph Poschenrieder

Flug nach Arras

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Oder Antoine de Saint-Exupéry, der im nächsten Krieg eine sinn- und nutzlose Aufklärungsmission über Arras flog und später schrieb: Bei uns ist wenigstens der Tod sauber. Ein Tod in Eis und Feuer. In Sonne, Himmel, Eis und Feuer. Da unten aber wird man vom Schlamm verschlungen. (Flug nach Arras, 1942)

Ich glaube, dass es den genius loci gibt, den Geist des Ortes, und dass man ihn spüren kann, wenn man will und vorbereitet ist. Ein bisschen Phantasie hilft natürlich. Deswegen fuhr ich für Die Welt ist im Kopf auf der alten Postkutschenroute von Dresden nach Venedig, suchte mir dort das Haus, in dem mein Roman-Schopenhauer leben sollte, und den stillen Platz am Kanal, wo er Lord By-ron treffen sollte. Nicht, um das zenti-metergenau beschreiben zu können, sondern um den Geist des Ortes aus dem Rauschen zu filtern. Die chinesi-schen Reisegruppen, die Souvenir-stände, die Fernseher, die aus den

die Welt nur durch einen Computer-monitor (und sich darin gespiegelt) sieht; die wollte ich bewahren, solan-ge ich schrieb.

Es riecht nach Agrarchemie. Die Sportflugzeuge vom nahen Flugplatz brummen über den Himmel. Ich könnte mir ja vorstellen, es wäre der Rote Baron in seinem Dreidecker.

Christoph Poschenrieder auf der Suche nach dem Unterstand »Prinz­Franz­Hüt­te«, dem Ort, an dem sein Großonkel im Ersten Weltkrieg in Gefangenschaft geriet

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versehrt, aber die Seele muss doch lei-den. Wer oder was heilt die Seele?

Im Sommer 2008 zog ich die Alben Ludwig Rechenmachers nach langer Zeit wieder hervor. Ein Foto, auf dem er und ein anderer Offizier in vertrau-ter Pose, Arme untergehakt, zu sehen sind, trägt die Notiz: Mit Manneberg vor dem Schloss in Fresnes. Einer schaut in die Kamera, der andere nicht. Ich stellte mir vor, dass beide eine be-sondere, wenn nicht seltsame Freund-schaft verband. Im selben Sommer las ich in dem amerikanischen Magazin The New Yorker von einem Arzt, der Phantomschmerz heilen konnte: Ich versetzte ihn nach Nordfrank-reich, 1915. Und in Wien studierte je-mand (ein guter Freund von mir – sor­ry, J.­P.!) tagein, tagaus französische Zeitungen und Medien, um daraus zu kondensieren, wie die veröffentlichte Meinung Frankreichs die Vereinigten Staaten sah. Ich nahm ihm (der Ro-manfigur) die Zeitungen weg, um zu sehen, was passiert.

Das Manuskript schloss ich im März 2011 ab. Aber eigentlich fertig und vollständig wurde der Spiegelkas­ten für mich erst in dem öden Getrei-defeld bei Arras, an dem Ort, der kei-ner mehr ist. Außer man kennt seine Geschichte.•

Wohnungen dröhnen, das kann man sich alles wegdenken.

In dem Getreidefeld bei Arras ist die Frage: Was kann man sich dazu-denken? Zermalmtes Land, unendli-che Trostlosigkeit, Zerstörung, den Tod und das Leid? Wenigstens zwei Tage saß Rechenmacher in diesem Loch in der Erde, ein Unterstand, der auf der alten Grabenkarte »Prinz-Franz-Hütte« heißt. Er kam heraus, ergab sich. Nach der Gefangenschaft steckte er seine Kriegsfotos in Alben, nummerierte und beschriftete alles sorgfältig – und sprach nie mehr dar-über.

Wen interessiert dieser Erste Welt-krieg überhaupt noch? Später am sel-ben Nachmittag, auf dem deutschen Soldatenfriedhof St-Laurent-Blangy: Über dem Massengrab liegen in zwei langen Reihen Metalltafeln mit Na-men. Der Wind rollt ein umgefallenes Grablicht herum. Eines steht noch aufrecht, aber die Kerzenflamme ist erloschen. Und am Fuß eines Grab-kreuzes zerfällt ein Kranzgeflecht. Macht drei Zeichen der Erinnerung für 32 000 Tote, mit und ohne Namen. Die Grabsteine der jüdischen Gefalle-nen tragen den Davidstern und die Inschrift Möge seine Seele wieder mit dem Kreis der Lebenden verbunden

werden. Mein Begleiter, der Nazi-deutschland im Alter von drei Jahren verlassen musste, findet diesen schat-tenlichten Hain very Germanic, we-gen der vielen wispernden, alten Ei-chen und Ahornbäume. Ein schöner und einsamer Ort; selbst wenn man, wie der Schriftsteller und Frontarzt Ernst Weiß (1882 – 1940), leise sagen

Friedhof St­Laurent­Blangy

Metalltafel auf dem Soldatenfriedhof St­Laurent­Blangy

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dermag: So viele Tage, Taten, Siege, De­

mütigungen und Vernichtungen – und doch kein Sinn.

Ich habe mich immer gefragt: Wie kann man so einen Krieg überleben? Mit Glück bleibt man körperlich un-

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Niemandsland in Roclincourt Vallex

Rechenmacher im Graben

Rechenmacher im Graben

Manneberg und Rechenmacher vor dem Schloss in Fresnes­lès­Montauban

Offizierskasino Fresnes mit Rechenmacher und Manneberg

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Buchtipp

Roman · Diogenes

ChristophPoschenrieder

Der Spiegelkasten

Roman · Diogenes

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Der Spiegelkasten

224 Seiten, LeinenISBN 978-3-257-06788-0

Ein bewegender Roman über die Macht der Erinnerung und die Kraft der Vorstellung – in der grausamen Wirklichkeit des Ersten Weltkriegs und der virtuellen Welt von heute.

Aus dem Album des Großonkels

Ein Fotoalbum mit körnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen seines Großonkels aus dem Ersten Weltkrieg inspirierte Christoph Poschenrieder zu seinem neuen Roman Der Spiegelkasten.

Mehr Informationen und Fotografien aus den Alben auf www.poschenrieder.de

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Kino & TVAusstellungen

Vorschaufenster

Tomi Ungerer. Das Musée Tomi Ungerer in Straßburg zeigt zum 80. Geburtstag des Zeichners noch bis 31.10.2011 die Ausstellung Tomi Ungerer. Ein Künstler mit vielen Facetten, gefolgt von Tomi Ungerer und die Meister. Dialoge und Inspira­tionen, vom 17.11.2011 bis 19.2.2012. Das Museum im Ritterhaus Offen-burg präsentiert bis zum 30.9.2011 die Postkartenausstellung Der kleine Unterschied. Tomi Ungerer – Das satirische Werk ist im Caricatura Museum Frankfurt zu sehen, vom 8.12.2011 bis 18.3.2012.Paul Flora. Leben und Werk von Paul Flora in seiner Geburtsstadt Glurns (Südtirol), im Kirchtor Turm bis zum 31.10.2011. Ständige Ausstel-lung im Schloss Anras, Tirol.F. K. Waechter. Ausstellung mit dem Titel Zeichenkunst im Kieler Stadt-museum Warleberger Hof, 25.9.2011 bis 19.2.2012. Buchtipp: F. K. Waechter, Venedig – Das Skizzenbuch (Diogenes, ISBN 978-3-257-02099-1).

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Für alle, die Geschichten lieben – und jeden Tag

wenigstens eine Geschichte lesen wollen.

In eigener Sache

Trotz Rekordumfang von 112 Seiten mussten leider aus Platzgründen die angekündigten Beiträge Kurioses aus Venedig – mit Donna Leon auf Spu­rensuche in den Archiven der Lagu­nenstadt und das Portrait über Zelda Fitzgerald in die nächste Ausgabe des Diogenes Magazins, die Ende Dezem-ber 2011 erscheint, verschoben werden. Die Kolumne Owl’s Eye wurde Opfer fauler Sommerferien, erscheint in der nächsten Nummer aber selbstver-ständlich wieder.

Miranda July, The Future. Der Film mit ihr selbst und Hamish Linklater in den Hauptrollen premierte im Februar dieses Jahres an der Berlinale. Drehbuch: Miranda July. Kinostart: 10.11.2011 (D), 15.12.2011 (CH).Mark Twain, Tom Sawyer. Neu-verfilmung von Regisseurin Hermine Huntgeburth mit Heike Makatsch, Benno Fürmann und Joachim Król. Kinostart: 17.11.2011.Charlotte Brontë, Jane Eyre. Neu-verfilmung von Regisseur Cary Fukunaga, mit Mia Wasikowska, Michael Fassbender, Jamie Bell und Judi Dench. Kinostart: 8.9.2011 (CH),1.12.2011 (D).Sir Arthur Conan Doyle, Sherlock Holmes. Zweiter Teil der Verfilmung von Guy Ritchie: Sherlock Holmes. A Game of Shadows mit Robert Downey Jr. und Jude Law.Kinostart: 22.12.2011.Bernhard Schlink, Der Andere.Die Erzählung aus Schlinks Erzähl-band Liebesfluchten wurde von Richard Eyre (Regie und Drehbuch) mit Liam Neeson, Laura Linney und Antonio Banderas verfilmt. Geplante TV-Premiere: Ende 2011 im Ersten.Martin Suter, Verfilmung von Alain Gsponer Der letzte Weynfeldt. Nach einem Drehbuch von Alex Buresch. Mit Marie Bäumer und Stefan Kurt. ZDF: Winter 2011.

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79Diogenes Magazin

Schreibtisch

Werschrieb hier?

Dass es sich nicht um einen zeitge- nössischen Autor handelt, muss

beim Anblick dieses computer- und telefonfreien »Stubenplatzes«, wie er es nannte, nicht extra erwähnt werden. Verraten möchten wir jedoch anderes: Der Lieblingsschriftsteller des gesuch-ten Autors und Malers (immerhin be-suchte er die Königliche Akademie der Künste in München, als Beispiel rechts das Werk Weidelandschaft mit roter Kuh) ist niemand anderes als Griesgram Arthur Schopenhauer. Un-glaublich, wenn man bedenkt, dass unser Lyriker, Theaterautor und Bildergeschichten-Erfinder vor allem durch seinen Humor, Spott gegen das Bürgertum und seine Karikaturen berühmt wurde, als Erfinder des Comics gilt und bis heute geliebt wird. Zudem wird sein in 40 Sprachen über-setztes »Hauptwerk« gern zitiert, wenn es um das Maßregeln ungezoge-nen Nachwuchses geht.

Lösung Diogenes Magazin Nr. 6:Amélie Nothomb

Schicken Sie die Antwort bis zum 31. Dezember 2011 per Post oder per E-Mail ([email protected]) an: Diogenes Verlag Gewinnspiel ›Wer schrieb hier?‹ Sprecherstr. 8 · 8032 Zürich · SchweizWir verlosen zehn Mal das neue Buch von Loriot: Bitte sagen Sie jetzt nichts … Gespräche. Als Hauptpreis zusammen mit der vergriffenen Kunstmappe Große Deutsche von Loriot: 12 Blätter, jedes einzeln signiert von Loriot.

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Mag ich – Mag ich nicht

Benedict Wells

Im nächsten Magazin:

Alfred Komarek

Günther Anders

Mag ich:Rotwein. Späten Rembrandt. Gazellen jeder Art. Genaue Formulierungen. Mozarts Konzertante Symphonie in Es­Dur. Alle Tiere. Über Gebirge fliegen. Den West­östlichen Divan. Alle Pflanzen, von winzig bis riesig. Berlioz’ Harold in Italien. Ins Meer hinaus-schwimmen. Manet. Kinder aller Farben. Obst. Rossinis Plauderton. Phantasie-kraft zwecks Erkenntnis der Wirklich-keit. Lauen Sommerregen. Oliven jeder Art. KV 131 von Mozart. Gut geschlafen haben. Und noch immer Tristan.

Mag ich nicht:Vorurteile. Speck. Adjektive. Kohl, gleich ob vegetarisch oder politisch. Paniertes. Wagnertexte. Interviewer. Frömmler. Reagan als Traufe. Ge seuf -ze von Opernsängern. Fach idioten. Phantasieunfähige und -un willige. Jaspers’ Schwulst. Dumme, die zu dumm sind, um zu ahnen, wie dumm sie sind. Rachmaninow. Feig linge. Mount-Everest-Besteiger. Kulturkon-gresse, ›Kulturwerte‹, ›Kulturellen Sektor‹ und ›culture vultures‹. ›Sach-zwänge‹. Pfitzner. Juristen und Ärzte.

Das nächste Diogenes Magazin erscheint Ende Dezember. Im

Mittelpunkt: Paulo Coelho und sein neuer Roman, der die Leser auf eine

Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn entführt. Außerdem

Beiträge von oder über Miranda July, John Irving, Andrea De Carlo, Donna Leon, Zelda Fitzgerald,

Lukas Hartmann und vieles mehr.

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BibliotherapieLesen Sie sich gesund

Ein Elefant in VenedigDonna Leon über venezianische Kuriositäten

FragespielJohn Irving antwortetauf Fragen von Nadine Gordimer

Film-SpecialWenn Bücher Filmstars werden

Mag ich:Fallende Engel. Grünen Veltliner. Grenzüberschreitungen. Finstere Spelunken. Umwege. Taschenuhren. Radiogeräte. Zeitlosigkeit. Stille. Donald Duck. Mich. Sehr dunkle Nächte. Ristretto. Einstein. Holz. Leuchttürme. Gerhard Roth. Raben. Bäume. Unkrautwiesen.

Mag ich nicht:Angesagtes. Risotto. Fernseh vor -abenddeutsch. Nierentische. Auto-bahnen. Word. Nordic Walking. Mich. Gruppenlesungen. Gruppensex. Reise-gruppen. Tiertransporte. Die Simpsons. Bully Herbig. Den Papst. Einkaufszen-tren. Feldherren. Ani mateure. Einheits-brei. Buch stabensuppe. Das Lächeln der Mona Lisa.

Von Alfred Komarek ist soeben als Diogenes Taschenbuch Polt. erschie-nen, der fünfte Fall des Kult-Land-gendarms Simon Polt im österreichi-schen Weinviertel.

Günther Anders (1902–1992). Der österreichische Sozialphilosoph schrieb in seinem Werk gegen die Zer-störung der Menschheit durch Technik und Atomkraft. Als Diogenes Taschen-buch ist das Lesebuch Die Zerstörung unserer Zukunft erschienen.

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Spiele- und Geschichten-Spaß

Mit dem kleinen Nick, den drei Räubern, den wilden Kerlen und vielen mehr

»Ich gehe auf keine Demonstration. Ich bin selber eine.« Friedrich Dürrenmatt

Genügend Stoff für ein LebenDie lang erwartete Dürrenmatt-Biographie von Peter Rüedi

Peter von Matt Wie Dürrenmatt die Schweiz zwang, ein Literaturarchiv zu gründen

Dürrenmatt privat Der Triumph der alten Dame, Bordeaux-Weine und Autos

Dürrenmatt Magazin

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1Diogenes Magazin

Der Bleistift, womit ich schreibe, das Papier, das ich mit meiner Schrift bedecke, der Tisch, worauf ich schrei- be, die Bücher auf dem Tisch, sechs Duden, ein Fremdwörterbuch, der Sprachbrockhaus, ein altes Lexikon

der allgemeinen Weltgeschichte von 1882, ein französisches, ein englisches und zwei philosophische Wörterbü-cher, halb vollgeschriebene Blindbände, Gefäße mit Bleistiften, Schere und Kugelschreibern, ein Telefon, eine Uhr, die ich immer vergesse aufzuziehen, Geschenke von C.: ein großer Quarzstein, ein kleiner Silbertiger auf einem Stein vom Sinai, eine Kristallpyramide, ferner Gummi, Leim und Bleistiftspitzer, fertige und unfertige Manuskripte, die Schreibtischlampe, die auch tagsüber brennt, das große Löschblatt mit den Kaffeeflecken darauf und das andere Löschblatt, der Platz, auf dem ich zeichne, die Schallplatten, die Dose mit Nescafé, die Kaffeetas-se, die Thermosflasche, der große Schreibtisch ist immer zu klein.« Friedrich Dürrenmatt

Charlotte Kerr Dürrenmatt erinnert sich: »Friedrich Dürrenmatts Schreibtisch steht immer noch im Arbeitszim-mer. Ich sehe Dürrenmatt noch heute, wie er da sitzt und schreibt. Der Schreibtisch, den er Jonathan nannte, war Zentrum seines Lebens. Wenn wir von einer Reise zurückkamen, strich er immer als Erstes mit der Hand darüber und sagte: Mein lieber Schreibtisch. Dürrenmatt hatte ihn von seiner ersten Frau Lotti geschenkt bekommen. Als ich hier einzog, habe ich gesagt: Toller Schreibtisch, aber das ist ja ein Monstrum! – Wenn er dir nicht gefällt, zersäge ich ihn, antwortete Dürrenmatt. Und ich sagte: Um Gottes willen, nein, hier hast du dein ganzes Werk geschaffen. Am nächsten Tag lag eine Zeichnung da vom Schreibtisch mit Blumenstrauß. Und darunter stand: Danke, dass ich nicht zersägt werde, Jonathan.«

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»Dürrenmatt gehört zu den ganz wenigen Genies

der Nachkriegsliteratur deut-scher Sprache. Ein Meteor wie Büchner und Kafka.«

Hans Mayer

»Er war mehr als nur ein kluger, neugieriger

Literat. Dürrenmatt ist ein Schöpfer gewesen.

Er durfte den stolzen Satz notieren: ›Wer eine Welt gebaut hat, braucht sie

nicht zu deuten.‹« Joachim Kaiser

»Einer der Giganten des 20. oder auch jedes

anderen Jahrhunderts.« New York Magazine

»In einer Welt, die den Verstand verliert,

gleicht sein Werk einem Aufschrei der Intelligenz.«

Le Monde

»Für den viel gescholtenen Literatur-Nobelpreis war

Dürrenmatt einfach zu gut.« Salzburger Nachrichten

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3Diogenes Magazin

Die griechischen Sagen und die Geschichten aus dem Alten Testament, die ihm als Kind erzählt wurden,

beschäftigten ihn ein Leben lang. Sie wurden zu seinen künstlerischen Stoffen. Doch für seinen Glauben konnte der Vater, Dorfpfarrer von Konolfingen, den Sohn nicht gewinnen. Dürrenmatt wurde nicht Protestant, er protestierte: im Regiesitz des Theaters, am Schreibtisch, vor der Staffelei. Die Welt sah er als groteskes Labyrinth voller Pannen und schlimmstmöglicher Wendungen, als »Pulverfabrik, in der das Rauchen nicht verboten ist«, als Irrenhaus oder Güllen. »Nur das Komödiantische ist möglicher-weise heute noch der Situation gewach-sen. Wer verzweifelt, verliert den Kopf; wer Komödien schreibt, braucht ihn.« So wechselte Dürrenmatt »nach zehn Semestern Philosophie gleich ins Ko-mödienfach über«; statt seine Disser-tation über Kierkegaard und das Tra-gische schrieb er das Drama Es steht geschrieben. Während der Premiere 1947 im Zürcher Schauspielhaus »pfiffen die Zuschauer, statt zu gähnen«. Es war ein »glücklicher Start«, davon leben konnten er und seine Frau, die Schauspie-lerin Lotti Geiß-ler, aber nicht. Als Lotti kurz vor der Ge-burt ihres zwei-ten Kindes im Spital war, in dem auch der zuckerkranke Dürren-matt behandelt wurde, rief

dieser jeden Verleger an, den er kannte, und erzählte Ge-schichten, »die ich als Roman oder Erzählung schreiben würde. Ich muss zu meiner Ehre sagen, jedem erzählte ich

eine andere Geschichte. Und am Abend war ich fi-nanziell aus dem Schlimmsten heraus.« Als er mit 500 Franken Vorschuss für den Krimi Der Richter und sein Henker nach Hause kam, glaubte Lotti, das Geld sei gestohlen. Mit den Krimis und der Komödie Die Ehe des Herrn Mississippi hatte er Erfolg, der sich mit Der Besuch der alten Dame und Die Physiker zum Weltruhm steigerte. »Weil man mich meistens falsch verstand, wurde ich be-rühmt«, spöttelte Dürrenmatt. Nach Misserfolgen im Theater zog er sich im Alter von den Brettern der Bühne zurück und setzte sich in den Stoffen jahrelang intensiv mit seiner Arbeits- und Denk-weise auseinander: »Die Geschichte meiner Schriftstellerei ist die Geschichte meiner Stof-fe«, diese intellektuelle Biographie ist für sein Spätwerk ein Schlüsselwerk. Fast ein wenig in Vergessenheit geraten, rückte Dürrenmatt erneut ins literarische Rampenlicht, als Dio-genes 1981 eine Taschenbuch-Werkausgabe in 30 Bänden veröffentlichte. Die Physiker waren 1982 bis 1984 das meistgespielte Stück an Theatern in Deutschland, der

Roman Justiz wurde 1985 zum Best-seller. Dürrenmatt, der

am 5. Januar 1921 im klei-

nen Emmenta-ler Städtchen

Konolfingen ge-boren wur-de, starb am

14. Dezember 1990 kurz vor

seinem 70. Geburts-tag in Neuchâtel.•

Dürrenmatt»Ein Jahrhundert-

schriftsteller«

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4 Diogenes Magazin

Interview

Sie haben fast zwanzig Jahre an Ih-rer Dürrenmatt-Biographie gear-beitet. Gibt Ihnen Dürrenmatt nach wie vor Rätsel auf?Mehr denn je. Man könnte sagen, im Lauf dieser Arbeit (die zwar vor zwanzig Jahren begann, aber immer mal wieder kürzere oder auch längere Zeit wegen anderer Projekte ruhte) habe sich die Aufmerksamkeit vom Offensichtlichen ins Verdeckte, in vie-len Punkten ins Rätselhafte verscho-ben. Die nicht oder schwer erklärba-ren Punkte, diejenigen, denen sich Dürrenmatt selber nur indirekt über das vieldeutige Gleichnis nähern konnte, sind die faszinierendsten: zum Beispiel sein Sprung in die Schriftstel-lerei nach einer schmerzvollen und chaotischen Adoleszenz, zum Bei-spiel die Entwicklung von den christ-lich-religiösen-protestantischen Vor-aussetzungen einer Kindheit im Pfarrhaus über die Rebellion gegen den »Glauben meines Vaters«, dann

eine Strategie des Verbergens dieser Ursprünge bis zum Bekenntnis eines Atheismus, der aber nach wie vor reli-giös grundiert blieb (und sei’s im Wi-derspruch); die Verlagerung der Meta-physik in die Bereiche, in denen die Naturwissenschaften selbst zur Er-kenntnis gelangen, dass, wie es Max Planck sagte, auch in der Physik der Satz gelte, dass man nicht selig wer-den könne ohne den Glauben. Dür-renmatt selbst trieb um (und an), was er nicht erklären konnte. Deshalb der Titel meines Buchs: Die Ahnung vom Ganzen. Welches waren die größten Schwie-rigkeiten bei Ihrer Arbeit?Grundsätzlich: die Überwindung und Bewahrung der Distanz zum Gegen-stand meiner Bemühungen; für einen Thurgauer Agnostiker ist ein Berner Protestant ein noch fremderes Wesen als für den Zürcher Max Frisch (mit dem Dürrenmatts Kinder automa-tisch Hochdeutsch sprachen, wenn er

mal nach Neuchâtel zu Besuch kam). Praktisch: die organisatorische Bewäl-tigung einer Textmasse (derjenigen, die ich in Dürrenmatts Nachlass vor-fand, und derjenigen, die ich in zahl-losen Neuanfängen selbst produzier-te), die einen grundsätzlich induktiv, ja assoziativ organisierten Schreiber wie mich zeitweise überforderte. Ein Buch von über 900 Seiten, musste ich unter Schmerzen lernen, lässt sich nun mal nicht schreiben wie eine Ko-lumne oder ein journalistischer Essay. Hatte Dürrenmatt ein spannendes Leben?Mehr als einmal sagte er: »Ich habe keine Biographie.« Damit meinte er, er habe, was die äußeren Umstände betrifft, kein aufregendes Leben ge-führt mit jähen Brüchen im Lebens-lauf, mit ausgedehnten Reisen, mit »sensationellen« Wendungen welcher Art auch immer. Seine Abenteuer wa-ren geistiger Natur, aber es waren durchaus Abenteuer, die er mit den

»Dieser Autor hat unser ›Weltgefühl‹ verändert«, hat Joachim Kaiser über Dürrenmatt gesagt. Doch wer ist der Mensch hinter dem Schriftsteller? Peter Rüedi hat fast zwanzig Jahre lang an seiner Dürrenmatt-Biographie gearbeitet, die jetzt endlich erschienen ist. Ein Ereignis.

Peter Rüedi

Stoffe für eine große Biographie

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5Diogenes Magazin

Peter RüediDürrenmatt

oder Die Ahnung vom Ganzen

Biographie · Diogenes

Peter RüediDürrenmatt

oder Die Ahnung vom Ganzen

Biographie · Diogenes

960 Seiten, 12,5 x 20 cm, LeinenISBN 978-3-257-06797-2

Die erste große Biographie über Friedrich Dürrenmatt, vom Pfarrerssohn aus dem Emmental zum Autor von Weltruhm und

mit Millionen auflagen, glänzend und packend geschrieben von

Peter Rüedi, einem unumstrittenen Dürrenmatt-Kenner.

Buchtipp

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alpinistischen Grenzerfahrungen sei-nes Freundes, des Physikers Marc Ei-chelberg, im Himalaja verglich. De-nen versucht meine Biographie zu folgen. Auch deshalb beschäftigt sie sich mit dem Werk ebenso wie mit dem darin verknäuelten Leben. Wer auf sensationelle Indiskretionen aus ist, den muss ich leider weitgehend enttäuschen.Was hat Sie am Menschen Dürren-matt am meisten überrascht?Die Verbindung von einem Geist, der, wie er sagte, die »Schöpferkraft des Kindes«, also eine Art Naivität in der Sicht auf die Welt, mit den höchst komplexen Strukturen seines Den-kens mühelos verbinden konnte. Ich könnte auch sagen: wie seine bildhaf-ten, ja visionären Einfälle seine Ge-dankenwelten erschütterten, ja zum Einstürzen brachten, ist schon sehr aufregend zu verfolgen. Damit hängt die Gelassenheit zusammen, mit der er, der nach außen so selbstsicher wirkte, in allen Phasen seines Lebens ein Scheitern in Kauf nahm. Seinen größten Erfolgen am meisten miss-traute. Sie sprechen in Ihrer Biographie von Dürrenmatts Lebensmustern – wel-che sind das?Die Auferstehung. Die Heimkehr. Die Wiederholung. Der Wechsel von Krisen und Auferstehungen, am ein-drücklichsten nach seiner letzten schweren Theaterniederlage mit dem Stück Der Mitmacher (1973), welche Krise sein Alterswerk, die einzigartige Mischform seiner späten Prosa nicht nur, aber vor allem in den Stoffen, erst eigentlich geboren hatte. Die Heim-kehr zunächst wörtlich verstanden als Rückkehr in das Dorf seiner Kindheit, das er mit 14 Jahren verlassen hatte: immer wieder in Momenten, in denen Selbstversicherung gefragt war. Im übertragenen Sinn: die Heimkehr in die Erinnerung, zu verschütteten frü-hen Eindrücken, Erlebnissen, aus de-nen wuchs, was er seine Stoffe nannte. Damit verbunden: die Wiederholung, aber nicht als Stillstand, sondern als Bewegung vorwärts. Im Klartext: Alles hängt in Dürrenmatts Werk mit allem

zusammen, früheste Motive tauchen im Spätwerk wieder auf. Diese zykli-sche Anlage seiner Phantasie führte zum Missverständnis, Dürrenmatt habe gegen Ende seines Lebens aus Schwäche auf alte Themen oder Moti-ve zurückgegriffen. Nichts ist verfehl-ter. Schon seine frühe Prosa war ein Rückgriff; als er sie für die Veröffent-lichung 1952 wieder bearbeitete, war er über die finsteren Visionen seines wesentlich von Kafka geprägten Ex-pressionismus längst hinausgelangt in die Welt seiner Komödien. Aber auch die waren ›Wiederholungen‹, hingen mit dem Frühwerk enger zusammen, als es auf den ersten Blick scheinen mochte. Was darin neu war: eine Qua-lität, auf die es Dürrenmatt nun zeitle-bens ankommen sollte – Humor. Dürrenmatt hat fast zwanzig Jahre Ihr Leben begleitet. Wie hat Sie das geprägt?Nochmals: Es gab viele Unterbrüche in diesen zwanzig Jahren, ich kann mich nicht zum Sklaven auf der Ga-leere Dürrenmatt stilisieren. Natür-lich hat mich die Beschäftigung mit diesem ungewöhnlichen Autor auch geprägt, vor allem in dem Sinn, dass ich mich, bei Dürrenmatts Generalis-mus, mit Themen befassen musste, von denen ich zu Beginn keine Ah-nung hatte und für die ich auch keine Voraussetzungen mitbrachte. Der »Dilettantismus«, den Dürrenmatt ge-legentlich für sich in Anspruch nahm, traf für mich sozusagen im Quadrat zu. In diesem Sinn war diese Arbeit wie eine Art zweiter Bildungsweg, ein studium generale. So weit, dass auf meinem Nachttisch Karl Barths Kirchliche Dogmatik als Bettlektüre läge, ist es dann doch nicht gekom-men. Ich habe schon versucht, mir nicht abhandenzukommen, auch wenn das zeitweise etwas schwierig war.Welches Buch von Dürrenmatt ha-ben Sie am häufigsten gelesen? Wel-ches ist Ihr Lieblingsbuch?In beiderlei Hinsicht: die Stoffe. Un -ter den Kriminalromanen liebe ich besonders Das Versprechen, im Spät-werk das, wie ich meine, weit unter-

schätzte Durcheinandertal. Aber wie ich schon sagte: Bei kaum einem Au-tor hängt so sehr alles mit allem zu-sammen. In diesem Sinn muss ich sagen: Mein Lieblingsbuch ist Dür-renmatts Gesamtwerk.Welches Buch würden Sie als Ein-stieg in das Œuvre von Dürrenmatt empfehlen?Die Kriminalromane, zumal Das Ver-sprechen.Welches Werk von Dürrenmatt ist Ihrer Meinung nach zu wenig be-kannt?Das Frühwerk, das Spätwerk. Eigent-lich alles außer dem, was Dürrenmatt »meine Bestseller« nannte (Der Rich-ter und sein Henker, Der Besuch der alten Dame, Die Physiker).Sie haben Dürrenmatt kurz vor sei-nem Tod im Dezember 1990 getrof-fen, um ihn über sein Leben auszu-fragen. Gibt es Fragen, die zu stellen Sie versäumt haben?Ungefähr alle wichtigen. Meine Igno-ranz war ebenso groß wie Dürren-matts Geduld, mit der er sie großzü-gig übersah. Ich gäbe viel darum, jene Gespräche noch einmal führen zu dürfen. Von meinem heutigen Stand des Nicht-Wissens aus.•kam

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6 Diogenes Magazin

DürrenmattTheater

Essays, Gedichte, Reden

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Essays, Gedichte, Reden

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DürrenmattRomulusder GroßeUngeschichtlichehistorischeKomödie

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DürrenmattDie

PhysikerKomödie

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DürrenmattDerBesuchder altenDame

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7Diogenes Magazin

Am Anfang des Besuchs der alten Dame stand ein »Zufall«. Ein

Bühneneinfall, aus dem sich die Handlung des Stücks entwickelte und an dem sich wiederum verdeckte Mo-tive und alte Stoffe Dürrenmatts ent-zündeten. »Ich hätte die Alte Dame nicht geschrieben, wäre mir die Büh-nenidee dazu nicht eingefallen.« Lotti Dürrenmatt war am 2. März 1955 we-gen einer Gebärmuttersenkung im Berner Salem-Spital operiert worden. Dürrenmatt besuchte seine Frau täg-lich. Auf den Zugfahrten zwischen Neuchâtel und Bern hielt der Schnell-zug wegen der eingleisigen Strecken-führung auch in den kleinen Bahnhö-fen von Ins und / oder Kerzers im Berner Seeland. Tag für Tag hielt Dür-renmatts Zug an diesen herunterge-kommenen kleinen Provinzbahnhö-fen.

Am Bahnhof beginnen und enden Geschichten. Die im Western, aber auch die der schrecklichen Heimkehr der Claire Zachanassian. Wenn Claire Zachanassian, geborene Kläri Wä-scher, per Notbremse den D-Zug in Güllen kreischend zum Stehen bringt, ist das ein Auftritt, der schon das gan-ze Gefälle zwischen der schwerrei-chen Vertriebenen und dem herunter-gekommenen Ort ihrer Jugend an-zeigt: Ein großer Auftritt mitten in Luzern in das mickrige Empfangs-komitee der Güllener. An diesem Elendsflecken hatte seit langem kein Schnellzug mehr gehalten, schon gar kein internationaler, jetzt bringt die reichste Frau der Welt hier den »Ra-senden Roland« zum Stehen. Aus die-sem vorgestellten Szenario ergab sich zumindest der erste Akt »wie von selbst« (Dürrenmatt). Der Bahnhof

impliziert eine Ankommenssituation, welche die Grundstruktur des Stücks und sein Personal bestimmte, eine Art Triptychon mit Bahnhof. In einem Ringbuch findet sich der frühe Ein-trag: »Bahnhof. Schnellzug hält durch Ziehen der Notbremse. Schlussbild ebenfalls Bahnhof. Ebenfalls Mittel-bild. Die Männer auf der Bahnhofs-bank. Bahnhofsbuffet.«

Bei der Entscheidung für den Transport der Geschichte auf die Büh-ne gab es, wie Dürren matt einräumte, auch einen ganz banalen Grund: Von einem Stück waren höhere Einnah-men zu erwarten als von einer Er-zählung. In welchem Ausmaß gerade Der Besuch der alten Dame seine Lebensumstände ändern sollte, konn-te er nicht ah nen; auch nicht, dass ausgerechnet ein Stück, welches ein Wirtschaftswunder zum Thema hatte,

Am 29. Januar 1956 findet im Schauspielhaus Zürich die Uraufführung von Der Besuch der alten Dame statt, in den Hauptrollen Therese Giehse und Gustav Knuth. Daraufhin tritt die Alte Dame ihren Siegeszug an: zunächst im deutschsprachigen Raum, wo sie zwei Jahre in Folge das meistgespielte Stück ist, und dann weltweit: in Japan, Frankreich, England, Polen … Die Inszenierung von Peter Brook 1958 am New Yorker Broadway wird zum ›Best Foreign Play‹ gekürt. »Der Besuch der alten Dame war mein Durchbruch«, so Dürrenmatt, »es ist mein popu-lärstes Stück«: mehrfach verfilmt, als Oper adaptiert und bis heute weltweit gespielt. Der Tri-umph schlägt sich auch in barer Münze nieder – der Wohlstand »überrumpelt« den Autor.

Peter Rüedi

Der Triumph der alten Dame

Dürrenmatt, ca. 1959

Links: ›Das Arsenal des Dramatikers‹ (Selbstportrait), Feder, 1960

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seinen eigenen Wohlstand begründete. Zum ersten Mal registrierte Dürren-matt, dass es auch sein persönliches Güllen in Gülden verwandeln könnte. Erst einmal reichte es »fürs Gröbste«. Bald jedoch stellte sich ein Wohlstand ein, der sich von außen wie Reichtum ausnahm. Dürrenmatt betrachtete das gelegentlich wie einen alchimistischen Vorgang. Der mehr oder weniger plötzliche Wohlstand war dem pro-tes tantisch geprägten Emmentaler un-heimlich. »Vor dem Erfolg«, sagte er 1985 Fritz J. Raddatz, »schrieb ich aus der harten Not wendigkeit heraus, Geld zu verdienen. Ich hatte eine Fa-milie durchzubringen. Natürlich schrieb ich nicht nur, um Geld zu ver-dienen. Ich schrieb, weil ich Schrift-steller war, und es war mein Stolz, als Schriftsteller durchs Leben zu kom-men. Ich versuchte al les, was ich schrieb, möglichst gut zu schreiben, auch die Kriminalromane. Mit dem Erfolg fiel allmählich die harte Not-wendigkeit weg. Jetzt bräuchte ich nicht mehr zu sch reiben und bin ei-gentlich verlegen, wenn man mich fragt, warum ich noch schreibe. Die Antwort ›aus innerer Not wendigkeit‹ ist mir zu pathetisch, wie ich ja auch das Wort ›Dichter‹ nicht mag. Ich gebe zur Antwort: ›Weil ich die schlechte Angewohnheit nun einmal habe‹, oder so etwas. Aber dass ich plötzlich ziemlich viel Geld verdiente, hat mich schon überrumpelt.«

Daraus sprach, im Rückblick, sein Misstrauen gegenüber dem Erfolg überhaupt; oder, umgekehrt, die Ent-täuschung darüber, sich mit den für ihn dringlichsten Anliegen missver-standen zu sehen.

Bei Der Besuch der Alten Dame kommt, mehr noch als bei seinen an-deren »Evergreens«, ein tieferes Un-behagen auf. Eine instinktive Scheu, das Gefühl, dem Teufel seine Seele verkauft zu haben? Es gibt eine sehr bewegende Stelle im insgesamt be-rührenden Film Portrait eines Plane-ten von Charlotte Kerr über Dürren-matt (nie war Dürrenmatt so offen wie in diesem Moment der ersten Ver-liebtheit). Kerr sollte nach Lottis Tod

1983 ein Jahr später seine zweite Frau werden. Die Zachanassian, sagt er da, sei ja auch eine Frau Welt, und das Stück die Tragödie des Reichtums, und er frage sich, inwiefern das auch ihn betreffe. Und dann, ganz ernst und doch wie nebenher, der eigenarti-ge Satz: »Bei einem Erfolg hat man immer das Gefühl einer Schuld. Ich habe das Stück auch nie geliebt.« Und

weiter: »Das [der plötzlich hereinbre-chende Wohlstand] war ein enormer Schock. Zuerst stellt sich das Gefühl ein: Wa rum noch schreiben? Auf den Proben in Paris saß hinter mir ein Herr, der sich als Eugène Ionesco her-ausstellte, und der sagte zu mir: ›Wenn ich so ein Stück geschrieben hätte, würde ich nicht mehr schreiben.‹« Das Schwierige war die Wende. Was die Läh mung nach Dürrenmatts eige-

Szenenfoto aus der Hollywood-Verfilmung ›The Visit‹ mit Ingrid Bergman und Anthony Quinn. Dazwischen: Erstausgabe, Verlag Die Arche, 1956

ner Aussage verhinderte, war die Zucker krankheit. »Und Zucker ist na-türlich eine Bremse, zwingt zu Diszip-lin. Schreiben ist auch eine große Dis-ziplin. Das spukt immer in Ihrem Hinterkopf. Und wenn Sie Ihren Ge-genstand mal loslassen, stürzen Sie in eine große Leere.«

»Durch Zufall kam mein Ruhm zu-stande, durch Zufall der Abbau mei-nes Ruhms. Als Dramatiker bin ich ein unvermeid liches Missverständ-nis.« Nicht nur in seinen Misserfolgen fühlte sich Dürrenmatt falsch ver-standen, sondern auch in seinen Er-folgen. Dürrenmatt lebte königlich mit wenig Geld, zum Verdruss vie ler, die ihn unterstützen und dafür De-mutsgesten erwarteten. Genau die hatte er aber immer verweigert, und er sollte sie auch nie verlangen, als er selbst zum Angepumpten wurde. Dürrenmatt wird mit seinem Reich-tum umgehen, wie er mit seiner Ar-mut umgegangen war: un-verschämt im Wortsinn.

Allerdings hatte er immer darauf hingewiesen, schwieriger als der Krieg sei der Frieden zu bestehen. Mutatis mutandis könnte das auch für den Umgang mit dem eigenen Wohlstand gelten: dass den Wohlstand zu »beste-hen« schwieriger sein könnte als das Überleben in Armut.

Einer Schweizer Fernsehzeitschrift, die ihn 1979 unzimper lich fragte, was ihm »das Erfolgsstück Der Besuch der alten Dame« eingebracht habe, ant-wortete er: »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Aber si cher hat mir die Alte Dame einige Millionen gebracht, doch ich habe diese Millionen wieder ausgegeben. Man gibt nämlich sehr schnell eine Million aus. Ich habe jetzt hier drei Häuser, ich habe immer ge-baut. Ich habe nicht viel Geld auf der Bank. Ich hatte nie ein Mietshaus. Ich finde es unmoralisch, dass Leute mir Geld geben würden, um zu wohnen. Ich muss immer noch schreiben, um überhaupt leben zu können. Ich lebe wie ein Millionär, aber ich kann nicht sparen. Man muss geizig sein, um Geld auf die Seite zu bringen!«•

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9Diogenes Magazin

Der erste bescheidene Wagen, den sich Dürrenmatt anschaffte, war

ein Opel Rekord. Am 5. Juli verzeich-net die Agenda: »Erste Fahrt im Wa-gen.« Am 10. Juli absolviert er die ers-te Fahrstunde, und am 11. notiert er: »Auto beschäftigt mich / Panne.« Be-zeichnend, dass nicht auszumachen ist, ob dies das neue Gefährt oder die Erzählung betrifft, in welcher der vom alten Citroën zum Studebaker aufgestiegene Handelsreisende Traps sich in sein Gericht verstrickt. Dann, am 4. Oktober: »Durchs Examen ge-fallen.« Da hatte seine Frau Lotti den Führerschein schon längst. Endlich, am 23. November, bestand auch Dür-renmatt die Prüfung. Dass über seiner automobilistischen Karriere ein glücklicher Stern gestanden hätte, wird keiner behaupten und jedermann verstehen, der je das zweifelhafte Ver-gnügen einer Ausfahrt mit Dürren-matt hatte. Es war schon eher eine Art höhere Vorsehung, die ihn durch alle Crashs rettete. Am 25. März fährt er nach Zürich, in Wohlen rennt ihm ein Knabe in den Wagen, ohne gravieren-de Folgen, aber immerhin taucht in Neuchâtel die Polizei auf (29. März 1957: »Polizei im Haus. Sie nehmen mich ein«). Das Dokument der Staats-

anwaltschaft des Kantons Aargau be-scheinigt, »ein Verschulden des Mo-torfahrzeugführers Fr. Dürrenmatt an der Kollison mit dem Knaben Bader« sei nicht nachzuweisen.

Es war der erste einer langen Reihe von Unfällen. Im Februar 1958 ver-merkt die Agenda: »Neuer Wagen«, nach dem kleinbürgerlichen Rekord nun ein bürgerlicher Opel Kapitän. Am 27. Juli 1958 fährt Dürrenmatt mit Vater Reinhold von Bern nach Herzo-genbuchsee, um am Grab von Groß-

vater Ulrich dessen 50. Todestags zu gedenken. Um einem Radfahrer aus-zuweichen, lenkt Dürrenmatt den Wagen in ein Feld. Vor Neujahr schließt er, in kluger Voraussicht, eine Vollkaskoversicherung ab. Es sollte nicht lange dauern, bis sie zum ersten Mal in Anspruch genommen wird. Auf der Rückfahrt von der Premiere von Frank V. (als hätte der Durchfall seines Lieblingsstücks nicht gereicht) stand am 21. März 1959 der »Kapitän« auf offener Strecke in Brand. Wenig

später, jetzt ist er mit einem Chevrolet Corvair unterwegs, ereignet sich im Wallis ein Unfall: Er bleibt mit aufge-rissener rechter Seite am Straßenrand stehen und kauft nach der Rückkehr stante pede einen silbergrauen Chev-rolet Impala, mit der Bemerkung: »Die Straße ist ein Schlachtfeld, ich habe die Möglichkeit, mir einen Tank zu kaufen, also beschaffe ich mir ei-nen.« Agenda 27. August 1959: »Be-schädigtes Auto.« Dem folgte ein blaumetallisierter Chevrolet Bel Air mit großen Heckflügeln. Oder war’s schon der grüne Buick mit Automa-tik? Mit einem davon schlitterte er je-denfalls auf dem Weg in die Ferien bei Les Échelles (Savoyen) gegen einen Pfeiler. Von da an fährt er fast nur noch große Amerikaner. Jörg Steiner, der ihn Mitte der sechziger Jahre mit einem Freund mit einem 2 CV be-suchte, erinnert sich, dass Dürrenmatt die beiden jungen Männer für ver-rückt hielt, sich »mit so wenig Blech vor dem Bauch in den Verkehr zu wagen«. Agenda 4. September 1965: »Auto zusammenstoß«, 8. Juni 1974: »Nach Neuchâtel. Autozusammen-stoß.« Und so weiterundsofort: »19. No-vember 1982 Autounfall«, »11. Septem-ber 1984 mit Charlotte bei Advokat Ribeaux. Auto gestreift.« »18. Feb ruar 1987: Moskau – Zürich – Neuchâtel. Un glück mit Wagen.« Wie heißt es in Turmbau? »Der Mensch am Steuer ist für jede Verkehrsordnung unbere-chenbar.« Dürrenmatt wusste, wovon er sprach.•Peter Rüedi

Dürrenmatt und das Auto ist ein schmerzensreiches Kapitel. Sozusagen eine einzige Panne, wie die Erzählung aus dem Jahr 1955 heißt, in dem sich Dürrenmatt sein erstes Auto kauft.

Der Mensch am Steuer ist für jede Verkehrsord-nung unberechenbar.

Der Bruchpilot

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Schon früh hat sich Dürrenmatt mit Vorliebe an Bordeaux gehalten,

und zwar mit wenigen Ausnahmen an rote. Die Absolution dazu erhielt er von seinem Freund Schertenleib, der einsah, dass Appelle zur Mäßigung bei diesem Patienten nichts fruchteten und schon viel erreicht war, wenn der sich an Weine ohne Restsüße hielt. An Bordeaux eben. Diese Diät war auszu-halten.

Jetzt, nach der Alten Dame, war er in der Lage, diese Ressourcen in grö-ßerem Maße sicherzustellen. Sein Lie-ferant war zuerst vornehmlich André Châtenay, der Ehemann der legen-dären Yvonne von Wattenwyl. Er führte eine Weinhandlung zwischen Colombier und Boudry und vertrat »einen alten Weinhändler in Bordeaux, der mehrere Schlösser besaß und nur noch Château d’Yquem trank und Austern aß« (eine nicht nur dem Dia-betiker wenig bekömmliche Mariage).

Weine aus der Region trank Dürren-matt nur, wenn es aus protokollari-schen Gründen nicht zu vermeiden war, etwa anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Neuchâtel. Max Frischs Vorliebe für Ostschweizer Blauburgunder (soge-nannte Beerli-Weine) verstand er so wenig wie Frisch Dürrenmatts oppu-lenten Umgang mit großen Bordeaux. Anfangs kaufte er auch gern noch ge-legentlich die Weine von Cordier, Château Talbot und Château Meyney, bei »Planteurs reunis de Lausanne«. Lynch-Bages mochte er schon früh, wie überhaupt die Weine aus Pauillac. Jetzt konnte er sich die besten leisten: Château Latour vor allem, Château Lafite und Mouton Rothschild.

In der Panne legte er noch ein paar fal-sche Fährten, kaum aus Ignoranz, sondern um sich einen Scherz mit sei-nen Lesern zu erlauben. Château Pi-

chon Longueville 1933 kann in den Fünfzigern keine Offenbarung mehr gewesen sein, so wenig wie der »Châ-teau Margot 1914«, der erstens falsch geschrieben ist (richtig: »Margaux«) und zweitens aus einer mäßigen Ernte stammt. Allein der »Château Pavie 1921« stammt aus einem großen Jahr-gang. Dürrenmatts eigenem.

Ein eigentlicher Quantensprung setzte ein, als er nach dem Bau des zweiten Hauses einen ganzen Keller aus dem Bordelais kaufte. Der Besit-zer von Château Villemaurine, ein kleiner, aber feiner Produzent im Saint-Émilion, unmittelbar vor den Toren des gleichnamigen Städtchens, war mehr für seine labyrinthisch ver-zweigten alten Kelleranlagen bekannt (allein dieses Labyrinth wäre für Dür-renmatt ein Kaufgrund gewesen, hätte er davon gewusst) als für den Wein selbst. Dürrenmatt kaufte, »für lum-pige 10 000.– Franken«, en bloc die

Noch bevor er zu Wohlstand kam, war Friedrich Dürrenmatt schon ein großer Weintrinker. Seinen legendären Weinkeller konnte er aber erst anlegen, als er für diesen Luxus in seinem zweiten Haus in Neuchâtel Platz geschaffen hatte: im großen Luftschutzkeller.

Peter Rüedi

Dürrenmatt und Wein

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Tusche-Zeichnung von Dürrenmatt, ca. 1963. Dürrenmatt hielt wenig von den Schweizer Weinen und belächelte

diesbezüglich seinen Schriftsteller-kollegen Max Frisch.

Links: Dürrenmatt, ca. 1963. Auf dem Foto eine Widmung an seinen Wein-händler: »An meinen lieben Freund,

Vater und Lehrer im Bordeaux- Wein genießen André Châtenay.

Alle die hier sichtbaren [und unsicht-baren] Bordeaux-Flaschen geliefert von

André Châtenay [le terrible]«.

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12 Diogenes Magazin

ganzen Bestände und verbreitete dar-über zwei Legenden. Nach der einen hatten die Ärzte dem Besitzer jegli-chen Alkoholkonsum verboten, und dieser habe den Gedanken nicht ertra-gen, den Rest seines Lebens über sei-nen verbotenen Schätzen zu verbrin-gen. Nach der andern habe dieser die Braut seines Sohnes und Erben so ge-hasst, dass ihn die Aussicht, die künf-tige Schwiegertochter könnte sich der großen Bestände über seinen Tod hin-aus erfreuen, das Ganze zu einem Schleuderpreis verkaufen ließ. Beide Versionen sind wohl eher Dürren-matt-Geschichten. Die Praxis, im Bordelais ganze Keller zu kaufen, be-hielt er bei. Er nannte das später »mei-nen Witwenwein«, weil es sich dabei hauptsächlich um Hinterlassenschaf-ten von lokalen Anwälten, Ärzten, Professoren handelte, deren ratlose Witwen mit den verstaubten Bouteil-len nichts anzufangen wussten. Mit der Zeit war seine Vorliebe für Bor-deaux so bekannt, dass ihm sogar aus Frankreich ganze Partien angeboten wurden.

Wie auch immer: Die Weine von Villemaurine waren überaus gepflegt, das heißt, sie waren regelmäßig neu verkorkt und der sogenannte Schwund ausgeglichen worden. Und zur Liefe-rung (deren Transport zwei Lastwa-gen benötigte) gehörte weit mehr als Eigenbau von Villemaurine. Die Herrschaften im Bordelais (ganz im Gegensatz zu den in der Regel eher bäurischen und eigenbrötlerischen Winzern im Burgund) unterhalten ge-genseitig einen gesellschaftlichen Ver-kehr in großem Stil, was auch heißt, dass sie unter sich ihre Weine austau-schen. Zudem war der Besitzer von Villemaurine auch ein wichtiger Händler. Auf einen Schlag hatte Dür-renmatt also in seinem Keller eine Zeitmaschine. Praktisch jedem Gast konnte er eine Bouteille seines Jahr-gangs dekantieren. Wenn auch nicht mir: 1943 war zwar nicht schlecht, aber die Ernte unter Kriegsbedingun-gen mager, und von dem Wenigen ging viel verloren; die deutschen Be-satzer soffen, wurden sie nicht ver-

Mir ist ein Besuch Mitte der siebziger Jahre unvergesslich. Zuweilen arbeitet auch der Kulturjournalist unter Ein-satz von Leib und Leber. Das Datum ist verblasst, wie die Tinte, mit der Dürrenmatt mir die Etikette eines 1928er Villemaurine signierte. Auch der Anlass ist mir entfallen – er wird wohl eher ein Vorwand gewesen sein. Es war die Zeit, da sich Dürrenmatt vom Theater verabschiedet hatte. Er arbeitete an dem, was später seine »Altersprosa« heißen sollte, vor allem an den Stoffen. Den Mitmacher-Kom-plex mit seinem weit über das Stück hinauswuchernden Nachwort und dem Nachwort zum Nachwort ver-stand die Kritik als Rechthaberei statt als akribische und schonungslose po-etologische Selbsterforschung. Sein Israel-Buch, Zusammenhänge, blieb fast unbeachtet (überhaupt hatte ihn nicht zuletzt sein Engagement für Is-rael aus der Gnade der tonangeben-den Feuilletons fallen lassen). Es war einsam geworden am Pertuis-du-Sault, und Dürrenmatt war dankbar für Ge-sellschaft. So entkorkte er bald eine Flasche Brane-Cantenac 1970, das war noch vorstellbar und im Keller eines 30-jährigen Redaktors auch vorhan-den. Schon der 1961er Pauillac (ich weiß nicht mehr, welcher) ging darü-ber weit hinaus, wie alles Weitere auf dem folgenden Abstieg in mythologi-sche Tiefen: ein 1955er Château Pal-mer, dann Villemaurine 1947, ein 1928er seines geliebten Latour. Zum ersten Mal im Leben trank ich dann Jahrgänge wie 1911 und 1904, um end-lich, mit Dürrenmatt als Cicerone, den endgültigen Abstieg in den Hades zu wagen: Ich meine mich an einen Wein von 1871 zu erinnern und einen Scherz Dürrenmatts, der habe schon angezeigt, dass die französische Kapi-tulation keine endgültige habe gewe-sen sein können. Fritz dekantierte mit rauschender Nonchalance, er schütte-te die Bouteillen in die Karaffe, als wär’s Rioja aus dem Supermarkt. Alte Weine trinken ist eine eigenen Kunst, wir jungen Spunde waren ihr niemals gewachsen. Immerhin merkten wir, dass die cadaveri eccellenti ihre eigene

steckt, auch die jüngsten Weine weg, die nicht versteckt oder in Hitlers Berghof oder in den Keller anderer Nazi-Größen abtransportiert wurden. Dürrenmatts eigener Jahrgang, das heiße Jahr 1921, wir sagten es, brachte außergewöhnliche Weine hervor. Der Glückliche hatte für alle künftigen Geburtstagsfeiern ausgesorgt (wäh-rend seine Frau Lotti über die 1919er, die er ihr zu Ehren öffnete, mit Grund

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Dürrenmatt hatte in seinem Keller eine Zeit-

maschine. Praktisch jedem Besucher konnte er

eine Bouteille seines Jahrgangs dekantieren.

die Nase rümpfte, der Jahrgang taugte nicht viel). Hoch willkommen waren, bis die beiden sich nach dem Basler Theaterkrach 1969 auseinanderlebten, Besuche von Werner Düggelin in Neuchâtel. 1929 war, nicht anders als das Jahr davor, ein Jahrhundertjahr-gang. Noch heute sagt Düggelin (wie viele andere auch), Dürrenmatt habe ihm das Bordeaux-Trinken beige-bracht.

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Würde haben. Um uns war ein Hauch von Kapuzinergruft. »Dämmerung senkte sich von oben, schon ist alle Nähe fern«, wer erinnert sich schon an ein Goethe-Gedicht: »Alles schwankt ins Ungewisse / Nebel schleichen in die Höh’ / Schwarzvertiefte Finster-nisse / Widerspiegelnd ruht der See.« Irgendwann kamen wir ins Bett, ir-gendwie, von Dürrenmatts Spezialität endgültig gefällt: Er liebte es, den letzten Schluck mit dem Satz in einen Schwenker zu gießen und die gleiche Menge Cognac zuzufügen. (Mit Cog-nac trieb er auch sonst gern Scherze. Marc Eichelberg, der Freund, erinnert sich, wie er im Münchner Hotel Vier Jahreszeiten einen Sommelier aus der Fassung brachte, indem er hinter des-sen Rücken einen Latour mit einem Viertel Cognac versetzte und den irri-tierten Gast spielte.) Fünf Stunden später hörte ich Schritte. Dürrenmatt war an der Arbeit. Seine Konstitution im Umgang mit Alkohol war un-glaublich.

Wenn auch nicht grenzenlos. Es wäre unredlich zu verschweigen, dass ihm zeitweise der Sinn ebenso nach Quantität wie nach Qualität stand (die für ihn ohnehin eine Selbstver-

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ständlichkeit war). Er war kein Wein-degustator, er war ein Weintrinker. Peter Bichsels Satz, »wäre im Wein kein Alkohol, es gäbe auf der Welt keinen einzigen Weinkenner«, wider-legte Dürrenmatt jedenfalls nicht. Im-mer wieder tauchen in den Agenden der sechziger und siebziger Jahre Stoßseufzer auf: »Zu viel getrunken«, »Weniger Alkohol!!!« Das betraf frei-lich auch, mehr noch als seinen, den Alkoholkonsum seiner Frau Lotti. Der machte ihm Sorgen, und er wuss-te, dass er ihm Vorschub leistete, wo-bei zu vermuten ist, dass er von den wahren Ausmaßen des Alkoholkon-sums seiner Frau entweder nichts wusste oder nichts wissen wollte. Je-denfalls wundert er sich in einem Brief an seinen Freund Tuvia Rübner, den israelischen Lyriker und Überset-zer, dass Lottis Leberwerte sich nach einer radikalen dreimonatigen Kur (während der sie mehr als fünfzehn Kilo abgenommen hatte) noch immer nicht normalisiert hatten. Es war einer der Momente, in denen er auch für sich Konsequenzen zog, nicht zuletzt aus Solidarität zu Lotti (aber auch auf Anraten seiner Ärzte). Im undatierten, sehr offenen Brief an Rübner (nach dem Empfänger vom 16.7.1978) schreibt er, nach Schilderung von Lot-tis Leidensweg: »Ich musste seit lan-gem wieder Insulin spritzen, mein Gewicht war nun auf 95 Kilo gestie-gen. Ich nahm nicht mehr als 1200 Ka-lorien zu mir, seit Mitte März brauche ich kein Insulin, und mein Gewicht ist nun 80 Kilo. Mein Fehler war, dass ich zu viel soff, meine Komödie: Jetzt trinke ich mäßig, aber vertrage nur noch Weißwein, den ich als Besitzer des berühmtesten – und berüchtigs-ten – Rotweinkellers der Schweiz über diesem – er ist unter meinem Arbeits-zimmer – mit meiner Frau trinke. Wir vertragen beide zusammen gerade noch hin und wieder eine Flasche Weißen – leider versetzte mich meine neue Lebensweise in eine Arbeitswut, die ich eigentlich noch nie an mir er-lebt habe.« Wie lang er sich daran ge-halten hat, ist nicht bekannt.•Peter RüediFo

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Der monumentale Dokumentarfilm von Charlotte Kerr: Nie war der Einblick in die Arbeitsweise und

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»DürrenmattsVermächtnis. Einesder letzten großen(deutschen) Werke

des 20. Jahr-hunderts.«

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Erzählende Prosa, Erinnerung, Philo sophie; Politik und Physik;

Bekenntnis und Entwurf. Es ist die Summe des Privatnachdenkers

Dürrenmatt und der Ansatz einer verweigerten Autobiographie und zugleich eine Art Poetik: Dürren-

matts Vermächtnis. Eines der letzten großen (deutschen) Werke des

20. Jahrhunderts.« Dieter Bach-mann / Die Zeit, Hamburg

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14 Diogenes Magazin

Als ich zum ersten Mal Dürrenmatt las, arbeitete ich als Buchhändler

in Zürich. Ich war als gestrandeter Gymnasiast aus der Provinz, aus Ein-siedeln, in diese neue, faszinierende Welt gekommen. Für mich war das wie ein Märchen – ich besuchte Aus-stellungen, ging ins Theater, ins Kino, manchmal dreimal am Tag. Es war Ende der vierziger Jahre, die große Zeit des Schauspielhauses, die Zeit der großen amerikanischen, französi-schen und italienischen Filme.

Ich hatte eine besondere Vorliebe für Groteskes, Satirisches, las gerne Heine, Busch, Morgenstern, Rin-gelnatz und (Erich) Kästner, Poe, Wil-de, Twain und (Evelyn) Waugh – und eben (Friedrich) Dürrenmatt. Von

Inzwischen hatte ich erfahren, dass er selber zeichnete, häufig auch Karika-turen – also genau das, was mich als Verleger interessierte.

Dürrenmatt wohnte oberhalb von Neuchâtel. Die erste Begegnung be-stätigte das Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte: Er war herzlich, natür-lich, umgänglich. Sein Humor beein-druckte mich gewaltig, sein enormes Wissen, seine Großzügigkeit, Unvor-eingenommenheit und Unabhängig-keit, seine Freude am Grotesken und Makabren, seine Menschlichkeit, sein demokratisches Benehmen – obwohl er bereits ein ›Dichterfürst‹ war.

Er war ein großer Esser und ein großer Trinker, und wir hatten einen ähnlichen Geschmack: Bordeaux und

1952 veröffentlichte Daniel Keel in seinem neu gegründeten Verlag das erste Buch – mit einem Vorwort von Dürrenmatt: »Als ich das erste Diogenes Büchlein mit Cartoons von Ronald Searle veröffentlichte, war Friedrich Dürrenmatt so freundlich, dieses skurrile verlegerische Debüt mit einem Vorwort zu unterstützen. Damals hätte ich mir nicht im Traum vorstellen können, einmal das Gesamtwerk dieses großen Autors zu verlegen.« Hier erzählt Daniel Keel Persönliches über den bewunderten Schriftsteller, der später Diogenes Autor und sogar zum Freund wurde.

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Romulus dem Großen an saß ich in je-der Zürcher Dürrenmatt-Urauffüh-rung, und ich kaufte mir seine Bücher, war verblüfft und begeistert – das war eine Sprache, die ich verstand.

1952 wurde ich selbst Verleger und ließ das erste Diogenes Buch drucken: Weil noch das Lämpchen glüht, Zeich-nungen von Ronald Searle. Dafür suchte ich ein Vorwort, sozusagen als Lokomotive, denn außerhalb von England war Searle unbekannt. Und so schrieb ich Dürrenmatt und schick-te ihm die Zeichnungen. Ich dachte mir, dass ihm das Makabre in Searles Zeichnungen gefallen würde. Ich täuschte mich nicht.

Erst Jahre später lernte ich Fried-rich Dürrenmatt persönlich kennen.

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15Diogenes Magazin

Käse. Bei einem anderen Besuch, Paul Flora war dabei, erkundigte er sich nach unserem Jahrgang, verschwand in seinem legendären Weinkeller und bot uns dann, zu unserem Erstaunen, Weine unserer Jahrgänge an. Die Wei-ne waren sensationell, wir tranken auch einen fast hundertjährigen, und Dürrenmatt zeigte uns die Kunst des Weintrinkens: Dekantieren, Tempe-rieren, Probieren. Paul Flora war so begeistert, dass er im Morgengrauen die leeren Flaschen den Berg hinun-terschleppte und sie als Souvenirs mit nach Hause nahm.

Ich hatte, wie gesagt, in jenen Jah-ren vor allem Karikaturen und Satiren im Diogenes Programm. In Dürren-matts Haus sah ich erstmals Originale seiner Zeichnungen und Gemälde, und so entstand 1963 das Diogenes Buch Die Heimat im Plakat, mit sei-nen bösen Karikaturen über den Schweizer Chauvinismus; er hatte sie während verregneter Ferien für seine Kinder gezeichnet, in dem Jahr, als in Zermatt der Typhus ausgebrochen

war. Der Spiegel druckte zwar mit ei-ner kleinen Rezension ein paar Zeich-nungen ab; die Schweizer Presse aber, allen voran die Neue Zürcher Zeitung, reagierte ziemlich sauer. Die Buch-händler waren auch nicht begeistert; das Buch war zu böse, zu kritisch, schockierend und also ein Flop.

Irgendwann in den sechziger Jah-ren war Dürrenmatt ein paar Wochen in Zürich, für Proben am Schauspiel-haus. Er pendelte zwischen Schau-spielhaus und Kronenhalle und kam eines Tages in meine Galerie in der Rämistrasse. Er erzählte tausend Ge-schichten, trank dazu eine halbe Fla-sche Whisky und bot mir das Du an. Ich fiel fast vom Stuhl und sagte: »Nein, das kann ich unmöglich an-nehmen.« Er schaute mich verständ-nislos an, und ich sagte: »Ich empfin-de zu viel Respekt für Sie.«

In meiner Galerie stellte ich 1978, nach langen Überredungsversuchen, zum ersten Mal Bilder und Zeichnun-gen von Dürrenmatt aus, in seiner ers-ten Einzelausstellung. Dazu machten wir ein zweites Buch: Bilder und Zeichnungen, mit einer glänzenden Einleitung von Manuel Gasser.

Später einmal lud er meine Frau und mich nach Basel ein, an die Fas-nacht, den ›Morgestraich‹; er hatte dort für seine Arbeit am Theater eine Wohnung gemietet. Rührend küm-merte er sich um seine Gäste, schlepp-te kistenweise Wein und Bier aus dem Keller, und als ich hörte, dass selbst die jüngsten Schnösel vom Theater mit ihm per Du waren, getraute auch ich mich endlich, den Meister zu duzen.

Mein Respekt war ja durchaus be-gründet. Dürrenmatt war ein Genie, überlebensgroß, als denkender und dichtender Universalist sprengte er alle Grenzen. Für mich war er immer wie ein Fels – ein Meteor im Salat der heutigen Literatur. Ich kenne keinen anderen zeitgenössischen Schriftstel-ler von dieser Bedeutung.

Für das Jahr 1981, zu Dürrenmatts 60. Geburtstag, wurde eine Gesamt-ausgabe vorbereitet, und ich bemühte mich bei seinem Verleger Peter Schif-ferli um eine Taschenbuchlizenz. Und Fo

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Daniel Keel, morgens um vier in Neuchâtel portraitiert von Friedrich Dürrenmatt, 1981

Daniel Keel als Galerist von Friedrich Dürrenmatt bei einer Vernissage in Zürich, 1961

Anna Keel und Friedrich Dürrenmatt mit einem druckfrischen Exemplar der Taschenbuch-Werkausgabe, Zürich, 1981

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zu kennen glaubt – wenn man ihn nicht kennt. Wenn man eine Hilfe

braucht bei der Auseinandersetzung mit den chaotischen Zeiten, in

denen wir leben, wenn man Freude an Gedanken und am Denken hat.« Maria Becker / Das Magazin, Zürich

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1979 rief Dürrenmatt mich dann aus heiterem Himmel an und fragte mich, ob ich sein Verleger sein wollte.

Einmal, nach einer verplauderten Nacht in seinem Haus in Neuchâtel, sagte er morgens um vier: »So, jetzt weiß ich, wie ich dich malen kann.« Wir gingen hinauf in sein Atelier, und da hat er mich, hundemüde, mit roten Augen und einem Glas in der Hand, portraitiert und mir das Bild ge-schenkt.

Heute erlebt Dürrenmatts Werk eine wahre Renaissance, und seine Theaterstücke werden wieder in aller Welt gespielt. Er war seiner Zeit vor-aus, in den letzten Jahren hatte er in schönen Manuskripten – er schrieb tatsächlich alles von Hand und in Blockbuchstaben, wie ein Mönch – unermüdlich Neues geschaffen; er war produktiver denn je. Sein Stil wurde immer moderner, farbiger, präziser. Er beherrschte alles – Drama, Prosa, Ly-rik, Essay, Satire, Parabel, Pamphlet. Er spielte einfach auf einem breiteren Klavier als andere.

Er hatte einen heiligen Zorn auf die Zustände in seinem Land und in der Welt und empfand darüber Trauer und Enttäuschung. Eine Rede wie sei-ne vieldiskutierte Havel-Laudatio ist nicht irgendeine Nationalfeiertags-rede, es ist politisch und literarisch eine Jahrhundertrede. Dürrenmatt sagte seine Meinung in einer Zeit, in der niemand mehr eine eigene Mei-nung hat oder sie zu äußern wagt.

Nach dem Havel-Empfang saßen wir noch bis morgens um drei zusam-men in einer Bar. Die letzten, äußerst angeheiterten Gäste merkten plötz-lich: Das ist doch dieser berühmte Dichter. Sie hielten ihn aber für Max Frisch und wollten mit ihm über Ar-chitektur diskutieren. Schließlich er-kannten sie Dürrenmatt, spendierten eine Runde Whisky, und einer von ihnen sagte: »Wissen Sie, Herr Dür-renmatt, ich bin nicht mit allem ein-verstanden, was Sie schreiben – aber im Prinzip haben Sie recht.«

Und Dürrenmatt brach in sein wun-derbares homerisches Lachen aus.•

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Serie

Denken mitFriedrich

Dürrenmatt

Diogenes Taschenbuch detebe 23493, 112 Seiten

Dürrenmatts Gedanken über Geld und Geist, Politik und

Philosophie, Literatur und Kunst, Gerechtigkeit und Recht,

Krieg und Frieden.

Denkenmit

FriedrichDürrenmatt

Diogenes

Michel de Montaigne

Im nächsten Magazin:

Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurück genommen werden.

Wer einen großen Skandal verheimli-chen will, inszeniert am besten einen kleinen.

Je planmäßiger die Menschen vor-gehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.

Nichts gegen die geistige Ausei-nandersetzung, alles gegen einen faulen Frieden. Aber vor allem alles gegen die für jeden denkenden Menschen beleidigende Einteilung in rechts oder links, in marxistisch und faschistisch, in progressiv und reaktionär, in diese dem Fort-schritt des Geistes hohnsprechenden mittel alterlichen Kategorien des Entweder-oder.

Dass der Mensch unterhalten sein will, ist noch immer für den Men-schen der stärkste Antrieb, sich mit den Produkten der Schriftstellerei zu beschäftigen. Indem sie den mensch-lichen Unterhaltungstrieb einkalku-

lieren, schreiben gerade große Schriftsteller oft amüsant, sie verste-hen ihr Geschäft.

Die Literatur muss so leicht werden, dass sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig.

Der Versuch der Schweiz, ewig neutral zu bleiben, erinnert an eine Jungfrau, die in einem Bordell zwar Geld verdienen, dabei aber keusch bleiben will.

Die Menschheit hat eine Diät nötig und nicht eine Operation.

Zum Schluss droht immer noch der Untergang der Menschheit. Nicht mehr eine bloße Hypothese, tech-nisch ist er möglich geworden. Für uns die schlimmste Wendung, aber für das Leben und für diesen Plane-ten die vielleicht beste.

Die Chance liegt allein noch beim Einzelnen. Der Einzelne hat die Welt zu bestehen. Von ihm aus ist alles wieder zu gewinnen. Nur von ihm, das ist seine grausame Ein-schränkung.

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Dürrenmatt-Zeich-nung im Diogenes Gästebuch, 1963

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Die PhysikerNach Fukushima aktueller denn je. »Dürrenmatt hat das ›5 vor 12‹ der Atomuhr in unser Gedächtnis geschrieben. Mit einem satanischen, irrwitzigen Gelächter« (Die Welt).

Frank V.Die Komödie einer Privatbank, die Gaunerei zur Geschäftsgrundlage gemacht hat und Pleite zum renta-belsten Geschäft. Eine prophetische Vision von Dürrenmatt, fast 50 Jahre vor der Finanzkrise von 2007.

Der PensionierteDieser Kriminalroman, dessen fresssüchtiger Held Gottlieb Höch-stettler dem Kommissär Bärlach aus Der Richter und sein Henker und Der Verdacht wie aus dem Gesicht geschnitten ist, ist Fragment geblie-ben. Zum Glück hat Urs Widmer einen möglichen Schluss geschrieben.

Der Mitmacher Ein Komplex

Der Staat übernimmt die Geschäfte der Unter-welt – und alle machen mit. »Von beklemmender Aktualität. Besser hat keiner den Zeitgeist heute, die Mitmacherei, die Anpasserei, die Sich- Duckerei gedeutet« (Reinhart Hoffmeister).

AchterlooTheater total: ein Stück über das Theater und die Welt. Dürrenmatts letztes Stück, sein Abschied vom Theater, vielleicht unspielbar, aber als Lektüre ein Genuss.

VersucheDer pefekte Einstieg für alle, die den Denker Dürrenmatt kennenlernen wollen: seine wichtigsten Essays über Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Politik, Literatur und Theater.

Die Stoffe»Ein Schlüsselwerk sowohl für Dürrenmatts intellektuelle Biogra-phie wie auch für sein Spätwerk« (Roman Bucheli / NZZ). Aber auch einfach ein Lese-Abenteuer und Ein-stieg in das Universum Dürrenmatt: »Die Geschichte meiner Schriftstelle-rei ist die Geschichte meiner Stoffe.«

Romulus der GroßeGestern Weltmacht, heute Hühner-hof. Ein herrlich freches und unter-haltsames Theaterspektakel über Dekadenz und Macht, mit einem der sympathischsten Antihelden des modernen Theaters.

GesprächeDürrenmatt war ein intensiver Ge-sprächspartner: Im Dialog entwickel-te er seine Gedanken und Stoffe. Die vierbändige Ausgabe der Gespräche ist die umfangreichste eines deutsch-sprachigen Schriftstellers.

»Dürrenmatts Lebenswerk ist so umfangreich und vielgestaltig wie das kaum eines anderen modernen Schriftstellers. Das bildnerische Œuvre zunächst gar nicht gerechnet, umfasst es Dramen und Erzählungen, Romane und Essays, Hörspiele und Drehbücher in weit über 30 Bänden. Dieses so unverwechselbare Riesenwerk ist auch nach dem Tod seines Autors ein dunkler Kontinent, vielfach unerhellt und unerprobt, ein Kontinent in Bewegung, für geistige Überraschungen und theatralische Abenteuer wohl noch lange gut« (Gert Ueding / Die Welt, Berlin). Aber mit welchem Buch von Dürrenmatt anfangen? Hier sind neun Büchertipps – zum Lesen oder Wiederlesen.

»Dürrenmatt ist ein Koloss der Literatur. Sein Werk

ein Kontinent.« Jochen Hieber, FAZ

Die Dürrenmatt-Werkausgabe ist in 37 Diogenes Taschenbüchern lieferbar

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Im Sommer 1989 schenkte Friedrich Dür-renmatt der Schweiz seinen literarischen Nachlass. Doch die Schenkung war nicht bedingungslos: Die Eidgenossenschaft ver-pflichtete sich, ein Literaturarchiv einzu-richten, ähnlich dem Deutschen Literatur-ar chiv in Marbach. Das Schweizerische Literaturarchiv wurde am 11. Januar 1991 eröffnet – und feiert dieses Jahr sein zwanzigjähriges Bestehen.

Am 27. Juni 1989 unterzeichneten Fried-rich Dürrenmatt und Bundesrat Flavio Cotti den Vertrag zur Gründung des Schweizerischen Literaturarchivs. Ganz rechts Alfred Defago, Direktor des Bun-desamtes für Kultur

Seit der Gründung residiert das Schweize-rische Literaturarchiv im Gebäude der Schweizerischen Nationalbibliothek in der Hallwylstrasse 15 in Bern.

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j’avais mille ans.« Ich habe mehr Erin-nerungen, als wenn ich tausend Jahre alt wäre. So beschreibt sich eine Exis-tenz, die mit ihrer Vergangenheit lebt wie unter dem Gerümpel eines über-stellten Dachbodens.

Eine Institution wie das Literaturar-chiv wird von den Aufgaben des Erin-nerns und des Vergessens in funda-mentaler Weise gefordert. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die kulturelle Öffentlichkeit solche Fragen mit er-staunlicher Sorglosigkeit behandelt. Es gibt dafür ein Symptom. Man achte darauf, wie die Medien im Zusam-menhang mit der Literatur das Wort vergessen gebrauchen. Am häufigsten geschieht es so: Ein Journalist stößt auf einen älteren Schriftsteller, von dem er noch nie gehört hat, und er-

Ohne Erinnerung sind wir geistig tot. Ohne Vergessen sind wir

seelisch gelähmt. Eine seltsame Wirt-schaft. Sie betrifft auch die Kultur. Wenn das kulturelle Gedächtnis ver-schwindet, haben wir keine Maßstäbe mehr für die Leistungen der Gegen-wart. Wenn wir nur noch die kulturel-le Vergangenheit sehen, verschwindet die schöpferische Lust auf das Neue.

Die Notwendigkeit des Vergessens ist uns weniger bewusst als die Not-wendigkeit der Erinnerung. Dabei können wir bei den Kindern sehen, wie unbekümmert sie trotz ihrer jun-gen Gehirne vergessen, was ihnen ein-geprägt oder aufgetragen wurde. Ge-rade die jungen Gehirne trainieren auch die Kunst des Vergessens. Dage-gen sagt der Melancholiker bei Baude-laire: »J’ai plus de souvenirs que si

Das Schweizerische Literaturarchiv in Bern ist die literarische Schatzkammer der Eidgenossen-schaft. In den Hunderten von Regalmetern lagern zum Beispiel die handschriftlichen Korrektu-ren zu Friedrich Dürrenmatts letzter Werkausgabe, die Manuskripte von Friedrich Glauser, aber auch die bis heute unveröffentlichten Notizbücher von Patricia Highsmith – Prunkstücke aus über 250 Nachlässen, 60 Autorenbibliotheken und den Archiven vieler lebender Schwei-zer Autoren und Autorinnen. Ohne Friedrich Dürrenmatt würde das Archiv nicht existieren – warum, das erzählt der Germanist Peter von Matt.

Peter von Matt

Vom literarischen Gedächtnis der Schweiz

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klärt reflexartig, dieser Autor sei ›heu-te vergessen‹. Heute vergessen – das ist eine Formel, die es in sich hat.

Einerseits entbindet sie den, der sie braucht, von der Mühe, eine Autorin, einen Autor überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Andererseits unterstellt sie, es gebe eine definierte Summe dessen, was im Bereich der Literatur allgemein bekannt sei. Was nicht da-zugehört, ist heute vergessen und braucht daher auch weiter niemanden zu interessieren. Kürzlich las ich in ei-ner angesehenen Zeitung, die Werke von Heinrich Böll seien heute verges-sen. Diese sachlich vor gebrachte Fest-stellung ist vernichtend. Statt sich der anregenden Frage zu stellen, wie ein Nobelpreisträger 25 Jahre nach seinem Tod gesehen und eingeschätzt wird, stößt man ihn mit seinem gesamten

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Werk ins Nichts. Oft wird diese Dia-gnose auch in die Vergangenheit pro-jiziert, mit ähnlicher Fahrlässigkeit. So war unlängst zu lesen, Wilhelm Tell sei, bevor Schiller sein Stück ge-schrieben habe, in der Schweiz völlig vergessen gewesen. Dass nur der in-tensive Kult, den das 18. Jahrhundert und die Französische Revolution mit unserem zielsicheren Helden trieben, diesen Stoff für Schiller attraktiv machte, ging dabei elegant verloren. Ein näherliegendes Beispiel ist die Ih-nen allen bekannte Feststellung, wo-nach Robert Walser bei seinem Tod 1956 gänzlich vergessen gewesen und erst in den siebziger Jahren wiederent-deckt worden sei. Tatsache aber ist, dass der glänzende Kritiker Max Rychner in seinem Nachruf auf Wal-ser bereits auf die entstehende Ge-samtausgabe hinwies und den wun-derbaren Satz anfügte: Durch diese Ausgabe »wird die Einzigkeit dieses anders als wir versponnenen, anders als wir wachen Dichters erst ganz sichtbar, nämlich so, wie sie es ver-dient und wie wir es noch nicht ver-

dient haben, sondern erst verdienen müssen«. Und sein ebenso bedeuten-der Kollege Werner Weber ging in ei-nem Essay zu Walsers Tod auf die Modernität des Dichters ein: »In Wal-sers feinem Rundgang wird die Welt ohne Ziel und Herkunft vorsichtig bis zur Zierlichkeit besucht, abgesucht; […] und je genauer und kleinlicher Walser dann einen Ort bezeichnet und benennt, desto mehr löst sich dieser Ort in ein unmessbares All auf.« Schreibt man so über einen Vergesse-nen?

Heute vergessen / damals vergessen  – der Ausdruck hat immer etwas Groß-spuriges. Wer ihn gebraucht, erklärt damit seinen eigenen Kenntnisstand für allgemeinverbindlich. Erinnern und Vergessen von Literatur ereignen sich aber nie auf einer einzigen Ebene. Wir stehen vielmehr vor einem kom-plexen Gefüge unterschiedlicher In-stanzen und Akteure, die miteinander untergründig verbunden sind. Schon innerhalb der Medienöffentlichkeit

gibt es große Unterschiede zwischen den Tagesnachrichten, die nur Promi-nenz und Preise kennen, und einem Kulturjournalismus, der von Fachleu-ten verantwortet wird. Was dort als vergessen gilt, kann hier zum gesi-cherten Bestand zählen.

Viel ausgeprägter noch ist die Diffe-renz zwischen der medialen und der akademischen Welt. In der universitä-ren Forschung kann das angebliche Vergessensein sogar zum inspirieren-den Stimulus werden. Dazu tritt die geographische Differenzierung. So wie es Autorinnen und Autoren von loka-ler, regionaler, nationaler und interna-tionaler Bedeutung gibt, gibt es auch eine je andere kulturelle Erinnerung. Gerade regionale Autoren können eine wichtige Funktion im Selbstver-ständnis ihrer Kantone und Landes-teile haben, können dort sogar länger fortbestehen als nationale Figuren. Wenn ein Schriftsteller unsterblich werden will, sollte er in einer Klein-stadt leben. Da bekommt er oft schon zu Lebzeiten einen Brunnen gewid-met, und nach dem Tod wird mit Si-

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Wo einst Friedrich Dürrenmatt lebte, schrieb und malte, steht heute ein Museum, das sein künstlerisches und literari-sches Schaffen beherbergt. Dies ist der Initiative von Char-lotte Kerr Dürrenmatt zu verdanken, die das alte Wohnhaus mit dem steil abfallenden Garten der Eidgenossenschaft zur Verfügung stellte – mit der einzigen Auflage, dieses in das Gesamtkonzept eines neu zu errichtenden Centre Dürren-matt nach dem Plänen von Mario Botta zu integrieren. Im September 2000 schließlich wurde das CDN eröffnet.

Der Neubau des Schweizer Ar-chitekten und Dürrenmatt-Be-wunderers Mario Botta. Erste Ideen für diesen Bau entwickel-te er bereits 1992, im Mai 1998 wurden die Bauarbeiten begon-nen und im September 2000 ab-geschlossen.

Das Wohnhaus, das Dürrenmatt seit 1952 bewohnte, inklusive seiner Bibliothek und seiner geliebten »Sixtinischen Kapelle« (der Toilette), wurden in den modernen Neubau gelungen in-tegriert.

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cherheit eine Gasse nach ihm benannt. In den Metropolen gibt es für derlei keine Garantie. Es ist aber keineswegs ein Provinzphänomen, wenn die Re-gion oder die Kleinstadt ihren Dich-tern die Treue besser hält als die gro-ßen Zentren. Es kann auch das Zeichen für eine höhere Erinnerungs-kultur sein.

Das literarische Gedächtnis ist also niemals identisch mit einer imaginä-ren Namensliste. Zu seinen Instanzen und Akteuren gehören neben den Me-dien, den Schulen, den Universitäten und den Kulturbehörden auch die Verlage, gehören die Bibliotheken und Archive. Es kommt nicht selten vor, dass sich ein Verlag im Dienste eines Autors verschuldet, der aus der Me-dienöffentlichkeit verschwunden ist und dem die Rückkehr dorthin dann trotzdem verweigert wird. Aber es kann auch sein, dass eine andere Instanz diesen Impuls doch noch aufgreift, ein wacher Kopf an der Uni-versität zum Beispiel oder ein Litera-turhaus, das nicht dem Mainstream nachläuft, sondern die eigenen Ohren

Jede Generation steht auch vor der Aufgabe, ihre eigene Vergangen-heit neu zu gewinnen.

in den Wind stellt. Und jetzt setzt Er-innerungsarbeit ein und pflanzt sich fort, unaufdringlich, aber als lebendi-ges Geschehen.

Nicht selten ist es übrigens die spontane Begeisterung Einzelner, die solche Prozesse in Bewegung setzt, wie denn überhaupt die einsamen Kenner auf diesem Felde nicht verges-

wig Hohl und Robert Walser wesent-lich von den Schriftstellern mitgetra-gen worden. Im Allgemeinen aber halten sie sich mehr zurück, als nötig wäre.

Die magischen Erzählstimmen von Regina Ullmann oder Adelheid Duva-nel, die lyrischen Intonationen von Pierre Imhasly oder Werner Lutz, die geschliffene Essayistik von Denis de Rougemont oder Herbert Lüthy wür-den es verdienen, auch von den Kolle-ginnen und Kollegen einmal öffent-lich angesprochen zu werden. Und schließlich sind hier noch die monu-mentalen Leistungen der kritischen Editionen unserer Gegenwart zu er-wähnen. Die Jacob-Burckhardt-Aus-gabe, die Keller-Ausgabe, die Bräker-Ausgabe, die Ramuz-, die Walser-, die Meyer- und die Gotthelf-Ausgabe sind Werke des Gedenkens und der Textsicherung, die über Jahrhunderte hin ausstrahlen werden, aber eher taucht ein Walfisch im Leutschenbach auf, als dass einer dieser Obelisken unserer nationalen Kultur in einer Ta-gesschau Erwähnung fände.

sen werden dürfen. Von ihnen, die man bald als Eigenbrötler, bald als eli-tär verschreit und die keine Institution zur Verfügung haben, können folgen-reichste Anstöße ausgehen. Auch die Schriftsteller selbst wären hier eigent-lich gefordert. Sie sind ja in der Regel sehr eigenwillige Leser, und ihr Wort hat Gewicht. So ist der Kult um Lud-

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Die Dauerausstellung im Centre Dürrenmatt ist dem umfangreichen und vielseitigen Bildwerk von Friedrich Dürrenmatt gewidmet. Parallel dazu werden regelmäßig Wechselausstellungen gezeigt, die mit Motiven und Themen des Schriftstellers und Malers in Verbindung stehen.

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Diogenes Magazin2222 Diogenes Magazin

Friedrich Dürrenmatt: Notizheft mit der ersten Idee zu ›Der Besuch der alten Dame‹Auf der Fahrt im gemächlichen Regionalzug zwischen sei-nem Wohnort Neuchâtel und Bern, wo seine Frau Lotti im Spital lag, hatte Dürrenmatt im März 1955 den zündenden Einfall für die Inszenierung seiner mörderischen Heimkeh-rergeschichte, mit der er sich schon länger trug: der Bahnhof als Scharnierstelle zwischen dem isolierten Städtchen Güllen und der Welt, Szene des gescheiterten Empfangs der Milliar-därin wie des Abschieds nach dem Vollzug ihrer Rache.

Friedrich Glauser: Zeugnis der Dienste in der französi-schen FremdenlegionSein Leben war ein permanentes Scheitern an den bürgerli-chen Maßstäben, die dem 1896 in Wien Geborenen vom Schweizer Vater als Zwangsjacke angezogen wurden. Dro-gensucht, Kleindelikte und Aufenthalte in der psychiatri-schen Klinik prägten seine Biographie. Der Ausbruch in die Fremdenlegion 1921 war eine weitere Katastrophe, deren fruchtbaren Ertrag die Romane ›Gourrama‹ und ›Die Fie-berkurve‹ bildeten.

Hugo Loetscher: Alter Reisepass mit Visa-Stempeln von Kambodscha und ThailandEr war der große Reisende unter den Deutschschweizer Au-toren. Weltoffenheit und Multikulturalität waren ihm kein Lippenbekenntnis, sondern gelebte Existenz. Sein »Go East« in den Fernen Osten setzte um 1970 ein und wiederholte sich später immer wieder. Den kritischen Blick für die Verrückt-heiten der Globalisierung verband er mit der Liebe zu den vielfältigen lokalen Traditionen in der ganzen Welt.

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Hermann Hesse: Korrigierte Reinschrift zum Roman ›Der Steppenwolf‹Mit diesem Roman schrieb sich der 50-jährige Hesse 1927 in die Weltliteratur ein. Legionen von Jugendlichen von der Weimarer Republik bis in die USA der amerikanischen Hip-pies um 1970 ließen sich von der bürgerlichen Krisenerfah-rung und Ausbruchsphantasie anregen – und für die Literatur begeistern.

Die Reiseschreibmaschine von Patricia HighsmithSeit sie 1950 mit ihrem ersten Kriminalroman ›Zwei Fremde im Zug‹ das nötige Geld für die Überfahrt verdient hatte, reiste die Amerikanerin Patricia Highsmith während Mona-ten in ganz Europa herum. Die Schreibmaschine war ihre stetige Begleiterin auf den Reisestationen zwischen Sizilien und Sussex, Griechenland und Gibraltar. In der zweiten Le-benshälfte wurde sie sesshafter, die letzten fünfzehn Jahre bis zu ihrem Tod 1995 verbrachte sie ruhig und zurückgezogen im Tessin.

Ein »Cahier« von Patricia HighsmithIn 39 Studienheften der Columbia University notierte Highsmith Reflexionen, Beobachtungen und literarische »Keime«. Ein unerschöpfliches Reservoir der düsteren Phan-tasie der Wahleuropäerin und Heimwehtexanerin entstand so über die Jahrzehnte, aus dem sie ihre Erzählungen und Romane destillierte. Im vorliegenden Heft, auf dessen Um-schlag die Lebensstationen zwischen August 1968 und De-zember 1969 festgehalten sind, finden sich unter vielem an-derem die Ansätze zum Roman ›Ripley Under Ground‹.

Schätze aus dem Schweizerischen

LiteraturarchivAusgewählt und kommentiert von

Ulrich Weber

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Gewiss, auch das Vergessen ist nö-tig. Mit dem Bewusstsein von Baude-laires Melancholiker kann man kein unternehmungslustiges Leben führen. Jede Generation muss Ballast abwer-fen, so wie die Kinder, wenn ihre El-tern sterben, die Dinge, mit denen diese gelebt haben, haufenweise vom Brockenhaus abholen lassen. Aber jede Generation steht auch vor der Aufgabe, ihre eigene Vergangenheit neu zu gewinnen. Deshalb muss die Schweizer Geschichte nochmals und nochmals geschrieben werden. Über-dies gilt die Regel: Was von einer Ge-neration radikal verabschiedet wird, kann schon für die übernächste wie-der brennend aktuell sein. Selbst wo Vergessen lebensnotwendig ist, wo das Mobiliar der Eltern entsorgt wer-den muss, damit die Kinder atmen können, darf also der Weg zurück nie ganz verbaut werden.

Doch wie soll das geschehen? Kann man entsorgen und bewahren zu-gleich? Niemand kann heute wissen, was an der kulturellen Produktion un-serer Gegenwart in hundert Jahren fasziniert. Was ist da zu tun? Zu tun ist genau das, was das Schweizerische Literaturarchiv tut. Es unternimmt den riskanten Spagat zwischen Erin-nern und Vergessen, zwischen Ent-sorgen und Bewahren. Es will den kommenden Generationen den Weg freihalten zurück zu jener Vergangen-heit, die für sie einmal lebenswichtig sein wird, obwohl wir selbst davon noch keine Ahnung haben. Die höh-nische Parole heute vergessen ist hier kein Todesurteil, sondern ein Anlass zu erhöhter Aufmerksamkeit.

In Anbetracht seiner Unersetzlich-keit ist dieses Literaturarchiv erstaun-lich jung. Wie kam es überhaupt dazu? Da ich ein Augenzeuge der im wörtli-chen Sinne ersten Stunde war, darf ich mich hier öffentlich daran erinnern. Die Idee eines nationalen Archivs tauchte in der Schweiz seit den fünfzi-ger Jahren immer wieder auf. Es ent-stand aber nie eine breite Willensbil-dung in Öffentlichkeit und Politik. Denn erstens besaß man ja die Archi-

ve der kantonalen Bibliotheken, und zweitens erschien bei jeder Forderung nach einem nationalen Literaturarchiv wie in Flammenschrift jenes Schick-salswort an der Wand, das hierzulan-de über Sein und Nichtsein entschei-det: »Das choschted aber.«

Zu Beginn der achtziger Jahre war das Max-Frisch-Archiv gegründet worden, und als Präsident der Stiftung hatte ich in der Folge schmerzlichen Anteil nehmen können an den finanzi-ellen Zwangslagen einer solchen Schöpfung. Am 23. Juli 1987 nun wur-de ich vom kaufmännischen Leiter des Diogenes Verlags, Rudolf C. Bett-schart, zu einem internen Gespräch

ser an den Hals zu setzen und zu sa-gen: »Ihr bekommt den Nachlass des großen Friedrich Dürrenmatt, wenn ihr ihn zum Grundstein eines natio-nalen Literaturarchivs macht.« Durch das gewaltige Geschenk, dachten wir, könnten jene drei ominösen Wörter an der Wand, das choschted aber, neu-tralisiert werden, Dürrenmatt hätte ein zunächst nur für ihn eingerichte-tes wissenschaftliches Archiv, und die literarische Schweiz bekäme endlich ihre lang ersehnte Institution der Be-wahrung und Betreuung.

Das Groteske an der Situation war natürlich, dass der Hauptakteur von allem nichts wusste. Die Szene erin-nerte durchaus an eine Intrigantenver-sammlung in einem Dürrenmatt-Stück. Und wie es auf dem Theater stets den Mann braucht, der uner-schrocken zur Tat schreitet, fand sich dieser hier in der Person von Peter Nobel. Er nahm die Sache in die Hand, und wie er das tat, darob steht mir in der Erinnerung heute noch der Mund offen. Über die einzelnen Schritte wird er wohl selbst eines Tages Be-richt ablegen. Ich kann nur sagen, dass ich nie in meinem Leben einem so un-gestümen, zielsicheren, von keinen Bedenken eingeschüchterten Vorge-hen beigewohnt habe.

Schon zwei Wochen später, am 10. August, trafen Nobel und ich in Bern Alfred Defago, den damaligen Direktor des Bundesamtes für Kultur, um erste Sondierungen anzustellen; im Frühling darauf, am 29. April 1988, fuhren wir mit ihm und weiteren Mit-arbeitern des Bundesamtes nach Mar-bach bei Stuttgart, um im Deutschen Literaturarchiv zu studieren, wie so etwas eigentlich aussieht. Ich weiß noch, wie Defago bei der Heimreise sagte, dass eine solche Institution alle Möglichkeiten der Schweiz weit über-steige, und wie Peter Nobel dazu nur lachte. Vom anschließenden, alles ent-scheidenden Geschehen, den Gesprä-chen mit Friedrich Dürrenmatt, weiß ich nichts. Ohne sein Jawort wäre das Ganze eine Seifenblase geblieben. Dass er zustimmte, war die entschei-dende Tat, eine kulturelle und staats-

Dass Dürrenmatt zustimmte, war die ent-scheidende Tat, eine

kulturelle und staatsbür-gerliche Leistung.

gebeten, an dem auch der Verleger Daniel Keel und der juristische Bera-ter des Verlags, der Anwalt Peter No-bel, teilnahmen. Es ging um die Frage, was mit dem Nachlass des Diogenes Autors Friedrich Dürrenmatt eines Tages geschehen könnte, was da über-haupt möglich und denkbar wäre. Zum Beispiel gab es die Vorstellung eines Dürrenmatt-Archivs in Zürich, in der Nähe des Verlags, der ja die Ma-terialien in jedem Fall editorisch zu betreuen haben würde.

Aufgrund meiner erwähnten Erfah-rungen rechnete ich vor, was eine sol-che Institution kostet, und sagte, was ich immer sage: »Nachlässe gehören in die öffentliche Hand.« Das leuchte-te zwar ökonomisch ein, verband sich aber mit einem Unbehagen. Der Ver-lag hatte ein berechtigtes Interesse an einem bevorzugten Zugang zum un-veröffentlichten Werk. Die Diskussi-on lief besorgt hin und her, als plötz-lich der Gedanke auftauchte: Das wäre doch jetzt die Möglichkeit, der Eidgenossenschaft behutsam das Mes-

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bürgerliche Leistung, mit der sich Dürrenmatt auf eine neue Weise in die Geschichte unseres Landes einschrieb.

Nun musste es nur noch offiziell werden, und darüber ergab sich eine weitere Szene im Stil eines Dürren-matt-Stücks. Im Hotel Bellevue in Bern traf sich am 9. Dezember 1988 Friedrich Dürrenmatt mit dem Vor-steher des Eidgenössischen Departe-ments des Innern, Bundesrat Flavio Cotti, der von Alfred Defago und ei-nigen Mitarbeitern begleitet wurde; Peter Nobel und ich waren auch dabei. Dürrenmatt sollte hier dem Bundesrat seine verbindliche Zustimmung ge-ben. Er war in guter Stimmung und erfüllt von seinem aktuellen Nach-denken. Schon bei der Vorspeise be-gann er über das Weltall zu referieren, über dessen Anfang und auch sein Ende, insbesondere über das Ende der Erde, welches sich ereignen wird, wenn unsere Sonne zu einem soge-nannten Roten Riesen aufschwillt und alle ihre Planeten verbrennt. Wir hör-ten gesammelt zu, nur der Bundesrat räusperte sich gelegentlich und ver-suchte, das Gespräch in die politisch vorgesehene Richtung zu lenken.

Aber Dürrenmatt ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Er kam vom Andromedanebel auf den Orionnebel und von diesem auf den Sirius und zu dessen winzigem Begleiter, der einst selbst ein Roter Riese gewesen und dann zu einem sogenannten Weißen Zwerg geschrumpft war. Eine gewisse Beklemmung machte sich in der Run-de breit, denn auch der Hauptgang, es gab gezöpfelte Forellen, war nun schon langsam vorbei. Was geschieht, dachten wir, wenn Dürrenmatt ein-fach nichts sagt und sich am Ende freundlich verabschiedet? Er hatte dieses feine Lächeln im Gesicht, das ich später bei seiner Rede über »die Schweiz als Gefängnis« wieder sehen sollte, als er mit der heitersten Miene die grimmigsten Dinge äußerte. Da kam es zu einer dramatischen Steige-rung.

Plötzlich sprang die Tür auf, und ein Bundesweibel betrat den Raum,

ging mit wehendem Mantel zu Bun-desrat Cotti hin und flüsterte ihm et-was ins Ohr. Cotti schien zu erblei-chen, erhob sich mit einer flüchtigen Entschuldigung und verließ den Raum. Wir blickten uns ratlos an. Nur Dür-renmatt blieb völlig gelassen und kam nun vom Weltall auf das menschliche Gehirn zu sprechen. Insbesondere das Verhältnis zwischen dem Gehirn und dem Auge bewegte ihn tief, während bereits das Dessert serviert wurde. Zum ersten Mal bemerkte ich nun auch bei Peter Nobel eine gewisse Ir-ritation. Im Hintergrund zeigte ein leises Klirren an, dass der Kaffee be-reitgestellt wurde.

Da erschien der Bundesrat wieder, setzte sich ohne weitere Erklärung an den Tisch und hörte von neuem zu. Aber es hatte sich seiner jetzt doch so etwas wie eine andere Entschlossen-heit bemächtigt, denn plötzlich unter-brach er den Schriftsteller und kam auf das Geschäft des Tages zu spre-chen, die Frage des Nachlasses. Dür-renmatt tat die Sache mit einem kur-zen Satz ab: »Ja, ja, ihr könnt das haben, aber ihr müsst dann so ein Ar-chiv einrichten.« Jetzt waren alle er-löst. Helle Freude erfasste die Runde, und selten wurde ein Kaffee mit sol-cher Begeisterung getrunken. Auf dem Heimweg aber erfuhren wir, dass Bundesrätin Elisabeth Kopp während dieses Treffens den Bundesrat über das lange verheimlichte Telefonge-spräch mit ihrem Mann in der soge-nannten Shakarchi-Affäre unterrich-tet hatte, weswegen sie drei Tage später zurücktreten musste. Friedrich Dürrenmatt hatte erneut unter Beweis gestellt, dass er jederzeit und überall mit den Grundkräften der Weltge-schichte in Verbindung stand.

So hat das literarische Gedächtnis der Schweiz im Schweizerischen Lite-raturarchiv seine großartige Verkör-perung gefunden. Wenn es zu den bedenklichen Seiten unseres Litera-turbetriebs gehört, dass Schriftstelle-rinnen und Schriftsteller, die man ein-mal lautstark gefeiert hat, oft wenige Jahre später unbekümmert fallenge-lassen werden, und wenn die Floskel

heute vergessen unsere Öffentlichkeit eher zu erleichtern als zu bekümmern scheint, so besitzen wir in diesem Ar-chiv eine mächtige Gegenkraft, ein Bollwerk des kreativen Erinnerns, und wir sollten den Frauen und Män-nern, die es so kompetent aufgebaut haben, es täglich erweitern und wis-senschaftlich auswerten, unseren Dank nicht nur am heutigen Feiertag aussprechen.•Festrede anlässlich der Feier zum zwanzigjährigen Be-stehen des Schweizerischen Literaturarchivs in Bern am 14. Januar 2011.

Buchtipp

224 Seiten, Carl Hanser VerlagISBN 978-3-446-23298-3

Diogenes Taschenbuchdetebe 23006, 256 Seiten

Mit Lust und Liebe, mit List und Tücke bringt Peter von Matt Gedichte

und Leser zusammen. Einer der intelligentesten und witzigsten Interpreten der kleinen Form

erschließt uns in diesem Buch sechzig lyrische Fundstücke oder Klassiker.

Sein Leben lang hat Friedrich Dürrenmatt über die Schweiz nachgedacht und geschrieben,

von seiner ersten großen Erzählung Die Stadt bis zu seiner radikalen Havel-Rede 1990. Ein Lesebuch.

FriedrichDürrenmatt

Meine Schweiz

Ein Lesebuch

Diogenes

FriedrichDürrenmatt

Meine Schweiz

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Diogenes

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Buchtipp

Sein Leben in BildernDiogenes

DürrenmattDürrenmatt

Sein Leben in BildernDiogenes

ca. 304 Seiten, 22 x 27 cm, Leinen, VierfarbendruckISBN 978-3-257-06766-8

NOVEMBER

Die Lebensgeschichte von Friedrich Dürrenmatt in Bildern.

Mit vielen Texten aus dem Nachlass und Hunderten von unveröffent-

lichten Fotos aus dem Privatarchiv des Autors und von Charlotte

Kerr Dürrenmatt.

Konolfingen im Emmental, im Vordergrund die »Milchsiederei« mit dem Kamin, im Hintergrund die Kirche von Konolfingen mit dem Pfarrhaus, in dem Dürrenmatt am 5. Januar 1921 als

Sohn des reformierten Pfarrers geboren wird

Seit der Schulzeit ist Dürren-matt fasziniert von der Astronomie und beobachtet, beschreibt, zeichnet und malt sein Leben lang den Sternen-himmel, die Planeten und den Weltraum. Bleistift- Zeichnung des 12-Jährigen

Die Zeichnung ›Schweizer-schlacht‹ ist Dürrenmatts »Erstveröffentlichung«. Sie wurde 1934 im ›Pestalozzi-Kalender‹ abgedruckt. Der 13-Jährige wurde dafür mit einer Uhr ausgezeichnet.

Dürrenmatt mit seiner Schwes-ter Verena: »Ich war ein

kriegerisches Kind. Oft rannte ich als Sechsjähriger im Garten

herum, mit einer langen Bohnenstange bewaffnet, einen

Pfannendeckel als Schild, um endlich meiner Mutter erschöpft

zu melden, die Österreicher seien aus dem Garten gejagt.« Schon bald malte Dürrenmatt

lieber Schlachten, als sie nachzuspielen.

Links: Friedrich Dürrenmatt, ca. 1943, und das Faksimile eines autobiographischen Textes, 1957

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Dürrenmatt in den 1940er-Jahren. »Ich wollte ja eigentlich Maler werden.« Dass er Künstler werden muss, ist ihm spätestens seit der Maturität klar, doch er »[bewege] sich zwischen Schriftstellerei und Malerei«. Später wird er resümieren: »Es ist sehr entscheidend, dass ich kein Maler geworden bin; es ist vermutlich einer der entscheidendsten Momente meines Lebens.« Trotzdem malt und zeichnet Dürrenmatt zeitlebens, meistens nachts.

›Die Astronomen‹, Gouache von Dürrenmatt, 1952

Selbstportrait, Tusche auf Papier, ca. 1943

Die Toilette in Dürrenmatts Haus in Neuchâtel,

»Sixtinische Kapelle«genannt. Wie schon als Student in

der Mansarde in Bern und später in Basel bemalt Dürren -

matt auch in Neuchâtel die Wände der Toilette vollständig,

heute zu besichtigen im Centre Dürrenmatt.

Das Originalmanuskript von Dürrenmatts erstem Prosatext ›Weihnacht‹, den er nach einem Besuch des Büchner-Gedenksteins am 24. Dezember 1942 in Zürich niederschreibt, als er noch Student der Philosophie und Germanistik ist. 1946 beendet Dürrenmatt das Studium, ohne seine geplante Dissertation zu Søren Kierkegaard auch nur anzufangen, entschlossen, Schriftsteller zu werden. Fo

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Schon im Spätsommer 1943 trägt Dürrenmatt den Stoff seines ersten Stücks ›Es steht geschrieben‹ mit sich herum, es entsteht schließlich zwischen 1945 und 1946, kurz bevor er den Beschluss fasst, das Studium abzubrechen. Die Uraufführung findet am 19. April 1947 im Schauspielhaus Zürich statt und wird zum Theaterskandal, Zuschauer verlassen unter Protest den Saal: »Es wurde gescharrt, es fielen vereinzelte Zwischenrufe. Schließlich wurde heftig getram-pelt und gepfiffen und die föhnige Atmosphäre hätte beinahe zu Handgreiflichkeiten im Parkett geführt«, kommentiert die ›Neue Zürcher Zeitung‹ den Abend. Nach diesem Paukenschlag ist Dürrenmatt als Schriftsteller zwar in aller Munde, die junge Familie (am 6. August kommt der Sohn Peter auf die Welt) lebt jedoch weiter von der Hand in den Mund.Um Geld zu verdienen, schreibt er den Kriminalroman ›Der Richter und sein Henker‹, der zuerst als Fortsetzungsroman in der Wochen-zeitschrift ›Der Schweizerische Beobachter‹ erscheint – Dürrenmatts erster Publikumserfolg. Der Welterfolg des Stücks ›Der Besuch der alten Dame‹ entledigt Dürrenmatt aller Geldsorgen und macht aus ihm einen modernen Klassiker zu Lebzeiten, eine Rolle, gegen die Dürrenmatt zeitlebens, auch schriftstellerisch, aufbegehrt.

Die Schauspielerin Lotti Geissler, ca. 1936, die Dürrenmatt im Oktober 1946 heiratet. Wenige Tage nach der Hochzeit ziehen Dürrenmatt und Lotti nach Basel, wo Lotti unregelmäßig am Theater spielt und auf ein festes Engagement hofft, während Dürrenmatt versucht, mit seiner Schriftstellerei Geld zu verdienen.

Dürrenmatt, ca. 1943

Links: ›Der Richter und sein Henker‹, Erstausgabe im Benziger Verlag, 1952. Rechts: das Programmheft der französischen Aufführung der ›Alten Dame‹ 1961 in der Comédie de l’Est in Paris

Eintrittskarte zur Premiere des ersten Dürrenmatt-Stücks, 1947 im Schauspielhaus Zürich

Dürrenmatt, ca. 1948, mit Sohn Peter, dem ersten seiner drei Kinder

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30 Diogenes Magazin

Ausgewählte Spätwerke: ›Turmbau‹, der zweite Band von Dürrenmatts auto-biographischem ›Stoffe‹- Projekt (1990), ›Achterloo‹ (1983) und der Roman ›Justiz‹ (1985), der zum Bestseller wird

Späte Ehrung: 1986 wird Dürrenmatt mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet (rechts: Anna und Daniel Keel).

1952 wird der jungen, inzwi-schen fünfköpfigen Familie günstig ein Haus am Stadtrand von Neuchâtel, hoch an einem Hang gelegen, angeboten. Die 60 000 Franken Kaufpreis finanziert Dürrenmatt zum Teil aus dem Erbe seines Tauf-paten, das Übrige pumpt er sich zusammen. Es wird sein »Ort hinter dem Mond«: »Man kann heute die Welt nur noch von

Frisch und Dürrenmatt: Die zwei berühmtesten Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts verband eine kritische, respektvolle, und doch schließlich gescheiterte Freundschaft.

Nach dem Tod seiner ersten Frau Lotti heiratet Dürrenmat 1984 die Schauspielerin und Regisseurin Charlotte Kerr, die ihn in seiner Arbeit zum Spätwerk inspiriert.

Punkten aus beobachten, die hinter dem Mond liegen, zum Sehen gehört Distanz.« Nach dem Welterfolg der ›Alten Dame‹ wurden zwei weitere Häuser auf dem Gelände dazu-gebaut.

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31Diogenes Magazin

Ergreife die Feder müdeschreibe deine Gedanken nieder wenn keine Frage nach Stil dich bedrängt.

Es ist heute wieder vieles zu durchdenken.Felder liegen brach, die einst Früchte trugen.

Das Mögliche ist ungeheuer. Die Sucht nach Perfektionzerstört das meiste. Was bleibt sind Splitteran denen sinnlos gefeilt wurde.

Beginne, das Sonnensystem zu sehen. Liebeauch Pluto. Doch wer macht sich schon Gedanken über ihn!Ich aber spüre sein Kreisen, ahnedie kleine Kugel, die glattgeschliffene.

Alles lässt sich besser schreiben Darum lass die schlechtere Fassung stehn.

Nur beim Weitergehen kommst du irgendwohin wohin?Fern von dir. Gehe weiter. Lots Weiberstarrte beim Zurückschauen. Erstarrt nicht. Korrigiert nicht.Wagt!

Höre nie auf andere.Trachte nicht danach ein gutes Buch zu schreibenMache keinen Plan und wenn du ihn machst führe ihn nicht ausDer Plan genügt.

Nichts ist notwendig. Das Spielkann jederzeit abgebrochen werden.

Es gibt Sätze, die stark machen doch brauchen sie nicht nieder- geschrieben zu werden.

Löse deine Hand.

Es kommt nie auf die Sätze an. Nur dasWerk allein zählt. Die Narren kritisieren einen SatzWenige sehen das Ganze.

Gott kann dich verlassen Gody soll dich verlassen. Gedicht aus dem Nachlass

»Friedrich Dürrenmatt ist nicht unser Richter, aber vielleicht unser Gewissen, das uns nie in

Ruhe lässt.« Marcel Reich-Ranicki

»Der Dialog mit Dürrenmatt ist nicht zu Ende – er beginnt erst, und wir werden Mühe haben,

in Friedrich Dürrenmatts mächtigem Schatten, ihn zu bestehen.« Walter Jens

FriedrichDürrenmatt

1921–1990

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