Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und … · 3 Die Wirkung von direkter Demokratie auf...

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Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz. Abgabedatum: 04.04.2014 Universität: FernUniversität in Hagen Fachbereich: Kultur- und Sozialwissenschaften Studiengang: MA Governance Exposé: Hausarbeit Modul 1.4 Betreuer: Prof. Dr. Michael Stoiber von Tom Eich E-Mail: [email protected]

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Direkte Demokratie auf Bundesebene?

Chancen und Risiken der Einführung in

Deutschland am Beispiel der Schweiz.

Abgabedatum: 04.04.2014

Universität: FernUniversität in Hagen

Fachbereich: Kultur- und Sozialwissenschaften

Studiengang: MA Governance

Exposé: Hausarbeit Modul 1.4

Betreuer: Prof. Dr. Michael Stoiber

von

Tom Eich

E-Mail: [email protected]

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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Inhalt

1 Einleitung 1

1.1 Direkte Demokratie auf Bundesebene? 1

1.2 Fallauswahl, methodisches Vorgehen und Aufbau 2

1.3 Definition: Direktdemokratische Elemente auf Bundesebene 3

2 Theoretische Ansätze 4

2.1 Rousseaus Theorie der Volkssouveränität, Tyrannei der Mehrheit

und Prinzipal-Agenten-Theorie 4

2.2 Partizipatorische Demokratietheorien 6

2.3 Vetospieler-Theorie und „Robin-Hood-Tendenz“ von Demokratien 8

2.4 Analysekriterien für die Wirkung von direkter Demokratie 9

3 Die Wirkung von direkter Demokratie auf Bundesebene in der Schweiz 10

3.1 Direktdemokratische Elemente in Deutschland und der Schweiz 10

3.2 Tyrannei der Mehrheit durch Elemente direkter Demokratie? 13

3.3 Minderung des „Agency-Loss“ und Erhöhung der Responsivität

repräsentativer Mechanismen? 15

3.4 Bessere Informiertheit der Bürger, hohe Beteiligungsraten und

Zufriedenheit mit dem politischen System? 17

3.5 Welche Wirkung hat die direkte Demokratie auf die Staatstätigkeit? 19

3.6 Ökonomische Wirkungen der direkten Demokratie 21

4 Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Deutschland 23

5 Fazit und Ausblick 26

Literatur 29

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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1 Einleitung

1.1 Direkte Demokratie auf Bundesebene?

„Union und SPD wollen bundesweite Volksabstimmungen“ (Süddeutsche Zeitung 2013).

Die Meldung aus der Koalitionsarbeitsgruppe „Innen und Recht“ am 11. November 2013

schien der Durchbruch für die Einführung von direkter Demokratie auf Bundesebene zu

sein. Die beiden Vorsitzenden der Koalitionsarbeitsgruppe Hans-Peter Friedrich (CSU)

und Thomas Oppermann (SPD) hatten sich zuvor im Rahmen der

Koalitionsverhandlungen 2013 auf einen gemeinsamen Formulierungsvorschlag zur

direkten Demokratie geeinigt. Dieser sah sowohl Volksentscheide zu wichtigen

europapolitischen Entscheidungen wie auch deren generelle Einführung auf

Bundesebene vor. Die Freude der Befürworter währte jedoch nur kurz: Wenig später

wurde deutlich, dass der Formulierungsvorschlag der Vertreter von SPD und CSU –

beide Parteien hatten Elemente direkter Demokratie bereits in ihren jeweiligen

Wahlprogrammen propagiert – nicht mit den Vertretern der CDU abgestimmt war und so

auch nicht deren Zustimmung finden würde. (vgl. FAZ.NET 2013) Die Ablehnung der

CDU führte somit dazu, dass der Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode des

Deutschen Bundestags, der am 16. Dezember 2013 von den Parteivorsitzenden von

CDU, CSU und SPD final unterzeichnet wurde, keine Formulierungen für die Einführung

von direktdemokratischen Elementen auf Bundesebene enthält. (vgl. CDU / CSU / SPD

2013) Auch in Zukunft scheint daher zu gelten: „So lange 34 Prozent der Deutschen bei

einer Bundestagswahl der CDU ihre Stimme geben, wird es keine Volksentscheide auf

Bundesebene geben“ (Kelber 2013).

Obwohl seit Jahren eine stabile Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Einführung

direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene befürwortet (vgl. FAZ 2010, S. 5), ist

deren Einführung zum wiederholten Mal gescheitert. Bereits am 7. Juni 2002 verfehlte

der Gesetztentwurf der rot-grünen Koalition zur Einführung von Volksinitiativen und

Volksentscheiden auf Bundesebene im Bundestag die notwendige Mehrheit. Obwohl der

Entwurf damals eine breite Zustimmung der Abgeordneten erhielt – 348 Abgeordnete

stimmten bei 199 Gegenstimmen für das Volksentscheidsgesetz – scheiterte die Vorlage

an der notwendigen Zweidrittelmehrheit durch die Gegenstimmen von Union und Teilen

der FDP. Während die Befürworter von direkter Demokratie auf Bundesebene auf ein

gestiegenes Beteiligungs- und Entscheidungsbedürfnis der Bevölkerung verweisen und

die erwarteten positiven Effekte von Volksentscheiden auf Bundesebene hervorheben

(vgl. Roth 2002, S. 515), sehen Gegner hierin eine Entwertung des Parlaments und die

Gefahr eines Systemwechsels von der „repräsentativen Demokratie und dem

parlamentarischen Regierungssystem hin zu einer plebiszitären Demokratie“ (Bosbach

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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2002, S. 518), der mit einer Vielzahl von Nachteilen verbunden sei und so zu einer

massiven Verschlechterung des Status quo führe. (vgl. Bosbach 2002, S. 518 ff.; Die

Zeit 2014, S. 55 f.) Doch welche Chancen und Risiken birgt die Einführung

direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene in Deutschland tatsächlich?

Ziel der Arbeit ist es, Antworten auf diese Fragestellung zu finden, indem zunächst die

Wirkungen von direktdemokratischen Elementen auf Bundesebene am Beispiel der

Schweiz analysiert werden und im Anschluss die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf

Deutschland diskutiert wird. Im Vergleich zum bundesstaatlich organisierten

parlamentarischen Regierungssystem Deutschlands mit wettbewerbsorientierter

Regierungsbildung unterscheidet sich das politische System der Schweiz erheblich.

Dabei weist die ebenfalls bundesstaatliche organisierte Schweiz ein Regierungssystem

eigener Prägung aus, das häufig als „Direktorialsystem“ oder „halbdirekte Demokratie“

bezeichnet wird. Im Vergleich zu Deutschland zeichnet sich das politische System der

Schweiz dabei durch eine weitreichende Autonomie der Kantone, stark ausgebaute

direktdemokratische Elemente auf allen Ebenen und ein ausgeprägtes

Konkordanzsystem aus. (vgl. Linder 1999, S. 235 ff.)

1.2 Fallauswahl, methodisches Vorgehen und Aufbau

Bei der Fallauswahl wurde die Schweiz als Vergleichsfall gewählt, da diese als

Musterbeispiel und Quasi-Experiment für die Beurteilung der Wirkung

direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene im Kontext eines wohlhabenden

Landes gilt. Im Vergleich zu weiteren Staaten in Europa wie Dänemark, Italien und

Irland, bei denen direktdemokratische Elemente auf Bundesebene eine beträchtliche

Rolle spielen, zeichnet sich die Schweiz zudem durch die mit Abstand höchste Anzahl

von nationalen Referenden, die längste direktdemokratische Tradition und - mit vier

verschiedenen Instrumenten - durch die konsequenteste Umsetzung von direkter

Demokratie auf Bundesebene aus (vgl. Schmidt 2010, S. 339 ff.). Die Arbeit stützt sich

dabei auf Ergebnisse empirischer Untersuchungen aus der Vergangenheit, da im

Rahmen der Hausarbeit und wegen der zeitlichen Begrenzung eigene empirische

Erhebungen nicht möglich sind. Auf Grund der bereits existierenden, ausführlichen

Forschungsliteratur zum Beispiel „Schweiz“ sind hierdurch jedoch keine wesentlichen

Qualitätseinbußen in Hinblick auf die Aussagekraft der Ergebnisse der vorliegenden

Arbeit zu erwarten.

In Bezug auf den Aufbau der Arbeit wird zum Abschluss von Kapitel eins definiert, was

im Rahmen der Arbeit unter dem Begriff „direktdemokratische Elemente auf

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Bundesebene“ zu verstehen ist. In Kapitel zwei werden die demokratietheoretischen

Zugänge aufgezeigt, die für die Beantwortung der Fragestellung von zentraler Bedeutung

sind. Hierzu werden zu Beginn des Kapitels Rousseaus Theorie zur Volkssouveränität,

Überlegungen zur Tyrannei der Mehrheit sowie die Prinzipal-Agenten-Theorie, die der

Beleuchtung des Verhältnisses von Wählern (Prinzipal) und Abgeordneten (Agent) dient,

erläutert. Nachdem im Anschluss die zentralen Thesen der partizipatorischen

Demokratietheorien aufgezeigt werden, werden nachfolgend Tsebelis‘ „Vetospieler-

Theorie“ und Downs‘ Aussagen zur „Robin-Hood-Tendenz“ von Demokratien dargestellt,

um Thesen für die Wirkung von direkter Demokratie in der Output-Dimension eines

politischen Systems zu entwickeln. Aufbauend auf diesen Ausführungen werden

abschließend für Kapitel zwei sowohl für die Input- als auch die Output-Dimension des

politischen Systems, die Analysekriterien für die Wirkung von direkter Demokratie

festgelegt. In Kapitel drei werden zunächst die direktdemokratischen Elemente in

Deutschland und der Schweiz, mit Fokus auf die Bundesebene, zusammenfassend

vorgestellt. Anhand der existierenden Forschungsliteratur werden anschließend die

einzelnen Analysekriterien für die Schweiz geprüft und die Wirkungen von direkter

Demokratie auf Bundesebene ausführlich dargestellt. Dabei wird der Fokus auf

Forschungsergebnisse zur Wirkung von direkter Demokratie auf Bundesebene in der

Schweiz gelegt. Wo diese nicht vorhanden sind, werden alternativ

Forschungsergebnisse zu den Schweizer Kantone zur Beantwortung der einzelnen

Fragestellungen herangezogen. Auf Grund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen

der politischen Systeme wird nachfolgend in Kapitel vier diskutiert, inwiefern die

Ergebnisse der Schweiz auf Deutschland übertragbar sind. Den Schluss bildet Kapitel

fünf, in dem die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und mögliche Entwicklungen in

Hinblick auf die ursprüngliche Fragestellung der Arbeit aufgezeigt werden.

1.3 Definition: Direktdemokratische Elemente auf Bundesebene

Als „direktdemokratische Elemente auf Bundesebene“ werden im Rahmen dieser Arbeit

folgende Verfahren verstanden, die auf Bundesebene stattfinden, gesamtstaatliche

Wirkung entfalten, verbindlich sind und sich auf politische Sachfragen beziehen.

1. Volksinitiative: Verfahren, die durch Personen oder Gruppen von Wahlberechtigten

ausgelöst werden (Volksbegehren) und in einen Volksentscheid münden können.

2. Referenden: Verfahren, bei denen Parlamentsbeschlüsse einer Volksabstimmung

unterworfen werden – entweder nach festgelegten Normen wie einer

Verfassungsvorschrift (obligatorisches Referendum) oder nach Sammlung einer

bestimmten Zahl von Unterschriften von Wahlberechtigten (fakultatives Referendum).

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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Plebiszite, die durch Staatsorgane (Regierung, Parlamentsmehrheit etc.) ausgelöst

werden und wegen ihrer strategischen Manipulierbarkeit häufig in der Kritik stehen,

werden im Rahmen dieser Arbeit ebenso wenig als direktdemokratische Elemente

betrachtet wie die Direktwahl von Repräsentanten – beispielsweise der (Ober-)

Bürgermeister in deutschen Kommunen. (vgl. Schiller 2002, S. 13 ff.)

2 Theoretische Ansätze

2.1 Rousseaus Theorie der Volkssouveränität, Tyrannei der Mehrheit

und Prinzipal-Agenten-Theorie

Der Begriff „direkte Demokratie“ ist – auch wenn er ihn selbst nicht verwendet hat –

theoriegeschichtlich eng verbunden mit Rousseau und seinem Werk „Vom

Gesellschaftsvertrag oder Grundzüge des Staatsrechts“, in dem er seine radikale

Theorie der Volkssouveränität entwickelt (vgl. Schiller 2002, S. 27 f.). Rousseau

argumentiert darin, dass politische Herrschaft mit den Grundprinzipien von Freiheit und

Gleichheit nur dann vereinbar ist, wenn sie in Theorie und Praxis der Freiheit und

Gleichheit aller entspringt. Souveränität dürfe daher nicht an Repräsentanten delegiert

werden, sondern müsse zwingend beim Volk selbst verbleiben – sie sei unteilbar und

unveräußerlich. „Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es

ist überhaupt kein Gesetz. Das englische Volk glaubt frei zu sein – es täuscht sich

gewaltig, es ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese

gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts.“ (Rousseau 1977, S. 211) Rousseau beschreibt

dabei die Republik als Gemeinwesen, das aus der Volkssouveränität hervorgeht und nur

auf der Basis von Einstimmigkeit legitim errichtet werden kann. In dieser müssten die

Gesetzgeber als republikanische Gemeinschaft mit sich als Adressaten der

Gesetzgebung identisch sein. Direkte Demokratie, die in der Volkssouveränität verankert

ist, wäre daher mit Bezug zur Gegenwart nicht nur auf die Verfassungsgebung und die

Errichtung von Institutionen beschränkt, sondern beträfe ebenso die grundlegende

Gesetzgebung und wiederkehrende Gesetzesmaterien. (vgl. Schiller 2002, S. 27 f.)

Im Kern stellen Rousseaus Ausführungen jedoch einen theoretischen Idealtyp von

Demokratie dar. In der Praxis sah Rousseau seine ideale Demokratie maximal für kleine

Gemeinwesen geeignet, obwohl für ihn auch hier wichtige Rahmenbedingungen wie eine

„weitgehende Gleichheit der gesellschaftlichen Stellung und der Vermögen“ (Rousseau

1977, S. 149) in der Regel nicht gewährleistet waren. Für Rousseau kam eine

Direktdemokratie somit aus Praktikabilitätsgründen in der Realität kaum in Frage.

Dennoch berufen sich auch heute viele Fürsprecher der direkten Demokratie auf

Rousseau und obwohl seine Lehre der Volkssouveränität sowie seine

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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Fundamentalopposition zum Repräsentationsprinzip überwiegend normativ geprägt und

kaum empirisch belegt sind, bleiben diese trotz aller Kontroversen bis heute höchst

einflussreich (vgl. Schmidt 2010, S. 90 f.).

Im Gegensatz zu Rousseau argumentieren Theoretiker wie John Stuart Mill oder die

Autoren der Federalist Papers für eine Delegierbarkeit der Volkssouveränität. Nicht nur

aus Praktikabilitätsgründen, sondern auch aus normativen Aspekten plädieren diese für

die Repräsentative Demokratie als beste Regierungsform (vgl. Schmidt 2010, S. 133 f.;

Steinberg 2013, S. 156 f.). Für die Autoren der Federalist Papers ist eine

Direktdemokratie keinesfalls anzustreben, da diese keine Mechanismen gegen die

Durchsetzung leidenschaftsgetriebener Partikularinteressen besitze und in ihr die

Tyrannei der Mehrheit drohe. Volksabstimmungen würden ferner die deliberativen und

kompromissfördernden Mechanismen parlamentarischer Entscheidungsprozesse fehlen,

welche sich tendenziell positiv auf die Anliegen von Minderheiten auswirken. Um das

öffentliche Wohl und die privaten Rechte gegen eine Mehrheit von Sonderinteressen zu

verteidigen, sei daher eine Regierungsform mit Repräsentativsystem, in der die Wahl

gemeinwohlorientierter Repräsentanten erfolgt und die Freiheitssicherung durch eine

mehrfach gesicherte Gewaltenteilung und -Verschränkung gewährleistet wird, von

zentraler Bedeutung (vgl. Hamilton / Jay / Madison 1982, S. 50 ff.).

Nimmt man ein repräsentativ-demokratisches Regierungssystem hingegen als gegeben

an und richtet den Fokus auf das Verhältnis von Repräsentanten und Repräsentierten,

bietet sich hierfür die Prinzipal-Agenten-Theorie als Analyserahmen an (vgl. Henke

2011, S. 25 ff.). Bereits Rousseau hatte dieses Verhältnis im Blick, lehnte das

Repräsentationsprinzip jedoch noch grundlegend ab. Die Prinzipal-Agenten-Theorie ist

ein ursprünglich aus der Wirtschaftswissenschaft kommendes Modell der Neuen

Institutionenökonomik, das sich auf das Verhältnis zwischen Wählern und

Parlamentariern beziehungsweise zwischen Wählern und Regierung in einer

repräsentativen Demokratie übertragen lässt (vgl. Eder 2009, S. 45 ff.). Aus dieser

theoretischen Perspektive betrachtet, nehmen die Wähler in einer repräsentativen

Demokratie die Rolle des Prinzipals ein, der die Abgeordneten dazu beauftragt, als

Agenten im Sinne der Wähler zu handeln. Die Prinzipal-Agenten-Theorie konstatiert

dabei grundsätzlich ein Prinzipal-Agenten-Problem, da davon auszugehen ist, dass der

Agent nicht ausschließlich im Sinne des Prinzipals handelt, sondern gleichzeitig eigene

Interessen verfolgt. Da der Agent in der Regel über einen Informationsvorsprung verfügt,

kann dieser zudem nicht vollständig vom Prinzipal kontrolliert werden. In diesem

Zusammenhang argumentieren Gerken und Schick, dass das Prinzipal-Agenten-

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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Problem in der Beziehung zwischen Wählern und Abgeordneten im Vergleich zu

anderen Lebensbereichen sogar besonders ausgeprägt sei: Das tatsächliche Handeln

eines Abgeordneten sei für den Wähler schwer nachzuvollziehen, eine Sanktionierung

sei ausschließlich an den Wahlterminen möglich und Parlamentarier seien häufig

vorrangig an der eigenen Wiederwahl interessiert und weniger daran, die optimalen

Ergebnisse für ihre Wählerschaft zu erreichen (vgl. Gerken / Schick 2002, S. 525 f.). Die

Differenz zwischen den Interessen des Prinzipals und den tatsächlich gelieferten

Ergebnissen wird als „Agency-Loss“ (Bergmann / Müller / Strøm 2003, S. 23 ff.)

bezeichnet. In diesem Zusammenhang lässt sich aus theoretischer Perspektive

argumentieren, dass die Existenz von direktdemokratischen Verfahren den Prinzipalen

ein zusätzliches Instrument an die Hand gibt, um die Agenten an ihre Interessen zu

binden, wodurch der „Agency-Loss“ verringert werden kann (vgl. Eder 2000, S. 45 ff.).

2.2 Partizipatorische Demokratietheorien

Vertreter der Partizipatorischen Demokratietheorien wie Pateman, Bachrach und

Barber kritisieren den gegenwärtigen Zustand liberaler Demokratien sowohl in Hinblick

auf ihre theoretische Begründung als auch im Sinne deren tatsächlichen Realisierung.

Der demokratische Prozess erschöpfe sich dabei in aller Regel in der Aggregation von

individuellen Präferenzen, die unabhängig von ihrer ethischen Qualität gleichgewichtet

werden, wobei der Sinn für das Gemeinwohl der Gesellschaft verloren ginge. Zudem

seien die existierenden liberalen Demokratien faktisch nur am Output interessiert. (vgl.

Heidenreich / Schaal 2006, S. 195 f.) Im Vergleich zu anderen Theorierichtungen liegt

der Fokus der partizipatorischen Demokratietheorie auf dem Input des politischen

Systems. Ihre Vertreter befürworten dabei die politische Beteiligung möglichst vieler

Bürger an möglichst vielen Themenkomplexen. Politische Partizipation bedeutet für sie

zunächst einen Wert an sich, der eine erzieherische Funktion habe, die Integrationskraft

der Demokratie stärke und zu autonomieschonenderen Problemlösungen führe (vgl.

Schmidt 2010, S. 236 ff.). Ihr Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Demokratie basiert

in erster Linie auf einer „Ausweitung und Vertiefung des demokratischen Prozesses“

(Bachrach 1970, S. 118.), wobei mehr Demokratie die Regierbarkeit eines

Gemeinwesens erleichtere und eine zunehmende Beteiligung die Chancen für eine

verständigungsorientierte Konfliktbewältigung erhöhe. (vgl. Bertelsmann Stiftung 2004,

S. 21.) Ihr optimistisches Staatsbürgerbild unterstellt dabei, dass der durchschnittliche

Staatsbürger grundsätzlich zu mehr und besserer Beteiligung in der Lage sei oder hierzu

durch eine entsprechende Institutionalisierung der Willensbildungsprozesse und damit

verbundener Lern- und Aufklärungsprozesse zumindest befähigt werden könne. Dabei

gehen die Vertreter partizipatorischer Theorien davon aus, dass der Prozess einer

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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verstärkten Beteiligung zu einer Transformation hin zu einem verantwortungsbewussten

Staatsbürger – ähnlich der Terminologie Rousseaus vom „Bourgeois“ zum „Citoyen“ –

führe. Zu den Funktionsvoraussetzungen der partizipatorischen Theorien gehöre dabei

vor allem eine hohe und stetig wachsende Anzahl von Teilnehmern an

Beteiligungsprozessen (vgl. Schmidt 2010, S. 240 f.).

Befürworter verweisen darauf, dass ein großer Anteil der Anliegen der Partizipatorischen

Demokratietheorien in der Direktdemokratie nach Schweizer Art verwirklicht werden

könnte (vgl. Schmidt 2010, S. 241). In diesem Zusammenhang sind auch für Barber

nationale Volksbegehren und Volksabstimmungsverfahren über die Gesetzgebung

elementare Bestandteile seines Modells einer starken Demokratie. Barber argumentiert

dabei ebenfalls, dass Volksbegehren und Volksabstimmungen durch nationale

Diskussionsprozesse zu einem permanenten Erziehungsprozess möglichst vieler

tugendhafter Bürger beitragen (vgl. Barber 1984, S. 281 ff.). Da die Qualität des Outputs

des politischen Prozesses vor allem von den Tugenden und Einstellungen der Bürger

abhänge, führe die Umsetzung des Modells einer starken Demokratie letztendlich auch

hier zu einer deutlichen Verbesserung (vgl. Heidenreich / Schaal 2006, S. 198).

Kritiker der Partizipatorischen Demokratietheorien kritisieren in erster Linie das zu

optimistische Menschenbild. In der Realität seien die Bürger nur selten willens und fähig,

gemeinwohlorientiert zu agieren; stattdessen würden sie vor allem nach ihrem Eigennutz

streben. Zudem sei die Informiertheit über politische Sachverhalte und das Interesse an

politischen Fragestellungen bei der großen Masse der Wähler sehr niedrig, was bei

einem begrenzten Zeitbudget zu geringen Beteiligungsquoten führe. In diesem

Zusammenhang wird auch das Argument der Transformation der Menschen zu

tugendhaften Staatsbürgern als theoretisch nicht fundiert kritisiert. Es handele sich

hierbei um normativ sympathische Mutmaßungen, die jedoch weder theoretisch

untermauert noch empirisch gedeckt seien. Weitere Kritik entfacht die Eindimensionalität

der Partizipatorischen Demokratietheorien: Der Fokus auf Partizipation vernachlässige

andere wichtige Ziele der Demokratie wie Effektivität und Effizienz, wodurch das

Zielmodell der Partizipatorischen Theorien durch die mangelnde Berücksichtigung

anderer Zielgrößen von geringer Komplexität sei. Trotz vielfältiger Kritik liegt die Stärke

Partizipatorischer Demokratietheorien vor allem darin, die Lücke zwischen Ist- und

Idealzustand der politischen Beteiligung in einem politischen System zu beleuchten und

nach Mitteln jenseits des Marktplatzes zu suchen, um diese Lücke beispielsweise durch

direktdemokratische Beteiligungsformen zu schließen (vgl. Schmidt 2010, S. 246 ff.;

Heidenreich / Schaal 2006, S. 204 f.).

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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2.3 Vetospieler-Theorie und „Robin-Hood-Tendenz“ von Demokratien

Mit Blick auf den Output eines politischen Systems hat Georg Tsebelis mit der

Vetospieler-Theorie einen theoretischen Ansatz entwickelt, mit dessen Hilfe er die

Stabilität oder Veränderbarkeit politischer Entscheidungen aufzeigen will. Dabei versucht

er, die Bedingungen politischer Dynamik und politischer Blockade an Hand der Anzahl

und Arten an Vetospielern zu erklären. Die Vetospieler-Theorie beruht wesentlich auf

Annahmen der Rational-Choice-Theorie, wodurch vorausgesetzt wird, dass sich

politische Akteure rational verhalten und zielgerichtet agieren. Vetospieler beschreibt

Tsebelis dabei als Akteure, deren Zustimmung notwendig ist, um einen politischen

Status Quo zu ändern. In diesem Zusammenhang unterscheidet er institutionelle

Vetospieler, deren Vetomacht verfassungsrechtlich festgeschrieben ist und

parteipolitische Vetospieler. Die Wahrscheinlichkeit einer Veränderung des Status quo

hängt dabei zentral von der Anzahl der Vetospieler ab (vgl. Haas / Obrecht / Riescher

2011, S. 97 ff.). Auf die Entwicklung der Staatstätigkeit angewandt, besagt die

Vetospieler-Theorie, dass das staatsinterventionistische Engagement einer Regierung

umso geringer ist und Politikwandel umso eher blockiert wird, desto mehr institutionelle

Vetospieler dieser entgegenstehen. Tsebelis zählt dabei direktdemokratische Elemente

explizit zu den institutionell verankerten Vetospielern, die innerhalb eines politischen

Systems eine Bremswirkung in Bezug auf die Staatstätigkeit einer Regierung entfalten

(vgl. Tsebelis 2002, S. 116 ff.).

Im Gegensatz zu Tsebelis argumentiert Downs im Rahmen seiner Ökonomischen

Theorie der Demokratie, dass demokratische Regierungen und die Stimmbürgerschaft

innerhalb einer Demokratie grundsätzlich zu redistributiven Maßnahmen im Sinne der

Umverteilung von Einkommen von Reichen zu Armen neigen. Dieser sogenannten

„Robin-Hood-Tendenz“ folgend, führe eine zunehmende direktdemokratische

Bürgerbeteiligung zu steigenden Steuersätzen und -Einnahmen sowie einer wachsenden

Staatstätigkeit (vgl. Downs 1968, S. 291; Wagschal 1997, S.224). Die „Robin-Hood-

Tendenz“ wird zudem mit einer in der Praxis häufig linksschiefen Einkommensverteilung

begründet: Wenn das Medianwählereinkommen unter dem Durchschnittseinkommen

liege, begünstige dies bei Volksabstimmungen mit Mehrheitsregel eine Umverteilung der

Einkommen (vgl. Obinger / Wagschal 2000, S. 468). Der expansive Effekt der direkten

Demokratie wird in diesem Zusammenhang vor allem dem Instrument der Volksinitiative

zugeschrieben, da diese im Gegensatz zu obligatorischen oder fakultativen Referenden

eine Veränderung des Status quo anstrebe. Aus theoretischer Perspektive kann die

Volksinitiative dabei sowohl direkt als auch indirekt wirken. Direkt wirkt sie dann, wenn

durch sie eine bisher unberücksichtigte Forderung erfolgreich in das politische System

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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eingebracht wird. Indirekt wirkt die Volksinitiative, wenn der Druck eines Volksbegehrens

die Regierung dazu veranlasst, zumindest Teile der gewünschten Veränderung in die Tat

umzusetzen. Insbesondere das Instrument der Volksinitiative führe damit zu einem

höheren Grad an Staatsintervention und höheren Steuereinnahmen zur Finanzierung der

ausgebauten Staatstätigkeit (vgl. Vatter 2007, S. 89).

2.4 Analysekriterien für die Wirkung von direkter Demokratie

Welche Wirkung hat die direkte Demokratie auf Bundesebene in der Schweiz? Um diese

Frage beantworten zu können, werden nachfolgend, aufbauend auf den

vorangegangenen Ausführungen, Analysekriterien definiert, die in Kapitel drei für die

Schweiz untersucht werden. Dabei erfolgt eine Differenzierung der Kriterien nach Input-

sowie Output-Dimension des politischen Systems (vgl. Hartmann / Offe 2011, S. 77 f.).

Bei der der Fokussierung auf die Input-Dimension des politischen Systems werden die

Wirkungen direktdemokratischer Elemente auf die Einbeziehung der Präferenzen der

Bürger sowie deren Akzeptanz für das Zustandekommen von Entscheidungen analysiert.

Um die Wirkung in der Input-Dimension im Detail zu beurteilen, sollen nachfolgend

folgende Kriterien untersucht werden:

A. Tyrannei der Mehrheit durch Elemente direkter Demokratie?

Bereits die Federalists waren misstrauisch gegenüber Volksentscheiden, und in der

Literatur wird die Gefährdung von Minderheiten- und Grundrechten immer wieder als

potenzielle Schwäche direkter Demokratie genannt (vgl. Christmann 2012, S. 62 ff.).

Nachfolgend wird daher untersucht, ob - beziehungsweise in welcher Form -

Minderheiten in der Schweiz durch direktdemokratische Verfahren benachteiligt

werden.

B. Minderung des „Agency-Loss“ und Erhöhung der Responsivität

repräsentativer Mechanismen?

Mit Bezug auf die Prinzipal-Agenten-Theorie wird für die Schweiz untersucht,

inwiefern direktdemokratische Verfahren für eine erhöhte Responsivität des

repräsentativen Systems für die Präferenzen der Bürger sorgen. Zudem wird

untersucht, ob die Prinzipal-Agenten-Beziehung zwischen Wählern und

Abgeordneten durch die direkte Demokratie in der Schweiz beeinflusst und der

„Agency-Loss“ reduziert wird.

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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C. Bessere Informiertheit der Bürger, hohe Beteiligungsraten und Zufriedenheit

mit dem politischen System?

Mit diesen Kriterien wird untersucht, ob die von Vertretern der Partizipatorischen

Demokratietheorien postulierten Wirkungen für die Schweiz in der Praxis

nachweisbar sind. Da eine Messung von „Tugendhaftigkeit“ in der Praxis kaum

möglich ist, wird stattdessen untersucht, ob direktdemokratische Verfahren

Lernprozesse in Gang setzten und so zu einer besseren Informiertheit der Bürger

über politische Sachverhalte führen. Zudem wird untersucht, ob die vorhandenen

Beteiligungsrechte in der Praxis auch zu hohen und steigenden Beteiligungsraten

führen. Abschließend für die Input-Dimension wird der Frage nachgegangen, ob die

existierenden direktdemokratischen Elemente in der Schweiz auch von den Bürgern

als Wert an sich wahrgenommen werden und diese so zu einer höheren

Zufriedenheit mit dem politischen System führen.

Mit Fokus auf die Output-Dimension des politischen Systems wird nachfolgend

analysiert, inwiefern direktdemokratische Elemente dazu führen, dass die Qualität von

politischen Entscheidungen gesteigert und der Outcome des Systems verbessert wird.

Um die Wirkung von direkter Demokratie in der Output-Dimension im Detail zu

beurteilen, werden nachfolgend folgende Kriterien untersucht:

D. Welche Wirkung hat die direkte Demokratie auf die Staatstätigkeit?

Hierzu wird beurteilt, ob die direktdemokratischen Verfahren in der Schweiz die

staatlichen Interventionen bremsen oder zu einer Expansion von Besteuerung und

Staatstätigkeit führen. Zudem wird untersucht, ob für die direkte Demokratie in der

Schweiz eine innovationshemmende Wirkung im Sinne eines „Status-quo-Bias“

nachweisbar ist.

E. Ökonomische Wirkungen der direkten Demokratie

Abschließend für die Output-Dimension wird untersucht, inwiefern positive oder

negative Effekte von direkter Demokratie in Bezug auf den ökonomischen Outcome

im Sinne der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Schweiz nachweisbar sind.

3 Die Wirkung von direkter Demokratie auf Bundesebene in der Schweiz

3.1 Direktdemokratische Elemente in Deutschland und der Schweiz

Die Bundesrepublik Deutschland ist in erster Linie eine repräsentative Demokratie. In

aller Regel liegt die Entscheidungskompetenz für Sachentscheidungen und die

Besetzung von Ämtern auf den einzelnen Ebenen bei gewählten Repräsentanten. In

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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diesem Zusammenhang werden dem Volk im Grundgesetz auch kaum

direktdemokratische Rechte eingeräumt (vgl. Kost 2008, S. 66). Außer zu

Länderneugliederungen (Art. 29 GG) existieren keine bundesrechtlichen Regelungen,

und auch hier finden Volksentscheide nur in den betroffenen Regionen statt. Im

Vergleich zur Bundesebene erfahren Elemente direkter Demokratie in Deutschland

jedoch sowohl auf Landes- als auch auf kommunaler Ebene seit den 1990er Jahren

einen deutlichen Bedeutungszuwachs. Obwohl sich die Verfahren innerhalb der

einzelnen Länder in Bezug auf Themen und Quoren unterscheiden, können dem

deutschen Verfahrenstypus gemeinsame zentrale Merkmale zugeschrieben werden.

Dabei kennzeichnen direktdemokratischen Verfahren in Deutschland in erster Linie eine

starke Themenrestriktion, die insbesondere haushaltsrelevante Themen weitgehend

ausschließt. Zudem müssen Volks- (Länderebene) bzw. Bürgerbegehren (kommunale

Ebene) ein vergleichsweise hohes Stimmenquorum von ca. 10 Prozent erreichen, um die

Durchführung eines Volks- oder Bürgerentscheides zu erreichen. Für den Erfolg der

Entscheide ist wiederum ein relativ restriktives Zustimmungsquorum von ca. 25 Prozent

aller Stimmberechtigten erforderlich, das sich ebenso wie das Quorum zu Volks- und

Bürgerbegehren je nach Bundesland unterscheidet. Mit der Ausnahme von Bayern und

Hessen, wo Änderungen der Landesverfassung durch ein Referendum bestätigt werden

müssen, sowie Sonderregelungen in Berlin und Bremen, spielen obligatorische

Referenden in Deutschland ebenso wenig eine Rolle wie fakultative Referenden. In der

Praxis wurden die direktdemokratischen Elemente auf Landesebene bisher nur mäßig

genutzt und so kam es von 1946 bis 2005 in Deutschland insgesamt lediglich zu 13

Volksentscheiden auf Landesebene, denen 52 Volksbegehren vorausgingen. Auf

kommunaler Ebene kam es hingegen bis 2005 zu 2993 Bürgerbegehren und 1225

Bürgerentscheiden, wobei knapp die Hälfte davon allein in Bayern stattfanden. Dabei ist

die hohe Zahl an Bürgerentscheiden in Bayern sowohl auf die geringsten

Themenrestriktionen – insbesondere Themen der Bauleitplanung sind erlaubt – als auch

auf günstige Quorumsregelungen zurückzuführen (vgl. Schiller 2007, S. 115 ff.).

Im Vergleich zu Deutschland kann das Volk in der Schweiz sowohl auf kommunaler,

Landes- als auch auf Bundesebene umfassend direkt mitwirken. Obwohl die

Volksvertretungen weiter existieren, haben die Bürger der Schweiz vielfältige

Möglichkeiten politische Sachentscheidungen zu korrigieren. Die Schweiz wird daher

häufig als „das funktionierende Beispiel einer halbdirekten Demokratie“ (Heussner / Jung

2001, S. 115) bezeichnet. In dieser haben Kantone und Gemeinden bedeutende

Kompetenzen und politische Gestaltungsspielräume. Eine Vielzahl von

Gesetztgebungskompetenzen, insbesondere im Steuerrecht, verbleibt dabei auf Ebene

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 12 -

der 26 Kantone beziehungsweise Halbkantone. Direktdemokratischen Elemente haben

daher in den Kommunen und Kantonen große Bedeutungen. In allen Kantonen der

Schweiz existiert das obligatorische Verfassungsreferendum, die Initiative auf Total- oder

Teilrevision der Verfassung sowie die Gesetzesinitiative. Zudem sind fakultative und

obligatorische Gesetzes- und Finanzreferenden auf kantonaler Ebene fest verankert,

wodurch die direktdemokratischen Elemente auf kantonaler Ebene noch stärker

ausgebaut sind als im Bund (vgl. Heussner / Jung 2001, S. 115 ff.). Zwischen 1970 und

2003 wurden so in der Schweiz insgesamt 3709 Initiativ- und

Referendungsabstimmungen auf kantonaler Ebene durchgeführt (vgl. Braun / Büchi /

Kaufmann 2008, S. 131.). Aber auch auf Bundesebene der Schweiz existieren

weitreichende Mitwirkungsrechte, die sich auf verschiedene Verfahren aufteilen. Neben

dem obligatorischen Verfassungsreferendum existiert auf Bundesebene ebenfalls ein

fakultatives Gesetzesreferendum, das durch 50.000 Stimmberechtigte (ca. 1 Prozent der

Stimmberechtigten) oder acht Kantone ausgelöst wird. Dieses bewirkt, dass ein vom

Parlament beschlossenes Gesetz dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden muss und

in Kraft tritt, wenn die einfache Mehrheit der Abstimmenden der Vorlage zustimmt

(einfaches Volksmehr). Zudem können auf dem Wege der Volksinitiative 100.000

Stimmberechtigte (ca. 2 Prozent der Stimmberechtigten) einen Entwurf für eine

Verfassungsänderung vorlegen. Dieser darf nur eine Materie behandeln, kann jedoch

alle, insbesondere haushaltsrelevante Themen, umfassen. Zur Abstimmung einer

erfolgreich eingereichten Volksinitiative hat das Parlament die Möglichkeit, zusätzlich

einen Alternativvorschlag zur Abstimmung zu bringen und eine Abstimmungsempfehlung

auszusprechen. Da eine erfolgreich eingereichte Volksinitiative spätestens nach ca. 4

Jahren zur Abstimmung gestellt werden muss, hat das Parlament zudem ausreichend

Zeit, sich mit einer Volksinitiative zu befassen. Im Vergleich zum fakultativen

Referendum sind für eine erfolgreiche Volksinitiative, ebenso wie bei einem

obligatorischen Referendum, sowohl die Mehrheit der Abstimmenden als auch die

Mehrheit der Kantone notwendig (Volks- und Ständemehr). Abstimmungsquoren wie sie

in Deutschland festgeschrieben sind, sind den Schweizer Verfahren durchweg fremd.

Die Abstimmungen zu den jeweiligen Initiativen finden in der Schweiz jährlich an jeweils

zwei bis vier vorab festgelegten Abstimmungsterminen statt, an denen in der Regel ein

bis vier Vorlagen zur Abstimmung stehen. Von 1848 bis 2008 kamen dabei 222

Verfassungsreferenden, 162 fakultative Referenden und 165 Volksinitiativen zur

Abstimmung (vgl. Heussner / Jung 2001, S. 117 ff.; Linder 1999, S. 242 ff.; Neidhart

2002, S. 352 ff.).

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 13 -

3.2 Tyrannei der Mehrheit durch Elemente direkter Demokratie?

Werden Minderheiten in der Schweiz durch direktdemokratische Verfahren

benachteiligt? Kommt es in der Praxis zu einer Schwächung von Minderheitenrechten

durch direktdemokratische Elemente? Nach einer ersten Studie zu diesem

Themenkomplex aus dem Jahr 1998 (Frey / Goette 1998), die jedoch diverse

methodische Schwächen aufweist, führten Danaci und Vatter im Jahr 2010 (Danaci /

Vatter 2010) eine empirische Analyse der Wirkungen direkter Demokratie auf den Schutz

von Minderheiten durch. Als Minderheiten im Rahmen dieser Untersuchung wurden

„Menschen […] betrachtet, welche aufgrund eines unveräußerlichen oder schwer zu

verändernden Merkmals Gefahr laufen, diskriminiert zu werden“ (Danaci / Vatter 2010,

S. 207). Die direkten Effekte von direkter Demokratie auf den Minderheitenschutz

wurden dabei unter Berücksichtigung aller Ergebnisse minderheitenrelevanter

Volksentscheide in der Schweiz zwischen 1960 und 2007 analysiert. Im Detail wurde

dabei untersucht, ob die insgesamt 193 minderheitenrelevanten Volksentscheide in der

Schweiz – davon 46 auf Bundesebene und 47 auf kantonaler Ebene - den

parlamentarischen Status quo verändert haben. Während über alle politischen Ebenen

ca. 80% der Resultate den parlamentarischen Status quo nicht veränderten, waren die

Ergebnisse von ca. 20% der untersuchten Abstimmungen nachteilhaft für die jeweiligen

Minderheiten. Dabei war die Zahl der Volksabstimmungen mit einer schützenden

Wirkung mit einem Anteil von 1,6% vernachlässigbar. Ferner zeigen die Ergebnisse,

dass sich die Abstimmungen mit negativen Ergebnissen für die jeweiligen Minderheiten

fast ausnahmslos auf den Ausbau von Minderheitenrechten bezogen. Der Abbau von

Minderheitenrechten war hingegen kaum von den Effekten direkter Demokratie betroffen.

Die Ergebnisse der Untersuchung weisen daher darauf hin, dass negative direkte Effekte

von Elementen direkter Demokratie nur in Bezug auf den Ausbau von

Minderheitenrechten zu erwarten sind – nicht aber in Bezug auf deren Abbau. Bei einer

detaillierten Untersuchung der negativen Effekte auf die einzelnen Gruppen von

Minderheiten liefert die Studie weiter interessante Ergebnisse: Während beispielsweise

Behinderte und Homosexuelle keine Schlechterstellung erfuhren, war der Anteil an

diskriminierenden Effekten von Volksabstimmungen bei der Gruppe der Ausländer mit

42% im Vergleich zu den anderen Untersuchungseinheiten am höchsten, gefolgt von

religiösen Minderheiten mit einem Anteil von 25%. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass

die Abstimmenden vor allem dann zum Nachteil einer Minderheit entscheiden, wenn

diese „in der öffentlichen Wahrnehmung als schlecht integriert gilt und fremde

Wertvorstellungen vertritt“ (Danaci / Vatter 2010, S. 211) – wobei Muslime als Ausländer

und religiöse Minderheit von diesem Effekt gleich doppelt betroffen sind. Bei

Minderheiten, mit denen sich die Mehrheit der Bevölkerung auf Basis gemeinsamer

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 14 -

Werte oder Sozialisation besser identifizieren kann, sind hingegen negative Effekte von

direkter Demokratie kaum nachzuweisen (vgl. Danaci / Vatter 2010, S. 206 ff.).

Um die Wirkung von Elementen direkter Demokratie auf den Schutz von Minderheiten zu

beurteilen, müssen neben den direkten Effekten von direkter Demokratie auch deren

indirekte Wirkungen untersucht werden. In diesem Zusammenhang weist Christmann die

indirekten Wirkungen von direkter Demokratie für die Schweiz in einer Untersuchung zu

den Wirkungen auf die Rechte religiöser Minderheiten auf kantonaler Ebene nach (vgl.

Christmann 2010). Im Rahmen einer detaillierten empirischen, qualitativ vergleichenden

Analyse der legislativen Prozesse zu den Anerkennungsregeln für

Religionsgemeinschaften kommt Christmann dabei zu folgenden Ergebnissen: Da die

Gefahr der anschließenden Ablehnung zu groß schien, wurden im Wege des klassischen

parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren kaum liberale Anerkennungsregeln

verabschiedet. Stattdessen wurden diese im Sinne einer Ausweichstrategie der

Parlamentarier häufig erfolgreich im Rahmen von Totalrevisionen der einzelnen

Verfassungen umgesetzt. Ziel dieser Vorgehensweise war es, durch die Einbettung der

Anerkennungsregeln neben einer Vielzahl weiterer Themen die Gefahr der Ablehnung

durch das Volk deutlich zu reduzieren. Die Analyse der parlamentarischen

Debattenbeiträge zeigte in Bezug auf Muslime zudem, dass nicht der Islam an sich die

Parlamentarier zu restriktiveren Anerkennungsregeln bewegte, sondern die Angst davor,

dass das Volk eine Liberalisierung der Anerkennung in einem nachfolgenden

Volksentscheid ablehnen würde. Wie Danaci und Vatter argumentiert auch Christmann

auf Basis der Untersuchungsergebnisse abschließend, dass es bei der Beurteilung der

Wirkung von direkter Demokratie auf den Minderheitenschutz entscheidend ist, um

welche Minderheit es sich handelt und allgemeine Aussagen zu Fehlschlüssen verleiten

(vgl. Christmann 2010, S. 17 ff.).

Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass Minderheiten, die gut in die Gesellschaft

integriert sind, auch im Rahmen von direktdemokratischen Verfahren nicht schlechter

gestellt werden als im parlamentarischen Prozess. Bei Minderheiten, die dagegen

weniger Rückhalt in der Gesellschaft haben - wie beispielsweise Ausländer oder

Muslime - ergeben sich jedoch, insbesondere bei dem Versuch ihre Minderheitenrechte

auszubauen, im Rahmen direktdemokratischer Verfahren diskriminierende Effekte. Die

Frage nach einer potenziellen „Tyrannei der Mehrheit durch Elemente direkter

Demokratie“ muss somit differenziert beantwortet werden, wobei jedoch gerade in

Hinblick auf den Abbau von Minderheitenrechten in der Schweiz von einer ausgeprägten

Tyrannei der Mehrheit kaum die Rede sein kann.

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 15 -

3.3 Minderung des „Agency-Loss“ und Erhöhung der Responsivität

repräsentativer Mechanismen?

Wird die Prinzipal-Agenten-Beziehung zwischen Wählern und Abgeordneten durch die

direkte Demokratie in der Schweiz beeinflusst und der „Agency-Loss“ reduziert? Im

Zusammenhang mit dieser Fragestellung wurden zuvor bereits die Ergebnisse von

Christmann, die die indirekte Wirkung von fakultativen Referenden auf den legislativen

Prozess als „Damoklesschwert“ nachgewiesen haben, ausführlich dargestellt (vgl.

Christmann 2010). Das Instrument des fakultativen Referendums bewirkt in der Schweiz

zudem, dass referendumsfähige Gruppen und oppositionelle Kräfte frühzeitig in den

Gesetzgebungsprozess eingebunden werden, um so bereits auf der parlamentarischen

Ebene referendungsfeste Gesetze erarbeiten und verabschieden zu können (vgl.

Schiller, S. 107.). Im Rahmen der Vernehmlassungen sichert Artikel 127 der Schweizer

Bundesverfassung „interessierten Kreisen“ (Schweizerische Eidgenossenschaft 1999,

Art. 127) sogar ein Anhörungsrecht vor Verabschiedung eines Gesetzes zu. So entfaltet

das fakultative Referendum im politischen System der Schweiz vor allem eine starke

indirekte Wirkung, da es – selbst wenn es selten zur Anwendung gelangt – organisierten

Interessengruppen einen starken Einfluss auf den politischen Prozess sichert (vgl. Feld /

Kirchgässner / Savioz 1999, S.26 ff.). Auf Grund einer mit acht Referenden sehr

geringen Anzahl fakultativer Referenden zwischen 1961 und 1971 konstatiert Neidhart

1970 sogar den direkten „Funktionsverlust des fakultativen Referendums“ (Neidhart

1970, S. 266) und eine neue Form der „Verhandlungsdemokratie“ (Neidhart 1970, S.

286). Mittlerweile wird das fakultative Referendum jedoch auch wieder häufiger direkt

eingesetzt (vgl. Feld / Kirchgässner / Savioz 1999, S.26).

Im Vergleich zu fakultativen Referenden nutzen kleinere Außenseitergruppen und

soziale Bewegungen das Instrument der Volksinitiative stärker als Parteien und

Verbände. Obwohl von den bundesweit 165 Volksinitiativen zwischen 1848 und 2008 nur

9% an der Urne erfolgreich waren, bleibt das Instrument dennoch attraktiv, was sich

auch an einer stark angestiegenen Nutzung seit den 1970er Jahren zeigt (vgl. Heussner

/ Jung 2001, S. 122 ff.). Dabei kommt der Volksinitiative eine Ventilfunktion zu, die es

ermöglicht, für das Volk wichtige Themen, die nicht vom Parlament aufgegriffen werden,

auf die politische Agenda zu bringen und zur Abstimmung zu stellen. Der direkte Erfolg

ist dabei in der Schweiz zwar die Ausnahme, aber durchaus möglich, wie am Beispiel

der Abstimmung zum Moratorium für den Bau neuer Atomkraftwerke im Jahr 1990

deutlich wird. Eine weitere Funktion der Volksinitiative ist deren Wirkung als

Verhandlungspfand. Mit einem Anteil von ca. einem Drittel ziehen eine Vielzahl von

Initianten, die ihre Vorlage bereits qualifizieren konnten, diese vor der Abstimmung

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 16 -

wieder zurück. In den meisten dieser Fälle konnte durch die drohende Abstimmung von

den Initianten zuvor erreicht werden, dass zumindest Teile ihres Anliegens durch das

Parlament berücksichtigt wurden. Eine dritte Funktion der Volksinitiative ist die

Möglichkeit, neue Themen und Tendenzen auf die politische Tagesordnung zu setzen,

die nicht beziehungsweise noch nicht mehrheitsfähig sind und daher von den etablierten

politischen Kräften bisher ignoriert wurden. Beispiele hierfür sind Initiativen zur

Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs aus dem Jahr 1976 oder für eine Schweiz

ohne Armee im Jahr 1989 (vgl. Linder 1999, S. 260 f.).

In Bezug auf die Referendumsfähigkeit einzelner Gruppen ist es ferner von Bedeutung,

den Aufwand und die Kosten für die einzelnen Verfahrensetappen in den Blick zu

nehmen. Die Kosten der Unterschriftensammlung lagen dabei bei Volksinitiativen in der

Vergangenheit zwischen ca. 200.000 und 600.000 Franken (ca. 165.000 bis 490.000

Euro) und bei fakultativen Referenden bei ungefähr der Hälfte. Trotz der Kosten waren

bisher jedoch auch kleinere Bewegungen in der Lage, Initiativen erfolgreich zu lancieren,

indem diese den Geldmangel durch zusätzliches Engagement ausglichen. Auch in der

Abstimmungsphase zeigte sich in der Schweiz, dass eine unparteiische

Informationsbroschüre des Bundesrates sowie Zeitungs-, Fernseh- und Radioberichte für

die Orientierung der Bürger im Vordergrund standen und so eine deutliche

Diskriminierung finanzschwacher Gruppen durch die Geldüberlegenheit konkurrierender

Akteure im Abstimmungskampf weitgehend ausgeschlossen werden kann (vgl. Heussner

/ Jung 2001, S. 122 ff.).

Diese Ausführungen zeigen, dass Politiker in der Schweiz durch die direkten sowie

indirekten Wirkungen des fakultativen Referendums unter einem hohen Begründungs-

und Rechtfertigungsdruck stehen und einer großen Kontrolle unterliegen (vgl. Schiller

2002, S. 109). Zudem führen das „Damoklesschwert“ des Referendums und der damit

verbundene Zwang, referendumsfeste Gesetze vorzulegen, dazu, dass die erwartete

Mehrheitsmeinung des Stimmvolks bereits im Gesetzgebungsprozess adaptiert wird.

Damit bestätigt sich die These, dass die Existenz von direktdemokratischen Verfahren in

der Praxis zu einer Verringerung des „Agency-Loss“ führt. Zudem zeigt das Instrument

der Volksinitiative, dass neue Themen erfolgreich auf die politische Tagesordnung

gesetzt werden können. Insbesondere die Wirkung der Volksinitiative als

Verhandlungspfand bewirkt, dass die Responsivität repräsentativer Mechanismen in der

Schweiz deutlich erhöht werden kann. Abschließend muss jedoch darauf hingewiesen

werden, dass sich die Ergebnisse ausschließlich auf den Einfluss referendumsfähiger

Interessen und Gruppen beziehen, wobei für die Schweiz nachgewiesen werden konnte,

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 17 -

dass hierzu auch kleinere soziale Bewegungen zählen und diskriminierende Effekte auf

Grund fehlender finanzieller Mittel weitestgehend ausgeschlossen werden können.

Kritiker betonen in diesem Zusammenhang dennoch, dass die direkte Demokratie in der

Schweiz nicht die einzelnen Bürger, sondern Interessengruppen begünstige, da einzelne

Personen auf Grund der hohen Transaktionskosten nicht in der Lage seien, ein

Referendum zu lancieren (vgl. Kleinewefers 1997, S. 66).

3.4 Bessere Informiertheit der Bürger, hohe Beteiligungsraten und Zufriedenheit

mit dem politischen System?

Lassen sich die Thesen der Vertreter der partizipatorischen Demokratietheorien in der

Praxis bestätigen? Führen die direktdemokratischen Verfahren in der Schweiz zu einer

besseren Informiertheit der Bürger über politische Sachverhalte, zu einer höheren

Zufriedenheit mit dem politischen System und zu steigenden Beteiligungsraten?

In Bezug auf die Beteiligungsquoten auf Bundesebene hat Linder die Zeiträume

zwischen 1980 und 1996 sowie zwischen 1970 und 1996 untersucht. Im Zeitraum 1980

bis 1996 beteiligten sich demnach im Schnitt ca. 40% an den einzelnen

Volksentscheiden, wobei die Beteiligung zwischen den einzelnen Urnengängen stark

schwankte und kein Trend im Sinne einer wachsenden Beteiligung erkennbar war.

Vielmehr zeigte sich, dass die Beteiligungsraten stark themenabhängig waren und im

Zeitraum von 1970 bis 1996 zwischen einem Minimum von 27% (Abstimmung über die

Stabilisierung des Baumarktes) und einem Maximum von 79% (Abstimmung über den

Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum) schwankten (vgl. Linder S. 278 ff.). Über

einen längeren Zeitraum betrachtet, ist die Abstimmungsbeteiligung in der Schweiz

sogar gesunken: Während in den fünfziger Jahren noch durchschnittlich 51% der

Stimmberechtigten an den Abstimmungen teilnahmen, waren es in den sechziger Jahren

noch 45%. Seit den siebziger Jahren pendelte sich die Beteiligung dann bei

durchschnittlich ca. 40% ein (vgl. Feld / Kirchgässner / Savioz 1999, S.60).

In Bezug auf die zweite Fragestellung kommen Benz und Stutzer zu dem Ergebnis, dass

ausgebaute direktdemokratische Verfahren tatsächlich zu einem höheren

Informationsniveau der Bürger über politische Sachverhalte führen. Basis der

Untersuchung war hierbei eine Befragung von insgesamt ca. 7.500 Personen im

Rahmen der Schweizer Nationalwahlen im Jahr 1995, die in allen 26 Kantonen der

Schweiz durchgeführt wurde. Dabei unterscheiden sich die direktdemokratischen

Beteiligungsmöglichkeiten im Vergleich der Kantone untereinander teilweise erheblich.

Unter Berücksichtigung diverser Kontrollvariablen konnte im Rahmen der Untersuchung

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 18 -

nachgewiesen werden, dass die politische Informiertheit der Befragten mit dem Ausmaß

der direktdemokratischen Beteiligungsrechte in ihrem Heimatkanton positiv korreliert ist.

Zudem konnte nachgewiesen werden, dass ausgebaute direktdemokratische

Beteiligungsrechte intensivere Diskussionen über politische Sachverhalte bewirken, die

letztendlich ebenfalls in einem höheren Grad an Informiertheit münden (vgl. Benz /

Stutzer 2004, S. 37 ff.).

Auch die Beantwortung der dritten Fragestellung fällt eindeutig aus: Heussner und Jung

weisen in diesem Zusammenhang auf die hohe Zufriedenheit der Schweizer mit ihrem

politischen System hin. Mit einem Anteil von 88% der Bevölkerung sind die Schweizer

dabei deutlich zufriedener mit ihrem System als die Deutschen, die im Vergleich nur eine

Quote von 66% erzielen. Im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland, in der nur 29%

der Bevölkerung glauben, dass sie Einfluss auf das Regierungshandeln haben, bejahen

diese Frage in der Schweiz immerhin 41%. Direkt befragt nach den Elementen direkter

Demokratie in der Schweiz, bestätigen 85% der Schweizer, dass sie sehr

beziehungsweise ziemlich stolz auf die Möglichkeit von Volksinitiativen und Referenden

sind (vgl. Heussner / Jung 2001, S. 128). Die Ergebnisse zeigen damit, dass die

existierenden demokratischen Elemente in der Schweiz von den Bürgern als Wert an

sich wahrgenommen werden. Bestätigt werden diese Ergebnisse durch eine

Untersuchung von Bernauer und Vatter, die in einem Vergleich von 24 Ländern

nachweisen, dass die Zufriedenheit der Bevölkerung mit dem politischen System positiv

mit den direktdemokratischer Partizipationsmöglichkeiten der Bürger korreliert ist (vgl.

Bernauer / Vatter 2012, S. 456). Eine weitere komparative Studie zu den 26 Kantonen

der Schweiz zeigt in diesem Zusammenhang, dass die positive Korrelation von

Zufriedenheit mit dem politischen System und direktdemokratischen Verfahren

besonders hoch ist, wenn der Fokus nicht auf die Existenz der Verfahren, sondern auf

die Intensität deren Nutzung gelegt wird (vgl. Stadelmann-Steffen / Vatter 2011, S. 551).

Zusammenfassend können somit die von den Vertretern der Partizipatorischen

Demokratietheorien postulierten Wirkungen von direkter Demokratie durch die

empirischen Ergebnisse aus der Schweiz weitgehend bestätigt werden. Dabei konnte

sowohl eine bessere Informiertheit der Bürger über politische Sachverhalte als auch eine

höhere Zufriedenheit der Bürger mit dem politischen System nachgewiesen werden.

Einzig in Bezug auf die Beteiligungsraten konnte keine steigende Tendenz

nachgewiesen werden, wobei geringe Beteiligungsraten vor allem auf weniger

bedeutende Themen zurückzuführen sind. Bei wichtigen Themen wie dem Referendum

zum EWR-Vertrag lag die Beteiligung dagegen bei knapp 80% lag.

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 19 -

3.5 Welche Wirkung hat die direkte Demokratie auf die Staatstätigkeit?

Bestätigt sich These der Vetospieler-Theorie in Hinblick auf die Blockadewirkung von

direktdemokratischen Elementen oder führen diese in der Schweiz zu einer „Robin-

Hood-Tendenz“ im Sinne Downs und damit verbunden zu höheren Steuersätzen und

-Einnahmen sowie einer wachsenden Staatstätigkeit? Kann für die Schweiz zudem eine

innovationshemmende Wirkung im Sinne eines „Status-quo-Bias“ nachgewiesen

werden?

In diesem Zusammenhang kann Linder insbesondere für das Instrument des fakultativen

Referendums auf Bundesebene einen deutlichen „Status-quo-Bias“ nachweisen. Dabei

zeigt Linder für den Zeitraum zwischen 1970 und 1987, dass Referenden weder die

politische Rechte noch die politische Linke, sondern stattdessen die Verteidiger des

Status quo begünstigen, und Referenden somit eine innovationshemmende Wirkung

zugeschrieben werden kann (vgl. Linder 1999, S. 255). Im Gegensatz dazu wird der

Volksinitiative häufig eine starke Innovationswirkung zugeschrieben, die an dieser Stelle

jedoch relativiert werden muss. Linder zeigt in Anlehnung an den „Status-quo-Bias“ von

Referenden, dass auch Initianten von Volksinitiativen auf Bundesebene dazu gezwungen

sind, ihre Forderungen an den Status quo anzulehnen, wenn sie diese als

Verhandlungspfand nutzen oder in einem Volksentscheid erfolgreich umsetzen wollen.

Eine hohe Innovationswirkung kann die Volksinitiative jedoch punktuell entfalten, wenn

es den Initianten in erster Linie nicht um den Erfolg ihrer Forderung geht, sondern

darum, ein Tabuthema auf die politische Agenda zu bringen und hierzu eine breite

Debatte in der Bevölkerung anzustoßen. Ein Beispiel hierfür ist die Armee-Abschaffungs-

Initiative, die sich keine Chance auf Erfolg ausrechnen konnte, jedoch über vier Jahre

eine breite öffentliche Diskussion über den Sinn und Nutzen der militärischen

Bewaffnung in der Schweiz entfachte (vgl. Linder 1999, S. 262 f.). Zusammenfassend

kann am Beispiel der Schweiz somit die These des „Status-quo-Bias“ der direkten

Demokratie insgesamt bestätigt werden, auch wenn das Instrument der Volksinitiative

vor allem punktuell eine Innovationswirkung entfalten kann.

In Bezug auf die Wirkung von Elementen direkter Demokratie auf den Schweizer

Steuerstaat ist die Datenlage auf Bundesebene unzureichend, da in der Vergangenheit

zu Steuerfragen auf Bundesebene kaum Abstimmungen stattgefunden haben (vgl.

Tiefenbach 2013, S. 47). Um den Einfluss von Verfahren direkter Demokratie

nachzuweisen, untersuchen Freitag, Vatter und Müller stattdessen deren Wirkung mit

Hilfe eines statistisch-quantitativen Vergleichs der 26 Kantone in der Schweiz im

Zeitraum zwischen 1983 und 2000 (vgl. Freitag / Vatter / Müller 2003). Da sich die

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 20 -

direktdemokratischen Institutionen und deren Nutzung in den einzelnen Kantonen

deutlich unterscheiden und die Gliedstaaten ansonsten eine große Ähnlichkeit bei

relevanten Strukturmerkmalen aufweisen, ist diese Fallauswahl für ein „most similar case

design“ gut geeignet. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass für die Nutzung der

Volksinitiative keine systematische Beziehung zum Umfang des Steuerstaates

nachweisbar ist. Während linke Parteien im Untersuchungszeitraum versuchten ihre

sozialpolitischen Programme durch Steuererhöhungsinitiativen durchzusetzen, lancierten

bürgerliche Organisationen Steuersenkungsinitiativen zur Umsetzung ihrer

ordnungspolitischen Vorstellungen. Im Ergebnis hatten die beiden Stoßrichtungen dabei

eine neutralisierende Wirkung. Die Befunde für die Schweiz zeigen somit, dass sich die

Wirkung der direkten Demokratie im Sinne einer „Robin-Hood-Tendenz“ in der Praxis

nicht bestätigen lässt. Auf der Ausgabenseite bestätigen die Ergebnisse hingegen die

Blockadewirkung der direkten Demokratie in Hinblick auf die Staatstätigkeit in der

Schweiz. Dabei wird der Blockadeeffekt vor allem durch die direkte sowie indirekte

Wirkung von Finanzreferenden erzeugt. Durch Nutzung dieser obligatorischen oder

fakultativen Verfahren können die Bürger der einzelnen Kantone darüber abstimmen, ob

von den Kantonen oder Gemeinden beschlossene Ausgaben, die eine bestimmte

Größenordnung überschreiten, genehmigt werden sollen (vgl. Tiefenbach 2013, S. 48 f.).

Hohe Ausgaben für einzelne Gruppen wurden dem Stimmvolk daher in antizipierender

Voraussicht entweder nicht vorgelegt oder scheiterten in Abstimmungen in der Regel an

der konservativen fiskalischen Einstellung der Mehrheit. Die Intensität der fiskalischen

Beteiligungsrechte und deren Nutzung auf kantonaler Ebene sind dabei stark negativ mit

den staatlichen Ausgaben im jeweiligen Kanton korreliert (vgl. Feld / Matsusaka 2000;

Freitag / Vatter 2006; Freitag / Vatter 2002; Freitag / Vatter / Müller 2003; Wagschal

1997). Weitere Studien auf kantonaler Ebene in der Schweiz zeigen zudem, dass in

Kantonen mit ausgebauten direktdemokratischen, fiskalischen Beteiligungsrechten „die

Haushaltsdefizite weniger schnell wachsen, die Verschuldung pro Kopf wie auch die

Steuerbelastung niedriger sind, [und] die öffentlichen Leistungen effizienter hergestellt

werden" (Vatter 2007, S. 90).

Im Hinblick auf die ursprüngliche Fragestellung konnte somit bestätigt werden, dass die

direktdemokratischen Verfahren einen Bremseffekt auf Besteuerung und Staatstätigkeit

in der Schweiz haben, wohingegen eine „Robin-Hood-Tendenz“ nicht nachgewiesen

werden kann. Abgesehen vom Instrument der Volksinitiative, das punktuell eine

Innovationswirkung entfalten kann, konnte zudem die These eines „Status-quo-Bias“ der

direkten Demokratie insgesamt bestätigt werden.

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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3.6 Ökonomische Wirkungen der direkten Demokratie

Hat die direkte Demokratie eine positive oder negative Wirkung auf die wirtschaftliche

Leistungsfähigkeit der Schweiz? Die Diskussion dieser Fragestellung verläuft in der

Schweiz seit mehreren Jahren äußerst kontrovers. Auf der einen Seite weisen dabei

Ökonomen wie Wittmann auf die negativen ökonomischen Konsequenzen der direkten

Demokratie hin, die sie auf den „Status-quo-Bias“, eine damit verbundene

Innovationsschwäche und den großen Einfluss von Interessengruppen zurückführen.

Wie Borner, Brunetti und Straubhaar (vgl. Borner / Brunetti / Straubhaar 1990)

argumentiert zudem auch Wittmann, dass die direkte Demokratie in der Schweiz

marktwirtschaftliche Reformen verhindere, somit die international Wettbewerbsfähigkeit

schwäche und zu einem schwachen Wirtschaftswachstum seit den 1979er Jahren

geführt habe. Wittmann zeigt dabei, dass die Elemente direkter Demokratie in der

Nachkriegszeit Privatisierungen und Deregulierungen und somit die Schaffung

notwendiger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und Reformen verhindert haben (vgl.

Wittmann 2001, S. 101). Kritiker dieser Thesen betonen hingegen, „dass die Schweiz

nach wie vor ein sehr hohes Einkommensniveau und eine sehr niedrige

Arbeitslosenquote aufweist […] und in den Ranglisten die von verschiedenen

Institutionen bezüglich der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Industriestaaten

aufgestellt werden, regelmäßig weit oben“ (Kirchgässner 2000, S. 170) platziert ist. Die

Ergebnisse werden zudem auf Grund ihrer methodischen Vorgehensweise in Frage

gestellt. Während die Kritiker der direkten Demokratie betonen, dass eine lange

Erfahrung von politischen Parteien, Wirtschaftsverbänden und Expertenkommissionen

verbunden mit qualitativen Fallstudien die beste Möglichkeit für die Beurteilung der

ökonomischen Wirkungen von direkter Demokratie sei (vgl. Vatter 2007, S. 97),

argumentiert die Gegenseite, dass sich „wirklich aussagekräftige Evidenz nur durch

systematische empirische Forschung […], insbesondere mit Hilfe ökometrisch-

statistischer Methoden“ (Feld / Kirchgässner / Savioz 1999, S. 74) erzielen lasse.

Im diametralen Gegensatz zu den zuvor dargestellten Ergebnissen, weisen die

Befürworter auf die ökonomischen Vorteile einer ausgebauten direkten Demokratie hin.

Im Sinne der Vetospieler-Theorie argumentieren diese, dass die direkte Demokratie den

Staatsinterventionismus einschränke, die Effizienz wirtschaftlichen Handelns steigere

und so zu einer stärkeren ökonomischen Leistungskraft führe (vgl. Freitag / Vatter 2000,

S. 584). Da auf Grund der Einzigartigkeit der strukturbildenden Elemente der direkten

Demokratie in der Schweiz komparativen internationalen Untersuchungen auf Ebene der

Nationalstaaten grundsätzlich enge Grenzen gesetzt sind, untersuchen Freitag und

Vatter stattdessen erneut die ökonomischen Wirkungen auf Ebene der 26 Kantone der

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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Schweiz im Zeitraum zwischen 1983 und 1997. Die Ergebnisse der Arbeit bestätigen

dabei frühere Untersuchungen (vgl. Feld / Kirchgässner / Savioz 1999, S. 100 ff.). Auf

Basis der Analyse von Wirtschaftsleistung pro Kopf sowie des Wirtschaftswachstums der

Kantone weisen auch Freitag und Vatter eine positive Wirkung direktdemokratischer

Rechte auf die wirtschaftliche Entwicklung der schweizer Gliedstaaten nach. Dabei

korreliert die positive Wirkung mit der Anzahl der effektiv durchgeführten

Finanzreferenden: „Höheres Wirtschaftswachstum ist in Kantonen mit zahlreichen

Finanzabstimmungen somit wahrscheinlicher, als in Gliedstaaten, in denen die Bürger

nur in Ausnahmefällen an die Urne gerufen werden.“ (Freitag / Vatter, S. 585). Die

Befunde zeigen daher, dass die intensive Mitsprache der Bevölkerung bei Finanzfragen

ein bedeutender Faktor für die wirtschaftliche Prosperität der einzelnen Kantone ist (vgl.

Freitag / Vatter 2000). Die Gegner der direkten Demokratie kritisieren ihrerseits

wiederum diese positiven Ergebnisse. Wittmann argumentiert in diesem

Zusammenhang, dass „Forscher, die nicht über die erwähnten Qualifikationen verfügen,

nicht Insider des Systems oder keine intimen Kenner politischer Abläufe sind, mit noch

so ausgefeilten [...] ökonometrischen Methoden nicht zum Kern der Sache vorstoßen.

Ihnen bleibt nicht nur das Qualitative, sondern auch das Informelle verborgen.“

(Wittmann 2001, S. 45).

Abschließend argumentiert Vatter, dass die Studien der Kritiker „weder auf vertieften

qualitativen Fallstudien noch auf systematischen quantitativen Analysen auf Basis

sozialwissenschaftlicher Methodenanwendung beruhen, sondern allein auf allgemeinen

Plausibilitätsüberlegungen und der kursorischen Betrachtung von einzelnen

makroökonomischen Indikatoren und Abstimmungsentscheidungen in der Schweiz.“

(Vatter 2007, S. 97). Die empirische Fundiertheit der Studien der Befürworter spreche

daher eindeutig für die positiven ökonomischen Wirkungen der Elemente direkter

Demokratie in der Schweiz. Auch wenn der Argumentation von Vatter im Kern

zuzustimmen ist, bleiben dennoch Zweifel in Bezug auf die ökonomische Wirkung der

direkten Demokratie: Ob das Kernargument der Gegner – Elemente direkter Demokratie

würden zu einer Blockade notwendiger wirtschaftlicher Reformen führen – durch die

komparative Untersuchung der wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen Schweizer

Kantone falsifiziert werden kann, bleibt in diesem Zusammenhang höchst zweifelhaft.

Auch wenn international vergleichenden Studien auf Grund der unterschiedlichen

Rahmenbedingungen auf Ebene der Nationalstaaten enge Grenzen gesetzt sind,

scheinen weitere komparative Untersuchungen in Hinblick auf die Wirkung direkt

demokratischer Elemente auf die wirtschaftliche Reformfähigkeit von Staaten notwendig,

um hierzu eindeutige und empirisch fundierte Ergebnisse zu erhalten.

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

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4 Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Deutschland

Sind die in Kapitel drei analysierten Wirkungen von direkter Demokratie in der Schweiz

auf Deutschland übertragbar und welche Wirkungen sind von einer Führung von

Elementen direkter Demokratie auf Bundesebene in Deutschland zu erwarten? Da sich

die politischen Systeme Deutschlands und der Schweiz zum Teil erheblich

unterscheiden, ist die Fragestellung insbesondere in Hinblick auf die unterschiedlichen

Rahmenbedingungen relevant. Deutschland kann in diesem Zusammenhang als

parlamentarisches Regierungssystem mit bipolarer Parteienkonfiguration bezeichnet

werden, das konkurrenzdemokratisch angelegt ist und in dem Koalitionsregierungen und

deren Fraktionen auf strikte Geschlossenheit bedacht sind. Spezifische Merkmale des

politischen Systems sind die beträchtlichen Kompetenzen des

Bundesverfassungsgerichts, die besondere Stellung des Bundesrates im

Entscheidungsprozess und die damit verbundene Politikverflechtung auf Bundesebene.

Eine weitere Besonderheit des bundesdeutschen Systems ist in diesem Zusammenhang

der von den Mehrheitsverhältnissen in Bundestag und Bundesrat abhängige Wechsel

zwischen stärker konkurrenz- und konkordanzdemokartischen Phasen (vgl. Ismayr 2009,

S. 558). In Hinblick auf die Fragestellung der Integrierbarkeit von direktdemokratischen

Verfahren auf Bundesebene in das politische System Deutschlands kommt Schmidt zu

dem Schluss, dass sich ausgebaute direktdemokratische Verfahren „wenig mit einer

starken Repräsentativdemokratie, [und] einem funktionsfähigen Parteienwettbewerb“

(Schmidt 2010, S. 353) vertragen. Nachfolgend werden daher die im Rahmen dieser

Arbeit gewonnenen Erkenntnisse für die Wirkung von direkter Demokratie in der Schweiz

insbesondere in Bezug auf mögliche Probleme bei der Übertragbarkeit auf Deutschland

sowie deren potenzieller Wirkung diskutiert.

In Hinblick auf die Input-Dimension und dem Schutz von Minderheiten sind die

Ergebnisse gut auf Deutschland übertragbar. Durch die unantastbaren Grundrechte im

Grundgesetz und ein im Gegensatz zur Schweiz starkes Verfassungsgericht mit einer

bedeutenden Korrektivfunktion ist Deutschland sogar deutlich besser gegen die Gefahr

einer Mehrheitstyrannei geschützt. Im Vergleich zur Schweizer Demokratie, die im Kern

auf dem Konzept der Volkssouveränität basiert, würden in der verfassungszentrierten

Bundesrepublik Deutschland direktdemokratische Entscheidungen ebenso der

verfassungsrechtlichen Prüfung unterliegen wie parlamentarische Vorlagen. Um einen

Konflikt der beiden Prinzipien weitestgehend zu vermeiden, wäre es bei einer Einführung

von direktdemokratischen Verfahren auf Bundesebene jedoch von entscheidender

Bedeutung, eine verfassungsrechtliche Vorabkontrolle zu etablieren, da eine

nachträgliche Aufhebung eines erfolgreichen Volksentscheids schwerwiegende negative

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 24 -

Konsequenzen nach sich ziehen kann (vgl. Danaci / Vatter 2010, S. 217 f.). Auch die

Übertragung der Ergebnisse zu den Beteiligungsraten, einer besseren Informiertheit

der Bürger sowie der Zufriedenheit mit dem politischen System lässt keine

Probleme erkennen. Insbesondere in Hinblick auf eine stabile Mehrheit der deutschen

Bevölkerung, die die Einführung direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene

befürwortet, ist auch in Deutschland eine höhere Zufriedenheit mit dem politischen

System zu erwarten. Abschließend für die Input-Dimension wird nun die Übertragbarkeit

der Ergebnisse zur Minderung des „Agency-Loss“ und zur Erhöhung der

Responsivität repräsentativer Mechanismen betrachtet. Auch an dieser Stelle kann

eine Übertragbarkeit der vorgestellten Ergebnisse unterstellt werden. Auch in

Deutschland würde bei Einführung der Verfahren, insbesondere das Instrument des

fakultativen Referendums, den „Agency-Loss“ verringern und das Instrument der

Volksinitiative zu einer Erhöhung der Responsivität repräsentativer Mechanismen führen.

Die positiven Ergebnisse in Bezug auf die Input-Dimension sind somit

zusammenfassend auf Deutschland übertragbar und größere Probleme sind in diesem

Zusammenhang nicht erkennbar.

Sind die Ergebnisse der Output-Dimension des politischen Systems der Schweiz

ebenso problemlos übertragbar oder kommt es hier zu größeren Schwierigkeiten? Dabei

sind die von Schmidt prognostizierten Probleme am ehesten auf Ebene des Output des

politischen Systems zu erwarten. Kern der These ist dabei, dass auch das politische

System der Schweiz formell einem parlamentarischen Regierungssystem entspricht, die

starken direktdemokratischen Elemente aber zur Herausbildung des spezifischen

Konkordanzsystems der Schweiz geführt haben (vgl. Schiller 2002, S. 159; Luthardt

1994, S. 48). Jung argumentiert, dass diese Entwicklung auch in Deutschland

bevorstünde, wenn ausgebaute Elemente direkter Demokratie auf Bundesebene

eingeführt würden. Sie geht dabei davon aus, dass insbesondere Referendumsinitiativen

häufig von der parlamentarischen Opposition genutzt würden. „Angesichts der

Inkompatibilität dieses Verfahrens mit dem parlamentarischen Prinzip hätte dies massive

Effektivitäts-, Legitimitäts- und Stabilitätsprobleme zur Folge, die die Funktionsfähigkeit

des Systems existenziell gefährden würden.“ (Jung 2001, S. 285). Ferner geht Jung

davon aus, dass das Mehrheitsprinzip langfristig aufgegeben und die parlamentarische

Demokratie konkordanzdemokratisch überformt würde. Als Resultat dieser Entwicklung

prognostiziert Jung „ein Mehr an Kontrolle und Bürgernähe in einem blockierten System.“

(Jung 2001, S. 286) Die Einführung eines obligatorischen Verfassungsreferendums in

Deutschland hält Jung hingegen mit Bezug auf das politische System für vertretbar (vgl.

Jung 2001, S. 279 ff.). Schiller entgegnet auf die Argumentation von Jung, dass „für

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 25 -

politische Systeme ohne eingefrorene Mehrheiten und mit einer gewissen Praxis an

parlamentarischen Regierungswechseln […] hingegen eine Entwicklungsautomatik zur

Konkurrenzdemokratie nicht angenommen werden“ (Schiller 2002, S. 160) kann. Zudem

fehle es Jung an Belegfällen für ihre These, dass der Einbau direktdemokratischer

Verfahren in parlamentarische Systeme mit mehrheitsdemokratischer

Parteienkonkurrenz zwangsläufig zu einer Systemtransformation hin zu einer

Konkordanzdemokratie führe (vgl. Schiller 2002, S. 161). Auch wenn Schillers

Argumentation in diesem Punkt schlüssig ist und Jungs Prognose einen Extremfall

darstellt, bleibt festzuhalten, dass mit der Einführung direktdemokratischer Verfahren auf

Bundesebene in Deutschland ein weiteres konkordanzdemokratisches Element seine

Wirkung entfalten könnte. Vor allem in Hinblick auf die Frage der Übertragbarkeit der

analysierten ökonomischen Wirkungen der direkten Demokratie ist diese

Feststellung von Bedeutung. Fraglich bleibt in diesem Zusammenhang, ob ambitionierte

Reformprogramme im Bereich von Sozialsystem und Arbeitsmarkt wie die „Agenda

2010“ unter den Bedingungen ausgebauter direktdemokratischer Mitspracherechte in

Deutschland und einer damit einhergehenden weiteren Konkordanzwirkung umsetzbar

gewesen wären. Wie bereits in Kapitel 3.6 beschrieben, besteht zu dieser Fragestellung

jedoch weiterer Forschungsbedarf, sodass im Rahmen dieser Arbeit diesbezüglich keine

eindeutigen und empirisch fundierten Ergebnisse präsentiert werden können. Auf Grund

der unterschiedlichen Rahmenbedingungen ist auch die Übertragung der positiven

Ergebnisse zu den Wirkungen der direkten Demokratie auf die wirtschaftliche

Entwicklung der Schweizer Kantone nicht problemlos möglich. Da die grundsätzliche

theoretische Fundierung der Ergebnisse jedoch stimmig ist und die Schweiz auch im

internationalen Vergleich in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf seit vielen

Jahren einen Spitzenplatz belegt, spricht wenig dafür, dass die Einführung von

direktdemokratischen Verfahren auf Bundesebene eine negative Wirkung auf die

ökonomische Performance der Bundesrepublik Deutschland hätte. Die Übertragbarkeit

der Wirkung der direkten Demokratie auf die Staatstätigkeit macht abschließend

weniger Probleme. Zunächst zeigen die eindeutigen Befunde aus der Schweiz, dass auf

Grund sich ausgleichender parteipolitischer Initiativen auch in Deutschland nicht mit

einer „Robin-Hood-Tendenz“ zu rechnen ist. Zudem spricht auch im Rahmen des

politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland vieles dafür, dass insbesondere

die Möglichkeit von fakultativen Referenden eine Blockadewirkung im Sinne eine

„Status-quo-Bias“ entfalten und die Staatstätigkeit und Besteuerung des Bundes

bremsen würde. Gerade in Verbindung mit den ohnehin kritisierten Wirkungen der

Politikverflechtung in Deutschland (vgl. Scharpf 1985) könnten Referenden so jedoch

zusätzlich blockierend wirken und auf diese Weise die Innovations- und

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 26 -

Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems weiter schwächen. Dass die punktuell

zu erwartenden direkten oder indirekten Innovationswirkungen von Volksinitiativen diese

potenzielle Entwicklung ausgleichen würden, ist vor dem Hintergrund der Ergebnisse

dieser Arbeit äußerst unwahrscheinlich. Die Frage der Übertragbarkeit der Ergebnisse in

Bezug auf die Output-Dimension muss somit differenziert beantwortet werden.

Insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Politikverflechtung, muss die

Einführung von Elementen direkter Demokratie auf Bundesebene in Hinblick auf die zu

erwartenden konkordanzdemokratischen Effekte, gut überlegt sein.

5 Fazit und Ausblick

Ziel der vorliegenden Arbeit war es, am Beispiel der langjährigen Erfahrungen aus der

Schweiz, Chancen und Risiken der Einführung von Elementen direkter Demokratie auf

Bundesebene in Deutschland zu beurteilen. Hierzu wurden zunächst auf Basis der

theoretischen Grundlagen und der hierauf aufbauenden Analysekriterien, die Wirkungen

von direktdemokratischen Elementen in der Schweiz mit Fokus auf die Bundesebene

analysiert, bevor im Anschluss die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Deutschland

diskutiert wurde. Dabei erfolgte die Darstellung der Ergebnisse getrennt nach Input- und

Output-Dimension des politischen Systems.

In Hinblick auf die Input-Dimension zeigen die Ergebnisse, dass gut in die Gesellschaft

integrierte Minderheiten durch direktdemokratische Elemente nicht schlechter gestellt

werden als im parlamentarischen Prozess. Bei weniger gut integrierten Minderheiten -

wie beispielsweise Ausländern und Muslimen - konnten jedoch insbesondere bei

Versuchen ihre Minderheitenrechte auszubauen, diskriminierende Effekte

direktdemokratischer Verfahren nachgewiesen werden. Eine Wirkung der direkten

Demokratie in Hinblick auf den Abbau von existierenden Minderheitenrechten konnte

hingegen nicht festgestellt werden. Auch wenn die Ergebnisse eine tendenziell negative

Wirkung auf die Rechte von Minderheiten bestätigen, kann in der Schweiz keine Rede

von einer ausgeprägten Tyrannei der Mehrheit sein. Bei der Übertragung auf

Deutschland relativieren sich die negativen Ergebnisse zudem, da Minderheiten in der

Bundesrepublik auf Grund der unantastbaren Grundrechte im Grundgesetz und einem

starken Verfassungsgericht im Vergleich zur Schweiz deutlich besser vor eine Tyrannei

der Mehrheit geschützt werden. In Bezug auf die Thesen der Vertreter der

Partizipatorischen Demokratietheorien zeigen die Ergebnisse dieser Arbeit, dass die von

ihnen prognostizierten Wirkungen der direkten Demokratie weitestgehend bestätigt

werden können. Auch bei einer Einführung von Elementen direkter Demokratie auf

Bundesebene in Deutschland ist daher mit einsetzenden Lernprozessen und einer

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 27 -

besseren Informiertheit der Bürger über politische Sachverhalte zu rechnen. Zudem

zeigen die Ergebnisse aus der Schweiz, dass durch ausgebaute direktdemokratische

Rechte auf Bundesebene, langfristig auch in Deutschland ein Anstieg der Zufriedenheit

der Bürger mit dem politischen System zu erwarten ist. Einzig in Hinblick auf die

Beteiligungsraten können sich die positiven Erwartungen einer stetig wachsenden

Beteiligung nicht erfüllen. Auch in Deutschland ist daher damit zu rechnen, dass sich die

Beteiligungsquoten in Abhängigkeit von der Bedeutung des Abstimmungsgegenstandes

deutlich unterscheiden werden. Dass dieser Status die Funktionsfähigkeit der direkten

Demokratie jedoch entscheidend beeinträchtigt, ist nicht zu erwarten. Die Befunde aus

der Schweiz zeigen ferner, dass direktdemokratische Verfahren die Prinzipal-Agenten-

Beziehungen in der Praxis im Sinne des Prinzipals beeinflussen und so zu einer

Minderung des „Agency-Loss“ beitragen. Vor allem die Veto-Funktion von Referenden

führt dabei zu einem hohen Rechtfertigungsdruck der Politiker. Die potenzielle Nutzung

dieses Vetoinstruments durch die parlamentarische Opposition lässt im politischen

System Deutschlands eine deutliche Machtverschiebung zu Lasten der

Regierungsmehrheit erwarten. Dass der CDU als langjähriger Regierungspartei daher

auch ein Eigeninteresse an der Verhinderung der Einführung direktdemokratischer

Elemente auf Bundesebene unterstellt werden kann, wird vor diesem Hintergrund

deutlich. Abschließend für die Input-Dimension zeigen die Befunde, dass insbesondere

die direkte und indirekte Wirkung von Volksinitiativen die Responsivität repräsentativer

Mechanismen deutlich erhöht. Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse somit, dass

direktdemokratische Verfahren auf Bundesebene in Deutschland eine

überwiegend positive Wirkung auf der Ebene des Inputs des politischen Systems

entfalten würden.

Während in der Input-Dimension des politischen Systems die Chancen einer Einführung

direktdemokratischer Elemente deutlich überwiegen, fallen die Ergebnisse in der

Output-Dimension differenzierter aus. Dabei zeigen die Befunde, dass die

direktdemokratischen Verfahren in der Schweiz maßgeblich zur Ausbildung des

spezifischen Konkordanzsystem der Eidgenossenschaft beigetragen haben. Durch die

Einführung direktdemokratischer Verfahren auf Bundesebene könnte daher auch im

politischen System Deutschlands ein weiteres konkordanzdemokratisches Element seine

Wirkung entfalten. Mit Blick auf die ökonomischen Effekte der direkten Demokratie ist es

daher fraglich, ob ambitionierte Reformprogramme im Bereich von Sozialsystem und

Arbeitsmarkt wie die „Agenda 2010“ unter den Bedingungen ausgebauter

direktdemokratischer Mitspracherechte in der Vergangenheit umgesetzt worden wären.

Abgesehen von einer möglichen Reformschwäche zeigt jedoch die Übertragung der

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 28 -

Untersuchungsergebnisse aus den Schweizer Kantonen, dass keine weiteren negativen

Wirkungen direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene auf die wirtschaftliche

Performance Deutschlands zu erwarten sind. In Bezug auf die Staatstätigkeit zeigen die

Befunde, dass die Einführung der direkten Demokratie auf Bundesebene auch in

Deutschland nicht zu einer „Robin-Hood-Tendenz“ führen würde. Stattdessen wäre

insbesondere von fakultativen Referenden eine Blockadewirkung im Sinne eines „Status-

quo-Bias“ zu erwarten, die die Staatstätigkeit und Besteuerung des Bundes bremsen

würde. Insbesondere in Kombination mit der spezifischen deutschen Politikverflechtung

könnten Referenden so jedoch zusätzlich blockierend wirken und auf diese Weise die

Innovations- und Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems der Bundesrepublik

weiter schwächen. Eine ausschließliche Einführung des Instruments der Volksinitiative

wäre in diesem Zusammenhang allerdings keine Lösung: Die innovationsfreundliche

Wirkung der Volksinitiative kann sich in erster Linie auf Grund der gleichzeitigen Existenz

von Referenden entfalten. Existieren obligatorische und fakultative Referenden hingegen

nicht, ist davon auszugehen, dass verschiedene Akteure für die Blockade politischer

Entscheidungen das Instrument der Volksinitiative nutzen werden. Auch wenn die

Ergebnisse der Arbeit zusammenfassend keine negativen Wirkungen der direkten

Demokratie auf Ebene des Outputs nachweisen können, ist eine Einführung der

direkten Demokratie auf Bundesebene in der Output-Dimension mit Risiken

verbunden. Eine Entscheidung für oder gegen die Einführung der direkten

Demokratie auf Bundesebene in Deutschland muss daher zwingend unter

Berücksichtigung der potenziellen Wirkungen auf beiden Seiten des politischen

Systems erfolgen, wobei positive Effekte in der Input-Dimension mit den Risiken in

der Output-Dimension abzuwägen sind. In diesem Zusammenhang würde

zunächst die alleinige Einführung obligatorischer Verfassungsreferenden auf

Bundesebene in Deutschland die Risiken auf der Output-Ebene – aber auch die

Chancen auf der Input-Ebene – auf ein Minimum reduzieren.

Weiterer Forschungsbedarf existiert in Hinblick auf die Wirkung direktdemokratischer

Elemente auf die wirtschaftliche Reformfähigkeit von Staaten. Um hier zu eindeutigen,

empirisch fundierten Ergebnissen zu gelangen, sind breitere vergleichende

Untersuchungen notwendig – auch wenn internationalen Vergleichen auf Grund der

unterschiedlichen Rahmenbedingungen auf Ebene der Nationalstaaten enge Grenzen

gesetzt sind. Zudem ist davon auszugehen, dass Untersuchungen zu den Auswirkungen

des Volksentscheids aus dem Februar 2014 zur Begrenzung der Zuwanderung in der

Schweiz für den Forschungsstand zu den Wirkungen von Elementen direkter Demokratie

in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen werden.

Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz.

- 29 -

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Versicherung

Versicherung Name: Tom Eich

Matrikel-Nr.: 6954987

Fach: Governance

Modul: Modul 1.4: Demokratie und Governance

Hiermit versichere ich, das ich die vorliegende Hausarbeit mit dem Thema Direkte Demokratie auf Bundesebene? Chancen und Risiken der Einführung in Deutschland am Beispiel der Schweiz ohne fremde Hilfe erstellt habe. Alle verwendeten Quellen wurden angegeben. Ich versichere, dass ich bisher keine Haus- oder Prüfungsarbeit mit gleichem oder ähnlichem Thema an der FernUniversität oder einer anderen Hochschule eingereicht habe. Dormagen, den 04. April 2014 Tom Eich