Dirk Reinhardt: Anastasia Cruz. Die Höhlen von Aztlán

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Dirk Reinhardt AnAstAsiA Cruz Die Höhlen von Aztlán Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher

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Mexico City, eine Megastadt mit zwanzig Millionen Einwohnern — laut, lebendig und chaotisch. Doch unter dieser Oberfläche liegen die Überreste Tenochtitláns verborgen, der einstigen Hauptstadt der Azteken. Und deren Schätze warten nur darauf, wiederentdeckt und ans Licht gebracht zu werden.

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Dirk Reinhardt

AnAstAsiA CruzDie Höhlen von Aztlán

Bloomsbury

Kinderbücher & Jugendbücher

© 2009 Berlin Verlag GmbH, Berlin | Bloomsbury Kinderbücher

& Jugendbücher | Alle Rechte vorbehalten | Umschlaggestaltung:

Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Illustration

von © Thilo Krapp | Typografie und Gestaltung: Renate Stefan, Ber-

lin | Gesetzt aus der Stempel Garamond und der Fontdiner dotcom

durch Greiner & Reichel, Köln | Druck und Bindung: CPI – Ebner

& Spiegel, Ulm | Printed in Germany | isbn 978-3-8270-5351-0 |

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Produktgruppe aus vorbildlich bewirtschafteten Wäldern und

anderen kontrollierten Herkünften

Zert.-Nr. GFA-COC-001278www.fsc.org

© 1996 Forest Stewardship Council

I n h a l t s v e r z e i c h n i s

1. Die Rückkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Eine mysteriöse Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. In der Stadt der Azteken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4. Paco . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5. Im Staub der Jahrhunderte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 6. Die Entschlüsselung der Karte . . . . . . . . . . . . . . . . 103 7. In der Geisterhöhle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 8. Von Göttern und Eroberern . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 9. Die Wahrsagerin und der Bettler . . . . . . . . . . . . . . 183 10. Eine Falle für die Zorak-Brüder . . . . . . . . . . . . . . 208 11. Im Restaurant »Azteca« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 12. Nebel über den schwimmenden Gärten . . . . . . . . 259 13. Horatio Eldergast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 14. Belauschte Geheimnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 15. Der Einstieg in die Unterwelt . . . . . . . . . . . . . . . . 332 16. In der Halle der Jaguarkrieger . . . . . . . . . . . . . . . . 348 17. Die Brücke von Aztlán . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 18. Der Weg durch die Sieben Höhlen . . . . . . . . . . . . 400 19. Gefangen unter der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 20. Schliemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 21. Ein unvergesslicher Abend . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

Aztekische Namen und Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478

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E i n e m y s t e r i ö s e B o t s c h a f t

Vor einer knappen Stunde waren sie vom Londoner Flugha-fen gestartet. Jetzt verschwanden die letzten Ausläufer des Landes unter ihnen, und sie flogen auf das offene Meer hi-naus. Über zehn Stunden würde es dauern, ehe sie in Mexico City wieder festen Boden unter die Füße bekamen.

Anastasia saß am Fenster und kümmerte sich um Schlie-mann, der vor ihrem Sitz hockte. Er flog heute zum ersten Mal, und es schien ihm etwas mulmig zumute zu sein, denn selbst eine Stunde nach dem Start saß er immer noch wach-sam auf seine Vorderpfoten gestützt da.

»Keine Angst, Schliemann«, sagte Anastasia und kraulte ihn hinter den Ohren. »Solange wir in der Luft sind, kann uns gar nicht viel passieren. Erst bei der Landung wird’s wie-der gefährlich.«

Der Professor, der neben Anastasia saß, grinste. »Das ist ja ungemein beruhigend, was du da zu ihm sagst«, bemerkte er.

»Ja, und außerdem ist es nutzlos«, ließ sich Doris, die in einem Reiseführer blätterte, von ihrem Platz am Mittelgang vernehmen. »Er versteht dich sowieso nicht.«

Falsch, dachte Anastasia. Schliemann versteht jedes Wort von mir – im Gegensatz zu dir. »Es beruhigt ihn, wenn ich mit ihm rede«, sagte sie. »Ich glaube, er hat Flugangst.«

»Schliemann und Flugangst?«, sagte der Professor zwei-

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felnd. »Das sollte mich doch wundern. Pass auf, gleich ver-kriecht er sich unter deinen Sitz und verschläft den ganzen Flug. Wahrscheinlich kriegen wir ihn erst wieder zu Gesicht, wenn es was zu essen gibt. Und wenn wir in Mexiko landen, ist er der Frischeste und Ausgeschlafenste von uns allen.«

»Wo du gerade von der Landung redest«, unterbrach Doris ihn und legte ihren Reiseführer beiseite. »Steht eigent-lich fest, dass dein mexikanischer Kollege uns vom Flughafen abholt?«

»Pepe?«, erwiderte der Professor. »Natürlich! Das ist ab-gemachte Sache. Er holt uns ab und fährt uns zu seiner Woh-nung in der Stadt. Wenn wir wollen, können wir die ganzen vier Wochen dort bleiben. Er schläft so lange in seinem Büro im Museum. Macht er sowieso meistens.«

Anastasia horchte auf. Der gute alte Pepe!, dachte sie. Vor ein paar Wochen war ein Brief von ihm gekommen, in dem er dem Professor geschrieben hatte, dass er eine wichtige Ent-deckung gemacht habe und seine Hilfe brauche. Ihr Vater hatte nicht lange überlegt, sondern sofort zugesagt. Anastasia hatte zunächst befürchtet, er würde sie diesmal nicht mitneh-men, weil der Aufenthalt mitten in die Schulzeit fiel, aber ihre Sorgen waren überflüssig gewesen. Aus irgendeinem Grund hatte Pepe großen Wert darauf gelegt, dass sie den Professor begleitete – und ihr Vater hatte schließlich zugestimmt.

Sie kannte Pepe schon seit langem. Er war ein alter Freund ihrer Mutter gewesen, die genau wie er aus Mexiko stammte, allerdings nicht aus der Hauptstadt, sondern von der Halb-insel Yucatán – dem Land der Mayas. Als junger Archäologe hatte Pepe mit Anastasias Vater zusammengearbeitet, und durch seine Vermittlung hatten sich ihre Eltern überhaupt erst kennengelernt. Auch an jener schrecklichen Expedition vor sieben Jahren, bei der Anastasias Mutter gestorben war,

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hatte er teilgenommen. Seitdem hatte sie ihn noch einige Male wiedergesehen, und stets war er wie ein guter Freund zu ihr gewesen.

»Hast du noch mal mit Pepe gesprochen?«, fragte sie. »Gibt’s was Neues von ihm?«

»Wir haben gestern noch telefoniert«, sagte der Professor. »Du weißt ja, dass er am Templo Mayor arbeitet – am Gro-ßen Tempel der Azteken, mitten in der Stadt. Er hat neue Messungen durchgeführt und herausgefunden, dass unter dem Tempel riesige Hohlräume in der Tiefe sein müssen, die bisher noch niemand kennt – also nicht nur diese kleine Kammer, von der er geschrieben hat. Er ist davon überzeugt, dass es sich um planmäßig angelegte Höhlen handelt.«

Anastasia pfiff leise durch die Zähne. »Aber wie kann er da so sicher sein?«, fragte sie. »Es ist doch tief unten in der Erde!«

»Oh, es gibt Messgeräte, mit denen man in die Erde hi-nabsehen kann, ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen«, erklärte der Professor. »Etwa so, wie man sich mit Röntgenstrahlen einen gebrochenen Knochen anschaut, den man mit bloßen Augen nie sehen könnte, verstehst du?«

»Glaub schon. So ’ne Art Röntgenbild der Erde«, sagte Anastasia. »Und wann nehmt ihr euch die Höhlen vor?«

»Vor ein paar Tagen haben Pepes Leute den Eingang zur ersten Kammer freigelegt. Wenn ich bei ihnen bin, werden wir sie öffnen.«

Anastasia hob wie elektrisiert den Kopf. »Das muss ich sehen!«, stieß sie hervor. »Nimmst du mich mit?«

»Wenn es nach mir ginge, jederzeit«, sagte der Professor, hob dann aber bedauernd die Schultern. »Nur gibt es leider ein paar Hindernisse. Erstens schreiben die Behörden genau vor, wer bei einer solchen Grabung dabei sein darf und wer

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nicht. Und zweitens ist da der Zeitpunkt. Wir öffnen die Kammer Dienstag früh. Um die Zeit bist du in der Schule – das hast du doch nicht vergessen, oder?«

Anastasia seufzte. Die Schule! Über all den aufregenden Reisevorbereitungen der letzten Tage hatte sie diese klei-ne, aber nicht ganz unwichtige Tatsache völlig verdrängt. Ihr Schulleiter hatte der Reise nur unter der Bedingung zu-gestimmt, dass sie während der vier Wochen in Mexiko eine englischsprachige Schule besuchte. Auch das hatte Pepe ver-anlasst. Er hatte eine Schule für sie ausfindig gemacht, in der die Kinder von Ausländern unterrichtet wurden, die sich für eine bestimmte Zeit in der Stadt aufhielten. Hauptsächlich handelte es sich um Diplomatenkinder, weshalb er am Tele-fon auch meistens von der »Diplomatenschule« gesprochen hatte. Was für ein aufregender Name!, dachte Anastasia und schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht gerade behaupten, dass sie diesem Teil der Reise mit besonderer Vorfreude entgegen-sah.

»Können wir für Dienstag nicht mal ’ne Ausnahme ma-chen?«, fragte sie. »Nur ein einziges Mal!«

»Du weißt, dass das nicht geht«, sagte Doris, bevor der Professor antworten konnte. »Wir haben eine Vereinbarung mit deinem Schulleiter getroffen. Und Vereinbarungen sind dazu da, dass man sie einhält.«

»Das stimmt«, pflichtete der Professor ihr bei. »Aber sei nicht traurig, Anastasia. Wenn du willst, hol ich dich am Dienstag von der Schule ab und zeig dir nachträglich alles, was wir entdeckt haben. Ist das ein Vorschlag oder nicht?«

»Na ja, ist schon okay«, sagte Anastasia enttäuscht. Wie die Dinge standen, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich da-mit abzufinden. »Und was glaubst du, was ihr da unten fin-den werdet?«, fragte sie und blickte ihren Vater gespannt an.

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»Schwer zu sagen.« Der Professor rieb sich das Kinn, wie er es oft tat, wenn er nachdachte. »Es wäre möglich, dass die Azteken unter dem Tempel Geschenke unterworfener Völker aufbewahrt haben. Dann könnten wir auf wertvolle Gegenstände stoßen. Vielleicht haben sich dort aber auch die Priester auf die Opferungen vorbereitet. Oder die Kam-mern dienten einem anderen Zweck, den wir noch nicht kennen. Na, wie auch immer – übermorgen werden wir es erfahren.«

»Und …« Anastasia zögerte, bevor sie weitersprach. »Die Sache mit dem Schatz?«

Der Professor warf ihr einen kurzen Blick zu und schüt-telte dann lächelnd den Kopf. »Du meinst den Goldschatz des Moctezuma, der sich angeblich noch irgendwo unter der Stadt befinden soll?«, sagte er. »Nein, nein, Anastasia, das ist nur ein Märchen. Ein spannendes Märchen, zugegeben, aber in der Angelegenheit muss ich dich leider enttäuschen. Einen Goldschatz werden wir in den Kammern mit Sicherheit nicht finden.«

An dieser Stelle wurde ihr Gespräch unterbrochen, denn eine Stewardess kam mit dem Getränkewagen den Gang ent-lang. Anastasia nutzte die Gelegenheit, um nachzusehen, was Schliemann trieb. Und tatsächlich: Es war, wie der Professor vermutet hatte. Schliemann lag selig schlummernd unter dem Sitz und gab nur hin und wieder einen tiefen Seufzer von sich. Anastasia lehnte sich beruhigt zurück und blickte aus dem Fenster. Während sie die Wolken beobachtete, gingen ihr tausend Gedanken durch den Kopf. Was mochte in Me-xiko wohl auf sie warten?

Einige Stunden später servierte die Stewardess ihnen das Essen. Und wieder behielt der Professor recht mit seiner Vorhersage: Kaum hatten sie den ersten Bissen getan, tauchte

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Schliemann aus der Versenkung auf. Er gähnte, legte seinen Kopf auf Anastasias Sitz und blickte sie schmachtend an.

»Na bitte! Was hab ich gesagt?«, bemerkte der Professor und schob sich eine Gabel voll Hühnerfrikassee in den Mund.

Anastasia stellte Schliemann eine Schale Wasser hin und füllte seinen Fressnapf, den sie extra für ihn ins Flugzeug mit-gebracht hatte. Schliemann ließ es sich geräuschvoll schme-cken. Nachdem das Essen wieder abgeräumt war, kroch er jedoch nicht unter den Sitz zurück, sondern blieb erwar-tungsvoll vor Anastasia hocken.

»Sieht so aus, als hätte der alte Nimmersatt noch immer Hunger«, vermutete der Professor.

»Nein, er will nichts mehr«, sagte Anastasia, die Schlie-mann besser kannte. »Ich glaube, er muss mal.«

»Um Himmels willen! Daran haben wir ja gar nicht ge-dacht!«, rief Doris. »Was machen wir jetzt mit ihm?«

Der Professor überlegte kurz. »Wie wär’s, wenn wir mit ihm eine kleine Runde auf der Tragfläche drehen?«, fragte er grinsend.

Anastasia achtete nicht weiter auf seinen Vorschlag, son-dern kramte in der Tasche, die sie mit ins Flugzeug gebracht hatte. »Bildet euch bloß nicht ein, dass ich nicht schon vorher daran gedacht habe«, sagte sie und brachte ein durchsichtiges Plastikgefäß zum Vorschein. »Darf ich vorstellen? Schlie-manns Flugzeug-Nachttopf!«

Der Professor pfiff anerkennend durch die Zähne. »Meine Tochter!«, sagte er.

»Und wo soll er sein Geschäft erledigen?«, fragte Doris.Wie wär’s auf deinem Schoß, dachte Anastasia und musste

bei der Vorstellung unwillkürlich grinsen. »Auf der Toilette natürlich. Wo sonst?«, sagte sie und stand auf. »Komm, Schlie-mann!«

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Der Professor und Doris machten Platz, und Anastasia schob sich, gefolgt von Schliemann, auf den Gang hinaus. Einige Fluggäste musterten sie amüsiert, denn angesichts des Gefäßes in ihrer Hand war leicht zu erraten, was sie mit Schliemann vorhatte. Anastasia ließ sich durch die Blicke jedoch nicht stören. Dann aber, als sie die Toiletten fast erreicht hatte, wurde sie aufgehalten. In einer der Reihen zu ihrer Rechten saß ein einzelner Passagier. Er war eingeschla-fen, und gerade als Anastasia an ihm vorübergehen wollte, rutschte ihm eine Zeitschrift, in der er wohl vor seinem Ni-ckerchen gelesen hatte, aus der Hand und fiel ihr genau vor die Füße.

Anastasia hob die Zeitschrift auf, doch als sie sie zu-rücklegen wollte, fiel ihr Blick auf die aufgeschlagene Seite, und sie zögerte. Legende oder Wirklichkeit?, stand dort in riesigen Buchstaben als Überschrift über einem Artikel, und darunter etwas kleiner: Geheimnisvolles Notizbuch gibt dem Mythos des Aztekenvermächtnisses neue Nahrung. Ein Foto zeigte ein zerfleddertes Notizbuch in einem braunen Leder-einband, dessen Seiten mit kaum lesbaren Eintragungen und hastig hingekritzelten Zeichnungen bedeckt waren.

Anastasia beobachtete verstohlen den schlafenden Mann. Er atmete tief und regelmäßig. Sie kämpfte mit sich. Der Artikel hatte jene Neugierde und Abenteuerlust in ihr ge-weckt, die sich nur schwer besänftigen ließ, wenn sie sich einmal regte. Aber die Zeitschrift gehörte ihr nicht, und sie durfte sie nicht einfach mitnehmen. Auf der anderen Seite: Der Mann sah nicht so aus, als ob er in den nächsten Minuten aufwachen würde. Er hätte bestimmt nichts dagegen, dass sie sich das Magazin kurz auslieh und es ihm später wieder zu-rückbrachte. Außerdem: Man sollte nie ohne etwas zu lesen auf die Toilette gehen, dachte Anastasia – ein Standardspruch

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ihres Vaters. Sie blickte sich um, aber die anderen Fluggäste schienen sie nicht zu beachten. Kurzentschlossen setzte sie ihren Weg mit der Zeitschrift unter dem Arm fort.

Als sie die Toiletten erreicht hatte, schob sie Schliemann in eine der Kabinen und schloss hinter sich ab. »Wollen doch mal sehen, was für einer Sache wir da auf der Spur sind, Schliemann«, sagte sie. »Aber erst zu dir.« Sie kniete sich neben ihn und hielt ihm seinen »Flugzeug-Nachttopf« hin. Nachdem Schliemann sein Geschäft verrichtet hatte, machte Anastasia es sich auf dem Toilettendeckel bequem.

»Bin mal gespannt, was es mit diesem Notizbuch auf sich hat«, sagte sie. »Aber lass uns erst nachsehen, was für eine Zeitschrift das eigentlich ist.« Sie schlug das Titelblatt auf. »Geheimnisse unserer Zeit. Hm. Nie gehört.« Auch auf dem Schreibtisch des Professors hatte sie nie ein Exemplar davon gesehen. Wahrscheinlich war es nicht die Art von Lektüre, für die sich Wissenschaftler interessierten. Auf jeden Fall war es, dem Datum nach zu urteilen, die aktuelle Ausgabe. Anastasia zuckte mit den Schultern und schlug wieder den Artikel auf, der ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte.

»Hey, das ist interessant«, sagte sie, nachdem sie die ersten Sätze gelesen hatte. »Hör zu, Schliemann. In einem Hotel­zimmer in Mexico City wurde vor einigen Tagen die Leiche des Amerikaners Bruce Wade aufgefunden. Er war offenbar mit einem schweren Gegenstand erschlagen worden. Wade wurde in mehreren Staaten wegen Antiquitätendiebstahls von der Polizei gesucht. Er war einer jener modernen Schatz­sucher, die kostbare Antiquitäten hinter dem Rücken der Behörden bergen, um sie dann für viel Geld an reiche Pri­vatsammler zu verkaufen. Die Polizei geht davon aus, dass ihm genau dieses gefährliche und verbotene Geschäft zum Verhängnis wurde. Vermutlich hatte er sich in dem Hotel­

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zimmer mit einem Kunden getroffen, um mit ihm über den Verkauf eines wertvollen Gegenstands zu verhandeln. Dabei scheint es zum Streit gekommen zu sein, in dessen Verlauf Wade getötet wurde.«

Anastasia brach ab und blickte Schliemann an, der ihren Worten mit gespitzten Ohren lauschte. »Das sind genau die Typen, mit denen Paps immer Ärger hat«, sagte sie. »Aber jetzt wird es erst richtig spannend. Hör zu. Nachdem die Polizei das Hotelzimmer sorgfältig durchsucht hatte, fand sie unter Wades Sachen auch ein Notizbuch, in das er offen­bar stets seine Erkenntnisse und Entdeckungen eingetragen hatte. Die Polizei übergab das Buch zur Auswertung den Ar­chäologen des Anthropologischen Museums. Diese konnten mithilfe der Notizen manche der Antiquitäten, denen Wade auf der Spur war, ausfindig machen und bergen. Anderen Hinweisen, die zu ungenau oder zu stark verschlüsselt waren, wird derzeit noch nachgegangen. Es gelang uns zwar nicht, Einsicht in das Notizbuch zu erhalten, doch ein Mitarbeiter des Museums, der namentlich nicht genannt werden möchte, ließ durchblicken, dass Wade offenbar an einer Sache be­sonders stark interessiert war.«

Anastasia verstummte. Die folgenden Sätze fesselten sie derart, dass sie nicht mehr laut weiterlas, sondern die Worte nur noch leise mit den Lippen formte. »Unglaublich«, mur-melte sie. Dann erinnerte sie sich an Schliemann. »Das musst du dir anhören. Immer wieder war in dem Notizbuch von ei­nem angeblichen ›Vermächtnis der Azteken‹ die Rede. Wade hatte offenbar über viele Jahre hinweg alle Informationen, Hinweise und Spuren, die er zu diesem Thema finden konnte, zusammengetragen. Unser Informant zeigte sich überzeugt davon, dass viele dieser Hinweise zu den üblichen Legenden und Märchen gehören, die unter den Schatzjägern kursieren.

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Allerdings fand sich in dem Notizbuch auch – sorgfältig ver­steckt zwischen zwei zusammengeklebten Blättern – eine Karte mit alten, verschlüsselten Symbolen, die offenbar den Weg zu diesem vermeintlichen Schatz weisen sollte. Keiner der Archäologen, die mit dem Fall betraut sind, hatte jemals etwas Ähnliches gesehen. Aber bevor –«

Gerade in diesem Moment jedoch klopfte jemand deut-lich vernehmbar von draußen gegen die Tür. »Wie lange soll die Sitzung denn noch dauern?«, fragte eine ungeduldige Stim me.

Anastasia fuhr erschrocken hoch. »Ja! Augenblick!«, rief sie. »Bin gleich fertig!« Dann vertiefte sie sich wieder in den Artikel. »Wo war ich? Ach ja, hier. Hörst du zu, Schliemann? Aber bevor sie dazu kamen, die Karte näher zu untersuchen, geschah etwas Seltsames. Über Nacht wurde das Notizbuch mitsamt der Karte im Safe des Museums aufbewahrt. Eines Morgens jedoch, als der Leiter des Museums den Safe öffnete, war es verschwunden. Die Archäologen informierten sofort die Polizei, aber sämtliche Nachforschungen blieben ohne Ergebnis. Das Notizbuch und – schlimmer noch – die Karte, von der bis dahin keine Kopie angefertigt worden war, sind spurlos verschwunden. Und niemand weiß –«

Sie brach kurz ab, weil sie zum Ende der Seite gekommen war und umblättern musste. Als sie es tat, fiel ein Blatt Pa-pier zu Boden, das sich zwischen den Seiten befunden hatte. »– wem die Karte in die Hände gefallen ist«, führte Anastasia den begonnenen Satz zu Ende. Dann bückte sie sich und hob das Blatt auf. Es schien alt zu sein, denn es war zerknittert und vergilbt. Als sie es betrachtete, traute sie kaum ihren Augen. Eine Karte mit alten, verschlüsselten Symbolen – so hatte es in dem Artikel gestanden. Und was sie jetzt in Hän-den hielt, war …

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»Schliemann«, flüsterte sie, und ihre Stimme zitterte. »Ich glaube, wir haben diese Karte gefunden. Die Karte, die ge-stohlen wurde!«

Erneut klopfte jemand von draußen gegen die Tür, dies-mal wesentlich lauter als zuvor. »Wenn Sie so weitermachen, werden Sie noch die Landung verpassen!«, war die ungedul-dige Stimme wieder zu hören.

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»Um Himmels willen, Schliemann!«, sagte Anastasia und schob die Karte zurück in die Zeitschrift. »Was sollen wir jetzt tun?«

Schliemann drehte sich um und lief zur Tür. »Erst mal raus hier, meinst du?«, fragte Anastasia. »Na, wahrscheinlich hast du recht.«

Draußen wartete ein Mann, der angestrengt die Knie zusam menpresste. »Na endlich!«, stöhnte er. Dann musterte er verblüfft die beiden Gestalten, die ihm aus der Kabine ent-gegenkamen. »Was hast du die ganze Zeit da drin gemacht?«, fragte er. »Den Hund gebadet?«

Anastasia antwortete nicht. Sie hielt nach dem Mann Aus-schau, dem die Zeitschrift gehörte. Was, wenn er derjenige war, der die Karte gestohlen hatte? Oder sogar diesen Bruce Wade … Aber das war ja Unsinn. Sie wusste nicht einmal, ob es sich wirklich um die Karte handelte, von der in dem Artikel die Rede war. Nur eines war sicher: Wenn der Mann inzwischen aufgewacht war, würde er die Zeitschrift schon vermissen. Aber es half nichts. Ob sie wollte oder nicht, sie musste wieder an ihm vorbei.

Langsam setzte sie sich in Bewegung. Als sie die Reihe erreichte, in der er saß, hielt sie den Atem an und blinzelte aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. Gott sei Dank! Er schlief noch immer und schien sich in der ganzen Zeit nicht bewegt zu haben. Aber was nun? Sollte sie die Zeitschrift wieder neben ihn legen? Oder sollte sie ihren merkwürdigen Fund mitnehmen und ihren Vater um Rat fragen? Für einen Moment war sie unschlüssig. Dann betrachtete sie den Mann erneut. Etwas an ihm faszinierte sie. Er schien indianische Züge zu haben, aber sie konnte es nicht genau erkennen, da er das Gesicht von ihr abwandte. Vorsichtig beugte sie sich zu ihm hinüber. Er atmete immer noch tief und gleichmäßig.

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Jetzt konnte sie ihn besser erkennen. Kein Zweifel: Er war ein Indianer. Sie näherte sich ihm noch ein Stück.

Doch gerade in diesem Moment schlug der Mann plötz-lich die Augen auf und drehte sich um. Er packte Anastasia am Arm und zog sie mit einer ruckartigen Bewegung zu sich herunter. »Hallo, Anastasia«, flüsterte er ihr mit heiserer Stimme ins Ohr. »Wie geht es dir? Und wie geht es deinem Vater, dem Professor?«

»Woher kennen Sie meinen Namen?«, keuchte Anastasia, die vor Schreck kaum Luft bekam.

»Oh, du wirst dich wundern«, sagte der Mann in gebro-chenem Englisch. »Du wirst dich wundern, wie viele Leute da, wo du hinfliegst, deinen Namen kennen. Obwohl du noch nie von ihnen gehört hast.«

Der Mann blickte kurz zu Schliemann hinunter, der ihn drohend anknurrte. »Keine Angst, Schliemann«, sagte er freundlich. »Deiner Freundin wird nichts passieren.« Schlie-mann verstummte, beobachtete ihn aber weiter aufmerksam.

»Was wollen Sie von mir?«, stieß Anastasia mühsam her-vor.

»Nichts«, sagte der Mann und lockerte seinen Griff. »Ich wollte dir nur sagen, dass du das, was du dir von mir … aus-geliehen hast, gerne behalten darfst. Ich brauche es jetzt nicht mehr.«

»Ich … ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, stammelte Anastasia und machte sich hastig von ihm los. »Ich muss weiter. Komm, Schliemann!« Sie vermied es, den Mann noch einmal anzusehen, umklammerte die Zeitschrift und eilte den Gang entlang in Richtung ihres Platzes.

Dort angekommen, ließ sie sich schwer atmend in ihren Sitz fallen und lehnte den Kopf ans Fenster. Der Schreck saß ihr noch in allen Gliedern. Wer war dieser Mann? Woher

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kannte er ihren Namen und den von Schliemann? Und was hatte er gemeint, als er gesagt hatte, viele würden sie kennen – da, wo sie hinflog? Sie konnte sich das alles nicht erklären.

»Ist alles in Ordnung, Anastasia?«, hörte sie die Stimme ihres Vaters. Sie spürte, wie er sie von der Seite beobachtete. »Ist dir nicht gut?«

»Doch, doch«, sagte sie. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie ihm von dem Vorfall erzählen sollte. Aber sie wusste aus Erfahrung, dass er ziemlich allergisch reagierte, wenn sie ihm mit Geschichten von geheimnisvollen Schätzen kam. Er war Wissenschaftler, kein Schatzsucher – auf diesen Unter-schied legte er großen Wert. Und sie wollte keinesfalls den Eindruck erwecken, dass sie irgendwelchen Hirngespinsten nachhing. »Es geht schon. Ich glaub, mir ist nur ’n bisschen schwindlig von dem langen Flug.«

»Na, jetzt haben wir es ja bald geschafft«, sagte der Pro-fessor und goss ihr ein Glas Mineralwasser ein. »Hier, trink das. Dann geht’s dir gleich besser.«

Unterdessen hatte Doris sich vorgebeugt und betrachtete interessiert die Zeitschrift, die Anastasia noch immer unter dem Arm hielt. »Wo hast du denn dieses Magazin her?«, fragte sie.

»Ach, das«, sagte Anastasia und bemühte sich, möglichst beiläufig zu klingen. »Das ist nichts weiter. Hab ich da hinten gefunden.«

Auch der Professor wurde jetzt aufmerksam. »Wo gefun-den?«, fragte er. »Auf der Toilette?«

»Nein. Es lag … na ja, es lag neben diesem Passagier, und er hat geschlafen. Die Zeitschrift ist in den Gang gerutscht, und ich hab sie aufgehoben, und dann …« Anastasia machte eine abwehrende Handbewegung. »Ist doch egal«, sagte sie.

»Habe ich das gerade richtig verstanden?«, fragte Doris

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und warf ihr einen scharfen Blick zu. »Die Zeitschrift gehört einem Fluggast, und du hast sie einfach eingesteckt, während er schlief, und mitgenommen?«

»Nein«, sagte Anastasia. »Das heißt: ja, zuerst schon. Du meine Güte, was macht ihr für eine Sache daraus! Ich wollte sie ihm ja wiedergeben, aber –«

»Und genau das wirst du jetzt auch tun«, sagte Doris und stand auf. »Und ich gehe vorsichtshalber mit. Du wirst dem Mann seine Zeitschrift zurückgeben und dich bei ihm ent-schuldigen. Und zwar sofort!«

»Doris hat recht«, sagte der Professor. »Die Sache musst du in Ordnung bringen.«

»Aber er hat sie mir geschenkt!«, protestierte Anastasia.»Ich denke, er hat geschlafen«, sagte Doris. »Da stimmt

doch irgendwas nicht. Na komm, das klären wir!«Der Professor warf Anastasia einen unmissverständlichen

Blick zu und rutschte zur Seite, um sie vorbeizulassen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den unangenehmen Gang anzutreten. Dass diese Doris aber auch alles, was sie tat, überwachen musste! Widerwillig folgte sie ihr. Bei dem Ge-danken, dem mysteriösen Mann erneut gegenübertreten zu müssen, war ihr alles andere als wohl in ihrer Haut.

Aber es kam gar nicht dazu. Als sie die Reihe erreichten, in der der Mann gesessen hatte, war nichts mehr von ihm zu sehen. Und nicht nur das. Auch sämtliche Sachen, die er bei sich gehabt hatte, waren spurlos verschwunden. Nichts deutete darauf hin, dass sich hier noch vor wenigen Minuten jemand aufgehalten hatte.

»Also, wo soll der Mann gesessen haben?«, fragte Doris.»Na, hier!«, sagte Anastasia und deutete auf die leeren

Plätze.»Willst du mich auf den Arm nehmen?« Doris blickte sie

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verärgert an. »Du siehst doch, dass hier niemand ist. Alles leer! Hier hat während des ganzen Flugs noch keiner gesessen!«

Anastasia schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Die ganze Geschichte, die sich da eben abgespielt hatte, kam ihr selbst unglaublich vor – wie sollte ihr da ein anderer glauben? Aber sie hatte doch keine Halluzinationen! Sie war doch nicht verrückt!

»Leg die Zeitschrift auf den Sitz«, hörte sie Doris sagen. »Vielleicht hat sie jemand vergessen und sucht später nach ihr.«

»Aber –«»Keine Widerrede, Anastasia!«, sagte Doris. »Leg die

Zeitschrift hin, und dann komm!«Anastasia warf die Zeitschrift auf den Sitz, aber ab sichtlich

so, dass sie hinunterrutschte und zu Boden fiel. Sie hörte, wie Doris genervt aufstöhnte. Dann bückte sie sich und griff nach dem Magazin. Dabei gelang es ihr, die Karte heraus-zuziehen und unbemerkt in ihrer Tasche verschwinden zu lassen. Die Zeitschrift selbst warf sie auf den Sitz zurück und dann folgte sie Doris, die bereits vorausgegangen war.

»Das geht so nicht mehr weiter!«, hörte sie Doris zu dem Professor sagen, als sie wieder an ihrem Platz eintraf. »Diese Abenteuergeschichten, mit denen sie sich ständig beschäftigt, sind einfach nicht gut für sie. Und dass sie immer auf diese Reisen mitfährt, macht es nicht besser!«

Anastasia ließ sich schweigend auf ihren Platz sinken und sah aus dem Fenster.

»Schau mich mal an, Anastasia!« Der Professor blickte ihr besorgt ins Gesicht. »Vielleicht war die ganze Aufregung mit der weiten Reise doch ein bisschen viel«, sagte er. »Hast du Fieber?« Er befühlte ihre Stirn. »Nein, ich glaube nicht. Aber heute Abend gehst du ganz früh ins Bett, hörst du?«

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»Ja, klar. Mach ich«, sagte Anastasia betont kleinlaut. Was für ein Flug!, dachte sie dann bei sich und zwinkerte Schlie-mann zu, der vor ihr saß und sie aufmerksam beobachtete. Verstohlen tastete sie in ihrer Hosentasche nach der zerknit-terten Karte mit den seltsamen Zeichen darauf. Noch aber ahnte sie nicht einmal, in welche Abenteuer sie dieses kleine Stück Papier in den folgenden Wochen führen sollte.