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Diskursethik Begründungs- und Anwendungsfragen Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Dr. phil. eingereicht an der Universität Stuttgart (Fakultät 11) im Mai 1999 von Niels Gottschalk

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DiskursethikBegründungs- und Anwendungsfragen

Wissenschaftliche Arbeit

zur

Erlangung des Dr. phil.

eingereicht an der

Universität Stuttgart

(Fakultät 11)

im Mai 1999

von

Niels Gottschalk

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1. Gutachter: Prof. Dr. C. Hubig (Stuttgart)

2. Gutachter: Prof. Dr. K. Ott (Greifswald)

Tag der mündlichen Prüfung: 24.6.1999

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»Wenn man sich kein Ziel setzt,

kann man auf dem Weg dorthin

auch nichts erreichen«

(Helmut Kohl)

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VorwortDiese Arbeit enthält Studien zu Begründungs- und Anwendungsfragen des von J. Habermas

und K.-O. Apel in den letzten zwei Jahrzehnten auf den Weg gebrachten

Forschungsprogramms der »Diskursethik«. Als ich vor gut drei Jahren begann, dachte ich

noch, den Schwerpunkt auf den Übergang von der Diskursethik zu organisierten

Diskursverfahren zu Technik- und Umweltproblemen legen zu können. Doch die in der

Literatur vorfindlichen Überlegungen zur Anwendung der Diskursethik erwiesen sich als zu

lückenhaft und fehlerhaft, so daß sich auf diese nicht einfach aufbauen ließ. Zu einer

Anwendung der Diskursethik ist es daher hier kaum gekommen. Außerdem dachte ich, ohne

eine eigene Durchsicht der Begründungsprobleme der Diskursethik auszukommen.

Umfänglicher als geplant mußte jedoch ausgeführt werden, was angewendet werden sollte:

wurden in den letzten Jahren doch einige Varianten der Diskursethik entwickelt, für die sich

neben den Begründungsproblemen auch die Anwendungsprobleme in unterschiedlicher Weise

stellen.

Über Anwendungsfragen und -probleme in der Ethik sind in der philosophischen Literatur

trotz anhaltender Konjunktur der »angewandten Ethik« bisher nur wenige abstrakte

Überlegungen zu finden. Entsprechende Arbeiten widmen sich vorrangig ethischen

Begründungsproblemen, und angewandte Ethik wird häufig einfach betrieben oder

vermeintlich ethik-extern als Problem der „Moralisierung“ reflektiert. Nur selten wird über

diejenigen Probleme als allgemeine Probleme gesprochen, die sich stellen, nachdem ein

Moralprinzip oder eine Moralkonzeption begründet worden ist. Da diese Probleme in den

verschiedenen philosophischen Ethiken auf teilweise ähnliche Weise auftreten, habe ich das

entsprechende Kapitel (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) etwas allgemeiner angelegt.

Ursprünglich als interdisziplinäre Arbeit zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften

geplant, dominiert so nun doch die philosophische Problemsicht. Die Leserinnnen und Leser,

die sich von vorliegender Arbeit die Lösung wenigstens dieser, der philosophischen Probleme

erwarten, dürften enttäuscht werden. Nur zu gerne hätte ich solche Lösungen präsentiert, doch

im Rückblick kann ich mit dieser Arbeit höchstens behaupten, einen Beitrag zu einer klareren

Beschreibung und Unterscheidung von philosophischen Problemen geleistet zu haben.

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Ohne die vielen interessanten Diskussionen mit Nadia Mazouz und Micha H. Werner, sowie

mit Christoph Hubig und Konrad Ott, hätte diese Arbeit in dieser Form nicht entstehen

können. Die vielen sonstigen Menschen, mit denen ich – zeitweise auch im Rahmen des

Graduiertenkollegs „Ethik in den Wissenschaften“ am gleichnamigen Zentrum der Universität

Tübingen – Gespräche führen konnte, deren Themen sich mit demjenigen dieser Arbeit

überschnitten, kann ich hier nicht alle nennen. Auch ihnen sei hier herzlich gedankt.

Schließlich möchte ich mich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Studienstiftung

des deutschen Volkes sowie meinen Eltern für die finanzielle Unterstützung bedanken.

Stuttgart, im Mai 1999

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Inhalt

EINLEITUNG........................................................................................................................................................1

DISKURSTHEORIE.............................................................................................................................................4

HABERMAS‘ DISKURSTHEORIE.............................................................................................................................4Diskurs und Geltungsanspruch .......................................................................................................................4Diskurs und Diskursregeln ..............................................................................................................................6Verständlichkeit – ein Geltungsanspruch? ......................................................................................................7Praktische Geltungsansprüche (bis 1983).......................................................................................................9Syllogismen....................................................................................................................................................11Verschränkung von Geltungsansprüchen? ....................................................................................................13Revisionen .....................................................................................................................................................15

Wahrheit und Wahrheitsanalogie...............................................................................................................16Weitere Diskurstypen ................................................................................................................................17

ANFORDERUNGEN AN EINE UMFASSENDE DISKURSTHEORIE ..............................................................................20Noch einmal: Syllogismen .............................................................................................................................21

Theoretische Urteile...................................................................................................................................22Praktische Urteile.......................................................................................................................................26Syllogismus und Abduktion.......................................................................................................................27

Ästhetik und Episteme....................................................................................................................................29Höherstufige Konsense ..................................................................................................................................32

DISKURSETHIK: BEGRÜNDUNGSPROBLEME ........................................................................................37

DAS BEGRÜNDUNGSPROGRAMM DER DISKURSETHIK.........................................................................................40Das universalpragmatische Programm – Habermas (1983).........................................................................42Exkurs: Letztbegründung der Diskursethik per strikter Reflexion – die Transzendentalpragmatik ..............48

Das Programm einer Letztbegründung der Diskursethik – K.-O. Apel (1973) .........................................50Ausarbeitung des Letztbegründungsprogramms – W. Kuhlmann (1985)..................................................51Präzisierung des Status‘ transzendentaler Diskurse – M. Niquet (1994)...................................................54

Revisionen des universalpragmatischen Programms – J. Habermas (1992) ................................................57

REKONSTRUKTIONS- UND DURCHFÜHRUNGSVERSUCHE DES BEGRÜNDUNGSPROGRAMMS................................59Formale Rekonstruktion des Begründungsprogramms in kritischer Absicht – C. Lumer (1997)..................59Versuch zur Durchführung des Begründungsprogramms per materialer Implikation – W. Rehg (1991) .....64

Die erste Hauptprämisse ............................................................................................................................68Die zweite Hauptprämisse .........................................................................................................................70Die Ableitung von »U« in zehn Schritten..................................................................................................71

Versuch einer Begründung der Diskursethik per pragmatischer Implikation – K. Ott (1996)......................77Die Beziehung zwischen Prämissen und Konklusion (Moralprinzip): pragmatische Implikation ............78

Praxis und PI..........................................................................................................................................79Moralbegründung durch PI? ..................................................................................................................81Wahrheitsbedingungen der PI?..............................................................................................................85

Die Geltung der Diskursregeln: Unter einer egalitären Annahme .............................................................88Begriffliche Wahl (‘Moral’, ‘Norm’, ...) und weitere Prämissen...............................................................90

Erster Vorschlag zur Ableitung von »D« (1996; 1997) .........................................................................90Zweiter Vorschlag zur Ableitung von »D« (1998) ................................................................................93

Die Begründung von »U« erfordert mehr als nur »D« ..............................................................................94Die Architektur: »D« als Moralprinzip vor »U« als Argumentationsregel................................................97Die Formulierung von »U«: Streichung der „Interessen“..........................................................................97

VORSCHLÄGE ZUR PARTIELLEN NEUBESTIMMUNG DER DISKURSETHIK UND IHRES BEGRÜNDUNGSPROGRAMMS

...........................................................................................................................................................................98Das fortwährende Moralgespräch – S. Benhabib (1990) ..............................................................................98

Begründungsschritte ..................................................................................................................................99Revisionen ...............................................................................................................................................102

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Richtigkeit als Einwandfreiheit – A. Wellmer (1979/1986) .........................................................................104Kritik an der Konsenstheorie ...................................................................................................................105Kritik an der Diskursethik als Kommunikationsethik..............................................................................110Kritik der Assimilation von Moral an Recht............................................................................................110Fehlorientierung auf ein »Reich der Zwecke«.........................................................................................112Stattdessen: eine schwache Konsenstheorie ............................................................................................114Verflechtung von Geltungsansprüchen....................................................................................................117

Die Moral des doppelten Respekts – Wingert (1993) ..................................................................................120Normative Richtigkeit .............................................................................................................................121Doppelter moralischer Respekt................................................................................................................122Kommunikative Lebensform ...................................................................................................................123Begründungsschritte ................................................................................................................................124Reflexivität ..............................................................................................................................................126

VERSUCH EINER NEUBEGRÜNDUNG DER DISKURSETHIK AUS PARTIKULAREN GELTUNGSANSPRÜCHEN – M.KETTNER (1998) ..............................................................................................................................................129

Moralurteile und rationale Bewerter...........................................................................................................130Gründe und gute Gründe.............................................................................................................................133Adressaten-Partikularität guter Gründe durch Projektionseigenschaften ..................................................135Noch einmal: Gründe und gute Gründe ......................................................................................................139Gewichtungen von Gründen und Universalisierung....................................................................................140Rechtfertigung der Exklusion und Universalisierung..................................................................................141Begründungen von Begründungen und Universalisierung..........................................................................144

DISKURS, ANERKENNUNG UND DAS KOGNITIVISTISCHE RAHMENKONZEPT DER DISKURSETHIK......................146Richtigkeit, Einwandfreiheit und Diskurs....................................................................................................146Diskurs und Anerkennung ...........................................................................................................................151Zustimmung der Handlungs-Gegenüber und ihre möglichen Gründe.........................................................160

Exkurs: Kriterien der Zustimmung? ........................................................................................................160Diskursethik als rationalistisches bzw. kognitivistisches Rahmenkonzept ..................................................164

DISKURSETHIK: ANWENDUNGSPROBLEME ........................................................................................168

PROBLEMTAXONOMIE ......................................................................................................................................168Vier Hinsichten des Problems: A1 – A4 ......................................................................................................168Exemplarische Erläuterung dieser vier Hinsichten.....................................................................................169Problemdifferenzierung: Intermediäre Regeln............................................................................................172Anwendungsfragen speziell in der Diskursethik ..........................................................................................174

Bestimmung des Verfahrens................................................................................................................175Bestimmung der Inhalte.......................................................................................................................175Nichtstandard-Diskursethik .................................................................................................................176

ANWENDUNGSPROBLEME AUS SICHT VON J. HABERMAS .................................................................................177Frühphase (70er Jahre): Keine explizite Diskursethik ................................................................................179Mittlere Phase (80er Jahre): Hegels Kantkritik ..........................................................................................181

Abstraktionsleistungen der Moral............................................................................................................186Dekontextualisierung und Demotivierung...............................................................................................188Formalismus und Abstraktion..................................................................................................................191

Spätphase (90er Jahre): Kontextgebundene Diskurse.................................................................................202Kontextgebundenheit ethischer Diskurse ................................................................................................203Anwendungsdiskurse...............................................................................................................................208Zumutbarkeit ...........................................................................................................................................209Gefühle ....................................................................................................................................................211

Diskussion der Habermasschen Sicht auf diskursethische Anwendungsprobleme......................................213

PROBLEME IN DER TRANSZENDENTALPRAGMATIK...........................................................................................217Anwendungsprobleme aus Sicht von K.-O. Apel .........................................................................................217Ausdifferenzierung des Anwendungsteils B durch D. Böhler ......................................................................222

AUSARBEITUNG DES PROBLEMS DER ZUMUTBARKEIT DURCH M. NIQUET (1992) ...........................................226Der Weg zur Befolgungsgültigkeit...............................................................................................................227Betroffenheit und Beteiligung an Folgediskursen........................................................................................230Allgemeinere Aspekte der Kritik ..................................................................................................................233Die Unterstellung der „allgemeinen Befolgung“ im Moralprinzip.............................................................235

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AUSARBEITUNG DES PROBLEMS DER ANWENDUNGSDISKURSE DURCH K. GÜNTHER (1988) ...........................240Anwendungsprobleme von Normen .............................................................................................................241Formale Rekonstruktion der Anwendbarkeit von Normen ..........................................................................244Anwendungsprobleme des Moralprinzips....................................................................................................248Antizipation der Anwendung in der Begründung: Starkes »U«...................................................................249Eigenständigkeit der Anwendung: Schwaches »U«.....................................................................................251Der Situationsbezug in Begründungsdiskursen ...........................................................................................254Epistemische Probleme von »U« .................................................................................................................257Das Verhältnis von Begründung und Anwendung.......................................................................................259Entwicklungspsychologie der Anwendung...................................................................................................264Allgemeine oder spezielle Normen – eine offene Frage ..............................................................................266

INDIVIDUELLE NORMEN UND GENERELLE PRINZIPIEN: DIE ANWENDUNGSKONZEPTION VON R. ALEXY

(1985/1995) .....................................................................................................................................................267Individuelle Normen statt moralischer Faustregeln: Alexys Kritik an Günther..........................................267Anwendungsleitende Prinzipien...................................................................................................................269Regeln: Normen, Prinzipien – und Werte?..................................................................................................271

DISKURSIV INTEGRE TEXTURÜBERGÄNGE - DIE ANWENDUNGKONZEPTION VON KETTNER .............................274Intersubjektivität und Universalismus – in der Anwendung? ......................................................................276Weitere Anwendungsprobleme ....................................................................................................................282

Konstruktion von Projektionseigenschaften ............................................................................................282Anwendungsbedingungen und Zumutbarkeit ..........................................................................................283Prohibitive Bedingungen? .......................................................................................................................284Moralreflexion .........................................................................................................................................284

Kompromißbildung zwischen konfligierenden Moralen ohne Privilegierung der Moral-im-Diskurs? .......288

VERSCHIEDENE ANWENDUNGSEBENEN - DIE KONZEPTION VON P. ULRICH.....................................................290Diskursethik als Explikation des »moral point of view« .........................................................................290Drei Stufen der Zumutbarkeit ..................................................................................................................292Institutionalisierung von Diskursen? .......................................................................................................294

ANWENDUNG ALS RATIONALISIERUNG VON PRAXISFELDERN – DIE KONZEPTION VON K. OTT (1996)............296Kern und Schalen ........................................................................................................................................296

Elemente von Kern und Schale................................................................................................................298Beziehungen zwischen Kern und Schalen ...............................................................................................299

Anwendungsdiskurse – reale Diskurse ........................................................................................................301Die Ableitung von grundlegenden Moral- und Rechtsnormen ....................................................................304Die Ottsche Anwendungskonzeption am Beispiel der Wissenschaftsethik...................................................305Zumutbarkeit und Teleologie.......................................................................................................................306Anwendungsprobleme zwischen Kern, Schalen und Fällen ........................................................................308Abwägung und Normenanwendung.............................................................................................................311Kriterien der Abwägung ..............................................................................................................................316

»judgment« und »calculation«.................................................................................................................317Kriterien juristischer Abwägung..............................................................................................................320Strategien des Dissensmanagments .........................................................................................................326

Normen- und Prinzipienkollisionen.............................................................................................................328

POLITIK, TECHNIK, PARTIZIPATION UND DISKURS .........................................................................334

INSTITUTIONEN, PARTIZIPATION UND DISKURS................................................................................................335

POLITISCHE TECHNIKSTEUERUNG ....................................................................................................................337Probleme einer politischen Zentralsteuerung..............................................................................................338

Staat und Akteure ....................................................................................................................................338Untergliederung des Staates.................................................................................................................338Vielzahl der Akteure............................................................................................................................339Rechtliche Rahmenbedingungen staatlicher Steuerung .......................................................................340

Pragmatische Probleme rechtlicher Regulierung.....................................................................................341Probleme eines Steuerungsverzichts............................................................................................................342Kontextsteuerung als Alternative.................................................................................................................344

ORGANISIERTE PARTIZIPATION UND DISKURS..................................................................................................347Formen der Partizipation ............................................................................................................................349Möglichkeiten der Beteiligung.....................................................................................................................350

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Teilnahme in Verfahren ...............................................................................................................................351Modelle für partizipative Verfahren ............................................................................................................354

Mediation.................................................................................................................................................354Diskurs-Modelle ......................................................................................................................................356Eine erste Einschätzung...........................................................................................................................360

REALER DISKURS UND BEGRÜNDUNGSPFLICHTEN ...........................................................................................362Exemplarische Kritik des Drei-Stufen-Diskurses ........................................................................................365

LITERATUR .....................................................................................................................................................371

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Einleitung

Jede Ethik besteht aus einem System von Sätzen, das direkt oder indirekt (über Normen,

Maximen etc.) Handlungsbeurteilungen möglich macht. Im Kern dieses Systems von Sätzen

steht bei vielen modernen Ethiken ein Moralprinzip. Die philosophisch-argumentativen

Bemühungen bis hin zum Moralprinzip sollen als ihr Begründungsteil verstanden werden.

Alles, was in ihrem Rahmen weiterhin erforderlich ist, um zu erfahren, was es in einer

konkreten Situation heißt: das richtige zu tun (»to do the right thing«), wird in dieser Arbeit

als Anwendungsteil einer Ethik bezeichnet. Diese Einteilung scheint dem üblichen

Sprachgebrauch insofern zuwiderzulaufen, als doch auch in der Anwendung einer Ethik

begründet wird – nur eben nicht mehr „die Ethik“ selber. Ich habe mich dafür entschieden,

den argumentationslogisch höchsten Punkt, von dem aus im Rahmen einer Ethik speziellere

Präskriptionen begründet werden, nämlich das Moralprinzip, als trennendes Element

zwischen Begründungs- und Anwendungsteil einer Ethik zu bezeichnen.

In einem ersten Hauptteil dieser Arbeit wird der diskurstheoretische Hintergrund der

Diskursethik aufgearbeitet. Ohne diesen lassen sich weder die Begründungs- und

Anwendungsprobleme wirklich verstehen, die sich einer Diskursethik stellen. Eingangs sollen

also wesentlich die Herausforderungen skizziert werden, denen eine Diskursethik sich

gegenübersieht, wenn die mit dem Anspruch auftritt, praktische Konflikte „rationalisieren“,

d.h. anhand von Gründen beurteilbar machen zu können. In diesem Teil werden einige der

Probleme angeschnitten, die in den nachfolgenden Hauptteilen dann genauer systematisiert

und vertieft werden. Er ist daher als Problemexposition zu verstehen, wird aber (in der

Vorstellung der höherstufigen Konsense) auch Lösungsperspektiven eröffnen.

Der zweite Hauptteil thematisiert die Begründungsseite der Diskursethik. Zu

Begründungsproblemen der Ethik, speziell auch der Diskursethik, gibt es eine inzwischen

unüberschaubare Flut von Literatur: Jeder Versuch, diese Einwände zu versammeln und zu

prüfen, müßte daher in einer bestimmteren Absicht geschehen, als nur derjenigen, die

Diskursethik verteidigen zu wollen (wie noch in Habermas‘ „Sammelrezension“ von 1991,

die aber bereits dem Zwecke der „Erläuterung“ seines Programms diente). In dieser Arbeit

soll aber nicht die Verteidigung der (oder besser: einer) Begründung der Diskursethik

geschehen. Hier sollen vielmehr die unterschiedlichen Begründungsprogramme soweit

untersucht werden, daß klar wird, was eigentlich begründet wird, damit dann zu den

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Problemen der Anwendung der Diskursethik (oder besser: der Diskursethiken) übergegangen

werden kann. Am Ende des Begründungskapitels wird der rekonstruktive Ertrag der

Durchsicht der verschiedenen Begründungsprogramme dargestellt und ein inklusives und

reflexives, mehrstufiges Konzept der Diskursethik vorgeschlagen.

Dies heißt aber nicht, daß Einwände gegen das Begründungsprogramm der Diskursethik

keinen Eingang finden. Nur eben nicht auf direkte Weise: Denn die (Neu-)Entwürfe, die ich

diskutieren werde, sind natürlich nicht völlig ohne Kenntnis und Berücksichtigung der

Einwände aus der Literatur vorgenommen wurden. Dabei mag natürlich so mancher Einwand

verloren gegangen sein. Nur wo also eine wichtige kritische Bemerkung auf diese Weise

keine Berücksichtigung gefunden hat und sie gleichzeitig für das Untersuchungsziel dieser

Arbeit wichtig ist, habe ich diese explizit angeführt. Ansonsten hätten Platzprobleme schlicht

überhand genommen.

Die Anwendungsseite der Diskursethik wird im dritten Hauptteil besprochen. In der

Diskussion der Anwendungsprobleme wird im Kern ähnlich vorgegangen. Auch hier wird

wesentlich den konstruktiven Vorschlägen der verschiedenen Autoren gefolgt. Nur legt sich

hier ein solches Vorgehen noch stärker nahe, da es eine ausgiebige Diskussion, wie in den

80er Jahren zum Begründungsprogramm der Diskursethik, nicht gegeben hat. Stärker als im

Begründungskapitel wurden hier eigene Überlegungen an den entsprechenden Stellen

eingearbeitet, was eine rekonstruierende Zusammenfassung dieses Teils verzichtbar macht.

Trotz (oder gerade wegen?) der anhaltenden Konjunktur angewandter Ethik finden sich in der

Literatur kaum abstraktere Überlegungen zu Anwendungsproblemen, die unabhängig von

bestimmten Ethiken auftreten oder von für bestimmte Typen von Ethiken typische Probleme.

Eher schon findet man den wiederholten Hinweis auf Paradoxien, Dilemmata, Aporien usw.

angewandter Ethik, die teils psychologischer, teils politischer Natur sind. Daher beginnt das

Anwendungskapitel mit einigen metaethischen Bemerkungen in analytischer Absicht, die

größtenteils nicht speziell die Diskursethik betreffen, sondern strukturelle und systematische

Aspekte angewandter Ethik allgemein. Die Diskursethik ist insofern ein gutes Beispiel, diese

Probleme aufzuzeigen, als sie (in einer bestimmten Interpretation) keine konkrete

Moralkonzeption auszeichnet und auch nicht eine Normensemantik. Von daher werden

Anwendungsprobleme, die sich in ihrem Rahmen stellen, einerseits für verschiedene

Moralphilosophien unterschiedlich relevant, aber immerhin: relevant sein. Und zweitens

können höherstufige Probleme, die normalerweise im Rahmen einer Moralphilosophie nicht

gestellt werden, dadurch allererst in den Blick geraten.

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Im vierten und letzten Teil schließlich geht es um die Frage, was es hieße, die Frage nach der

Einrichtung von kommunikativ-partizipativen Verfahren im Rahmen der Diskursethik zu

stellen. Solche Verfahren sind nur sehr begrenzt unter der Diskursethik „direkt“ zu beurteilen.

Zum Verhältnis von Ethik und Insitutitionen, der Möglichkeit der Organisation von

Verantwortung und der Rolle, die Diskurse dabei spielen (können), gäbe es sicher mehr zu

sagen, als in dieser Arbeit gesagt werden wird. Auch müßten Überlegungen der politischen

Philosophie in größerem Maße herangezogen werden, als das in dieser Arbeit geschehen

konnte. Eine Einpassung des Phänomens organisierter diskursiver Verfahren, die über die

grundlegende politisch-rechtliche Selbstgesetzgebung hinausreichen, in den Rahmen

politischer Philosophien wäre eher noch eine zu leistende Aufgabe als bisher irgendwo

überzeugend ausgeführt.

Die wichtigste Forderung der Diskursethik ist, so wird zu erläutern sein, diejenige nach

Rechtfertigung des „daß“ und des „wie“ dieser Verfahren angesichts des Umfelds

überwiegend strategischen Handelns, pramatischer Zwänge etc.. Einige Fragestellungen im

Spannungsfeld von Handlungs- und Systemtheorie werden aufgegriffen, z.B. die mutmaßliche

mangelnde Effizienz diskursiver Problembearbeitung angesichts einer scheinbar

diskursresistenten Binnenstruktur gesellschaftlicher Funktionssysteme. Am Beispiel der

Umwelt- und Technologiepolitik werden die Bedenken ausführlicher rekonstruiert und bis zur

Forderung nach verstärkter diskursiver Öffnung der Politik verfolgt, die sich aus einer

steuerungstheoretischen Perspektive stellen. Sodann werden (abschließend) einige

Verfahrensmodelle diskutiert, die in unterschiedlicher Weise die Idee einer

verständigungsorientierten Konfliktbewältigung aufgenommen haben.

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Diskurstheorie

Der Begriff 'Diskurs' hat eine weitreichende philosophische Tradition. "Diskurs (von [lat.]

discurrere: hin- und herlaufen) heißt ein Gespräch, weil dabei die Rede von einer Person zur

anderen übergeht, der Verstand also in der redenden Person gleichsam hin- und herläuft,

indem sie sich gegenseitig verständigen wollen" (Krug 1832). In Analogie zur Diskussion

unter mehreren Personen kann aber ein für sich selbst vollzogener Gedankengang diese

Bezeichnung verdienen, die "den Vernunftschluß anzeiget, da unterschiedliche Ideen mit

einander verknüpft würden, wie bei der äußerlichen [Rede] Worte" (Walch 1775). Ideen zu

verknüpfen ist begriffliche Erkenntnis, im Gegensatz zu intuitiver, die Ideen (Begriffe) mit

Anschauungen verknüpft (Krug 1832). Aufgrund dieser Unterscheidung, von Kant geprägt

und bis zu Wolff und der Scholastik zurückverfolgbar (Eucken 1926), wurde 'diskursiv'

häufig synonym zu 'begrifflich' verwendet und dient heute zur "Charakterisierung eines

methodisch fortschreitenden, das Ganze aus seinen Teilen aufbauenden Denkens oder

Redens" (Gethmann 1980). Daneben wird aber nicht nur die Art der Darstellung, sondern

auch das Ergebnis selbst (eine Kette von Aussagen) als Diskurs bezeichnet, zuweilen auch die

Art und Weise seiner Entstehung (religiöser, poetischer, wissenschaftlicher, etc. Diskurs).

Habermas‘ Diskurstheorie

Im 20. Jhd. wurde der Begriff neu geprägt: J. Habermas bezeichnete, als wollte er an die

Verständigungsidee von Krug anknüpfen, damit „die durch Argumentation gekennzeichnete

Form der Kommunikation […], in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum

Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden“ (1973, 214). Ich werde im

folgenden diese Theorie kurz skizzieren und untersuchen, inwieweit sie zur Bearbeitung

praktischer Dissense herangezogen werden kann. Soweit die in diesem ersten Kapitel

aufgrund der gebotenen Kürze nur angeschnittenen Fragen die Diskurstheorie als

Diskursethik betreffen, d.h. als Theorie des Umgangs mit normativen Geltungsansprüchen,

werden sie in den nächsten beiden Kapiteln näher untersucht.

Diskurs und Geltungsanspruch

Der Ausgangspunkt von Habermas‘ Konzept ist eine Reflexion auf die für eine Begründung

von Aussagen nötige Kommunikationssituation. Begründet und damit gültig (als nicht von

faktischer „Geltung“, sondern von „Gültigkeit“ abgeleitetes Adjektiv), sind nur diejenigen

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Behauptungen, die sich gegenüber allen (auch künftigen) Einwänden verteidigen lassen. Das

Prüfen von Einwänden geschieht im Diskurs. Über die Frage, was ein Geltungsanspruch ist,

ließe sich jetzt unmittelbar zur Habermasschen Argumentationstheorie überleiten. Ich will

aber dennoch zunächst einen Umweg gehen, denn diese Theorie ist auch eine

Gesellschaftstheorie und eine politische Philosophie.

In einer allgemeinen Analyse der Sprachverwendung, der Universalpragmatik, weist

Habermas (1981) zunächst kommunikatives, genauer: verständigungsorientiertes Handeln

(das über die Herabsetzung anderer Menschen zum bloßen Werkzeug oder Hindernis

hinausgeht), als grundlegende gesellschaftliche Integrationsinstanz aus. Ohne diese Form der

Interaktion zerfiele gerade eine moderne, pluralistische Gesellschaft, die nicht mehr durch

eine verbindliche, fraglos geltende Tradition zusammengehalten wird; sie ist ohne funktionale

Alternative. Die Herausbildung personaler Identität, die Individuierung von Personen, all dies

setzt solchermaßen intakte, intersubjektive Anerkennungsverhältnisse voraus. Diskurse sind

sozusagen ein Problemmodus des verständigungsorientierten Handelns: Wird ein Teil der

bisher anerkannten gemeinsamen Grundlagen in Frage gestellt (problematisiert), wird etwa

‚eine Norm der Lebenswelt brüchig‘, kommt es zum Diskurs. Mit diesem Begriff bezeichnet

Habermas genauer „die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation

[…], in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre

Berechtigung hin untersucht werden“ (1973, 214). Was sind Geltungsansprüche? Habermas

erläutert dies folgendermaßen (1983a: 68):

„Kommunikativ nenne ich die Interaktionen, in denen die Beteiligten ihre Handlungspläneeinvernehmlich koordinieren; dabei bemißt sich das jeweils erzeilte Einverständnis an derintersubjektiven Anerkennung von Geltungsansprüchen. Im Falle explizit sprachlicherVerständigungsprozesse erheben die Aktoren mit ihren Sprechhandlungen, indem sie sichmiteinander über etwas verständigen, Geltungsansprüche, und zwar Wahrheitsansprüche,Richtigkeitsansprüche und Wahrhaftigkeitsansprüche je nachdem, ob sie sich auf etwas in derobjektiven Welt (als der Gesamtheit existierender Sachverhalte), auf etwas in der sozialen Welt(als der Gesamtheit legitim geregelter interpersonaler Beziehungen einer sozialen Gruppe) oderauf etwas in der eigenen subjektiven Welt (als der Gesamtheit privilegiert zugänglicher Erlebnisse)Bezug nehmen.“

Es gibt lt. Habermas 1983a also drei Geltungsansprüche, Wahrheit, Richtigkeit und

Wahrhaftigkeit.1 Normalerweise, wenn wir kommunizieren, gehen wir davon aus, daß ein

1 Es müssen nicht immer alle Geltungsansprüche auf einmal explizit erhoben werden, auch wenn jeder Sprechaktin diesen Geltungsdimensionen (mehr oder weniger sinnvoll) hinterfragt werden könnte. Einem Sprechakt kannaußerdem in vielen Fällen nicht eindeutig ein Geltungsanspruch zugeordnet werden, häufig nicht einmal derillokutionäre Modus des Behauptens, was H.-J- Schneider am Beispiel von »Hast Du etwa schon wiederHunger?« vorführt (Schneider 1982). Die Unterscheidung von Geltungsansprüchen ist eine analytische, keineextentionale. Zudem verstehe ich diese als eine offene Liste; je nach Zweck können (und werden) weitereGeltungsdimensionen unterschieden oder die bestehenden u.U. auch anders zusammengefaßt werden – wenn

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Gegenüber diese Geltungsansprüche einlösen könnte (was ein Gegenüber natürlich nicht

immer kann; deshalb nennt Habermas diese Unterstellungen kontrafaktisch).� Dies müssen

wir uns gegenseitig unterstellen, sonst könnten überhaupt keine Inhalte transportiert werden:

alle anderen Kommunikationsformen bauen darauf auf (z.B. eine Lüge). Diskurse sind nun

sozusagen ein reflexiver »Problemmodus« des verständigungsorientierten, kommunikativen

Handelns. Bezweifeln wir nämlich eine Aussage hinsichtlich eines dieser Geltungsansprüche,

wird gemeinsam geprüft werden müssen: deskriptive Wahrheit und normative Richtigkeit

einer Aussage in theoretischen resp. praktischen Diskursen, Wahrhaftigkeit hingegen in

therapeutischer Kritik. Wahrhaftigkeit, d.h. ob jemand meint, was er sagt, offenbart sich

nämlich nur in seinen Handlungen und kann nicht unabhängig davon durch Gründe

festgestellt werden.

Diskurs und Diskursregeln

Diskurse zeichnen sich hingegen dadurch aus, daß die ihnen zugrundeliegenden Fragen

prinzipiell durch für alle nachvollziehbare Gründe entschieden werden können. Habermas

schreibt (1981: 71):

„Von 'Diskursen' will ich nur dann sprechen, wenn der Sinn des problematisiertenGeltungsanspruchs die Teilnehmer konzeptuell zu der Unterstellung nötigt, daß grundsätzlich einrational motiviertes Einverständnis erzielt werden könnte, wobei "grundsätzlich" denidealisierenden Vorbehalt ausdrückt: wenn die Argumentation nur offen genug geführt und langegenug fortgesetzt werden könnte.“

Offen heißt dabei auch, daß niemand vom Diskurs ausgeschlossen werden darf und alle

Teilnehmenden im Diskurs gleiche Chancen haben, Aussagen zu hinterfragen oder zu

begründen. Ziel ist eine »Herrschaftsfreiheit«, wo nur der „eigentümlich zwanglose Zwang

des besseren Arguments“ (1981: 52) die Akzeptanz strittiger Aussagen bestimmt. Diese

„Rationalitätsanforderungen“ an Diskurse kommen in den Diskursregeln zum Ausdruck, die

Habermas (im Anschluß an Alexy) in drei Gruppen einteilt:

• Logische Regeln (Widerspruchsfreiheit; Bedeutungskonstanz, -eindeutigkeit) ohne

ethischen Gehalt (1983a, 97).

man Habermas‘ Fassung der Drei-Welten-Theorie (objektive, soziale, subjektive Welt) nicht ontologistischmißversteht.2 Schlimmstenfalls führt der kontrafaktische Anspruch der Diskurstheorie in eine tragische Situation: Man kannden Anspruch auf eine gemeinsame objektive und soziale Welt nicht preisgeben, solange man ernsthaftargumentiert, da ein Argument notwendig partikulare Kontexte transzendiert, aber man kann auch keinenintersubjektiven Konsens über irgendeinen Inhalt (außer dem Anspruch selbst) dieser Welt erzielen.

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- 7 - -

• Dialektische Regeln (Wahrhaftigkeit; Problematisierungsbegründung – „Warum stelle

ich ... in Frage?“) mit „ersichtlich ethischem Gehalt“ (1983a: 98).

• Rhetorische Regeln (Allg. Teilnahmerecht; Problematisierungs-, Vorschlags- und

Bedürfnisartikulationsrecht; Recht auf Zwanglosigkeit bei Wahrnehmung dieser

Rechte). Diese Regeln, Kennzeichen einer „idealen Sprechsituation“, sollen eine

„chancengleiche Teilnahme“ (ebd.) aller potentiell Betroffenen sichern, d.h. gleiche

Chancen auf Diskurs wie auch im Diskurs. Sie sind der ethische Kerngehalt des

Diskurses.3

Diese Regeln sind nicht konstitutiv (wie die Regeln eines Schachspiels; vgl. Searle 1971:

54ff.), aber auch nicht bloß regulativ, sondern „eine Form der Darstellung von

stillschweigend vorgenommenen und intuitiv gewußten pragmatischen Voraussetzungen einer

ausgezeichneten Redepraxis“ (1983a: 101. Hervorh. i. Orig.). Zwei Dinge sind Habermas

wichtig: Erstens ist das Ergebnis dieser Darstellung (als „know-that“ und durch Dritte) des

performativ-intuitiv Gewußten (des „know-how“ der Argumentierenden) gegenüber den

Argumentations-Beteiligten immer nur ein Vorschlag – Habermas spricht in diesem

Zusammenhang explizit von einem „hypothetischen Element“ (1983a: 106f.). Auch läßt sich

die Argumentationspraxis als solche damit nicht begründen, nur die (argumentative)

„Nichtverwerfbarkeit“ der Diskursregeln – daß es also für die genannten Diskursregeln, wenn

man überhaupt argumentieren will, keine funktionalen Äquivalente gibt.

Verständlichkeit – ein Geltungsanspruch?

Eine vierte zwangsläufige Unterstellung von Kommunikation (neben Wahrheit, Richtigkeit

und Wahrhaftigkeit) ist die Verständlichkeit der Äußerungen meines Gegenübers. Zunächst

nannte Habermas diese eine "Bedingung der Kommunikation", um sie von einlösbaren

Geltungsansprüchen zu unterschieden. Sie ist die Bedingung dafür, daß von Kommunikation

überhaupt geredet werden kann. Sie ist also ein in der Kommunikation "faktisch schon

eingelöster Anspruch; sie ist nicht bloß ein Versprechen" (Habermas 1973: 222). In späteren

Arbeiten wird sie dann doch als in explikativen Diskursen einlösbarer Geltungsanspruch

bezeichnet (1981: 45; beiläufig und in augenscheinlichem Widerspruch zur oben zitierten

Stelle 1983a, 68f. auch in 1983a: 115).

3 Ich halte diese Forderung für etwas zu stark; eine reelle Chance genügt, da die Forderung nach (strikter)Chancengleichheit überflüssig ist und ein falsches Bild von argumentativen Prozessen nahelegt (s.u.)

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- 8 - -

Habermas bleibt hier unentschieden; der Kritik der philosophischen Hermeneutik am

überzogenen Ideal der Transparenz von Kommunikation war die Diskurstheorie von Anfang

an ausgesetzt (dokumentiert in Apel 1971; vgl. auch Wellmer 1986, S. 81-101, dazu s.u.). Der

Status der Verständlichkeit stellt freilich eine für das Diskurskonzept wesentliche Frage dar.

Denn reicht die Verständlichkeit nicht nur so weit, wie die gemeinsamen

Hintergrundannahmen reichen? Diese sind oder werden gemein durch eine geteilte Praxis,

eine geteilte Lebenswelt, wie Habermas sagt. Aber warum müßte diese von allen vollständig

geteilt sein? Eine gewisse Übereinstimmung muß sicher schon gegeben sein, damit überhaupt

von Kommunikation gesprochen werden kann (etwa dafür, daß Kommunikationsversuche als

solche verstanden werden). Je nach Grad dieser Übereinstimmung dürfte es dann

Unverständnis, Verständnis für die andere Position (die nicht die eigene ist) oder eine

gemeinsame Position als Ergebnis noch so idealer Diskurse geben.

Eine Auflösung gelingt vielleicht am ehesten durch die Unterscheidung von Ebenen des

Verstehens (denn auch eine Bitte um Explikation setzt bereits ein gemeinsames

Hintergrundverständnis voraus), die gleichzeitig auch Ebenen des Konsenses darstellen.

Giegel (1992: 9) unterscheidet drei Formen von Konsens: Hintergrundkonsens,

Argumentationskonsens und Ergebniskonsens. Ein Hintergrundkonsens umfaßt die

Überzeugungen, von denen ein Sprecher sich gar nicht vorstellen kann, daß ein Gegenüber sie

nicht teile, und auf deren Hintergrund sich einzelne Dissense erst herausbilden können.

Differenzen auf dieser Ebene, so würde ich sagen, gefährden die Verständlichkeit von

Sprechakten.4 Während dann ein Argumentationskonsens auch die angeführten Gründe

4 Damit ist nicht das logisch-semantische Problem der »radikalen Nichtübersetzbarkeit« gemeint (Quine 1970)bzw. die Möglichkeit, Semantiken bei Beibehaltung der Wahrheitswerte radikal umzuinterpretieren (Putnam1982, Anhang). Dieses Problem erscheint mir aus einer pragmatischen Perspektive zu verschwinden: Denn esbesteht für einen einzelnen Sprecher angesichts seiner eigenen Sprache genauso wie gegenüber einer fremden.Die bloße logische Möglichkeit, sich komplett zu irren, ist praktisch schlicht irrelevant, d.h. mehr als einepraktische Plausibilität der Sprachverwendung ist ohnehin nicht zu haben. Um diese zu erfahren, muß eineSprache allerdings „gelebt“ werden, muß an der entsprechenden Lebensform teilgenommen werden, wieWittgenstein sagt. Die Situation des Ethnologen, der unberührte Eingeborenenstämme und ihre „gavagais“beobachtet, ist auch von daher nicht paradigmatisch für das Fremdverstehen. Da es (aus Sicht derSprachgemeinschaften) hinreichend autorisierte Übersetzer gibt, die in „beiden Welten“ Teilnehmer (und nichtbloße Beobachter) sind – Grenzgänger gab es schon immer und gibt es immer mehr –, sehe ich prinzipielleGrenzen der Verständigung allenfalls gegenüber den Monumenten untergegangener Kulturen, zu denen keineÜbersetzungen mehr existieren. Hier können wir aber immerhin noch mit den Unterstellungen einer formalenAnthropologie operieren. Das logische Problem ist relevant allein gegenüber nichtmenschlichen Vernunftwesen(vgl. Kant), deren Kommunikationsversuche wir einfach nicht als solche verstehen (deshalb muß in Putnam1982 eine erste Kontaktaufnahme mit Außerirdischen als Beispiel dienen) – ein beliebtes Thema von Science-fiction-Literatur.

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- 9 - -

umfaßt (wie in Habermas‘ Theorie), bedeutet ein Ergebniskonsens lediglich eine

Übereinstimmung im fraglichen Urteil, nicht in seiner Begründung.5

Die Diskurstheorie muß dabei nicht behaupten (wie manche Bemerkungen von Habermas

zum Konstruktivismus nahelegen mögen), daß sämtliche Überzeugungsänderungen per

Argumentation erfolgen oder auch nur erfolgen können. Vielfach lassen sich Alternativen nur

vorführen, häufig nicht einmal mit sprachlichen Mitteln. Auch die richtige Beobachtung (im

Anschluß an Nietzsches polemische Bemerkungen „über Wahrheit und Lüge im

außermoralischen Sinne“; Nietzsche 1988), daß es ein unvermeidlich metaphorisches Element

sprachlicher Ausdrücke gebe, und daß dieses Element wichtig für die Fortentwicklung

spachlicher Ausdruckmöglichkeiten wäre (Seel 1990) stellt die Argumentationspraxis nicht in

Frage, sondern gehört zu ihren Ermöglichungsbedingungen.

Doch die Argumentationspraxis ist dasjenige Medium, in dem wir uns der Rationalität unserer

Einstellungsänderungen versichern können, soweit wir uns dieser eben versichern können.6

Etwas besseres als unsere besten Gründe steht uns dafür nicht zur Verfügung. (Diese

Überlegungen und ihre Konsequenzen für die Ethik werden weiter unten wieder

aufgenommen.)

Praktische Geltungsansprüche (bis 1983)

In der Konzeption von 1981 findet sich die evaluative Angemessenheit als fünfter, nicht in

Diskursen einlösbarer Geltungsanspruch: In evaluativen Äußerungen erhebt man, so

Habermas (66ff.) den „Anspruch auf Angemessenheit der Anwendung von Wertstandards“.

Eine eventuelle Unangemessenheit ist in „ästhetischer Kritik“ zu beheben. Von »Kritik« (und

nicht von »Diskurs«) ist hier (anders als bei der oben angesprochenen „therapeutischen

Kritik”) deshalb zu sprechen, weil keine universellen Geltungsansprüche zur Diskussion

stehen (1981: 71):

5 Es ist der Konsens als Ergebniskonsens, den der Volksmund gerne geißelt (»Konsenssoße«; vgl. Buhl 1997),weil er gerade nicht aus Einsicht in seine Richtigkeit geboren und häufig ein schlechter Kompromiß ist, derDissense bloß verdeckt.6 Gerne wird im Namen eines Wittgensteinianismus dem Diskurstheoretiker entgegengehalten, man „folge derRegel letztlich blind“, da sich „der Spaten irgendwo zurückbiege“ u.Ä. Der Punkt dabei ist doch das irgendwo:Wo sich der Spaten zurückbiegt, ist alles andere als beliebig, sondern genau da, wo die gegebenen Gründe zueinem zwanglosen Einverständnis sich verdichten. Und wo sie dies nicht tun, läßt sich abbrechen oder weitersuchen. Denn die Kette von Gründen hat ja nur pragmatisch ein Ende, nicht systematisch. Wittgensteinvernachlässigt zugunsten der logischen Unbestimmtheit der richtigen Regelbefolgung dieTeilnehmerperspektive, aus der der Abbruch eben nicht beliebig ist, wie ein Wittgensteinianismus nahezulegenscheint.

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„Kulturelle Werte gelten nicht als universal; sie sind, wie der Name sagt, auf den Horizont derLebenswelt einer bestimmten Kultur eingegrenzt. Werte können auch nur im Kontext einerbesonderen Lebensform plausibel gemacht werden. Daher setzt die Kritik von Wertstandards eingemeinsames Vorverständnis der Argumentationsteilnehmer voraus, das nicht zur Dispositionsteht, sondern den Bereich der thematisierten Geltungsansprüche zugleich konstituiert undbegrenzt.”

Was diese Kritik zu einer „ästhetischen“ machen soll, wird im Text nicht weiter erläutert.

Der Bereich derjenigen praktischen Fragen, über die sich diskursive Konsense erzielen lassen,

wird vom Habermas der achtziger Jahre somit erheblich eingeschränkt. Er geht nämlich davon

aus, daß individuelle oder gruppenspezifische ethische Vorstellungen vom „Guten Leben“ in

der Moderne für verschiedene Menschen verschieden sein können und dürfen (Paradebeispiel

ist die religiöse Orientierung), von denen ein Kernbereich moralischer Verpflichtungen, der

für alle verbindlich sein soll, klar unterschieden werden muß. Dies entspricht dem

grundlegenden Unterschied der Fragen: (I) „Was ist gut für mich/uns?“ und (II) „Was ist

gleichermaßen gut für alle?“. Nur auf die zweite Frage wird man auch für alle verbindliche

Antworten, d.h. gültige Normen, finden müssen. Der praktische Diskurs ist ein Verfahren zur

Prüfung der Gültigkeit solcher Normen; Antworten auf die erste Frage „kandidieren allenfalls

für eine Verkörperung in Normen, die ein allgemeines Interesse zum Ausdruck bringen“

(Habermas 1983a: 114). Habermas spricht in diesem Zusammenhang metaphorisch auch von

einem „Messer, das einen Schnitt legt zwischen »das Gute« und »das Gerechte«, zwischen

evaluativen und streng normativen Aussagen“ (1983a: 113; vgl. 118).

Was Habermas demgegenüber in einer frühen diskurstheoretischen Schrift (1973) noch

postuliert hatte, ging über diese in den 80er Jahren ausgearbeiteten Diskurstypen deutlich

hinaus. Dort finden sich Wahrheits- und pragmatische Fragen als in theoretischen, evaluative

und normative Fragen als in praktischen Diskursen bearbeitbar. In Habermas‘ Hauptwerk von

1981 wird die evaluative Komponente des praktischen Diskurses explizit ausgegliedert, in der

1983er Konzeption wird zudem auch die pragmatische Komponente des theoretischen

Diskurses nicht mehr erwähnt. Diese 1983er Konzeption möchte ich die Minimalkonzeption

nennen, da sich die hier zugelassenen diskursiv einlösbaren Geltungsansprüche auch in allen

weiteren Konzeptionen als solche wiederfinden.

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Geltungsanspruch 1973 1981 1983

Wahrheit von Propositionen D D D

Wirksamkeit teleologischer Handlungen D D

Richtigkeit von Handlungsnormen D D D

Angemessenheit von Wertstandards D K

Verständlichkeit bzw. Wohlgeformtheit symbolischer Konstrukte V D D?

Wahrhaftigkeit von Expressionen K K K

Tabelle 1

Geltungsansprüche nach Habermas (1973, 1981, 1983a), die entweder im Medium des Diskurses (D) oder derKritik (K) zu prüfen sind, oder deren Erfüllung Voraussetzung der Kommunikation (V) ist.

Es scheint angebracht, die reichhaltigste Konzeption (von 1973) näher zu beleuchten. Es zeigt

sich nämlich, daß Habermas hier eine Systematik zugrundelegt, nach der sich Diskurse näher

bestimmen lassen.

Syllogismen

Diskurse sind orientiert an der (Wieder-)herstellung von Konsens. Allerdings ist dieser

Konsens-Begriff anspruchsvoll: er zielt nämlich auf eine Übereinstimmung nicht nur der

Urteile (Ergebniskonsens; s.o.), sondern auch ihrer Begründungen (vgl. Habermas 1973: 239),

denn durch eine Argumentationspraxis sollen ja die relevanten Gründe für eine Entscheidung

mobilisiert werden. Daher werde ich im folgenden nach Modellen zur Charakterisierung von

Konsensen bzw. Dissensen suchen, die strittige Urteile in ihren jeweiligen

Begründungszusammenhang stellen. Habermas selbst bietet hier ein allgemeines

Begründungsmodell an: das Toulmin-Schema (ebd.: 244; vgl. Toulmin 1996: 86ff.). Es hat

die Form: Fall (data) und Regel (warrant), letztere durch eine Menge an Evidenzen (backing)

gestützt7, ermöglichen den Schluß auf ein Resultat (conclusion). Den Schluß selbst bezeichnet

Habermas als Deduktion.

In theoretischen Diskursen werde mittels dieses Schemas eine Behauptung erklärt, nämlich

durch „Ursachen (bei Ereignissen)“ oder „Motive (bei Handlungen)“ als Fall und „empirische

Gleichförmigkeitshypothesen, Gesetzeshypothesen usw.“ als Regel, die durch

„Beobachtungen, Befragungsergebnisse, Feststellungen usw.“ als Evidenzen gestützt ist. In

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praktischen Diskursen werde mittels dieses Schemas ein „Gebot“ oder eine „Bewertung“

gerechtfertigt, und zwar durch „Gründe“ als Fall und „Handlungs- oder Bewertungsnormen

oder -prinzipien“ als Regel, die durch die „Angabe von gedeuteten Bedürfnissen (Werten),

Folgen, Nebenfolgen usw.“ als Evidenzen gestützt ist. Normalerweise geben wir zur

Begründung eines Resultats (etwa eines Wasserschadens) nur den Fall an (etwa einen

Rohrbruch) und setzen die Regel (ein Rohrbruch verursacht einen Wasserschaden)

stillschweigend voraus. Die Stützung der Regel (etwa vergangene Rohrbrüche und

Wasserschäden) und, daß die Regel nur unter bestimmten Umständen gilt (Wasserdruck,

Fußbodenbeschaffenheit, evtl. vorhandene Abflüsse, automatische Ventile usw.), wird

normalerweise noch weniger explizit gemacht.

Die von Habermas aufgebotene doppelte Unterscheidung will ich in folgender Tabelle

verdeutlichen und dabei einige m.E. weniger glückliche Begriffe austauschen:

Theoretische Diskurse Praktische Diskurse

nomologisch intentional (pragmatisch) evaluativ normativ

[Regel]

[Fall]

[Resultat]

(Kausal-)Gesetz

Ursache

Wirkung

Gewußte Mittel-Zweck-Beziehung

Intendierter Zweck

Handlung

Bewertungsregel

Situation

Wertung

Handlungsnorm

Situation

Vorschrift

Tabelle 2

Syllogistische Formen der Begründung in theoretischen und praktischen Diskursen nach Habermas (1973).

Habermas vertraut darauf, daß Toulmin dem selbstgesetzten Anspruch gerecht wird, ein

Modell dessen zu liefern, was in alltäglichen Begründungen geschieht. Toulmin und

Habermas orientieren sich am bereits von Aristoteles eingeführten Syllogismus als Modell

gelungener Begründungen: Ein Obersatz, die Regel, und ein Mittelsatz, der Fall, erlauben den

Schluß auf den Untersatz, das Resultat. Der Rückgriff auf den Syllogismus ist wahrscheinlich

kein Zufall: „Schon die erste, die formale Logik des Aristoteles ist von der zeitgenössischen

Praxis des Argumentierens ausgegangen“ (Höffe 1979: 276). Daß Habermas den Schluß als

Deduktion bezeichnet, ist insofern unglücklich, als er eigentlich einen Oberbegriff sucht für

analytische wie für substantielle Übergänge. Und an solchen substantiellen Argumenten sind

wir ja interessiert – denn in analytischen Wahrheiten findet sich ja nichts, was nicht schon in

7 Gestützt, d.h. weder ist die Regel durch die Evidenzen wirklich notwendig impliziert, noch ist sie eine mit denEvidenzen bloß verträgliche Hypothese. Sie ist eine aufgrund der Evidenzen sehr plausible Hypothese.

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den Prämissen gelegen hätte. Habermas übernimmt von Toulmin, daß bei einem

substantiellen Argument gerade die Regel nicht analytisch aus den Evidenzen folgt. Beide

behalten die deduktive Form des Übergangs von Fall und Regel zur Konklusion jedoch bei.

Ich denke hingegen, die Substantialität alltäglicher Gründe liegt schon in Toulmins

scharfsinniger Beobachtung, daß wir normalerweise eben nur den Fall und nicht die Regel

nennen. Insbesondere bei normativen Begründungen kommen wir so in die Situation, daß die

Normen selbst in den seltensten Fällen explizit gemacht werden. Zur Begründung der Regel

haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder (á la Toulmin und Habermas) über nichtkonklusive

Evidenzen, oder über allgemeinere Regeln: In theoretischen wie in praktischen Problemen

kann die Regel selbst wieder zum Fall eines höherstufigen Syllogismus gemacht werden, und

so fort. Beide Fälle sind jedoch nur Möglichkeiten der Explikation des Hintergrundkonsenses,

auf den sich die Argumentierenden insoweit stützen müssen, wie sie substantielle Argumente

gebrauchen.8

Wenn wir das syllogistische Begründungsmodell zugrundelegen, entsteht ein Dissens

jedenfalls durch Uneinigkeit über die Gültigkeit mindestens einer der beiden Prämissen.� Ein

bloßes, grundloses Bestreiten des Resultats kann – dies ist die Kehrseite der anspruchsvollen

Konsensdefinition der Diskurstheorie – noch keinen Dissens erzeugen.

Verschränkung von Geltungsansprüchen?

Betrachten wir noch einmal Tabelle 1, dann lassen sich zwei Kernbereiche des Diskurses

identifizieren: Wahrheit und (normative) Richtigkeit, d.h. theoretischer resp. praktischer

Diskurs. Beide Sphären hat Habermas philosophisch ausgebaut, einerseits zu einer

Konsenstheorie der Wahrheit (Habermas 1973), andererseits zu einer Diskursethik (Habermas

1983a; 1991; 1996). Wie steht es um die wechselseitige Abhängigkeit der diskursiven

Sphären? Hierbei interessiert uns natürlich besonders, inwieweit der Geltungsanspruch der

(normativen) Richtigkeit mit anderen Geltungsansprüchen verknüpft ist.

In jeder kommunikativen Handlung sind immer alle Geltungsansprüche zusammen als gültig

unterstellt, bei Bedarf jedoch einzeln problematisier- und einlösbar. Gegen diese Vorstellung

8 Dieser Hintergrundkonsens ist es auch, der ggf. den Übergang von den Evidenzen zur Regel plausibelerscheinen läßt.9 Auch eine Uneinigkeit über die Evidenzen (backing) stellt einen Dissens dar, allerdings muß, soll dieserDissens relevant sein können, auch die entsprechende Regel betroffen sein. Wirklich gravierend ist ein Dissensüber die Schlußregel, d.h. hier über die Tauglichkeit des Syllogismus als Modell; theoretisch besteht nämlich dieMöglichkeit, daß sich die Opponenten auf inkompatible Begründungsmodelle berufen.

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läßt sich einwenden (Wellmer 1986, s.u.; Kettner 1996b), daß Geltungsansprüche ein Geflecht

bilden, sie aufeinander verweisen, so daß eine Rechtfertigung sie letztlich alle umfassen

müßte. Auch innerhalb einzelner Diskurse, z.B. um Wahrheit, gehe es selten um einzelne

Aussagen, sondern um Zusammenhänge derselben. Einen systemischen Zusammenhang der

verschiedenen Formen der Argumentation (etwa des praktischen Diskurses mit

therapeutischer und ästhetischer Kritik) hat Habermas von Anfang an (1983a, 115) gegen ein

etwaiges „fundamentalistisches Selbstverständnis“ in Schutz genommen, mit Verweis auf

Wellmer. Er sieht darin eine „Hypothek“ für die strengeren Formen der Argumentation,

insbesondere den praktischen Diskurs.

Wellmer (1986) und Wingert (1993) diskutieren darüber hinaus die Abhängigkeit normativer

auch von evaluativen Geltungsansprüchen – dies wird weiter unten näher ausgeführt. Diese

Verschränkung läßt sich auch an der philosophischen Diskussion um „formale Theorien des

Guten Lebens“ erkennen. Seel (1995: 223) und andere Autoren kennzeichnen damit „den

materialen Kern einer universalistischen Moral – das, worum es der moralischen Rücksicht

geht“. Für Habermas enthalten diese Theorien „fallible anthropologische Bestimmungen“, die

in ethischen und auch moralischen Diskursen Vorschläge für die relevanten Hinsichten der

Argumentation darstellen (Habermas 1996, 40-42). Auch hier will sich Habermas auf die

Analyse der „Bedingungen hermeneutischer Selbstverständigungsdiskurse“ beschränken – da

alles andere (in gut liberaler Optik) zwangsläufig umstritten bleibe. Doch auch wenn solche

Bestimmungen im Rahmen einer Diskursethik immer nur Vorschläge sind (im Gegensatz zur

formalen Bestimmung durch das Moralprinzip »U«), wären dann moralische

Normenbegründungen nicht durchführbar ohne eine Bezugnahme auf Fragen des Guten

Lebens.

Ob der erstgenannte Zusammenhang die diskursive Einlösbarkeit gefährdet, läßt Habermas

offen: Die Bearbeitung explikativer und expressiver Fragen kann nämlich auch nur

»Zuarbeiterfunktion« für Fragen der Richtigkeit (oder der Wahrheit) haben. Selbst wenn

einige der dadurch zusätzlich aufgeworfenen Fragen nicht im strengen Sinne im Diskurs

entschieden werden können, ist ihre Thematisierung nämlich in jedem praktischen Diskurs

zuzulassen, wie u.a. Webler (1995: 51f.) betont: Erstens liegt die Einteilung der Fragen nicht

prädiskursiv fest, sondern ergibt sich erst im Laufe der Argumentation, und zweitens kann

sich hinter jeder Äußerung ein diskursiv einlösbarer Geltungsanspruch verstecken. Wer z.B.

sagt: „Ich fühle mich von xy bedroht!“, kann über diese (in ihrer Wahrhaftigkeit diskursiv

nicht begründbare, expressive) Äußerung u.U. verweisen wollen auf einen moralisch

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relevanten Mißstand. Vielleicht liegt dem Gefühl der Bedrohung aber auch eine falsche

empirische Annahme über xy zugrunde.��

Revisionen

In den neunziger Jahren hat Habermas sowohl die Analogie zwischen theoretischen und

praktischen Diskursen abgeschwächt, als auch den Bereich praktischer Diskurse, speziell auch

den der normativen Richtigkeit, ausgeweitet.

Habermas sagt, daß wir in der Kommunikation ein prinzipiell mögliches Einverständnis

unterstellen müssen, nicht aber, daß dessen Erreichen auch immer garantiert sei. Der Sinn

dieser Unterstellung liegt in der Kontexttranszendenz von Geltungsansprüchen. Diese seien

zwar jeweils immer nur (provisorisch) einlösbar innnerhalb eines gegebenen (Welt- und

Sprach-)Kontextes, zielten aber von ihrem Sinn her letztlich immer auf Gültigkeit in allen

Kontexten: Wenn ich ernsthaft behaupte, die Erde sei keine Scheibe, dann meine ich damit

nicht nur: sie sei für uns (Mitteleuropäer, neuzeitliche Menschen, deutschsprechende

Menschen o.ä.) keine Scheibe, sondern eben: sie sei so - Punkt. Im Text von (1996, 54)

kommt Habermas der Kritik von Wellmer (1986) – s. dazu das nächste Kapitel – entgegen:

»gerechtfertigt in jedem Kontext« läßt sich verstehen als nur „schwache Idealisierung unserer

– als fortsetzbar gedachten – Argumentationsprozesse“ unter der Verpflichtung, die jeweilige

Behauptung „gegen alle künftigen Einwände zu verteidigen“. Zugunsten dieser

fallibilistischen Konstruktion ist vom Vorliegen einer idealen Sprechsituation als Positiv-

Kriterium nun nicht mehr die Rede. Konsense als Ergebnisse realer Diskurse, egal wie nahe

deren Organisationsform den idealen Bedingungen kommt, bleiben prinzipiell fallibel

(können falsch sein). Sie weisen eine kognitive Unbestimmtheit auf:

„Deshalb gibt es für die Kette möglicher substantieller Gründe kein 'natürliches' Ende; es kannnicht a forteriori ausgeschlossen werden, daß neue Informationen und bessere Gründe vorgebrachtwerden. Faktisch beenden wir, unter günstigen Bedingungen, eine Argumentation erst dann, wennsich die Gründe im Horizont bisher unproblematisch gebliebener Hintergrundannahmen zu einemkohärenten Ganzen soweit verdichten, daß über die Akzeptabilität des strittigen Geltungsanspruchsein zwangloses Einverständnis zustandekommt.“ (Habermas 1992, 278)

�� Renn (1996: 58) parallelisiert expressive und normative Äußerungen mit kognitiven Aussagen; auf alle dreiseien die im Diskurs vorgebrachten Geltungsansprüche bezogen. Für Habermas, dessen Diskursbegriff erverwenden will, sind normative Fragen kognitive Fragen und expressive Geltungsansprüche als solche nicht inDiskursen einlösbar – hier müßte auch Webler widersprechen.

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Wahrheit und Wahrheitsanalogie

In theoretischen Fragen unterstellen wir eine als von unseren Beschreibungen unabhängig

existierende Welt; die Gründe dafür, eine Behauptung für wahr zu halten, müssen, wie

Habermas sagt, gerade nicht in der sozialen, sondern in der „objektiven Welt“ gesucht

werden. Daher kann ein idealer Konsens die Wahrheit von Aussagen stets nur anzeigen und

nicht konstitutieren (Habermas 1996: 55). Die Idealisierungen beziehen sich nämlich nur auf

die Kommunikation – ein idealer Konsens kann etwa wissenschaftliche Experimente, also

zukünftige Erfahrung, nicht ersetzen. Daher kann m.E. selbst ein idealer Konsens nicht als

Definition von Wahrheit herhalten. Habermas knüpft in seiner Erläuterung des Geltungssinns

theoretischer Fragen inzwischen an Wellmers Konzeption der (idealisierten) Einwandfreiheit

an (ebd.: 54):

„Indem wir »p« behaupten, und damit für »p« Wahrheit beanspruchen, gehen wir dieArgumentationsverpflichtung ein, »p« gegen alle künftigen Einwände zu verteidigen.“

Die diskursive Einlösung von theoretischen Geltungsansprüchen bleibt so immer vorläufig

und fallibel in einem Sinne, der darüber hinausgeht, daß Bedingungen der idealen

Sprechsituation u.U. nicht gegeben waren.

In praktischen Fragen wird hingegen Richtigkeit durch idealen Konsens auch konstituiert

(ebd.: 55). Während die objektive Welt aus der Beobachterperspektive beschreibbar ist,

erscheint die soziale Welt (als Gesamtheit legitim geregelter personaler Beziehungen) als

solche nur aus der Teilnehmerperspektive. In praktischen Fragen konstatiert Habermas eine

prekäre Verklammerung der Erzeugung und Entdeckung von Normen im

Argumentationsprozeß (1996: 55):

„Der konstruktivistische Sinn einer nach dem Modell der Selbstgesetzgebung gedachtenmoralischen Urteilsbildung darf nicht verlorengehen, aber er darf den epistemischen Sinnmoralischer Begründungen auch nicht zerstören.“

Die Assimilation von Richtigkeits- an Wahrheitsansprüche müsse genauso vermieden werden

wie die Vorstellung der Genese legitimer Normen aus bloßer kollektiver Dezision.11 In dem

diskursiven Konsens drücke sich sowohl die „Freiheit der gesetzgebenden Subjekte“ als auch

die „fallible Vernunft der beratenden Subjekte“ aus. „Rationale Akzeptabilität“, eingeführt als

11 Anders als in theoretischen Fragen kann in praktischen Fragen die faktische Zustimmung der Betroffenenoffensichtlich eine gewisse (mit der konstitutiven Funktion des Konsenses verbundene) Legitimität derentsprechenden Norm zur Folge haben. Ein rein epistemischer Sinn normativer Richtigkeit ließe dieEinschränkung der Zustimmung auf die Betroffenen hingegen nicht sehr plausibel werden.

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„kontextabhängige Eigenschaft von Äußerungen“, leiste „zur Geltung von Normen einen

konstitutiven Beitrag“ (1996, 52ff.).

Da sich der Geltungsanspruch der Richtigkeit aber seinem Sinne nach von einem idealen

Konsens nicht unterscheidet, bleibt m.E. unklar, worin der epistemische Sinn moralischer

Begründungen genau bestehen soll (denn die Vorstellung einer objektiven Welt steht hier

nicht zur Verfügung). Jedenfalls hätte ein solcher Sinn zur Folge, daß die Konzeption der

Einwandfreiheit sich zwanglos auch auf praktische Fragen ausdehnen ließe.

Weitere Diskurstypen

In Habermas‘ Schriften der 90er Jahre finden wir nun auch juristische und politische,

evaluative und pragmatische, Normenanwendungs- und (in Ansätzen) ästhetische Diskurse.

Seither verwendet Habermas den Diskursbegriff (gegenüber der früheren, rigiden Bindung an

diskursiv einlösbare Geltungsansprüche) geradezu inflationär. Der Hintergrund liegt in einer

Aufweitung des Diskursbegriffes: Habermas will nun bereits dann von Diskursen sprechen,

wenn „die Argumentationsschritte nicht idiosynkratisch sein dürfen, sondern intersubjektiv

nachvollziehbar bleiben müssen“ (Habermas 1991d: 111). Dieser Diskursbegriff ist weniger

rigide als der frühere, aber durch seine größere Offenheit auch stärker erläuterungsbedürftig;

ich will im folgenden die einzelnen Diskurs-Spielarten durchgehen und auf ihre Eigenheiten

hin untersuchen.

In punkto normativer Richtigkeit hat Habermas die Einschränkung auf moralische Normen

aufgegeben. Er postuliert inzwischen ein allgemeines Diskursprinzip (1992, S. 138):

„Gültig sind genau diejenigen Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen alsTeilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“

Dieses – wie Habermas (1996, 64) „rückblickend klargeworden“ ist, „umfassendere“ –

Diskursprinzip soll sich spezifizieren lassen zur Beantwortung moralischer Fragen genauso

wie „z.B. für die Beratungen eines politischen Gesetzgebers oder für juristische Diskurse“

(Habermas 1996: 64 mit Verweis auf Forst 1994). Die Spezifikation betrifft – so liest man bei

(Forst 1994: 387) – die jeweils zuständigen, „mehr oder weniger umfassenden

Rechtfertigungsgemeinschaften“. Juristische Diskurse leisten die Rechtfertigung von

Handlungen „nach Maßgabe des geltenden Rechts“, also eine Verantwortung vor dem Recht,

politische Diskurse hingegen eine Verantwortung für das Recht (ebd.: 396ff.). Juristische

Diskurse werden damit von der Form her auf die noch zu erläuternden

Normenanwendungsdiskurse festgelegt. Politische Diskurse bleiben auf einen moralischen

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Kern (im Sinne der Diskursethik) bezogen, können aber Fragen des Guten Lebens als

Identitätsfragen beinhalten, soweit dadurch keine Gruppen ausgeschlossen werden. Sie

umfassen daher – unter dem Inklusionsvorbehalt – auch evaluative Diskurse. Neben einem

„authentischen Selbstverständnis“ der Rechtsgemeinschaft umfassen politische Diskurse über

legitime Rechtsnormen auch „die faire Berücksichtigung der in ihr verteilten Werte und

Interessen sowie die zweckrationale Wahl von Strategien und Mitteln“ (1992: 194). Seit den

neunziger Jahren spricht nämlich auch Habermas (wieder) von Diskursen über evaluative und

pragmatische Fragen (Habermas 1991d: 101), die nun betrachtet werden sollen.

Für die Bestimmung des Mittelsatzes des intentionalen Syllogismus (s. Tabelle 4) sieht

Habermas einen pragmatischen Diskurs vor. Er führt auf Wenn-dann-Aussagen, die wahr

oder falsch sind, auf hypothetische Imperative: Habermas vergleicht pragmatische Diskurse

mit der „Empfehlung einer geeigneten Technologie“ (Habermas 1991d: 108):

„Die wertorientierte Abwägung von Zwecken und die zweckrationale Abwägung von verfügbarenMitteln dient der vernünftigen Entscheidung darüber, wie wir in die Welt eingreifen müssen, umeinen erwünschten Zustand herbeizuführen. Dabei geht es wesentlich um die Klärung vonempirischen Fragen und um Fragen [zweck-; N.G.]rationaler Wahl.“

Diese Perspektive ist insofern verkürzt, als der „erwünschte Zustand“ gerade nicht nur der

Zustand ist, den der Obersatz des Syllogismus vorgibt, sondern auch die Mittelwahl durch

andere Ziele und Metaziele (etwa der Effizienz), durch Werte sowie moralisch-normative

Überlegungen bestimmt wird. Der pragmatische Diskurs läßt sich nicht, wie von Habermas

einmal intendiert (s.Tabelle 2), als vorrangig theoretischer Diskurs betrachten: Wenn dieses

Schema benutzt wird, um Handlungen als geeignet zu empfehlen (und nicht nur, um

vergangene Handlungen zu erklären), sollte man ihn eher als praktischen Diskurs betiteln.

Fragen nach Motiven in intentionalen Syllogismen führen ab einer gewissen Tragweite auf

ethische, wie Habermas sie nennt, Diskurse über das Gute Leben. Warum sind hier zwar

Diskurse nötig, aber dennoch keine universellen Antworten zu erwarten? Habermas zufolge

liegt das an einer Partikularität der die Antwort stützenden Gründe (1992: 139):

„Die ausschlaggebenden Gründe müssen von allen Angehörigen, die »unsere« [gemeint sind: »diein einem konkreten ethisch-politischen Gemeinwesen je unsrigen«, N.G.] Traditionen und starkenWertungen teilen, akzeptiert werden können.“

Für eine entsprechende „gravierende Wertentscheidung, die die Richtung einer ganzen

Lebensführung berührt,“ bedarf es nämlich „der hermeneutischen Klärung des

Selbstverständnisses eines Individuums“ (Habermas 1991d: 108). Auf dem Spiel steht das

„authentische Leben“ der Betroffenen. Was ethische Geltungsansprüche genau sind und vor

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- 19 - -

allem, was das Kriterium ihrer Gültigkeit sein soll, lassen Habermas‘ Bemerkungen leider

unausgeführt. Insbesondere bleibt unentschieden, in welcher Hinsicht Antworten auf solche

Fragen partikular bleiben müssen: Meint Habermas die Relativierung auf eine partikulare

Kommunikationsgemeinschaft (was Forsts Rede von „Rechtfertigungsgemeinschaften“ ja

nahe legt): Die richtige Antwort auf ethische Fragen erforderte dann nur die Anerkennung

durch jene, in deren Interesse etwas sein soll. Oder meint Habermas die Relativierung des

Geltungsanspruchs auf eine bestimmte (objektiv oder subjektiv zugeschriebene) Eigenschaft

derjenigen Menschen, um deren starke Wertungen es geht („Für alle, die sich als x verstehen,

ist es richtig, h zu tun“)? Wenn ein umfassender Intersubjektivismus aufrechterhalten werden

soll, was etwa Apel zu versuchen scheint (vgl. die obigen Bemerkungen zur Verständlichkeit

als Geltungsanspruch), müßten auch noch diese hermeneutischen Fragen eindeutig richtig

oder falsch entscheidbar sein (mit entsprechenden Konsequenzen für die Erklärung von

Handlungen). Ließe sich auch die Frage „Ist es richtig, sich als x zu verstehen?“ intersubjektiv

verbindlich entscheiden, könnte man einen umfassenden praktischen Kognitivismus vertreten.

Fragen nach Zielsetzungen und Bewertungen dürften dann nicht im Hinweis auf verschiedene

Identitäten terminieren, sondern müßten aufgrund von moralischen und theoretischen Sätzen

entscheidbar sein (und nicht nur mit ihnen kompatibel) – ersichtlich nicht Habermas Position.

Soweit sie jedoch in verschiedenen Identitäten (oder schlichter: Kontingenzen12) terminieren,

können im Diskurs immer noch deren rationalisierbare Momente erfaßt werden. Da eine

Person sein heißt, sich zu sich (inclusive der Kontingenzen) verhalten können, ist keine

beliebige Zugabe, sondern trifft genau das Medium der Reflexion, in dem sich Identitäten und

Ziele hinterfragen lassen.

Zum praktischen Diskurs zählt Habermas inzwischen auch den Normen-Anwendungsdiskurs,

der den Normen-Begründungsdiskurs ergänzt. Der zugehörige Geltungsanspruch sei die

normative »Angemessenheit«. Als Antwort auf das Problem der Anwendung von Normen auf

konkrete Fälle, üblicherweise (und so auch noch Habermas 1983a) Aufgabe der Klugheit,

übernimmt (Habermas 1991d) dieses Konzept von Günther (1988). Es wird im

Anwendungsteil dieser Arbeit (Kapitel vier) eingehend untersucht werden.

Die rigide Bindung der Bezeichnung »Diskurs« an die Prüfung einerseits von

Wahrheitsansprüchen und andererseits die Begründung von moralisch richtigen Normen hat

Habermas damit aufgegeben. Erschienen sind eine Vielzahl von Diskurs-Spielarten, die ich

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aufgrund ihrer wechselseitigen Verschränkung allerdings eher als Dimensionen eines

allgemeinen Diskurses bezeichnen würde. Der allgemeine praktische Diskurs nach Habermas

weist somit pragmatische, ethische und moralische Dimensionen auf (vgl. zu dieser

Notwendigkeit auch Kettner 1994), sowie (in der Moral) Anwendungsdimensionen wie

Begründungsdimensionen.

Geltungsanspruch 1973 1981 1983 1991 1992 1996

Wahrheit von Propositionen D D D D D D

Wirksamkeit teleologischer Handlungen D D D D D

Richtigkeit von (moralischen) Handlungsnormen D D D D D D

Richtigkeit juristischer Normen D D

Richtigkeit politischer Normen D

Angemessenheit von Wertstandards D K D D D

Verständlichkeit bzw. Wohlgeformtheit symbolischer Konstrukte V D D?

Wahrhaftigkeit von Expressionen K K K K K K

Tabelle 3

Geltungsansprüche nach Habermas (1973-1996), die entweder im Medium des Diskurses (D) oder der Kritik (K)zu prüfen sind, oder deren Erfüllung Voraussetzung der Kommunikation (V) ist.

Anforderungen an eine umfassende Diskurstheorie

Nach der vollständigen Durchsicht dessen, was Habermas in seiner Diskurstheorie als

Diskurstypen vorsieht, soll nun geprüft werden, welche Typen von Dissensen zu

unterscheiden sind. Präzisiert werden soll dabei erst einmal nur die Herausforderung, vor der

eine umfassende Diskurstheorie steht – ob sich diese Dissense dann auch diskursiv lösen

lassen, sei zunächst einmal dahingestellt.

Die Klassifizierung möglicher Dissense kann natürlich unter ganz verschiedenen

Gesichtspunkten vorgenommen werden. Es scheint aber sinnvoll, an die von Habermas

vorgelegt Strukturierung anzuschließen, d.h. an die (1973) vorgelegten Syllogismen. Um die

Diskussion einer möglichen diskursiven Lösung weiter voranzubringen, soll der besondere

Schwerpunkt auf die methodischen Probleme der Rechtfertigung der entsprechenden

12 Auf der Ebene der Wunsch-Genese können durchaus z.B. affektive Komponenten beteiligt sein. Daß die

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- 21 - -

Prämissen gelegt werden. Unter der hier interessierenden Perspektive wird der

Zusammenhang mit moralischen Fragen herzustellen sein. Gezeigt werden soll, daß ein

solcher Zusammenhang über ein je höherstufiges Disponieren über Dissensfelder hergestellt

wird.

Noch einmal: Syllogismen

Auf dem Weg zu einer Analyse dessen, was genauer in theoretischen und praktischen Fragen

umstritten sein kann, werde ich auf die Untersuchung des „Expertendilemmas“ durch C.

Hubig (1997a) zurückgreifen. Sein Modell „abduktiver Schlüsse“, vorgelegt für

naturwissenschaftlich-technische Fragen, werde ich erst auf die Erklärung von Handlungen

und dann auf praktische Urteile übertragen, so daß am Ende eine umfassende Typologie von

möglichen Dissensen vorliegt. Dabei entspricht jeder Art von abduktivem Schluß eine Art

von möglichem Dissens.

Im folgenden sollen drei Schlußarten unterscheiden werden (vgl. Peirce 1967): Deduktion

(von Regel und Fall auf ein Resultat), Induktion (von Resultaten und Fällen auf eine Regel)

und Abduktion (von Regel und Resultat auf einen Fall). Nur die Deduktion kann mit dem

Anspruch auf notwendige Wahrheit auftreten, Induktion und Abduktion sind

Erweiterungsschlüsse. Beide Erweiterungsschlüsse haben sich bestenfalls bewährt, und

sowohl unsere induktiven Schlüsse auf die Gültigkeit von Regeln (und Allaussagen), als auch

unsere abduktiven Schlüsse auf die Zuordnung von Fällen zu diesen Regeln können

problematisch werden, ohne daß sich dieses Risiko kalkulieren ließe. Die Induktion (und

somit die Regel, z.B. „alle Schwäne sind weiß“) ist bekanntlich unsicher, weil endliche

Anzahlen von Fällen und Resultaten logisch keine Allaussagen über potentiell unendlich viele

Fälle und Folgen belegen können (vgl. Popper 1966). Die Abduktion (und somit die

Fallbeschreibung, z.B.: „dies ist ein Schwan“) läßt sich scheinbar auch über vergangene

Situationen rechtfertigen (z.B.: In einer bestimmten, endlichen Anzahl von Situationen war es

richtig, alles mit den Eigenschaften xyz als Schwan zu betrachten), damit wird aber die

Abduktion zur verdeckten Induktion („alles mit den Eigenschaften xyz ist ein Schwan“) und

das Abduktionsproblem nur verschoben („dies hat die Eigenschaften xyz“). Die Abduktion

betrifft die Regel-Anwendung, die sich selbst nicht wieder ebenso unter Regeln bringen läßt

(sonst droht ein unendlicher Regreß). Durch die Regel-Anwendung wird aber der

Definitionsbereich der Regel praktisch fixiert. Wir haben angesichts einer theoretischen

Unstimmigkeit (etwa: „dies scheint ein schwarzer Schwan zu sein!“) die Freiheit, entweder

kontingente Genese von Wünschen diese nicht entwertet, zeigt auch (Wolf 1984: 154 ff.)

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die Regel (nach der alle Schwäne weiß sind) zu modifizieren oder die Fallbeschreibung (nach

der dies ein Schwan ist), so daß das unerwünschte Resultat verschwindet, das sich ja immer

aus Regel plus Fall ergibt (vgl. Goodman 1975: 86f. und auch Lakatos 1979: 7ff., der diese

Vorgänge „Monsteranpassung“ bzw. „Monstersperre“ nennt).13 Dies bringt eine zusätzliche

Ungewißheit der Induktion über die rein logische hinaus, die ihren Definitionsbereich betrifft.

Deshalb halte ich die Habermas-Toulminsche Evidenz-Stützung der Regel für ein adäquates

Konzept, diese ist aber bei näherer Betrachtung auch auf den Fall auszudehnen (etwa: Daß wir

in der Vergangenheit richtig lagen mit der Regel, daß Schwäne weiß sind und mit der

Identifikation von xyz als Schwänen): Jeder Fall stützt als Fall die Regel (dies sieht Toulmin

selbst), aber die Identifikation von Fällen legt auch den Definitionsbereich der Regel fest, so

daß die Stützung gar nicht die Regel stützen kann, ohne auch etwas über den fraglichen Fall

zu sagen.

Nach diesen allgemeinen Betrachtungen nun zu den Spezifika theoretischer bzw. praktischer

Urteile.

Theoretische Urteile

Hubig (1997a) unterscheidet in seiner Analyse des Expertendilemmas zunächst drei Felder

des Abduzierens: Wahrnehmungen, Begriffe und Ursachen (Hubig: Kausalitäten). Auf dem

ersten Feld geht es um die Wahrnehmung von etwas als Etwas (Identifikation von

Einzeldingen). Auf dem zweiten Feld geschieht die nähere begriffliche Bestimmung dieses

Etwas (Beiordnung von Gattungsbegriffen etc.). Auf dem dritten Feld schließlich werden

bestimmte Konstellationen als ursächlich für einen konkreten Vorgang ausgezeichnet (Schluß

auf die Auslösebedingungen). Die ersten beiden Felder umfassen die Basisidentifikation und

die Qualifikation von Gegenständen, das dritte Feld die Rolle dieser Gegenstände in

Prozessen.��

�� Dieses Beispiel scheint absurd, denn wissen wir nicht, was ein Schwan ist? Wir brauchen aber nur an einegenetische Veränderung zu denken, die u.a. eine Farbveränderung des Gefieders nach sich zieht, und dasBeispiel wird schon deutlicher. Betrachten wir anstelle der Popper zu Ehren eingeführten Schwäne das obeneingeführte Beispiel: ein Rohrbruch verursacht einen Wasserschaden, sind die Alternativen ebenfalls sichtbar.14 Dabei soll nicht behauptet werden, daß diese Abduktionen unabhängig voneinander vorgenommen werdenkönnten. Sie lassen sich aber analytisch unterscheiden als Felder, auf denen Dissense festgestellt werden können,und können nicht aufeinander reduziert werden.

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Quer dazu unterscheidet er drei Typen des abduktiven Schließens auf Erklärungen.�� Um diese

Typen zu verstehen, ist es nützlich, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, welche Aufgabe

die Abduktion hat: Die Abduktion rechtfertigt singuläre Aussagen (Fälle). Daher kann mit

Recht auch die Frage, welche Regel zusammen mit welchem Fall ein gegebenes Resultat

erklärt, eine Abduktion genannt werden. Unter einer festen Regel (bei der

Wahrnehmungsabduktion: eines Wahrnehmungsschemas; bei der Begriffsabduktion: eines

Begriffsrasters; bei der Ursachenabduktion: eines statistischen, kausalen oder telonomischen��

Zusammenhangs) können die real immer vorhandenen Abweichungen in den Resultaten auf

verschiedene unbekannte Einflüsse (etwa Sinnestäuschungen, Kategorienfehler und

Meßfehler bzw. Störgrößen) geschoben werden. Auf diese Weise lassen sich auch

offensichtlich unpassende Resultate unter Beibehaltung der jeweiligen Regel durch Verweis

auf solche (noch) unbekannten Einflüsse „wegerklären“. Obwohl also die richtige Regel

angesetzt wird, läßt das Resultat Spielraum für abduktiven Dissens. Ein erster, zum

entsprechenden Abduktionstyp gehöriger Dissenstyp entsteht somit, wenn sich auf

unterschiedliche Einflüsse und damit auf unterschiedliche Fälle berufen wird. Ein zweiter

Dissenstyp entsteht, wenn zusätzlich auch noch die Regel mit umstritten ist. Dasselbe Resultat

kann nämlich häufig unter Unterstellung einer differenten Regel und eines entsprechend

differenten Falls erklärt werden.�� Der dritte Typ ist höherstufig, er betrifft den „Schluß“ auf

die beste Erklärung. Hierbei kann nicht nur eine Modifikation der Regel und entsprechend

des Falles gefordert sein, sondern u.U. ein ganz anderes Regelsystem („Erklärungsdesign“,

„Paradigma“, o.Ä.).

Das besondere dieser Dissense ist, daß sie aufttreten können, obwohl die einzelnen Regeln für

sich nicht umstritten und obwohl auch die Resultate häufig nicht strittig sind – der Dissens

betrifft die „angemessene“ Erklärung, d.h. die Kombination von Regel, Fall und Resultat. In

�� Bei der Charakterisierung dieser Typen betont Hubig einen vorausliegenden Dissens, denn er entwickelt seineTypologie im Zuge der Analyse des „Expertendilemmas“. Dennoch bedarf es keiner vorgängigen Unstimmigkeitbzw. eines offenen Dissenses oder eines Dilemmas, um abduktive Schlüsse zu kategorisieren; der abduktiveSchluß ist intrinsisch unsicher. Eine Typologisierung kann daher auf die unvermeidlichen Unsicherheitenvermeintlich noch so sicherer und konsentierter Urteile abheben.16 Teleonomische Erklärungen stehen zwischen Kausalerklärungen und (weiter unten ausgeführten) intentionalenErklärungen. Sie erklären Vorgänge durch „Als-ob-Intentionen“ („Das Gen will sich verbreiten“; „Das Tier willfressen“ o.Ä.), obgleich diese Intentionen ausschließlich von außen zuschreibbar sind und von daher nicht voneiner prinzipiellen Unangemessenheit vollständig kausaler Erklärungsversuche ausgegangen werden kann.

�� Der Unterschied zum Induktionsproblem ist, daß hier auch der Fall differieren kann. Es sind daher nichtunbedingt beide Regeln inkompatibel, wobei die Falschheit von einer von beiden sich nur in Bezug aufzukünftige Fälle erweisen läßt (wie regelmäßig bei der Induktion), sondern beide Regeln könnten auch inZukunft nebeneinander bestehen. Freilich umfaßt der Dissenstyp zwei auch diese Entscheidungssituation, etwa

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praktischen Zusammenhängen ist dies hochgradig relevant, da je nach Erklärung eines

Problems (d.h. z.B. je nach Ursache des Versagen einer Technik) verschiedene Strategien zur

Problemlösung sinnvoll sind.

Hubigs Analyse desjenigen theoretischen Begründungskomplexes, der auf nomologische

Erklärungen führt, und den ich daher nomologischen Syllogismus nennen will, läßt sich auf

die Erklärung von Handlungen übertragen. Dazu dient der sog. praktische Syllogismus, den

ich aber (da praktische Urteile auf praktische Diskurse begrenzt bleiben sollen), hier

intentionalen Syllogismus nennen will.�� Dieser Syllogismus schließt vom verfolgten Zweck p

einer Person (Obersatz) und dessen Glauben, daß eine Handlung q eine hinreichende

Bedingung sei für die Erreichung von p (Mittelsatz), darauf daß die Person q ausführt.��

Allerdings ist schon weniger klar, was die Regel und was der Fall ist. In gewisser Weise

spezifiziert natürlich die Angabe eines hinreichenden Mittels den Zweck. Aber die Aussage (p

� q) sollte man wohl eher als allg. Gesetz ansehen und den Zweck p als Fall (so ja auch

Habermas 1973). Jedenfalls stellt der Mittelsatz einen deskriptiven Satz dar, dessen

Dissenspotential analog zu den theoretischen Sätzen herausgestellt werden kann (was ich uns

hier erspare). Interessant ist ein Adäquatheits-Vorbehalt betreffs dieses Mittelsatzes: Das dort

eingeführte q kann nämlich anderen von der Person verfolgten Zwecken widersprechen oder

ihre Erreichung unmöglich machen, deshalb ist es durch ihre Ziele mitbestimmt.�� Dieses

Problem stellt sich in Parallele zum theoretischen Syllogismus, wo auch nicht ein Fall

gleichzeitig unter zwei Regeln fallen darf, die widersprüchliche Resultate zur Folge hätten.

Ein neuartiges Abduktionsproblem stellt sich betreffs des Obersatzes des intentionalen

Syllogismus, der ja nicht als Regel auftritt. Hier lassen sich mühelos die bereits bekannten

wenn inkompatible Regeln, die sich bezüglich der z.Zt. verfügbaren Daten nicht wesentlich unterscheiden, zustark unterschiedlichen Prognosen führen.

�� Üblich ist der Verweis auf Aristoteles (1992, Kap. VI und VII). Dessen praktische Syllogismen haben dieForm: „Von allem Süßen muß man kosten“ oder auch „Alles Süße ist angenehm“ einerseits und „Dies ist süß“andererseits darauf, daß ein Mensch dies ißt (ebd.: 184). Die Konsequenz ist eine Handlung, der Obersatz enthältaber keinen Zweck. Ich will im folgenden hingegen intentionale, evaluativ-voluntative und normativePerspektive trennen.

�� Der intentionale Syllogismus wird für gewöhnlich als praktischer Syllogismus bezeichnet, was ich hier nichtübernehmen will. Sein Resultat ist eine Handlung: So wie das Resultat eines theoretischen Urteils notwendig zubejahen ist, ist das Resultat eines praktischen Syllogismus „augenblicklich in die Tat umzusetzen“ – sofern derHandelnde „dazu in der Lage und nicht gehindert ist“, wie schon Aristoteles einschränkend feststellte (ebd.: S.185). Die Bezeichnung „Schluß“ ist in einem weiteren Sinne zu verstehen: War bereits die Analytizität vontheoretischen Syllogismen nur eine Frage des Grades, sind die Erklärungen von Handlungen als intentionaleintrinsisch auf die der fremden Handlungserklärung zustimmenden Interpretation der Handelnden selbstausgerichtet (v. Wright, Lenk, Hubig).

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drei Felder des Abduzierens abstecken: Identifikation (etwas als ein Etwas des Willens

anzusehen), Begriff (die genauere Bestimmung dieses Etwas) und Motivation (das bestimmte

Etwas als Auslöser einer Handlung). Auch die drei Typen des erklärenden Abduzierens lassen

sich wiederfinden – wenn man dazu den Mittelsatz als Regel betrachtet.

Erklärungen von Handlungen bergen ebenfalls potentielle Dissense, z.B. in der

Technikbewertung, da sich die Technik in Beziehung zum Menschen und dem menschlichen

Handeln als nützlich oder schädlich darstellt. Ob wir einen Vorgang z.B. durch den Verweis

auf Kausalketten oder auf Handlungen erklären (etwa als menschliches Versagen oder

technischen Defekt), hängt – wie auch die je interne Frage, was man als Motiv oder Ursache

ansieht – mit Normalitätsunterstellungen zusammen, was oben, beim

Unterscheidungsproblem zwischen Regel- oder Fallmodifikation, bereits zum Ausdruck

kam.�� Die fallbezogene Wahl zwischen dem intentionalen und dem nomologischen

Erklärungsdesign ist somit ebenfalls eine abduktive Frage.

Bisher sind wir aber noch nicht bei expliziten Bewertungen, und bevor wir dahin kommen, ist

noch ein anderer Punkt anzusprechen: Das Prognoseproblem, zunächst im Zusammenhang

theoretischer Sätze, also bei einem deskriptiven Zukunftsbezug. Nomologische und

intentionale Vorgänge in der Zukunft sind u.U. in einem höheren Maße ungewiß wie

retrospektive Erklärungen. Häufig gibt es, insbesondere in komplexen Systemen, eine

prinzipielle Vorhersagegrenze (Gleick 1988). Und bei intentionalen Vorgängen in der Zukunft

stellt sich das Problem der doppelten Kontingenz (Luhmann 1987: 148ff.): Als wüßten wir

um zukünftige Motive nicht ohnehin schon weniger als um zukünftige kausal bedingte

�� Der umgekehrte Richtung, in dem die Mittel die Zwecke bestimmen, gilt in einem unverdächtigen Sinneimmer, insofern nämlich die Erreichbarkeit von Zwecken auch ihre Auswahl mitbestimmt, kann aber beierhöhten Folgelasten des Mitteleinsatzes in „Sachzwänge“ übergehen.

�� Gelten etwa bestimmte Sicherheitsprüfungen seitens der Hersteller eines Produkts für „normal“, unterläßt sieder Anwender. Kommt es zum Unfall, bestimmen diese Normalitätserwartungen die Erklärung des Vorfalls undauch die Schuldzuweisungen (Alternative zwischen Handlungen). Sind etwa Regengüsse eher selten, erklärenwir einen durchnäßten Spaziergänger durch den Regen. Sind sie die Regel, wird derselbe Schaden vielleichtdurch einen zu Hause gelassenen Regenschirm erklärt (Alternative zwischen Ursachen und Handlungen). Undsind bestimmte Umstände selten der Fall, etwa Überflutungen, erklären wir Wasserschäden durch die Flut. WoÜberflutungen jedoch an der Tagesordnung sind, erklärt man den Schaden durch mangelndeWasserbeständigkeit (Alternative zwischen Ursachen).

Diese Alternativen stellen sich wiederum erst im Kontext weiterer Normalitätserwartungen usw., so daß hiereine Eindeutigkeit nicht gewonnen werden kann. Selbst wenn wir übrigens annehmen, der normalsprachlicheBegriff der Ursache funktioniere so, daß er zwischen verschiedenen, naturwissenschaftlich betrachteten„Mitursachen“ auswähle, wären jene Mitursachen nur „verhältnismäßig stärker kontextunabhängig“, aber niekontextfrei zu verstehen (s. Putnam 1997: 68).

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Vorgänge, können diese Motive auch noch von der Prognose selbst abhängen, insofern als die

Prognose Motive verändert.

Praktische Urteile

Bis hierher wurde mit dem intentionalen Syllogismus nur die Erklärung von Handlungen

betrachtet. Die Beantwortung einer Frage in praktischer Hinsicht bedeutet aber, Handlungen

nicht nur zu erklären, sondern auch zu empfehlen oder zu fordern. Ein entsprechendes

Urteilen läßt sich im Rahmen eines konsultativen Syllogismus modellieren, der durch

höherstufige evaluative bzw. normative Syllogismen gestützt wird, d.h. durch Beratung über

Ziele bzw. Normen und durch Beratung über adäquate Mittel zur Zielerreichung bzw. des

angemessenen Bezugs von Normen. Der konsultative Syllogismus ist das Pendant zum

intentionalen Syllogismus: Er schließt von einem anzustrebenden Ziel und einem

angemessenen Mittel auf eine Handlungsempfehlung. Der evaluative Syllogismus dient der

Qualifizierung von Zielen und Mitteln; er schließt unter anerkannten Werten als Regeln auf

anzustrebende Handlungsziele (evaluativ-voluntativ) wie auf adäquate Handlungsmittel

(evaluativ-pragmatisch). Der normative Syllogismus schließt – ganz analog zum theoretischen

Syllogismus – von einer Norm, d.h. einer Regel (etwa „Du sollst nicht töten“) und einem Fall

(„q tun hieße zu töten“) auf ein (gesolltes) Resultat („Du sollst q unterlassen“). Er ist sich

selbst höherstufiger Syllogismus, da Normen immer gesollte Handlungen, d.h. Normen

begründen. Die Verknüpfung von normativer mit konsultativer Perspektive ist offensichtlich:

legitime Handlungen sollen mit gerechtfertigten Normen übereinstimmen, d.h. die vom

konsultativen Syllogismus empfohlenen Handlungen (und Unterlassungen) sind mit

gerechtfertigten Normen in Beziehung zu setzen und so auf Erlaubnis oder Verbot zu prüfen.

Damit ergeben sich auf Seiten der Norm zwei der drei bekannten Problemfelder: Handlungen

sind mit normativen Begriffen zu vergleichen (Überbrückung), normative Begriffe sind zu

bestimmen (Interpretation).�� Gewissermaßen die Kehrseite der Überbrückung ist die

Sensibilisierung, in der eine Handlung als überhaupt normativ relevant identifiziert wird. Der

Überbrückung bzw. Sensibilisierung entsprechen in theoretischen Fragen das Abduktionsfeld

der Wahrnehmung, der Interpretation das Feld der Begriffe.

Bei Empfehlungen oder Forderungen ist der Status der Prämissen gegenüber Erklärungen

verschieden: Sowohl der Obersatz als auch das Resultat werden, als evaluative bzw.

�� Im Hinblick auf die Technikethik hat Hubig (1993: 65f.) dies unter Verweis auf entsprechende Stellen beiAristoteles ausgeführt. Er sieht eine besondere Herausforderung deontologischer Ethiken durch dasInterpretationsproblem, während das Überbrückungsproblem eher teleologische Ethiken tangiere (ebd.: 67).

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normative Sätze, auch und gerade gegen eine widerstrebende Wirklichkeit aufrechterhalten –

sonst könnten sie gar keinen Empfehlungs- oder Forderungscharakter haben (vgl. Luhmann

1969). Deshalb können sie aber auch in höherem Maße Gegenstand von Dissensen sein. Eine

formale Forderung betrifft ihre Konsistenz mit anderen evaluativen bzw. normativen Sätzen,

wobei auch die Adäquatheit der Mittelbegriffe zu beachten ist (s.o.). Mögliche Dissense

betreffen also auch die Einordnung konsentierter Werte und Normen in ein größeres System

derselben (Abwägung bzw. Priorisierung), diese Problematik tritt an die Stelle der Ursachen

bzw. Motive auf dem dritten Problemfeld der Abduktion.

Auch in empfehlender bzw. normativer Hinsicht lassen sich die drei Typen der Abduktion

wiederfinden: Angesichts eines konkreten Resultats kann erstens die Fallbeschreibung, oder

zweitens der Obersatz (Ziel oder Norm) zusammen mit der Fallbeschreibung umstritten sein,

oder aber drittens differente Werte- bzw. Normensysteme zum praktischen Urteilen

herangezogen werden.

Auch in praktischer Hinsicht schafft das Prognoseproblem zusätzliche Unsicherheit, diesmal

über die eigenen zukünftigen Ziele (oder die derjenigen Subjekte, die man oder in deren

Namen man berät), sowie über das Vorhandensein und die Eignung von Mitteln. Im Prinzip

lassen sich auf allen Feldern und in allen Typen hier Veränderungen vorstellen. Welche

Möglichkeiten man der Prognose zugrundelegt, auch dies ist eine Abduktion.

Syllogismus und Abduktion

Die aufmerksame Leserin wird bemerkt haben, daß die hier vorgetragene Dissens-

Klassifizierung keine Induktionen und Deduktionen umfaßt. Für die Analyse von Dissensen

als Abduktionsproblemen sprechen zwei Dinge: Zunächst die empirische Beobachtung, daß

sich durch eine übereinstimmende Fallbeschreibung ein normativer Dissens „in aller Regel“

auflöst, so die doppeldeutige Formulierung von Wellmer (1986: 132). Der Grund hierfür liegt

darin, daß normalerweise kein Dissens in Grundwerten oder Grundnormen besteht, diese aber

‚anders verstanden‘ werden (vgl. die eingangs erwähnte, wechselseitige Interpretation von

Fall und Regel). Aber auch methodisch besteht ein Primat der Abduktion: Allgemein

betrachtet ist nämlich die Frage, ob eine Induktion als (vorläufig und fallibel) gelungen

angesehen werden kann, genauso wie die Frage, welche der solcherart gerechtfertigten Regeln

zu einer Begründung herangezogen werden sollen, ein Abduktionsproblem. Deshalb können,

so der Anspruch, sämtliche Dissense als differente Abduktionen rekonstruiert werden.

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FELDER nomologisch intentional / konsultativ evaluativ normativ

Etwas als Etwas Wahrnehmung Identifikation Identifikation Überbrückung

Bestimmung d. Etwas Begriff Präzisierung Präzisierung Interpretation

Etwas im Prozeß Ursache Motivation / Empfehlung Qualifizierung Forderung

TYPEN nomologisch intentional / konsultativ evaluativ normativ

Fall oder Regel strittig Erklärung I Erklärung / Anwendung I Anwendung I Anwendung I

Regel und Fall strittig Erklärung II Erklärung / Anwendung II Anwendung II Anwendung II

Regelsystem strittig Erklärung III Erklärung / Anwendung III Anwendung III Anwendung III

Tabelle 4

Arten, d.h. Felder und Typen, der Abduktion beim nomologischen Syllogismus (nach Hubig 1997a), beimintentionalen, beim evaluativen und beim normativen Syllogismus. Der intentionale Syllogismus wird zumkonsultativen Syllogismus, wo er Handlungen nicht erklärt, sondern empfiehlt.

Die Typenunterscheidung verläuft im Prinzip quer zu der Felderunterscheidung. Alle

Dissenstypen können daher für jedes der Dissensfelder auftreten, ihren vollen Sinn erreicht

die Typenunterscheidung aber erst in Hinblick auf das dritte Feld. Zudem verbirgt sich (wie

oben angedeutet) hinter einem strittigen Fall häufig auch eine strittige Regel, so daß sich der

erste Typ kaum in Reinform finden lassen dürfte und mit Typ II zusammengefaßt werden

könnte.

Die in Tabelle 4 aufgeführten Dissensmöglichkeiten, die im Rahmen der in Tabelle 2

dargestellten Diskursarten sind ersichtlich miteinander verflochten, setzen sich aber auch

gegenseitig voraus. So gehen nomologische Zusammenhänge als Prämissen in intentionale

Erklärungen ein, nomologische und intentionale wiederum in normative und evaluative

Diskurse. Die einzelnen Typen lassen sich jedoch nicht aufeinander reduzieren: Evaluative

und deontologische Urteile lassen sich nicht ineinander übersetzen, denn sie gehorchen einer

anderen Semantik. Deontologisch gebotene Normen sind durch eine Handlung entweder

verletzt oder nicht, evaluativ empfohlene Ziele sind durch eine Handlung mehr oder weniger

gut realisiert. Zu deontologisch-normativen Sätzen nehmen wir mit »ja« oder »nein« Stellung,

evaluativen hingegen können wir mehr oder weniger zustimmen. Intentionale Erklärungen

nehmen – im Unterschied zu nomologischen Erklärungen – auf subjektive Zustände Bezug,

die sich mit Methoden der Naturwissenschaften nicht erfassen lassen, sondern in einem

hermeneutischen Prozeß zusammen mit dem handelnden Subjekt bestimmt werden müssen.

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Wir können also, bereits mit Blick auf den nächsten Abschnitt, folgende Spielarten von

praktischen Diskursen postulieren: Zunächst, um den normativen Syllogismus füllen zu

können, benötigen wir Normenbegründungsdiskurse für den Obersatz (diese Art von Diskurs

gibt es in der Grundkonzeption bereits) und Normenanwendungsdiskurse für den Mittelsatz.

Um den konsultativen Syllogismus zu bedienen, benötigen wir evaluativ-voluntative

Diskurse, die den Obersatz erbringen, sowie evaluativ-pragmatische Diskurse, die den

Mittelsatz als gültig erweisen können. Quer zu dieser Einteilung, aber die theoretischen

Fragen mit umfassend, benötigen wir ästhetische Diskurse, die auf Ebene der Wahrnehmung

operieren��, und terminologisch-explikative Diskurse für die Begriffsebene. Für das dritte

Feld, auf dem die entsprechenden Einzelaussagen zusammengesetzt werden, müssen wir nach

den Abduktionstypen unterscheiden: Zunächst zum ersten und zweiten Typ: In theoretischen

Diskursen werden alternative Fälle und/oder Regeln in Erklärungen diskutiert, in praktischen

Diskursen werden alternative Fälle und/oder Regeln in Empfehlungen bzw. Forderungen

diskutiert. Abduktionen des dritten Typs führen in theoretischer wie in praktischer Hinsicht

auf epistemische Diskurse, in denen alternative Regelsysteme in erklärender oder eben

empfehlender bzw. fordernder Hinsicht diskutiert werden müssen.��

Ästhetik und Episteme

Das Postulat, auch singuläre Urteile in Diskursen bearbeiten zu können, führt auf die

Notwendigkeit einer ästhetischen Diskurs-Ebene. Auf dieser Ebene geht es um die

angemessene Sichtweise einzelner Fälle - von daher trägt der Normen-Anwendungsdiskurs

ästhetische Züge - bis hinunter zur Wahrnehmung von etwas als etwas etc.�� Epistemische

Fragen hingegen, so die hier verwendete Terminologie, betreffen nicht einzelne Prämissen

eines Syllogismus, sondern die Angemessenheit des ganzen Erklärungsschemas: Dazu zähle

ich strittige Regelsysteme (etwa: Theorien), bis hin zu Fragen, die die Art der Erklärung als

23 Diese Problematik betrifft auf dem Feld der Technikbewertung etwa die Frage „Was ist Lärm?“ oder dieästhetische Wirkung technischer Artefakte (vgl. den Streit um Windkraftanlagen).

�� Im Rahmen wissenschaftlicher Kontroversen betrifft diese Problematik häufig die Sichtweisenunterschiedlicher Disziplinen. Für die Technikbewertung gibt Schomberg (1992) hierzu ein Beispiel aus derDiskussion um die Risiken der Gentechnologie, er nennt die Auseinandersetzung zwischen Ökologen undMolekularbiologen einen „epistemischen Diskurs“; dessen „typische Argumente [...] dienen nicht direkt derargumentativen Einlösung von Wahrheitsansprüchen, sondern der kohärenten Konstruktion von Theorien,Hypothesen und Annahmen, mit denen wir Wissensbereiche allererst zuverlässig erschließen können" (ebd.:262f.). Bei Hubig (1997) findet sich ein Beispiel aus der Klimaschutzdebatte, wo ein Dissens „ausgeopaläontologischer Perspektive und ihrer Klimazyklen-Forschung im Gegensatz zu den Modellrechnungen derKlimaforscher, der Statistiker oder schließlich der Geophysiker“ entsteht.25 Diese Problematik betrifft auf dem Feld der Technikbewertung etwa die Frage „Was ist Lärm?“ oder dieästhetische Wirkung technischer Artefakte (vgl. den Streit um Windkraftanlagen).

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solcher betreffen (etwa die Zuordnung von Fragen zu Diskurstypen). Wenn unterschiedliche

Wahrnehmungen, unterschiedliche Basisidentifikationen, den tiefsten Punkt von Dissensen

kennzeichnen, lassen sich unterschiedliche Paradigmen gewissermaßen als der höchste Punkt

von Dissensen bezeichnen. In beiden Richtungen kann die Dissensanalyse an vorläufige

Endpunkte gelangen.�� Da das Spezifikum ästhetischer bzw. epistemischer Geltungsansprüche

unklar ist, eine Einteilung von Diskursen aber nach diesen geschehen sollte, können sie nicht

als eigenständige Diskurse angesehen werden; es erscheint jedoch fraglich, ob in ihnen

theoretische und praktische Aspekte sich noch sauber trennen lassen (was ich hier nicht

ausführen kann) - deshalb, und auch weil die Lage bei ethischen Diskursen nicht klarer ist,

will ich im Folgenden dennoch von ästhetischen und epistemischen Diskursen sprechen.

Für eine Erweiterung in Richtung ästhetischer Diskurse finden sich bei Habermas zumindest

Anknüpfungspunkte: So wird an einer Stelle von „argumentativen Verfahren der direkten

oder indirekten Einlösung von Geltungsansprüchen auf propositionale Wahrheit, normative

Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und ästhetische Stimmigkeit“ gesprochen (Habermas

1985a: 366, meine Hervorhebung). Die auf ungeklärte Weise an evaluative Aussagen

gekoppelte „ästhetische Kritik“ (s.o.) scheint hier nicht gemeint, dagegen spricht die

Bezeichnung als Geltungsanspruch (sowie ein Verweis auf die Stimmigkeit eines

Kunstwerks, auf das Kunstwahre). Eine Festlegung ästhetischer Diskurse auf die Herstellung

ästhetischer Stimmigkeit ist jedoch eine kaum überzeugendere Einengung des Ästhetischen,

die m.E. besonders deren welterschließende Kraft unausgeschöpft läßt (zu diesem Begriff vgl.

Seel 1993).�� Diese hat in theoretischen und (besonders) in praktischen Diskursen eine

wichtige Funktion, nämlich eine Situation in einem neuen Licht erscheinen zu lassen und

unsere eingespielten Interpretationen zu irritieren, indem vertraute Dinge in ungewohnte

Zusammenhänge gestellt werden. Diese Irritation und der durch sie ausgelöste Abgleich der

wahrnehmungsleitenden Schemata geschieht nonverbal und verbal (durch entsprechende

Interpretationen). Insofern, als sich diese Wahrnehmungen erkennen und kritisieren lassen, ist

es gerechtfertigt, von ästhetischen Diskursen zu sprechen. Eine Einlösung eines

Geltungsanspruches auf die »richtige Sichtweise« ist dadurch im Prinzip möglich – auch

wenn Wahrnehmungen zu einem guten Teil im vorbegrifflichen Raum geregelt werden.

26 Ästhetische und epistemische Fragen markieren so die methodologischen Randbereiche von Diskursen: Inbeiden Richtungen droht der Diskurs auf jene Fraglosigkeiten zu stoßen, die durch den gemeinsamenHintergrundkonsens der Opponenten fixiert sind.

�� Seel will dafür den Begriff der Richtigkeit (im Sinne der richtigen Sichtweise) einführen - dieser Begriff ist imRahmen der Diskurstheorie jedoch schon besetzt.

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Epistemische Fragen werden regelmäßig aufgeworfen durch Erklärungen unterschiedlicher

wissenschaftlicher Disziplinen oder Bewertungen aufgrund unterschiedlicher Identitäten (vgl.

Fußnote 24). Auf Ebene epistemischer Diskurse geht es aber auch um gravierende Fälle: Im

Hintergrund von Dissensen können nämlich auch scheinbar inkompatible Begriffs- und

Wissenssysteme, Moral- und Wertsysteme stehen; und dann gerät es bereits zum Problem,

Dissense auch nur adäquat formulieren zu können, d.h. diese Systeme zu rekonstruieren.

Die Analyse solcher Regelsysteme kann nicht auf einzelne Syllogismen rekurrieren. Daher ist

eine ungewöhnliche Methodik erforderlich, um tiefgehende und umfassende Differenzen zu

rekonstruieren, und ich denke, daß man bei M. Foucault hier fündig werden kann. Foucault

bietet einen strukturalen Diskursbegriff an, der als Gegenstand von epistemischen Diskursen

angesehen werden kann. Epistemische Diskurse wären dann Meta-Diskurse, nämlich Diskurse

(im Sinne von argumentativer Rede überhaupt) über Diskurse (im Sinne von historisch

situierten „diskursiven Formationen“).�� Foucaults Diskursanalysen erstrecken sich von sehr

konkreten Zusammenhängen (wie der Psychopathologie) bis zu den Denksystemen ganzer

Epochen (Renaissance, Klassik und Moderne). Foucault sucht dabei nach dem „historischen

apriori“ von Diskursen, nach „epistemen“.�� Mit einem vier Analysedimensionen

umfassenden Instrumentarium, das die gewöhnliche Sinn-Konstruktion hinterfragt, wird eine

Rekonstruktion von Regelsystemen angeboten, die eine Grundlage für eine Verständigung

auch zwischen diesen Regelsystemen darstellen kann.��

Auch J.-F. Lyotard, der gegen Habermas auf den „Widerstreit“ unvereinbarer „Diskursarten“

hinweist (1989: 11f.), zeigt ungewollt eine Lösungsperspektive auf: So unterstehen seine

Diskursarten doch explizit bestimmten Zwecken, und anhand dieser Zwecke kann man über

die Diskursarten verfügen. Gewalt tut man dabei nicht den Diskursarten an – was wäre das

auch – sondern höchstens den Individuen, die diese Zwecke verfolgen.31 Lyotard

�� Auch Foucault bezeichnet sein Vorgehen als „Diskurs über Diskurse“ (1973: 292), enthält sich jedochmethodischer Reflexionen auf diese Metaebene. Es ist mir natürlich klar, daß die hier vorgeschlageneInterpretation eine Vereinnahmung seitens der Habermasschen Diskurstheorie darstellt.29 Über die Wissenschaftstheorie hat sich für ein solches Konstrukt der von Kuhn (1976; 1978) eingeführteBegriff »Paradigma« durchgesetzt.30 Den vier Analysedimensionen, Gegenständen, Äußerungsmodalitäten, Begriffen (concepts) und Strategien,entsprechen dabei die vier üblicherweise als sinnstiftende Einheiten von Diskursen anerkannte Entitäten:Objekte, Subjekte, begriffliche (notions) Instrumentarien und Themen (Foucault 1973: 57ff.).31 Zudem enthält seine Position einen Widerspruch, denn die Diskursarten verknüpfen bereits Sätze aus ganzverschiedenen Regelsystemen. Dieses „Unrecht“ nimmt er hin, das der Verknüpfung unterschiedlicherDiskursarten aber nicht (1989: 11).

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verabsolutiert diese Zwecke, wo doch die Individuen mehrere Zwecke verfolgen und dabei

über diese, und sei es wiederum höherstufig, disponieren können.

Höherstufige Konsense

Nach der erläuternden Durchsicht der verschiedenen Dimensionen des praktischen Diskurses

will ich das Problem der diskursiven Konsensfindung unter Habermasschen Prämissen wieder

aufnehmen. Allerdings legen die Ausführungen zu ethischen, ästhetischen und epistemischen

Fragen nahe, daß ein einfachstufiger Konsens, d.h. ein Konsens über die jeweils strittigen

Urteile, auch in idealen Diskursen nicht in jedem Fall erwartet werden kann.�� Dennoch

leisten Diskurse mehr als eine bloß formale Rationalitätserhöhung der kontroversen

Positionen qua „Internalisierung von Negationen“ (Döbert 1996 im Anschluß an Piaget).

Diskurse schaffen erstens Transparenz durch »transsubjektive« Einsicht in je unterschiedliche

Begründungen kontroverser Positionen.33 Abweichende Urteile lassen sich über die

Begründungszusammenhänge, in denen sie auftreten, analysieren und transparent machen.

Dies geht einher mit einer Verständigung über Wahrnehmungsweisen, Terminologien,

epistemische Systematisierungen, im Hintergrund von Erklärungen stehende Regelsysteme,

im Hintergrund von Empfehlungen bzw. Forderungen stehende Wert- und Normsysteme,

sowie den dazugehörigen Anwendungsweisen, etc.: In den entsprechenden Diskurs-

Dimensionen ist eine je problembezogen ausreichend transparente Strukturierung von

Dissensen prinzipiell möglich, die Analyse kann im Prinzip, wenn die Dissense dies

hergeben, potentiell unendlich weit getrieben werden. Auf diese Weise enstehen vernünftige

Dissense, da die Gründe für ein abweichendes Urteil benennbar werden.�� Natürlich muß all

32 Dies gefährdet nicht den Kongitivismus der Diskurstheorie, denn die kontrafaktischen Unterstellungen derdiskursiven Einlösbarkeit von theoretischen und praktischen Geltungsansprüchen bleiben auch durch dieangesprochenen Dissense unberührt. Der ideale Diskurs als Sinnexplikation eines modernen, post-traditionalenBegründungsniveaus bleibt nämlich intakt: Wenn wir uns auch in jeder kommunikativen Handlung in der Regeldarauf verlassen, daß das Gegenüber die implizit erhobenen Geltungsansprüche auch einlösen kann, ist dieseUnterstellung jedoch häufig genug nicht einzulösen. Eine Dissensanalyse hilft einem zu verstehen, warum diesso ist, kann aber nicht zur Widerlegung eines kontrafaktischen Anspruchs aufgeboten werden.33 Transsubjektivität verstehe ich allgemein gesprochen als Relativierung guter Gründe (s. die Beispiele imText), in praktischen Konflikten also z.B. als meine (unsere) Einsicht in die Güte von Gründen für eine Person x(für eine Klasse von Personen X), ohne daß ich (wir) für mich (uns) diese Güte ebenfalls behaupten müßte(n).Vgl. zu diesem Konzept Hubig 1995a: 192f.34 Von verschiedener Seite wurde die Bezeichnung »rationaler Dissens« vorgeschlagen, um ein derartigesErgebnis von Diskursen zu charakterisieren (z.B. von Miller 1992). »Rational« soll hierbei aber nicht heißen:Individuell vorteilhaft (im Sinne des »rational choice«), sondern (im Sinne der ursprünglichen Wortherkunft von»ratio«), bezogen auf zumindest den Konfliktparteien zwanglos einleuchtende Gründe. Habermas und Wellmerverwenden den Begriff »rational« in der umfassenden Bedeutung universell einleuchtender Gründe – daher willich lieber die Bezeichnung »vernünftiger Dissens« verwenden. Die Idee des vernünftigen Dissens ist, daß ein

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dies in endlicher Zeit nicht immer gelingen (auf die Problematik der Nichtidealität realer

diskursiver Verfahren gehe ich im nächsten Abschnitt näher ein), dann sieht man sich

abweichenden Urteilen gegenüber, ohne es begründen zu können.

Diskurse können zweitens aber auch irgendwann echte Konsense schaffen durch

»intersubjektiv« geteilte, gemeinsame Gründe. Bereits die Transparenzfunktion bedeutet eine

Erzeugung intersubjektiver Übereinstimmung darüber, nicht nur in welcher Dimension,

sondern auch worin genau der Dissens besteht. Jeder vernünftige Dissens bedeutet daher auch

eine intersubjektive Übereinstimmung – allerdings noch nicht in praktischer Hinsicht. Denn

man weiß ja nur, warum die unterschiedlichen Urteile aus der jeweils anderen Perspektive

gerechtfertigt sind – was aber erstens eine gelungene Analyse des Dissenses, zweitens eine

Identifikation einer Nichtübereinstimmung in den Urteilen, die zu dieser Analyse überhaupt

den Anlaß bietet, schließlich drittens ein praktisches Interesse an einer Identifikation von

Nichtübereinstimmungen und einer Analyse als Dissense bereits voraussetzt.��

Wie lassen sich angesichts von Dissensen nun praktische Konsense erzielen? Ich würde

vorschlagen, durch höherstufige Konsensbildung in materialer oder prozeduraler Hinsicht,

d.h. über Inhalte oder über Verfahren.��

In materialer Hinsicht denke ich, wie im nächsten Absatz weiter auszuführen sein wird, an

eine Art „Subsidiaritätsmodell“: Über verschiedene theoretische Perspektiven disponieren wir

pragmatisch, über pragmatische Perspektiven hingegen im Rahmen von Vorstellungen des

Guten Lebens (in Habermas‘ Sprechweise: „ethisch“). Die ethische und die moralische

Perspektive sind reflexiv angelegt, daher disponieren sie wesentlich über sich selbst, wobei

aber über die ethische Perspektive vielleicht (indirekt) auch unter moralischen

Diskurs i.d.R. nicht einfache Konsense herstellen kann, jeweils aber die Unterschiede im konkreten Urteil überden Versuch einer Begründung herausstellen kann (Transparenzerhöhung).

�� Insofern beruht auch die Dissensanalyse selbst auf einer Hypothese: Daß sie nämlich Dissense erklären kannin einer Weise, die für uns nachvollziehbar und, zur Beantwortung praktischer Fragen, brauchbar ist. Werpraktische Urteile anders auffaßt, etwa die Unterscheidung von Normen und Werten ablehnt und damit andereethisch-moralische „Einheitsfoki“ (Kettner 1992: 318) ansetzt, wird ein anderes Modell der Dissensanalysebenötigen. Gleiches gilt für alle anderen Unterscheidungen, die oben eingeführt wurden, wie etwa die zwischender Erklärung von Handlungen und Kausalerklärungen oder die zwischen Erklärungen und Empfehlungen bzw.Forderungen. Wer die Form von Erklärungen durch Regeln und Fälle, die Darstellung als Syllogismen o.Ä.ablehnt, wird ebenfalls ein anderes Modell der Dissensanalyse benötigen. Spätestens wenn jemand aber Dissenseüberhaupt nicht kennen will, also überhaupt kein Konzept von Begründungen mehr vertritt, werden die Kosteneiner solchen Strategie offenbar: Denn dadurch wird zunehmend unklar, worin »Rationalität« überhaupt nochbestehen kann, die Diskurse ja sichern bzw. erhöhen sollen.36 Eine solche Variante könnte man auch in Habermas hineinlesen. Denn er schreibt neuerdings (1992): „Derverständigungsorientierte Sprachgebrauch, auf den kommunikatives Handeln angewiesen ist, funktioniert in der

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Gesichtspunkten disponiert wird.�� Die höherstufige Konsensbildung ist in theoretischen und

moralischen Fragen (bei entsprechenden Handlungszwängen) u.U. pragmatisch erforderlich,

in pragmatischen und ethischen Fragen hingegen geltungslogisch zwingend.��

Zunächst zu theoretischen Dissensen (im Rahmen von nomologischen oder intentionalen

Erklärungen): Hier stellt sich die Anschlußfrage nach der vernünftigen Wahl der

brauchbarsten Perspektive. Eine höherstufige Analyse kann nämlich verschiedene

Perspektiven als für jeweils verschiedene Zwecke besser geeignet erweisen – also

intersubjektive Gründe für die Adäquatheit der jeweiligen Perspektive erzeugen.�� Einer

intersubjektiven pragmatischen Konsensbildung steht damit nichts im Wege. Ein

pragmatischer Dissens, also ein eventueller Streit über das Geeignet-Sein von Perspektiven

(allgemeiner: von Mitteln zu Zwecken), kann über eine Relativierung auf je verschiedene

ethische Perspektiven des Guten Lebens begründet werden, im Rahmen derer ein je besseres

oder schlechteres Sich-Eignen festgestellt werden kann. Welche Mittel und welche Zwecke

die richtigen sind, hängt von den jeweils vertretenen Vorstellungen vom Guten Leben ab.

Soweit also Auffassungen des Guten Lebens legitimerweise verschieden sein können, also die

Auffassungen des einen auch die Auffassungen des anderen sein könnten, ist eine

intersubjektive Konsensbildung wiederum möglich. Ethische Urteile können nicht auf

dieselbe Weise wie theoretische Dissense relativiert werden, da es keinen Sinn macht, die

Wahl authentischer Identität von Zweckmäßigkeitsüberlegungen abhängen zu lassen.

Ethische Dissense können unter Verweis auf verschiedene Identitäten begründet und ihr

Spielraum eventuell durch intersubjektiv geteilte moralische Gründe beschränkt werden. Die

höherstufige Auflösung von normativen Dissensen schließlich versperrt sich von deren Logik

Weise, daß sich die Teilnehmer über die beanspruchte Gültigkeit ihrer Sprechhandlungen entweder einigen oderDissense feststellen, die sie im weiteren Handlungsverlauf einvernehmlich berücksichtigen“.37 In praktischen Fragen gilt eine „Selbstselektivität von Fragestellungen“ (Habermas 1996: 371), denn „[i]mKollisionsfall stechen moralische Gründe ethische Gründe und ethische Gründe pragmatische, weil die jeweiligeFragestellung, sobald sie in ihren eigenen Voraussetzungen problematisch wird, selbst die Richtung weist, in dersie dann rational überschritten werden muß.“ (Habermas 1996: 372). Ich verstehe dies folgendermaßen: Wer z.B.behauptet, eine Frage sei eine ethische, unterstellt, die verschiedenen Antworten auf diese Frage seien moralischerlaubt. Wenn dies richtig ist, wird ein anderweitig höherstufiger Diskurs überflüssig, in dem über dieZuordnung von Fragen zu Diskursen entschieden wird.38 Es wäre nicht sinnvoll, Dissense über die Wahrheit oder die normative Richtigkeit von Sätzen als auf ihrerEbene unauflöslich zu betrachten, denn dies gefährdete ihren (von Habermas herausgestellten) epistemischenGeltungssinn. Für je unterschiedliche verfolgte Zwecke (Interessen) sowie je verschiedene Identitäten gilt diesnicht, hier dürfen, ja müssen Dissense auf ihrer jeweiligen Ebene unaufgelöst bleiben – es sei denn, man verträteeinen umfassenden praktischen Kognitivismus.39 Greifen wir Schombergs Beispiel wieder auf (s. Fußnote 23): Inzwischen scheinen die Vertreter derMolekularbiologie auf dem Gebiet der Freisetzungen die Perspektive der Ökologen (und ihr synergistischesRisiko-Modell) als brauchbarer anzusehen (Winnacker 1997).

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her scheinbar noch stärker einer inhaltlich höherstufigen Konsensbildung: Der

Geltungsanspruch auf moralische Richtigkeit einer Handlung läßt nicht zu, durch eine

höherstufige pragmatische oder ethische Überlegung relativiert zu werden, ohne seinen

deontologischen Sinn zu verlieren.�� Allenfalls könnten wir sagen: Über moralische Dissense

disponieren wir ethisch, wenn wir »Ethik« verstehen als das Nachdenken über die richtige

Moral. Im Anwendungskapitel wird, im Anschluß an die Diskussion der Position von Ott,

dieses Problem wieder aufgenommen werden.

Ein Beispiel für eine Auflösungsstrategie von pragmatischen Dissensen auf einer inhaltlich

höheren Ebene ist Hubigs Basiswert-Konzept (Hubig 1993: 136 ff.; Hubig 1995a): Was auch

immer man konkret im Handeln anstrebt, die Handlungsfähigkeit als solche sollte gewahrt

bleiben. Eine weitere aussichtsreiche Möglichkeit der inhaltlich höherstufigen

Konsensbildung über normative Fragen besteht, analog zu Hubigs Reflexion auf die

Bedingungen der Handlungsfähigkeit, in der Reflexion auf Bedingungen der

Rechtfertigungsfähigkeit. Dies ist der Begründungsgang der Diskursethik. Auch diese

Reflexion braucht von einem vorgestellten, hartnäckigen Opponenten nicht mitvollzogen

werden – auch wenn ein Anspruch auf eine vernünftige Verneinung des Sich-rechtfertigen-

wollens – anders als vielleicht eine Verweigerung des Weiterhandeln-wollens – nicht mehr

aufrechtzuerhalten ist.

Eine alternative Möglichkeit der Auflösung von praktischen Dissensen besteht in der Suche

nach konsensuell bestätigten Verfahren der Problemlösung. In diese Kategorie fallen

Kompromisse, Abstimmungen, Losverfahren usw. Was kann die Diskurstheorie hierzu

beisteuern? Ich denke, zwei Begründungsansprüche, einerseits in Richtung Fairneß und

andererseits in Richtung Zweckmäßigkeit. Daß bei solchen Verfahren immer noch Kriterien

der Fairneß angelegt werden müssen, insbesondere solche der Chancengleichheit, scheint mir

kaum bestreitbar. Einerseits soll z.B. ein Kompromiß explizit nur dann per Verhandlung (und

nicht per Diskussion) gefunden werden, wenn „partikulare, also keine

verallgemeinerungsfähigen Interessen im Spiel sind“ (Habermas 1992: 206), andererseits

sollen seine Modalitäten „unter dem Gesichtspunkt geregelt werden, daß alle einschlägigen

�� Deshalb steht der Ausweg, die faktische Zustimmung in einem „politischen“ Konsens über die Gültigkeit dermoralischen Forderungen entscheiden zu lassen, wie es Rawls vorschlägt, nicht zur Verfügung (vgl. dieKontroverse zwischen Rawls und Habermas im Journal of Philosophy 3/1995). Die Zustimmung ist nicht alssolche, sondern nur unter gewissen Zuschreibungen moralisch relevant, die eine Authentizität und Rationalitätderselben nahelegen. Diese Zuschreibungen gewinnen Plausibilität u.a. aufgrund der diskursiven Erörterung derbetreffenden Fragen. Daher läßt sich Rawls‘ politische Konsenskonzeption nicht gegen die Diskurstheorieausspielen.

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Interessen gleichmäßig berücksichtigt werden können und alle Parteien mit gleicher Macht

ausgestattet sind“, zumindest jedoch eine ungleiche Machtverteilung den Ausgang von

Verhandlungen nicht präjudiziert (ebd.). In der hier vorgeschlagenen Terminologie sind

legitime Kompromisse somit zu verstehen als höherstufige Konsense, nämlich getragen von

der Anerkennung der Berechtigung auch der jeweils anderen Interessen im Rahmen der

dazugehörigen Perspektiven des Guten Lebens. Daher gibt es auch keinen prinzipiellen

Grund, daß an die Stelle eines verhandelten Kompromisses nicht auch eine argumentativ

erzielte Übereinkunft treten könnte: Was sich im Modus des »bargaining« lösen läßt, läßt sich

auch im Modus des »arguing« lösen – aber nicht umgekehrt (Saretzki 1996).

Auf die verschiedenen Formen prozeduraler Konfliktlösung und ihre Zweckmäßigkeit kann

ich hier nicht detailliert eingehen – im letzten Kapitel dieser Arbeit werden einige Modelle für

diskursive Verfahren vorgestellt werden. Die Diskurstheorie gibt jedoch immer die

erforderlichen formalen Kriterien dafür an, daß von einer Rechtfertigung dieser Lösungen

gesprochen werden kann – auch von einer höherstufigen Rechtfertigung. Von einer reinen

„Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann 1969) unterscheidet sich auch ein prozedural

höherstufiger Konsens demnach: Die Legitimation bleibt nämlich an eine Rechtfertigung

gebunden, die formal den Bedingungen eines Diskurses genügen muß.

Jeder Diskurs sollte also aus den genannten Gründen Raum für vernünftige Dissense lassen

und nicht aufgrund einer als Konsens-Versprechen falsch verstandenen Konsens-Orientierung

einen einfachstufigen Konsens erzwingen. Gerade deshalb sollte aber auch eine Einigung auf

höherstufiger Ebene angestrebt werden, um praktische Konsense zu erzielen. Die

einvernehmliche Berücksichtigung von Dissensen kann darin auf zwei Arten erfolgen: Eine

höherstufige Einigung kann einerseits inhaltlich höherstufig, andererseits prozedural sein.

Soweit eine solche Einigung gemeinsam geteilte Gründe erzeugt, kann der Konsens gerettet

werden – allerdings auf einer höheren Ebene.

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Diskursethik: Begründungsprobleme

Die Diskursethik ist nun bereits seit ca. 25 Jahren Bestandteil der philosophischen Diskussion.

Folgt man Karl-Otto Apel in seiner Situationsbeschreibung der Philosophie im Deutschland

der frühen 60er Jahre, wird zumindest klar, auf welches Defizit eine normative Theorie

damals stoßen mußte: Der damalige mainstream ließ zwischen der positivistischen

Wertfreiheit der Wissenschaften auf der einen und der individuell-existentiellen

Gewissensentscheidung auf der anderen Seite für intersubjektive Verbindlichkeiten keine

Legitimationsstrategie erkennen.

Inzwischen ist man sich weitgehend einig: Ja, über Moral läßt sich sinnvoll diskutieren,

Fragen der Moral sind (in diesem Sinne) kognitive Fragen. Nur, daß unterschiedliche

Menschen hier von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen, so daß für alle

befriedigende Antworten nicht gefunden werden dürften. Aber immerhin, relativ zu ihren

normativen Vorstellungen, ihren Prämissen, lassen sich Schlußfolgerungen aufs richtige

Handeln ziehen. Die Mainstream-Position der Ethik ist der kognitivistische Relativismus. Die

Prämissen selbst lassen sich grob in normative und deskriptive unterscheiden und sind in

verschiedener Weise auf ihre Stimmigkeit hin untersuchbar, letztlich aber sind zumindest die

normativen Prämissen keiner für alle verbindlichen Begründung zugänglich: Man hat sich für

sie mehr oder weniger bewußt entschieden, hat sie per Zufall oder per Tradition, kurz: man

hat sie eben. Deskriptive Prämissen allein reichen aber bereits aus methodischen Gründen

nicht aus für eine Begründung. Daß z. B. der Mensch ein leidensfähiges Wesen ist, daß er

gewisse materielle Grundbedürfnisse teilt, daß er jeweils nach Glück strebt, usw.: All diese

Bestimmungen könnten von mir anerkannt werden und ich könnte mich dennoch fragen,

warum ich denn anderen kein Leid zufügen sollte, warum ich zur Bedürfnisbefriedigung

anderer beitragen sollte oder zur der Erfüllung ihrer Lebensziele.41

Will man auf der normativen Ebene eine Begründung anbringen, wird es also erst einmal

schwierig. Denn woher ließen sich die Prämissen nehmen, wenn sie nicht von den

Moralsubjekten bereits anerkannt wären? So steht jede Moralbegründung in dem Ruche,

entweder zirkulär zu sein oder dogmatisch. Eine Philosophie, die sich mit dieser Situation

41 Eine deskriptive Anthropologie kann deshalb keine hinreichende Begründung liefern.

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nicht zufrieden geben will, sucht nach demjenigen, was vernünftigerweise nicht bestritten

werden kann.

Aber was heißt ‘vernünftigerweise’? Noch für Kant war der Mensch qua Vernunft an eine

durch den freien Willen bestimmte Idee von Menschsein gebunden, die zu negieren

vernünftigerweise unmöglich war. Kants Vorstellung war, daß über diese Idee allen

Vernunftwesen eine gemeinsame Basis gegeben sei, die diese nicht sinnvoll in Frage stellen

können. Heute sind wir uns da nicht mehr so sicher; die eine Vernunft, so sagt man, ist

zerfallen in die vielen Rationalitäten. Immer noch aber hängen Anforderungen an eine

gelungene Begründung daran, welche Rationalität man allgemein voraussetzt. Modelliert man

den Menschen zeitgemäß als einen rationalen Egoisten, als homo oeconomicus

beispielsweise, müssen überzeugende Gründe an den individuellen Vorteil appellieren.

Beiden Versuchen ist gemein, daß sie nicht ohne (explizite oder implizite) Annahmen darüber

auskommen, was der Mensch als vernünftigen Grund ansieht. Sie beruhen also auf

umstrittenen Voraussetzungen. Die Kantische Begründung würde, so wie gerade formuliert,

wohl jedenfalls als durch Definition erschlichen angesehen werden. Aber auch als homo

oeconomicus wird sich nicht jeder verstehen wollen. Man beachte: das Begründungsproblem

hat sich verschoben. Die Frage ist nicht mehr, welchen normativen Prämissen man zustimmen

müßte, sondern wann man normativen Prämissen überhaupt zustimmen müßte. Das

substantiell ungelöste Problem wiederholt sich nun auf der abstrakteren Ebene: Jede

Begründungsstrategie erfordert Annahmen darüber, wie eine gelungene Begründung aussieht.

Ein radikaler Lösungsversuch wäre, hier von jedem Modell abzusehen und es der faktischen

Zustimmung der einzelnen zu überlassen, was sie als für sich einleuchtend ansehen. Die

Probleme dieses normativen Individualismus als Begründungsstrategie sind offenbar: Erstens

sind alle Inhalte notwendig völlig unbestimmt - was wird also überhaupt begründet? Zweitens

wird der normative Gehalt der Begründung dann fraglich: Man kann zwar die Zustimmung

selbst als moralisch relevant ansehen, aber nur dann, wenn diese Zustimmung als normativ

relevant schon anerkannt ist. Bloß, wie sollte man mir die Zustimmung als Wert per

Zustimmung erweisen können, wenn ich die Zustimmung selbst für moralisch nicht relevant

halte?

Für die Begründung wäre hierdurch also nichts gewonnen. Zudem ist die Prämisse nicht sehr

plausibel, daß richtig ist, was immer mir oder den anderen jeweils richtig erscheint; dies

untergräbt den Kognitivismus. Philosophische Ethiken haben daher keine Alternative und

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müssen versuchen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Sie müssen die Zustimmung

qualifizieren, d.h. an irgendwelche (inhaltlichen oder prozeduralen) Vorgaben binden, sonst

wäre sie nicht aussagekräftig. Andererseits bietet die qualifizierte Zustimmung dann aber, in

ihrer Aussagekraft, Perspektiven für eine Moralbegründung. Solange das zu Begründende, die

Moral, vom Begründenden dabei noch unterscheidbar bleibt, ist dies nicht zirkulär. Zwischen

den Extremen einer definitorischen Präjudizierung (Kants Vernunft) und dem „anything goes“

der bloß faktischen Zustimmung würde eine kognitivistische Moralbegründung sich

methodisch zu positionieren haben.

Eine Grundeinsicht Kants gilt dabei auch heute noch: Jede aussichtsreiche Moralbegründung

enthält transzendentale Elemente. Transzendental heißt eine Begründung, wenn sie über den

Nachweis der Bedingungen der Möglichkeit von etwas funktioniert. Dies ist identisch mit den

notwendigen Bedingungen von etwas. Für Kant ist der kategorische Imperativ die Bedingung

der Möglichkeit von praktischer Freiheit („ratio essendi“; Kant 1974: A 5). Für Apel ist die

Kommunikationsgemeinschaft, für Habermas sind die Diskursregeln die Bedingung der

Möglichkeit, die Wahrheit oder Richtigkeit einer Aussage zu prüfen. Letztere konzentrieren

sich auf den Rechtfertigungsaspekt von Handlungen. Andere Autoren betonen die

Bedingungen der Handlungsfähigkeit (der Möglichkeit von Handlungen) selbst: Für Hubig

sind Vermächtnisse und Optionen im Handeln unabdingbar: Man muß bestimmte Optionen

haben und sie auf einer Vermächtnis-Basis identifizieren und qualifizieren können, sonst kann

man nicht von einer Handlung sprechen. Für Gewirth ist eine materielle

Ressourcenausstattung erforderlich, sonst kann das Individuum ebenfalls nicht handeln

(Gewirth 1989; dazu Steigleder 1992). Für Höffe ist die Hilfe durch andere eine Bedingung

der Möglichkeit menschlichen Lebens (Säuglings- und Greisenalter). Alle drei letztgenannten

Autoren haben natürlich das Problem, warum die eigene oder gar die Handlungsfähigkeit

anderer zu schützen sei (während die Betonung der Rechtfertigung auf den anderen,

wenigstens als Kommunikationspartner, notwendig angewiesen ist). Höffe versucht immerhin

eine entsprechende Rechtfertigung, unter Annahme des homo oeconomicus:

zustimmungsfähig seien nur solche Regeln, die jedem einen Vorteil bringen. Also darf man,

so Höffe, jeden zu recht zu Gegenleistungen für diese erhaltenen Vorteile verpflichten.

Die Liste der notwendigen Bedingungen ließe sich verlängern: Einer allein kann nicht frei

sein, also: Die Freiheit der anderen ist Bedingung der Möglichkeit meiner eigenen. Natürlich

setzt das voraus, daß man frei sein will. Oder daß man handlungsfähig bleiben will. Oder daß

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man Gründe für sein Handeln geben können will.42 Doch wenn schon ein einziger dieser oder

ähnlicher Punkte bereits zuviel verlangt ist, hat wohl jede Begründung schlechte Karten.43

Man könnte es auch irgendwann uninteressant finden, immer nur den radikalen Skeptiker

widerlegen zu wollen, und sich der Plausibilität der einzelnen Ethikkonzeptionen zuwenden,

die ja alle mit dem Anspruch auftreten, ihre Konzeption als gegenüber anderen Konzeptionen

zumindest partiell überlegen zu erweisen. Dabei ist es offensichtlich, daß handlungs- und

argumentationsorientierte Begründungen nicht unbedingt miteinander konkurrieren: Jene

können nämlich angeben, was in diesen sich als inhaltlich guter Grund erweist.

In dieser Arbeit wird ein Teil der kommunikationsorientierten Begründungsansätze, nämlich

diejenigen der Diskursethik, auf ihre Tragfähigkeit hin untersucht. Die Reihenfolge der

Darstellung ist ausschließlich durch systematische Erwägungen geleitet; ich beginne dabei mit

der Schilderung von J. Habermas‘ Begründungsprogramm von 1983, das relativ klar die

Grundidee der diskursethischen Ethikbegründung ausführt, gefolgt von einem Exkurs zu K.-

O. Apel und die an seine Arbeiten anschließenden Letztbegründungsversuche. Schon in

diesem Exkurs verfolge ich die philosophischen Verzweigungen bis in die aktuelle

Diskussion hinein. Dabei, und auch in der weiteren Diskussion der Ansätze „diesseits“ der

Letztbegründung, konzentriere ich mich auf Versuche, die (sei es in destruktiver oder in

konstruktiver Absicht) diese unausgeführt gebliebenen Programme in einer formal

anspruchsvolleren oder wenigstens in einer philosophisch präziseren Form durchzuführen –

und werde dabei mit den Versuchen beginnen, die sich eng an Habermas anlehnen und mit

den Versuchen enden, die grundlegende Revisionen am gesamten Programm vornehmen;

Revisionen, die auch das Praxis-Verhältnis dieser Theorie betreffen.

Das Begründungsprogramm der Diskursethikoder auch: Notizen zum Stand eines Begründungsprogramms.

42 H. Krings hat den grundlegenden Anerkennungsakt dafür, eine autonomistische Ethik, d.h. auch dieDiskursethik, individuell überzeugend zu finden, als Anerkennung der „transzendentalen Freiheit“ bezeichnetund reflexiv rekonstruiert in Krings 1980.43 In Anlehnung an Tugendhat 1993 könnte man drei verschiedene Ansprüche an eine ethische Begründungunterscheiden: Erstens den des radikalen Skeptikers, der sich fragt: „Warum sollte ich mich überhaupt moralischverstehen?“, zweitens den des moralisch-pragmatischen Zweiflers, der sich fragt: „Warum in dieser Situation ausmoralischen Gründen handeln?“ und drittens den des unsicheren Moralisten, der sich fragt: „Warum istMoralkonzept X einem anderen Moralkonzept Y vorzuziehen, wenn ich moralisch handeln will?“. Diehandlungs-transzendentalen Begründungen können und wollen den radikalen Skeptiker nicht widerlegen. Dieargumentations-transzendentalen Begründungen können dies ebenfalls nicht, wollen es aber teilweise. DemProblem des moralisch-pragmatischen Zweiflers ist durch ein reflexives Moralkonzept zu begegnen; dannverbleibt ein Motivationsproblem.

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- 41 - -

Ich will nun das diskursethische Begründungsprogramm näher betrachten sowie einige

Versuche vorstellen, dieses unausgeführt gebliebene Programm in einer formal

anspruchsvolleren Form durchzuführen oder mögliche Durchführungen kritisch zu

diskutieren. Habermas und Apel scheinen die Entwicklung dieses Begründungsprogramms

gemeinsam vorangetrieben zu haben. In der Darstellung folge ich den Habermasschen

Versionen, werde aber an gegebener Stelle auf das Apelsche Letztbegründungsargument

eingehen, das das Spezifikum der Transzendentalpragmatik ausmacht. Habermas‘

Begründungsprogramm ist bis heute ein Programm geblieben, das allerdings mehrfach

umgeschrieben wurde. Zu seiner Durchführung finden sich Verweise auf Rehg (1991) in

(Habermas 1992: 140) und auch in (Habermas 1991a: 134). In (Habermas 1996: 61) wird

stattdessen auf Ott (1996b) verwiesen. Zu den formalen Problemen transzendentaler

Argumente verweist Habermas (1996: 61) auf Niquet (1991 und 1995).

Vorweg zur Orientierung vier Kennzeichen der Diskursethik (vgl. Habermas 1991b: 11f.): Sie

knüpft an an den Kantischen Kategorischen Imperativ, ist also: deontologisch (handelt von

der Richtigkeit von Normen, d.h. von universellen Sollsätzen), kognitivistisch (die Richtigkeit

läßt sich begründen), sie ist formalistisch (ihr Moralprinzip zeichnet keine besonderen Inhalte

aus) und schließlich universalistisch (ihr Moralprinzip gilt für jede und jeden, und nicht z.B.

nur kulturspezifisch).44 Dabei will sie Kant allerdings dialogisch-diskursiv erweitern: Die

wechselseitige Perspektivenübernahme soll nicht nur einzeln und privatim, sondern als eine

„öffentliche, von allen intersubjektiv gemeinsam praktizierte Veranstaltung“ (1991: 14)

geschehen.

Die Entwicklung der Diskursethik soll hier nicht historisch dargestellt und auch nicht in ihren

geistesgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden. Dies ist von anderer Seite bereits

geschehen (zum Zusammenhang mit der älteren kritischen Theorie s. Habermas 1985a und in

kritischer Absicht Keuth 1993; weiter ausgreifend, nämlich auf Herder, Humboldt und

Schleiermacher Ott 1991, sowie natürlich zum amerikanischen Pragmatismus u.v.m. Apel

1973 und Habermas 1981)

Im Rahmen dieser Arbeit geht es um systematische Aspekte der Begründung der

Diskursethik. Doch was eine Begründung sein kann, hängt wesentlich von der Art des

jeweiligen Problems ab. Es gibt daher streng genommen nicht die Begründung der

Diskursethik. Habermas z.B. geht in verschiedenen Aufsätzen verschiedene Wege, auf denen

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- 42 - -

er jeweils unterschiedlichen Einwänden gegen seine Konzeption begegnet (etwa: Leugnung

moralischer Phänomene, Verweis auf den (auch bei gutem Willen) irreduziblen Pluralismus

der Werte usw.). In (1996) wird eine historisch-genealogische Plausibilisierung versucht.

Diese Wege will ich hier nicht verfolgen, sondern nur dem methodischen Kern der

Begründungsidee.

Das universalpragmatische Programm – Habermas (1983)

Die Habermassche Diskurstheorie wurde eingangs ausführlich beschrieben, so daß ich mich

hier auf die Angabe der einzelnen Schritte dessen beschränke, was als Begründung einer

Diskursethik im engeren Sinne angesehen werden kann: Der Begründung eines Moralprinzips

aus den Universalien des Diskurses, d.h. wesentlich aus den Diskursregeln.

Habermas‘ Begründungsziel scheint das diskursethische Moralprinzip »U« zu sein:

„»U« Jede gültige Norm muß der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenfolgen, diesich aus der allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen einesjeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können.“ (1983a,103)

Dieses Moralprinzip – für das es unterschiedliche Formulierungen gibt45 – als

Argumentationsregel zunächst einfach setzend, vollzieht sich für Habermas die Begründung

in folgenden Schritten (1983a, 106f.; ähnlich auch 1991a, 133f. und 1996, 62. Herv. NG):

„(1) Die Angabe eines als Argumentationsregel fungierenden Verallgemeinerungsprinzips [alsovon »U«; N.G.]

(2) Die Identifizierung von unausweichlichen und normativ gehaltvollen pragmatischenVoraussetzungen der Argumentation überhaupt

(3) Die explizite Darstellung dieses normativen Gehalts, z.B. in Form von Diskursregeln; und

(4) Den Nachweis, das zwischen (3) und (1) in Verbindung mit der Idee der Rechtfertigungvon Normen ein Verhältnis der materialen Implikation besteht.“

44 Ob sie alle diese Prädikate zurecht trägt, bezweifelt z.B. Kettner (1998) mit Verweisen auf die Literatur. Ichhabe in Klammern die Hinsichten angegeben, in denen ich meine, daß sie diese zurecht trägt.45 In (1996) ist die Formulierung von »U« allerdings eine Äquivalenz: »U« besagt dort, „daß eine Norm genaudann gültig ist, wenn die voraussichtlichen Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinenBefolgung für die Interessenlagen und Wertorientierungen eines jeden voraussichtlich ergeben, von allenBetroffenen gemeinsam zwanglos akzeptiert werden könnten.“ (1996: 60; Herv. NG) Die „Befriedigung derInteressen eines jeden Einzelnen“ wurde zudem durch die „Interessenlagen und Wertorientierungen eines jeden“ersetzt und ein „gemeinsam“ hinzugefügt, dies m.E. eine sinnvolle Klarstellung, die das Mißverständnis einesZustimmung aus je partikularem Eigeninteresse vermeiden hilft. Das „können“ ist zu einem „könnten“abgeschwächt, vielleicht um einen irrealen Konditionalsatz auszudrücken (vgl. die Diskussion desRekonstruktionsvorschlages von Lumer; s.u.)

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- 43 - -

Der Begründungsgang wird auch so erläutert: Wenn (2) und u.a. die rhetorische Regelgruppe

der Diskursregeln (3), und wenn eine Idee der Rechfertigung von Normen vorliegt, „dann läßt

sich jeder, der den ernsthaften Versuch unternimmt, normative Geltungsansprüche diskursiv

einzulösen, intuitiv auf Verfahrensbedingungen ein, die einer impliziten Anerkennung von

»U« gleichkommen“ (103). Aus den genannten Diskursregeln ergebe sich nämlich, „daß eine

strittige Norm unter den Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung nur finden

kann, wenn »U« gilt“ (ebd.).

Der Schritt (2) ist also der erste echte Begründungsschritt. Wenn man argumentiert (egal

wofür), dann lassen sich bestimmte pragmatische Standards nicht unterbieten, die auf die

Diskursregeln hinauslaufen. Die Behauptung dieser Nichtverwerfbarkeit wird über die Figur

des performativen Widerspruchs46 in einem „mäeutischen Verfahren“ begründet, das dazu

dient (1983a: 107):

„(2a) den Skeptiker, der einen Einwand [gegen die Gültigkeit von »U«; N.G.] vorbringt, aufintuitiv gewußte Voraussetzungen aufmerksam zu machen;

(2b) diesem vortheoretischen Wissen eine explizite Form zu geben, so daß der Skeptiker unterdieser Beschreibung seine Intuitionen wiedererkennen kann;

(2c) die vom Proponenten aufgestellte Behauptung der Alternativenlosigkeit der expliziertenVoraussetzungen an Gegenbeispielen zu prüfen.“

Aus (4) geht hervor, daß die Idee der Rechtfertigung von Normen eine weitere Prämisse der

Argumentation darstellt. Sie ist weniger leicht zu explizieren – in der ersten Auflage geriet

Habermas dies (eingestandenermaßen) zirkulär: seine Formulierung entsprach in etwa »U«47.

Habermas erläutert diese Idee seit der zweiten Auflage als: „wissen, was es heißt,

hypothetisch zu erläutern, ob Handlungsnormen in Kraft gesetzt werden sollen“ (2ff.1983a,

103). In einem späteren Aufsatz, wo auch diese Begründungsschritte noch einmal bestätigt

werden (1991a: 133), liest sich das etwas konkreter:

„Aus dem Streit über Behauptungen ist bekannt, was Begründungen allgemein leisten sollen undworaus sie bestehen. Sie lösen einen Dissens über Tatsachen, d.h. über die Wahrheitentsprechender assertorischer Aussagen mithilfe von Argumenten auf, führen also einenargumentativ erzielten Konsens herbei. Ferner wissen wir aus der Alltagspraxis, was ein Dissensüber die Richtigkeit normativer Sätze bedeutet. Wir beherrschen intuitiv das Sprachspiel

46 Wer versucht, argumentativ die Gültigkeit der Diskursregeln zu bestreiten („Ich bestreite hiermit, daß zuargumentieren die Diskursregel x voraussetzt“), verwickelt sich in einen Widerspruch zwischen dempropositionalen Gehalt dessen, was er behauptet, nämlich x nicht voraussetzen zu müssen, und demperformativen Gehalt dessen, was er tut, wenn er argumentiert, nämlich die Gültigkeit der Diskursregeln, alsoauch von x, voraussetzen zu müssen.47 „... mit gerechtfertigten Normen den Sinn verbinden, daß diese gesellschaftliche Materien im gemeinsamenInteresse der möglicherweise Betroffenen regeln ...“ (1983a: 103). Vgl. Habermas‘ Bemerkung zu diesem Fehleretwa in (1991a: 134, FN 17).

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normenregulierten Handelns, in dem Akteure regelkonform oder abweichend handeln, während sieRechte und Pflichten haben, die miteinander kollidieren und zu normativ wahrgenommenenHandlungskonflikten führen können. Wir wissen also auch, daß moralische Begründungen einenDissens über Rechte und Pflichten auslösen.“

Dies sei der schwache (d.h., nichtpräjudizierende) Sinn von Normenbegründung.

Mit (4) ist das Begründungsziel der Diskursethik jedoch offenbar doch noch nicht vollständig

erreicht, schreibt Habermas doch (1983a, 104): „>D< ist die Zielbehauptung, die der

Philosoph in seiner Eigenschaft als Moraltheoretiker zu begründen versucht“:

»D« Normen sind „nur dann“ gültig, wenn sie „...die Zustimmung aller Betroffenen alsTeilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).“ (1983a: 103)

Auch hier gibt es in unterschiedlichen Texten unterschiedliche Formulierungen.48 Zur

Unterscheidung heißt es zwar auf derselben Seite (vgl. auch 1991a: 134, 157, 185 ff):

„Die skizzierte Begründung der Diskursethik vermeidet Konfusionen im Gebrauch des Ausdrucks›Moralprinzip‹. Einziges Moralprinzip ist der angegebene Grundsatz der Verallgemeinerung[»U«], der als Argumentationsregel gilt und zur Logik des praktischen Diskurses gehört. ›U‹ mußsorgfältig unterschieden werden […] von ›D‹, dem diskursethischen Grundsatz, der dieGrundvorstellung einer Moraltheorie ausspricht, aber nicht zur Argumentationslogik gehört.“

Der Übergang zu »D« scheint für Habermas keine weitere Argumentation mehr zu erfordern,

denn bereits wenn gezeigt ist, „wie der Universalisierungsgrundsatz [»U«] auf dem Wege der

transzendentalpragmatischen Ableitung [(1) – (4)] aus Argumentationsvoraussetzungen [und

dem Begriff der Norm] begründet werden kann, kann die Diskursethik selbst auf den

sparsamen Grundsatz »D« gebracht werden“ (1983a: 103).

Die Anwendung des Moralprinzips, d.h. die Begründung von materialen Normen, soll nun per

Argumentation gemäß »U« geschehen (1983a: 104):

„Alle Inhalte, auch wenn sie noch so fundamentale Handlungsnormen berühren, müssen vonrealen (oder ersatzweise vorgenommenen, advokatorisch durchgeführten) Diskursen abhängiggemacht werden.“

Beginnen möchte ich die Diskussion mit einer Anfrage zum Begründungsziel. Wie in den

Fußnoten 45 und 48 dargelegt, werden sowohl »U« als auch »D« je als Implikationen oder

als Äquivalenzen formuliert – was genau ist wohl gemeint? Zunächst zu »U«: Dieses kann,

wenn es denn einen Konsens möglich machen soll, nicht nur eine notwendige Bedingung

48 Wie auch schon »U« findet sich auch für »D« an anderer Stelle bei Habermas eine Äquivalenz anstelle derFolgebeziehung: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen alsTeilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“ (1992: 138; Herv. NG). Die Einfügung von„möglicherweise“ lese ich als Erläuterung. Der Realis ist aus dieser Formulierung gestrichen, „praktisch“ wurde

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darstellen, sondern muß auch hinreichen. Andererseits gibt es in »U« den Passus der

allgemeinen Befolgung: Wenn also abzusehen ist, daß Normen nicht allgemein befolgt

werden, greift »U« nicht. Wäre »U« auch hinreichend, könnte es dann keine anderen

einschlägigen Gültigkeitsregeln geben. Mit »U« gibt es also ein Problem: Entweder (nicht

hinreichend) es erfüllt von vornherein nicht die ihm zugedachte Funktion, oder (auch

hinreichend) es blockiert eine realistische Normenbegründung. Nun zu »D«: Daß Habermas

stellenweise von einer Implikation zwischen Gültigkeit und Zustimmungsfähigkeit spricht,

erklärt sich m.E. aus dem Selbstverständnis des Diskurses als Prüfungsinstanz brüchig

gewordener Normen. Gültigkeit ist nicht ohne im Diskurs zu prüfende Zustimmungsfähigkeit

zu haben; eine Umkehrung dieses Verhältnisses klingt gerade für einen Konsenstheoretiker

seltsam. Nur, was muß sonst noch hinzukommen? Ist der ideale Konsens also nicht auch

hinreichende Bedingung für die Gültigkeit? Ich denke, es sollten in einer Moralbegründung

nicht nur notwendige, sondern notwendige und hinreichende Bedingungen expliziert werden,

und plädiere daher hier für die Äquivalenz (s.u. auch Lumers Rekonstruktionsvorschlag).

Ähnliche Probleme wie mit »U« sehe ich hier nicht.

Weiterhin ist das Verhältnis von »U« und »D« noch zu klären, zu diesem Punkt werden

Habermas‘ spätere Bemerkungen weiter unten dargestellt; es ist in der Literatur umstritten,

wie im folgenden klar werden wird.

Fragen provoziert auch die Architektur der Begründungsschritte: Wozu dient denn noch (3),

wenn bereits (2b) erfolgt ist? Zumal die Explizierung aus (3) anscheinend keiner mäeutischen

Prüfung mehr unterzogen wird! Ist es der normative Gehalt dieser Explizierung? Von

normativen Gehalten ist ja in (2a-c) nicht mehr die Rede – jedoch in (2). Ich denke daher, (3)

muß gestrichen werden. Aus der wiederholten Anwendung der Schritte (2) müßten vielmehr

schließlich die Diskursregeln resultieren, wenn, z.B. in (2a), nach normativen

Voraussetzungen gesucht wird.

Die Analyseschritte (b) und (c) enthalten „unverkennbar hypothetische Elemente“ (ebd.).

Erstens muß nämlich das intuitive »know how« als ein explizites, propositionales »know

that« nachkonstruiert werden; es „bedarf daher einer mäeutischen Bestätigung“ (durch den

Skeptiker). Zweitens die Behauptung der Alternativenlosigkeit: „sie muß wie eine

Gesetzeshypothese an Fällen überprüft werden“ (ebd.).

durch „rational“ ersetzt. In (1996: 59) dann aber wieder: „Nur die Normen dürfen Gültigkeit beanspruchen, diein praktischen Diskursen die Zustimmung aller Betroffenen finden könnten.“ (Herv. NG)

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Der erste Punkt dürfte – als Aufgabe – einleuchten, der zweite scheint mir

erläuterungsbedürftig. Zu klären ist, wie diese Prüfung „an Fällen“ aussehen soll und was

dadurch begründet werden kann (ebd.):

„Gewiß, das intuitive Regelwissen, das sprach- und handlungsfähige Subjekte verwenden müssen,um an Argumentationen überhaupt teilnehmen zu können, ist in gewisser Weise nicht fallibel –wohl aber unsere Rekonstruktion dieses vortheoretischen Wissens und der Universalitätsanspruch,den wir damit verbinden. Die Gewißheit, mit der wir unser Regelwissen praktizieren, überträgtsich nicht auf die Wahrheit von Rekonstruktionsvorschlägen für hypothetisch allgemeinePräsuppositionen; denn diese können wir auf keine andere Weise zur Diskussion stellen alsbeispielsweise ein Logiker oder ein Linguist seine theoretischen Beschreibungen.“

Daher finde die Diskursethik sich wieder im „Kreis jener rekonstruktiven Wissenschaften, die

es mit den rationalen Grundlagen von Erkennen, Sprechen und Handeln zu tun haben“

(107/108):

„Sie kann, in Konkurrenz mit anderen Ethiken, für die Beschreibung empirisch vorgefundenerMoral- und Rechtsvorstellungen eingesetzt, sie kann in Theorien der Entwicklung des Moral- undRechtsbewußtseins, sowohl auf der Ebene der soziokulturellen Entwicklung wie der Ontogenese,eingebaut und auf diese Weise einer indirekten Überprüfung zugänglich gemacht werden.“

Welche „Fälle“ sind also gemeint in (2c)? Zunächst würde man doch denken, Fälle von

Argumentationen (des Skeptikers). Doch die Situationen, die Habermas anspricht, handeln

von etwas anderem, von einer Art Überlegenheit der Gesamtkonstruktion der Diskursethik im

Bunde mit empirischen Wissenschaften – diese Strategie verfolgte Habermas auch schon in

seiner Gesellschaftstheorie (vgl. Habermas 1981: II 583ff.). Gehen wir die genannten

Beispiele einmal durch: Ein Erfolg bei der Beschreibung empirisch vorgefundener

Vorstellungen ist schlicht keine Überprüfung einer normativen Theorie. Ein Erfolg in

Entwicklungstheorien ist methodisch komplexer: Hier wird ein empirischer Vorgang, die

Entwicklung, am Maßstab des Normativen gemessen. In der Tat wird man nicht unter jedem

Maßstab das empirische Material so ordnen können, daß immer noch eine kontinuierliche

Bewegung in eine Richtung resultiert, wahrscheinlich ist die Diskursethik aber nicht der

einzige Maßstab. Auf diese Weise eine Alternativenlosigkeit auch nur plausibel zu machen,

dürfte schwerfallen.

Worauf Habermas hinauswill, scheint eine Art hermeneutischer Erfolg der Rekonstruktion zu

sein: Vielleicht wird auch das den Skeptiker beeindrucken. Die in (2c) angesprochene Prüfung

jedoch wird wohl doch angesichts der einzelnen Argumentationen zu erfolgen haben. Nur dort

lassen sich ja Alternativen versuchen. Ganz klar läßt sich aber auch diese Option nicht fassen:

Denn liegt es nicht einfach begrifflich fest, über die Diskursregeln, wann wir von einer

Argumentation sprechen? Und dann überprüfen wir doch aber die Fälle an den Regeln und

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nicht umgekehrt? So einfach kann man es sich aber auch nicht machen. Denn was garantiert

dann die Angemessenheit unserer Definition (sie könnte ja auch eine ganz andere sein)?

Vielleicht deshalb, der Text läßt dies immerhin offen, können wir auf die Überprüfung an

Fällen nicht verzichten, denn sonst hätten wir keine Revisionsmöglichkeit mehr.49

Nehmen wir einmal an, dieses Problem bestünde nicht und die Argumentationsdefinition wäre

unstrittig so, wie Habermas das vorschlägt. Wie ist dann die „Alternativenlosigkeit“ in (2c) zu

verstehen? Hätten wir dann nicht direkt die Gültigkeit der Diskursregeln gezeigt? Habermas

zeigt sich hier skeptisch: Die Argumentationspraxis als solche läßt sich nämlich auch dann

nicht begründen (1983a: 104), nur die (argumentative) Nichtverwerfbarkeit der Diskursregeln.

Im Anschluß an Schönrichs Diktum über Strawsons Präsuppositionsanalyse von

Erfahrungsurteilen kann und will Habermas explizit keine transzendentale Deduktion im

Sinne Kants geleistet haben: Denn solange dessen, Strawsons, Methode sich „nur auf

begriffsimmanente Implikationsverhältnisse richtet, kann es auch keine Möglichkeit geben,

ein Begriffssystem a priori zu rechtfertigen, da es prinzipiell offen bleiben muß, ob die

erkennenden Subjekte ihre Art und Weise, über die Welt zu denken, nicht einmal ändern“

(Schönrich 1981, zit. nach Habermas 1983a: 106).

Um dieses Argument richtig einordnen zu können, sollte man sich klarmachen, was dies hier

bedeuten würde: Nämlich nicht eine andere Praxis des Argumentierens, ohne die

Diskursregeln – denn dies ist ja zugestanden. Vielmehr müssen nun die weiteren

Einbettungen des Argumentierens in Erinnerung gerufen werden: Sich an Geltungsansprüchen

zu orientieren und schließlich, kommunikativ zu handeln. In der Tat verfolgt Habermas den

Skeptiker soweit zurück: Er muß, wenn er jeweils keine Alternativen findet, letztlich

bestreiten, kommunikativ zu handeln und sich etwa aufs strategische Handeln zurückziehen.

Habermas scheint dies nicht zu beunruhigen – er nennt diesen Einwand „abstrakt, weil sie nur

aus der Perspektive eines einzelnen Aktors gegeben ist“ und weil sie nur „von Fall zu Fall

offensteht“; eine echte, d.h. nicht „selbstdestruktive“ Option zum Ausstieg aus der

lebensweltlichen Alltagspraxis besteht nach Habermas nicht (112).

Ziel der Habermasschen Begründung ist also explizit nicht, in jedem einzelnen Fall dem

Skeptiker einen Widerspruch nachweisen zu können, wo dieser das kommunikative Handeln,

49 Diese Figur erinnert nicht zufällig an das von J. Rawls (Rawls 1975) im Anschluß an die Arbeiten von N.Goodman (Goodman 1988) in die ethische Diskussion eingebrachte „Überlegungsgleichgewicht“ (zu denDifferenzen s. Hahn 1996. Sie meint, daß bei Rawls die »considered judgements« als individuellesGleichgewicht angelegt seien, während bei Goodman die »anerkannte Praxis« ein kollektives Gleichgewichtspiegele – was beides je für sich unhaltbar wäre).

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das Erheben von Geltungsansprüchen bzw. das Argumentieren ja auch verweigern kann. Er

will dem Skeptiker nur zeigen, daß auch in seiner Alltagspraxis normative Elemente stecken,

die er auch in diesem Fall zugrundelegen könnte.

Habermas würde sich gerne in der Mitte zwischen zwei Positionen wiederfinden: Einerseits

der von Gethmann, der auf einer dem Diskurs vorgängigen Zwecksetzung (der gewaltfreien

Konfliktlösung) beharrt. Hier sagt Habermas, der »Zweck« von Argumentation überhaupt sei

etwas anderes als irgendein kontingenter Handlungszweck. Andererseits von Apel, der eine

Letztbegründung „infalliblen Wissens“ im Rahmen der Diskursethik vornehmen will. Dem

stehe schon der hypothetische Status dieses Wissens im Wege, darüberhinaus sei mit der

Nichtverwerfbarkeit eines Elements einer Praxis noch nicht die Alternativenlosigkeit dieser

Praxis selbst erwiesen.

Was Gethmann ausspricht, sollte besser auf den „einzelnen Fall“ der Verweigerung von

realen Diskursen bezogen bleiben, in dem auch Habermas letztlich kein individuell

überzeugendes Argument anbringen kann und will. Was Apel ausspricht, ist ein „Sinn-

Apriori“ dieser Praxis als solcher, also nicht im einzelnen Fall: Sie ist eben keine beliebige,

sondern eine, ohne die zumindest für uns keine sinnhafte Interaktion mehr möglich ist. Aber

läßt sich hierauf eine Begründung, gar eine „Letztbegründung“ der Diskursethik aufbauen?

Wir werden dies im folgenden zu prüfen haben (mit negativem Resultat), um dann die

Diskussion des Habermasschen Programms wieder aufzunehmen.

Exkurs: Letztbegründung der Diskursethik per strikter Reflexion –die Transzendentalpragmatik

Im Unterschied zu Habermas‘ Begründungsidee der Rekonstruktion universalmoralischer

Gehalte der Kommunikation versucht die auf K.-O. Apel zurückreichende,

transzendentalpragmatische Linie der Diskursethik eine weitergehende Begründung: Die

Ergebnisse dieser Rekonstruktionen seien gleichzeitig auch die Sinnbedingungen eines

jeglichen Arguments. Die Figur des performativen Selbstwiderspruchs, von K.-O. Apel

erstmals formuliert, soll diese „Letztbegründung“ leisten – wer immer sie argumentativ

bestreiten will, werde schlicht unverständlich.

Das zunächst Attraktive an dieser Position, daß nämlich bestimmte normative Gehalte

notwendig anzuerkennen sind, erweist sich aber als methodisch äußerst problematisch: denn

wie sollen sich diese Gehalte genau angeben lassen? Vorliegen tun sie ja zunächst als

performatives Wissen (know-how) eines kompetenten Sprechers, formuliert werden müssen

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sie aber in Form propositionalen Wissens (know-that). Und wenn diese Gehalte in jedem

Diskurs bereits vorausgesetzt sind, was ist dann ihr Status – der eines „infalliblen Wissens“

(Apel; Kuhlmann)? Dieser Frage wurde besonders in einer jüngeren Arbeit von M. Niquet

nachgegangen (Niquet 1994).

Noch weniger als das Begründungsprogramm der Universalpragmatik kann dasjenige der

Transzendentalpragmatik hier erschöpfend dargestellt werden. Doch der Schwerpunkt dieser

Arbeit soll ja ohnehin auf den Anwendungsproblemen und nicht auf den

Begründungsproblemen der Diskurstheorie liegen.50 Insgesamt scheint mir, daß die

Transzendentalpragmatik das konsequentere (aber deshalb nicht unbedingt überzeugendere)

Programm vorgelegt hat; sie konzentriert sich ganz auf den einen, vermeintlich

„letztbegründeten“ Punkt des performativen Selbstwiderspruchs. Die Ausarbeitung des

Begründungsprogramms durch W. Kuhlmann argumentierte zwar noch gegen einen

uneingeschränkten Fallibilismus des Kritischen Rationalismus (Popper/Albert) und der

Erlanger Konstruktivisten (Gethmann/Hegselmann) (vgl. Kuhlmann 1985: 91ff.). Die

transzendentalpragmatische Auseinandersetzung mit Einwänden gegen diese ihre

Begründungsfigur scheint jedoch eher eine Wiederholung der These: Daß der Opponent mit

eben seinem Einwand doch schon die Sinnbedingungen rationaler Argumentation anerkannt

habe. (Oder etwa nicht? – Aber dann ist sein Einwand eigentlich gar keiner!). Auf diese

Weise behält der Transzendentalpragmatiker auf sterile Weise immer recht.

Durch eine schlichte Entgegensetzung anderer Argumentationsbegriffe und -Konzepte wird

sich ein Transzendentalpragmatiker aber auch nicht „bekehren“ lassen. Bestenfalls verhindern

Opponenten so, daß sich Philosophen für die transzendentalpragmatische Perspektive

entscheiden. Eine sinnvolle inhaltliche Auseinandersetzung kann aber so nicht stattfinden.

Von diesem Schema der immunisierten „Widerlegung“ einer äußerlichen „Kritik“ hebt sich

eine jüngere Arbeit (Niquet 1994) wohltuend ab, in der den Paradoxien eines „infalliblen

Wissens“ aus einer methodisch-reflexiven Perspektive nachgegangen wird. In der Darstellung

der Problemlage werde ich mich daher auf diese Arbeit stützen können.

50 Da dem sog. Begründungsteil B der transzendentalpragmatischen Diskursethik eine Reflexion auf dieAnwendungsbedingungen der Diskursethik zugrundeliegt, wird dieser erst im folgenden Kapitel dieser Arbeitreferiert.

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Das Programm einer Letztbegründung der Diskursethik – K.-O. Apel(1973)

Die Grundidee des transzendentalpragmatischen Begründungsprogramms ist, daß wer immer

auch nur eine Tatsachenbehauptung ernsthaft erhebt, zu ihrer Prüfung die ideale (und damit

auch die reale) Kommunikationsgemeinschaft als Bedingung der Möglichkeit ihrer Prüfung

anzuerkennen hat (vgl. Apel 1973). Schon der Fallibilismus der Popper-Schule verweist so,

sprachpragmatisch informiert, auf eine Kommunikationsethik, auf moralische Gehalte

(„Präsuppositionen“) der Kommunikation.

„Ideale Sprechsituationen und Kommnikationsgemeinschaften können also, wie ich es von allenPräsuppositionen des transzendenten Sprachspiels behauptet habe, weder ohne aktuellenSelbstwiderspruch bestritten noch ohne petitio principii deduktiv bewiesen werden. Dies ist dieLetztbegründungsformel.“ (Apel in Oelmüller 1978: 165)

Sätze, in denen diese Präsuppositionen ausgedrückt werden, bekommen dadurch allerdings

einen prekären Status. Apel sagt hierzu, „daß man von hinreichend explizierten

transzendentalpragmatischen Einsichten sagen kann, daß sie als evidente Aussagen zugleich a

priori konsensfähig sind“ (Apel 1987: 191). Diese Einsichten seien zwar (bezüglich der

Wahrheitsgeltung) infallibel, aber dennoch kritisier- und revidierbar:

„Die entscheidenden Gründe für die Revision von transzendentalen Explikationshypothesen

können nicht in empirisch externen Evidenzen liegen […], sie können nur darin liegen, daß

wir als Philosophen immer schon und immer wieder unser infallibles Wissen a priori um die

Argumentations-Präsuppositionen auch gegen die Resultate ihrer Explikation aufbieten

können. Wenn es also zu Revisionen von Explikationshypothesen in dem jetzt

interessierenden Sinn kommt, dann kann es sich nur um Selbst-Korrekturen handeln, d.h. um

Korrekturen, die gerade nicht möglich wären, wenn das zu Korrigierende nicht auch als schon

gewußt dabei vorausgesetzt werden könnte.“ (1987: 193f.)

Apel erläutert solche Selbst-Korrekturen dann auch explizit als „ein – immer erneutes ‚strikt

reflektives‘ – Ausspielen des performativen Handlungswissens von unseren

Argumentationsakten gegen die propositionalen Explikationen des Handlungswissens“ (1987:

194). Wahrscheinlich meint Apel mit der Selbstkorrektur, daß weder auf linguistische noch

auf andere empirische Theorien bei einer solchen Korrektur bezug genommen werden

braucht. Doch inwiefern läßt sich von einer (a-priorischen) „Konsensfähigkeit“ sprechen?

Kann dieser Konsensbegriff noch der der Diskurstheorie sein, also eine (wenigstens idealiter)

auf Argumenten beruhende Übereinstimmung bezeichnen?

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Der Vorgang dieser Selbstkorrektur wird nicht weiter erläutert – die Rede von „Kritik“ droht

damit zu einer nicht erläuterbaren Metapher zu werden. Apel knüpft hier offenbar an die

Arbeiten von W. Kuhlmann an, der diesen Begriff (zusammen mit der Infallibilität des

entsprechenden Wissens) im Zuge einer Ausarbeitung des bei Apel nur angedeuteten

Begründungsprogramms in die transzendentalpragmatische Debatte eingebracht hat.

Ausarbeitung des Letztbegründungsprogramms – W. Kuhlmann (1985)

Der Begründungsgang der Transzendentalpragmatik kommt in der

transzendentalpragmatischen Letztbegründungsformel zum Ausdruck:

„Was man ohne aktuellen Selbstwiderspruch nicht bestreiten, gegen dessen Anerkennung man sichohne Selbstwiderspruch nicht entscheiden, was man ohne petitio principii nicht durch Ableitungbegründen kann, das ist in der Argumentation – und d.h. überhaupt nicht hintergehbar für uns.“(Kuhlmann 1985: 23; Hervorhebungen getilgt)

Diese Begründung ist von M. Niquet (Niquet 1994) im Einzelnen nachgezeichnet und der

Weg hin zum „infalliblen Wissen“ kritisch kommentiert worden. Ich werde das

Kuhlmannsche Programm nur kurz und gemäß der Niquetschen Kritik referieren, um dann

Niquets eigenen Vorschlag zu diskutieren.

Zielbehauptung Kuhlmanns sei die Begründung der Aussage (A): ‚Die Situation des sinnvoll

Argumentierenden ist für mich unhintergehbar‘ (12). Diese sei sinnäquivalent zu (A‘): ‚Wir

können die Regeln und Präsuppositionen sinnvoller Argumentation nicht bestreiten und wir

können diese Präsupposition ohne petitio principii nicht begründen und wir können uns nicht

sinnvoll gegen ihre Anerkennung entscheiden.‘ Der erste Teil dieser Konjunktion werde nun

begründet dadurch, daß gezeigt werden kann, daß die Behauptung (P): ‚Die Regeln der

Argumentation gelten für mich nicht‘ notwendig falsch ist. Denn sobald (P) ernsthaft

behauptet wird, zeige sich:

„Wenn wir nun aber (P) als Argument, d.h. als eine von mir (dem Sprecher von (P)) nach denRegeln der Argumentation gebildete und vorgetragene Äußerung anerkannt haben, ja notwendiganerkannt haben, solange wir untersuchen, ob (P) sich halten läßt, dann haben wir, indem wir unsdies ins Bewußtsein heben, das Problem schon gelöst. Denn es ergibt sich, daß die Geltung derArgumentationsregeln von mir nur dann sinnvoll bestritten wird (derart, daß es sinnvoll ist, dieWahrheit der besteitenden Behauptung zu prüfen), wenn ich die Argumentationsregeln zugleichanerkenne.“ (Kuhlmann 1985: 84)

Und damit sei die notwendige Falschheit von (P) erwiesen. Warum spricht Kuhlmann nun

aber von einem „a priori gewissen Handlungswissen“? Niquet macht dazu auf Zweierlei

aufmerksam: Erstens komme darin die Tatsache zum Ausdruck, daß wir die Fähigkeit zur

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- 52 - -

Argumentation nicht nur praktisch verfügen, sondern dies auch wissen und anhand jedes

Arguments prüfen können:

„Kommunikativ kompetente Sprecher verfügen nicht nur über die Fähigkeit, sprachlicheÄußerungen verschiedener Typen von Redekontexten ‚pragmatisch-wohlgeformt‘ zu produzieren,entsprechende Äußerungen ihrer Redepartner (illokutiv oder propositional) zu verstehen, dieperformativ-illokutionäre Kraft ihrer eigenen Äußerungen zu identifizieren und gegenüber denRedepartnern erläutern[d]-erklärend zur Geltung zu bringen: sie haben auch – genau in dem Maßihrer ‚kommunikativen Kompetenz‘ – ein Wissen davon, ob eine (eigene oder fremde) Äußerungals Redehandlung des Typs XY gelten kann, ob sie Kriterien ‚pragmatisch-situativerWohlgebildetheit‘ (Akzeptabilität) erfüllt, ob sie, obwohl wohlgebildet, trotzdem mißglückt [ist]etc. etc.“ (Niquet: 14)

Zweitens sei das Letztbegründungsargument „merkwürdig inhaltslos“:

„[Es] führt das Argument doch nur zu der Einsicht, daß diejenigen Präsuppositionen oder

Argumentationsregeln, welche auch immer das sein mögen, die die Letztbegründungsformel

erfüllen, ‚für uns‘ unhintergehbar sind.“ (Niquet 1994: 14). Doch die

Transzendentalpragmatik habe sich auch das Ziel gesetzt, „den realen Gehalt des damit

Bezeichneten im Einzelfall hinreichend präzise“ anzugeben (unter Verweis auf Kuhlmann

1985: 107). Kuhlmann fordere, ein „relativ gehaltvolles, geordnetes und universell

verwendbares“ Wissen aufzusuchen, mithin nichts weniger als die Explizierung einer

„Theorie“ der Argumentation.

Diese beiden Punkte würden nun von Kuhlmann genau folgendermaßen

zusammengeschlossen:

„Die geforderte ‚Theorie‘ ist nichts anderes als eine im apriorischen ‚Handlungswissen vomArgumentieren enthaltene Argumentationstheorie‘ und als solche von jedem sinnvollen Zweifelausgenommen.“ (Niquet 1994: 15)

Der „harte Kern“ dieses Wissens umfasse nicht nur die Geltungsregeln einzelner

Sprechakttypen, sondern Regeln ‚sprechaktübergreifender‘ Argumentations- und

Kommunikationsstrategien, letztendlich solche von Handlungsstrategien, die Sprechakte und

Kommunikation integrieren. Damit dieses Wissen aber apriorisch gewiß bleiben könne, dürfe

es nicht explizit theoretisch rekonstruiert werden, sondern müsse als Resultat einer, die

Grenzen dieses Wissens nicht überschreitende, Selbsttransformation von (kapazitivem)

knowing-how in ein in Redeerläuterungen oder Erklärungen gegenüber Redepartnern

aufscheinendes und wirksames knowing-that verstanden werden (vgl. Kuhlmann 1985:

138ff.).

Die Vorstellung der Selbsttransformation und des sokratisch-mäeutischen Gesprächs, in dem

eine solche u.U. provozierbar sein soll, ist von M. Niquet in verschiedenen Varianten

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- 53 - -

rekonstruiert und nach eingehender Prüfung derselben verworfen worden. Niquets Kritik

erscheint mir im Kern überzeugend:

Zwar ist es für eine intentionale Sprachverwendung (Sprechhandlung) so, daß der

illokutionäre Gehalt eines Sprechakts dem Sprecher bekannt sein muß, und ein Sprecher so

seine Sprechakte auch „expandieren“ kann („Ich behaupte jetzt, daß XY“) (22). Somit zehren

solche „Wissenspräsuppositionen“ von der Notwendigkeit, daß sich ein Sprecher diese als

Wissen sinnkritisch zuschreiben muß. Die o.g. Ideen der Übersetzung von performativem in

propositionales Wissen scheitern jedoch an folgenden drei Hauptproblemen (24ff.; 41f.):

Erstens unterliegt die Übersetzung keiner „Gelingensgarantie“, kann also fehlgehen, ohne daß

dies feststellbar wäre. Zweitens kann sie bestenfalls auf ein „Wissen-von“, aber nicht

gleichzeitig auch ein „Wissen-als“, d.h. ein Wissen um den Geltungssinn dieser Propositionen

gleich miterzeugen, denn dies ist eine höherstufige, reflexive Einsicht. Dieselbe Proposition

kann Teil verschiedenartiger Diskurse sein, für dieselbe Proposition kann ein empirischer

oder auch transzendentaler Geltungsanspruch erhoben werden. Aber nur an transzendentalen

Geltungsansprüchen ist die Transzendentalpragmatik interessiert. Drittens fehlt also dem

„Wissen-von“ die Möglichkeit, beliebige kontingente Unterstellungen von den notwendigen

Unterstellungen der Argumentation überhaupt (Präsuppositionen der Argumentation) zu

unterscheiden (a-priorische Gewißheit ist so nicht erlangen, da Präsuppositionskandidaten

immer nur bisher unerkannte empirische Unterstellungen sein könnten), d.h. performative

Selbstwidersprüche von strikt performativen Selbstwidersprüchen zu unterscheiden.

Die Kennzeichnung eines Verfahrens der Präsuppositionsgewinnung als „mäeutischem

Dialog“ kann diese Kritik nicht entkräften; in ihm sind zudem asymmetrische

Sprecherpositionen die Regel (43): Doch dies setzt voraus, daß einer der Teilnehmer (der

Diskursethiker?) über Präsupposisionswissen bereits verfügt und dem Gegenüber

andemonstrieren will, er verfüge genauso darüber.

Auch wenn die daß-Geltung von Präsuppositionen also per strikter Reflexion eingesehen

werden kann, führt dies nur auf eine Implikation (wenn etwas eine echte Präsupposition ist,

dann muß es notwendig unterstellt werden). Es bleibt völlig offen, ob ein konkreter Kandidat

eine solche Präsupposition darstellt und wie dies methodisch kontrolliert getestet werden

könnte. Dies wurde als logisches Problem der diskursethischen Begründung unabhängig von

Niquet auch von C. Hubig vorgebracht: Erweisen läßt sich nur eine necessitas conseqentiae,

nicht aber eine necessitas consequentis (Hubig 1995a), d.h. nur die Schlußform selber, nicht

die Konsequenz des Schlusses.

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- 54 - -

Präzisierung des Status‘ transzendentaler Diskurse – M. Niquet (1994)

Die Konzepte der Präsuppositionsanalyse von Apel und Kuhlmann werden von Niquet zu

Recht zurückgewiesen. Die Universalpragmatik von J. Habermas, von Niquet als

„rekonstruktiver Naturalismus“ charakterisiert, verzichtet hingegen ganz auf eine

Ausschöpfung des sps-Gehalts der Präsuppositionen. Die alltägliche Verständigungspraxis ist

für Habermas als solche schon unhintergehbar (172); philosophischer und theoretischer

Diskurs werden gleichgesetzt (164). So sieht Habermas die Korrektur von

Präsuppositionswissen durch empirisches Wissen als empirischem Wissen vor – und dies

kann nicht gelingen, da es die Ebene von Präsuppositionen von vornherein verfehlt.51 Zudem

verlegt er die Bewährung der Rekonstruktionen auf die empirische Ebene (s.o.). Von daher ist

der Vorwurf des »Naturalismus« nicht ganz unberechtigt.

Im folgenden unterbreitet er nun einen eigenen Vorschlag, Präsuppositionen als solche zu

erweisen.

Niquet kommt nicht zu dem Schluß, die Idee der Selbsttransformation wäre völlig abwegig;

für einfache performative Gehalte gibt Niquet eine solche durchaus zu: Wer z.B. etwas

behauptet, weiß dabei in der Regel auch, daß er etwas behauptet. Die Kandidaten für

Präsuppositionen liefert jedoch nicht dieses performative Wissen (das zu wenig reflexiv ist),

sondern erst die eine oder andere (Sprechakt-)Theorie.52 Über die theoretische Reflexion

hinaus soll etwas strikte Reflexion heißen, wenn die derartige Präsuppositionen explizit in der

Problemformulierung und -lösung berücksichtigt (erst dadurch erreiche man die Ebene der

strikt performativen Selbstbezüglichkeit, auf die die Transzendentalpragmatik abhebt).

Durch den Einsatz von durch theoretisches Wissen informiertem und expliziertem

praktischen Wissen im Rahmen einer strikten Reflexion versucht Niquet nun seinerseits, ein

Kohärenz-Testverfahren zu entwickeln, mit dem Präsuppositionen als solche erwiesen werden

können. Er gibt ein Schema an, in dem (korrekt) drei Elemente nach ihrem ursprünglichen

Geltungssinn (und damit auch nach den sie stützenden Evidenzen) geschieden sind: Erstens

das propositional gefaßte (einfach) performative Element, zweitens das strikt-performativ-

51 Logisch ist der Punkt klar: Auf notwendige Bedingungen kann nicht zurückgeschlossen werden. Kontingente,aber regelmäßig vorliegende Bedingungen der Wirklichkeit können von Bedingungen der Möglichkeit, und dieallein sind gesucht, nicht unterschieden werden. Wir werden allerdings sehen, daß Niquet an diesem Punkt auchnicht wirklich weiterkommt.52 Mit dem Verwerfen der Figur der „Selbsttransformation“ muß ja auch nicht mehr die These vertreten werden,die Quelle dieser Präsuppositionen sei vor- oder sonstwie außertheoretisch, und die Perspektive ihrerÜberprüfung sei ausschließlich die der strikten Reflexion.

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selbstbezügliche (sps), d.h. der eigentlich transzendentale Element, und drittens dann das

theoretische Element. Diese drei Elemente werden ihren jeweiligen Kontexten entnommen

und in das Test-Schema „wiedereingebettet“; es lautet bei Niquet letztlich wie folgt (mit r der

Instantiierung einer Präsupposition) (Niquet 1994: 74):

(TA‘‘) ‘[Perf. Satz] ([Klausel der sps-Unterstellung von r]) [Negation von r]’ (74)

An einem Beispiel: „[Ich behaupte,] ([und unterstelle dabei als gültig, daß jemand existiert]) [,

daß niemand existiert].“ Eine Grundidee ist, daß dieses Schema dann, wenn r wirklich einer

Präsupposition entspricht, die Behauptung der Negation von r in eine Sinn-Inkohärenz mit

der Unterstellung von r führen muß – daher die Negation nur im dritten Term. Die

Proposition r soll natürlich zunächst nur hypothetisch sps-unterstellt werden, erst eine Sinn-

Inkohärenz erweist dann die Legitimität dieser Unterstellung. Falls sich keine Inkohärenz

einstellt, war r auch keine Präsupposition.

Die Proposition selbst ist, damit nicht auch kontingente performative Widersprüche, sondern

nur strikt performative Widersprüche detektiert werden, „semantisch zu entindexikalisieren“.

Wenn ein Sprecher z.B. paradoxerweise behauptet, er existiere nicht, ist dies nicht nur deshalb

ein performativer Widerspruch, weil er nicht existiert, sondern weil kein Sprecher dies

sinnvoll sagen kann. Und darauf kommt es bei Präsuppositionen an. Niquet schlägt vor, diese

Entindexikalisierung so vorzunehmen, daß in r für ein Indexwort („ich“) ein Existenzquantor

einzusetzen ist, was in der Klausel der sps-Unterstellung einen Existenzquantor, in der

Negation von r hingegen einen Allquantor ergibt: „[Ich behaupte,] ([und unterstelle dabei als

gültig, daß jemand existiert]) [, daß niemand existiert].“ Dies soll die Inkohärenz

gewissermaßen auf die Ebene heben, wo sie hingehört.

Das große Manko dieses Schemas ist bereits auf den ersten Blick zu erkennen; egal was ich

für r einsetze, (und egal, welchen performativen Akt ich dabei vollführe,) es kommt immer zu

einer Inkohärenz (woran die Entindexikalisierung vor dem Einsetzen in das Schema natürlich

nichts ändert)! Sogar die Verneinungen von Präsuppositionen lassen sich daher als

Präsuppositionen ‚erweisen‘; ich brauche nur zu behaupten, daß niemand existiert, und es

ergibt sich: „[Ich behaupte,] ([und unterstelle dabei als gültig, daß niemand existiert]) [, daß

jemand existiert].“ Zur Klärung der entscheidenden Frage, ob etwas eine Präsupposition

darstellt, und das war Niquets Anspruch, hilft das Schema also nicht.

Ich glaube dennoch, daß dieses Schema nicht sinnlos ist. Denn es expliziert immerhin korrekt,

wie die Sinn-Inkohärenz vorliegt, wenn eine echte Präsupposition bestritten wird. Es

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berücksichtigt die von Niquet herausgestellte Unterscheidung von transzendentalem und

theoretischem Diskurs. Im theoretischen Diskurs wird implizites Sprecherwissen

systematisiert, dort werden Kandidaten für Präsuppositionen gewonnen; Niquet nennt diese

Ebene daher auch Generatorebene. Im transzendentalen Diskurs hingegen ist ein solcher

Kandidat als Präsupposition erst zu erweisen, und dies kann weder der Intuition noch der

Theorie gelingen. Einen solchen Diskurs muß es geben, wenn es kein außerdiskursives, d.h.

mit Argumenten nicht einholbares Wissen geben soll (Kuhlmanns Ausführungen schienen

darauf hinauszulaufen). In einem solchen Diskurs kann und muß eine „Selbstaufklärung“ der

Sprechenden stattfinden, wie Niquet schreibt – ein klassisches Reflexionsmodell also: die

sprachlich gefaßte Vernunft reflektiert auf die Regeln, denen sie (implizit) folgt, und auch auf

die Grenzen, denen eine Veränderung dieser Regeln unterliegt: auf Präsuppositionen. Auf

dieser Ebene, und nicht auf der Ebene von kategorialen Schemata (Kant), kann erfolgreich

nach transzendentalen Elementen gesucht werden, da sich hier eine echte Nichtverwerfbarkeit

demonstrieren läßt. Die Angabe einer Argumentationsregel in diesem Diskurs, die Niquet

versucht hat, ist aber mißlungen. Wir sehen uns also in der mißlichen Situation, daß wir

wissen, daß es Präsuppositionen gibt, die sich argumentativ nicht bestreiten lassen, nur nicht,

welche genau dies sind.

Welche es sind, ist natürlich durch unsere Vorstellung dessen, was ein Argument ist,

bestimmt. Daß wir diese zugrundelegen sollen, kann auch eine sinn-transzendentale

Deduktion nicht zwingend zeigen. Zudem läßt sich, und hier hat Niquet recht, nur die

Nichtverwerfbarkeit von Präsuppositionen, nicht die echte Alternativenlosigkeit

demonstrieren (denn was wissen wir schon über ein Leben ohne Ketten, die wir nicht ablegen

können?).53 Dies allerdings geschieht im „transzendentalen Diskurs“ der Philosophie. Ihre

Evidenzen sind nicht diejenigen der empirischen Wissenschaften, doch wenn

Präsuppositionen ein echtes Wissen darstellen können, müssen diesbezügliche Vorschläge

auch in einem Diskurs argumentativ kritisierbar sein. Rekonstruktionsvorschläge werden

hierin entwickelt und den Argumentierenden zur Anerkennung vorgelegt, die diese auch

verweigern können, wenn sie die Rekonstruktionen für mißlungen halten. Eine

Letztbegründung von Inhalten kann es hierbei nicht geben. Ob man bei transzendentalen

Diskursen von Diskursen sprechen sollte, wäre genauer zu prüfen. Wenn Präsuppositionen

jedoch ein außerdiskursives Wissen darstellen, dann kein super-, sondern ein subdiskursives

Wissen – und eine Letztbegründung scheitert erst recht.

53 D.h., die Praxis des Argumentierens selbst läßt sich auch per strikter Reflexion nicht begründen.

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Revisionen des universalpragmatischen Programms – J. Habermas(1992)

In (1992) nun bekam Habermas‘ Erläuterung des Diskursprinzips eine andere Richtung: Hier

unterscheidet er zwischen Moral- und Rechtsnormen. Verfüge man über eine Idee der

Rechtfertigung von moralischen Normen, gelange man zum Diskursprinzip der Moral. Lege

man an dieser Stelle die bloße Rechtsform zugrunde, verfüge also über einen formalen Begriff

juridischer Normen, gelange man zum Diskursprinzip des demokratischen Rechtsstaates.

Einmal auf eine solche, institutionelle Ebene gehoben, kann seine Diskurstheorie zur

Begründung des modernen Rechtsstaats dienen (durchgeführt in Habermas 1992). Die

kognitive Unbestimmtheit (das, was Gründe nicht erreichen) wird im demokratischen

Rechtsstaat durch die Faktizität der Rechtssetzung vorläufig beendet (1992, 147). Solange es

sich auf einer übergeordneten Ebene (z.B. unter Fairneßgesichtpunkten) diskursiv begründen

läßt, dürfen reale Konflikte auch durch Verhandlungen, Abstimmungen usw. gelöst werden,

ohne daß die Lösungen durch ihr Verfahren bereits illegitim würden. Welche konkreten

Fragen wann in organisierten Diskursen zu behandeln sind, ist also noch nicht entschieden.

Nur die Begründungslast ist verschoben: Diskursvermeidung bedarf der Rechtfertigung.

Dieses Diskursprinzip heißt „umfassender“, da es von »U« damals nur „im Hinblick auf

moralische Fragestellungen operationalisiert“ worden ist, aber ebenso für die „Beratungen

eines politischen Gesetzgebers oder für juristische Diskurse“ operationalisierbar sei (1996:

64). Damit kann dieses Diskursprinzipeigentlich nicht mit »D« aus dem diskursethischen

Begründungsprogramm identisch sein, das ja die Zielbehauptung der Diskursethik war (s.o.),

ich nenne es daher »DD«. Habermas scheint daher sein Begründungsprogramm umgestellt zu

haben: „»U« läßt sich nicht deduzieren, sondern ist zwar „gewiß durch »D« inspiriert, aber

vorerst nicht mehr als ein abduktiv gewonnener Vorschlag“ (so Habermas 1996, 60) –

nämlich bis zur Durchführung von Schritt (4) (s.o.). Die Idee für (4) lautet weiterhin, die

Erklärung des moralischen Gesichtspunkts (durch »U«) „»immanent«, nämlich aus dem

Wissen, was man tut, wenn man sich überhaupt auf eine Argumentationspraxis einläßt“,

plausibel zu machen. Habermas setzt ziemlich unklar fort: „Die diskursethische

Begründungsidee besteht also darin, daß sich der Grundsatz »U«, in Verbindung mit der in

»D« ausgesprochenen Vorstellung von Normenbegründung überhaupt, aus dem impliziten

Gehalt allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen gewinnen läßt.“ In diesem Satz bleibt

das Ableitungsverhältnis von »U« und »D« unklar, Habermas meint mit »D« aber

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anscheinend »DD«. Allerdings ist der gerade zitierte Satz mit einer Fußnote versehen, in der

auf einen längeren Artikel von Ott (1996) verwiesen wird.

Ich will dieses Begründungsprogramm zunächst nicht analysieren – dies soll im Durchgang

durch die einschlägigen kritischen wie apologetischen Arbeiten geschehen. Einige

Erläuterungen noch dazu, was hiermit begründet werden soll: Per definitionem sind gültige

Normen das, was für alle verbindlich sein soll. Evaluative Fragen der Art, was für uns als

spezielle Gruppe oder für mich als Einzelperson gelten soll ("Was ist gut für uns/mich?"),

sind davon zu unterscheiden, sie betreffen Fragen des jeweiligen Guten Lebens (Die einer in

viererlei Hinsichten anderen Semantik folgen; s. Habermas 1992). Da diese in der Regel

gerade nicht alle betreffen, sind sie nicht gegenüber allen zustimmungsfähig und bedürfen

allgemeiner Zustimmung auch nicht (Habermas 1983, 118). Sie müssen von Normen

unterschieden werden: "das Gesollte beansprucht, gleichermaßen gut für alle zu sein"

(Habermas 1992, 311), also im gleichmäßigen Interesse aller zu liegen, d.h. ein

verallgemeinerbares Interesse zu sein. Die Grenze ist nicht von vornherein scharf gezogen,

sondern im Zuge des Begründungsdiskurses sollen „partikulare Wertgesichtspunkte als nicht

konsensfähig am Ende herausfallen“. Der Formalismus des Moralprinzips muß am Ende auch

eine formale Unterscheidungsmöglichkeit des Ergebnisses der Anwendung des Prinzips

zulassen – allerdings kann die konkrete Einteilung nur aufgrund des Ergebnisses des

Begründungsversuchs vorgenommen werden. In diesem Sinne sagt Habermas, kulturelle

Werte „kandidieren allenfalls für eine Verkörperung in Normen“ (1983, 114). Die Inhalte des

moralischen Diskurses, d.h. Kandidaten zur Normenprüfung, kommen für Habermas aus der

Lebenswelt, aus der je konkret über verständigungsorientiertes Handeln zusammengehaltenen

sozialen Gemeinschaft.

Im folgenden nun die in der Literatur vorfindlichen Versuche (sei es in kritischer, sei es in

apologetischer Absicht), dieses Begründungsprogramm im Detail durchzuführen. Wir werden

sehen, daß damit Klärungen der Voraussetzungen und der Art der begründenden Übergänge

(„Schlüsse“) verbunden sind, sowie teilweise auch das Begründungsziel zurecht hinterfragt

wird.

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Rekonstruktions- und Durchführungsversuche desBegründungsprogramms

Formale Rekonstruktion des Begründungsprogramms in kritischerAbsicht – C. Lumer (1997)

Lumer leitet seinen Aufsatz (Lumer 1997) mit folgenden Thesen ein (als Zusammenfassung

seiner Überlegungen):

(a) »U« ist keine Argumentationsregel, denn in »U« sei von Argumentationen oder Diskursenüberhaupt nicht die Rede.

(b) »U« ist monologisch anwendbar (vom einsamen Nutzen-Berechner).

Lumer scheint übersehen zu wollen, daß der Sinn von »U« die Auszeichnung von

Argumenten in Diskursen ist. Auch sein zweiter Punkt überrascht, in seiner Rede vom

„Nutzen“: Denn davon ist in »U« nicht die Rede! Akzeptabilität bemißt sich nicht in einem

(einsamen oder gemeinsamen) Nutzenkalkül.

In einer Fußnote (3) stellt Lumer die Einschränkung des Geltungsbereichs von »U« fest –

genauer müßte man eigentlich sagen: der durch »U« gerechtfertigten Normen: Nur bei

allgemeiner Befolgung und nur Prima facie seien diese gültig. Die Moral stehe zudem neben,

nicht über dem Recht. In der Tat gibt es seit Habermas (1992) das Problem, wie Recht und

Moral sich legitimatorisch zueinander verhalten – Lumer zitiert das aber nicht, noch verfolgt

er sonstwie dieses Problem in den Habermasschen Schriften. Nicht, daß sich dort eine

befriedigende Problemlösung finden würde, aber wenigstens die Problemstellung wäre ihm so

deutlich geworden: Irgendwie scheint Lumer nämlich der Meinung (1997, 55), Habermas

beschränke die Geltung der Moral (komplementär zur gesellschaftsweiten Steuerung durch

das Recht) auf den Mikrobereich persönlicher Beziehungen. Dies ist jedoch einfach nicht so,

die Kritik läuft also leer.

In dieser Fußnote, also noch vor der eigentlichen Kritik an der Begründung durch Habermas,

liest man weiterhin:

„In einer aufgeklärten Ethik müßten zunächst die individuellen Nutzen alternativer Regelungenunter Einbeziehung aller Interessen der Subjekte bestimmt werden; anschließend müßten dieseNutzenverteilungen moralisch bewertet werden“.

Habermas lasse hingegen nur verallgemeinerbare Interessen in die Moralbegründung

einfließen. Warum sollte eine Berücksichtigung beliebiger Interessen, also z.B. auch

widersprüchlicher Interessen oder derjenigen an der Tötung Unschuldiger zum eigenen

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Vorteil, etwas mit Moral zu tun haben? Nicht nur Deontologen, auch modernen Utilitaristen,

wie z.B. Trapp 1988, leuchtet dies nicht ein: Nur insoweit, wie die Interessen der anderen

anerkannt sind, ist ihre Befriedigung auch in den Augen anderer ein Nutzen, den es positiv zu

berücksichtigen gilt. Präferenzen sind daher zu gewichten, u.U. auch »mit Null«, so daß

Raum bleibt für (minimale) Rechte als einer Sphäre, die der utilitaristischen Verrechnung

entzogen bleibt (vgl. Birnbacher). Sicher haben hierzu nicht alle dieselben Vorstellungen,

man wird sich einigen müssen. Aber es ist doch schlicht unplausibel zu glauben, daß (unter

der modernen Bedingung des Pluralismus) eine gleiche Berücksichtigung beliebig abstruser

Interessen das einzig aufgeklärte oder auch nur das wahrscheinlichste Ergebnis ist.

„Das Verhältnis von »U« zu »D« bleibt in Habermas’ Erläuterungen [gemeint sind nicht die„Erläuterungen zur Diskursethik“, sondern die Erläuterungen in den „Notizen zu einemBegründungsprogramm“, N.G.] einigermaßen dunkel.“

Man kann hinzufügen: Nicht nur dort, sondern an keiner Stelle in den späteren Arbeiten wird

dieses Verhältnis überzeugend ausgeführt. Der Interpret ist also auf Rekonstruktionen

angewiesen, von denen auch Lumer eine Version anbietet:

Zunächst zeigt Lumer, daß die von Habermas gelieferte Begründung bereits im Beweisziel

nicht auf »U« abstellt, sondern auf den Zusammenhang zwischen Zustimmung und

Folgenakzeptanz von Normen (Z�F). Es fehlt der Zusammenhang von Gültigkeit und

Zustimmung. Deshalb trägt er Habermas eine „allgemeine diskursive Konsenstheorie der

Gültigkeit“ mit den Dimensionen Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit als Prämisse an54:

„Eine Norm kann unter den Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung genau

dann finden, wenn sie gültig ist“ (Z�G). Lumer glaubt nun, daß diese „für die Schlüssigkeit

der Habermasschen Argumentation notwendig“, aber leider petitiös sei: Denn damit würde,

um »U« zu gewinnen, ein »D« „zumindest ähnliches“ Prinzip benötigt, aber dennoch soll »U«

Bestandteil der Begründung von »D« sein (der die diskursive Konsensfähigkeit moralischer

Normen zeigt, 45). Zudem ist Z�F nicht aus den angegebenen Prämissen, im wesentlichen

den rhetorischen Diskursregeln, zu gewinnen.

54 Lumer hält dies für problematisch und falsch, den performativen Widerspruch für nicht beweisträchtig undauch die Klasse-3-Regeln für falsch. Zur Begründung verweist er auf sein Buch zur „PraktischenArgumentationstheorie“ (Lumer 1990). Was er an Argumenten exemplarisch anführt, wie daß eine Erhöhung derTeilnehmerzahl den Diskurs eher erschwere (was pragmatisch u.U. richtig sein mag) und daß Habermas sogarTeilnehmer zulasse, die „überhaupt nicht die Wahrscheinlichkeit der Fehleraufdeckung erhöhen“, verfehlt jedochden kontrafaktisch-idealisierenden Sinn der Diskurstheorie und läßt auf ein gravierendes Mißverständnis desAnspruchs von Habermas’ Diskurstheorie schließen.

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Welche These Lumers Rekonstruktion leitet, wird auf den folgenden Seiten offengelegt:

Zunächst, so Lumer, glaubte Habermas, »U« aus den Diskursregeln allein gewinnen zu

können (Manuskript). Als dies mißlang, führte er die (zirkuläre) Prämisse ein (erste Auflage).

Dann schwächte er diese ab (zweite und folgende Auflagen). In den späteren Schriften ist von

dieser Begründung nur noch sehr vorsichtig die Rede, in (1992) scheint sich das Verhältnis

von »D« zu »U« sogar umgekehrt zu haben. Habermas verweist dort (1992: 140), wie schon

in in (1991a:134) auf Rehg (1991) (den Lumer wenig überzeugend findet, ohne dies näher

auszuführen), und man kann hinzufügen, daß in Habermas darauffolgender Aufsatzsammlung

„Die Einbeziehung des Anderen“ außer einem Verweis auf Ott ebenfalls keine eindeutige

Aussage zu entdecken ist („... läßt sich »U« in Verbindung mit »D« herleiten ...“). Insgesamt

seien Habermas Äußerungen als Zurücknahme des Begründungsanspruchs und als

Hinwendung zum (rekonstruktiven) Intuitionismus (Rawls) zu lesen, mithin als Absage an

einen starken, universellen Begründungsanspruch.

Im folgenden geht Lumer die beiden Prinzipien der Diskursethik, »U« und »D«, frontal an:

1. »U« läßt sich (a) prudentiell lesen: Gültige Normen fallen individuell optimal aus. Dies

Kriterium sei aber „viel zu stark und unbrauchbar“, „wegen tatsächlicher Interessenkonflikte“

nämlich unerfüllbar. Eine Kaprizierung auf moralische Wünschbarkeit ( ... individuell

moralisch optimal ...) führt auch nicht weiter55, solange man sich (b1) auf die (divergenten)

faktischen Maßstäbe bezieht. Von Habermas gesetzt (b2) kann dieser Maßstab aber auch nicht

sein. Einzig eine Optimalität bzgl. verallgemeinerungsfähiger Interessen (b3) wäre sinnvoll,

aber: Meint man hier abstrakte Individuen (b3a), wären deren Interessen zwar identisch, aber

nicht authentisch, meint man hingegen reale Individuen (b3b), wären deren Interessen wieder

„intersubjektiv verschieden“56. Beschränkt man die Normen auf solche, die „gleichermaßen

wünschbar“ sind (c), müßte man beispielsweise das Tötungsverbot abschwächen (denn als

Starker wünsche man sich dieses nicht ebenso stark wie als Schwacher), also kontraintuitive

Konsequenzen aushalten. Eine letzte Interpretation besteht (d) in der Betonung der

Akzeptabilität gegenüber der Akzeptanz: Nach einem idealen Diskurs würden alle Teilnehmer

die Gültigkeit einsehen können.57 Die letzte angebotene Reformulierung liegt „nun schon sehr

nahe bei D“:

55 Und werfe zudem immer das „Motivationsproblem“ auf: Warum Regeln folgen, die nur einen Bruchteil derInteressen berücksichtigen?56 Intersubjektivität meint bei Lumer „von Individuum zu Individuum“.57 Irgendwie meint Lumer, daß der Ausdruck „akzeptiert werden können“ bei Habermas auch als faktischeZustimmung in irgendeiner möglichen, z.B. stark deformierten Welt verstanden werden könnte: ein skurriles

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„Eine Norm ist genau dann moralisch gültig, wenn gilt: Wenn die von der NormbefolgungBetroffenen über die Normgeltung einen praktischen Diskurs führen würden, dann würden sienachher alle die allgemeine Befolgung dieser Norm akzeptieren und der Geltung alternativerNormen vorziehen.“

Lumer hat (abkürzend) eingesetzt „über die Normgeltung“, wo (gemäß Habermas Vorschlag)

stehen müßte: „über die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen

Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich)

ergeben,“. Damit ist die Kontroverse, die oben eröffnet wurde, zunächst einmal abgebrochen:

Welche Interessen sollen denn nun berücksichtigt werden?

Die Lesarten (b3) und (c) sprechen von Möglichkeiten („...fähig“; „...bar“), nicht von

Wirklichkeiten, was Lumer beharrlich ignoriert. Keine Formulierung von »U« besagt, daß alle

Interessen befriedigt werden müssen (wie oben unterstellt), sondern daß die Konsequenzen

der Norm bei allgemeiner Befolgung für eine wie auch immer geartete Interessenbefriedigung

von allen akzeptiert werden können. Dies wäre nur dann problematisch, wenn Akzeptabilität

mit der Erfüllung faktischer Interessen identisch wäre. Lumer sieht hier ganz richtig, daß »U«

auf Argumentationen verweist, in der die Betroffenen ihre Interessen sich wechselseitig

begründen und auf Verallgemeinerbarkeit hin prüfen, und zwar im Blick auf die Folgen einer

Norm. Ihre faktischen Interessen läßt das (wahrscheinlich) nicht unverändert, aber diese

müssen sich auch nicht komplett angleichen. Nicht alle Interessen sind verallgemeinerbar,

nicht alle müssen dies sein (vgl. die Fragen des Guten Lebens). Zur Interpretation dieser Idee

müßte mindestens die Unterscheidung von ethischen und moralischen Fragen herangezogen

werden (vgl. Habermas 1991d), was Lumer jedoch nicht tut. Ihm scheint es an dieser Stelle zu

genügen, gezeigt zu haben, daß »U« auf die Vorstellung von Diskursen angewiesen ist, um

dann mit der Kritik an »D« fortsetzen zu können.

2. Lumer untersucht nun »D«: Aus den verschiedenen Formulierungen von »D« extrahiert er

(m.E. korrekt) die Äquivalenz�� von Gültigkeit und Zustimmungsfähigkeit:

„Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmeran rationalen Diskursen zustimmen könnten, wenn die Betroffenen an einem praktischen Diskurs[über diese Normen] teilnehmen würden“��

Mißverständnis, das aber wohl nur den nächsten Schritt zwangsläufiger erscheinen lassen soll, nämlich U bereitsD enthalten zu lassen. Richtig ist, daß nicht irgendeine Akzeptanz unter beliebigen Bedingungen gemeint seinkann, sondern U als Argumentationsregel auf Diskurse verwiesen ist - U ist ohne D nicht praktikabel.58 Die Äquivalenz läßt sich bei Habermas ebenfalls nachweisen, er schwankt hier (s.o.)59 Montiert gemäß der Äußerungen Lumers auf S. 58/59

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- 63 - -

Was aber, so fragt Lumer weiter, ist „die Natur des gemeinten Gesprächs“, was also ist ein

Diskurs? Ist es ein Diskurs oder eine (Vertrags-)verhandlung? Lumer versichert sich einerseits

noch einmal, daß Verhandlungen nicht gemeint sein dürften, auch wenn dann die Teilnahme

genau der Betroffenen am kollektiven Beschluß über die Norm dann zwanglos sich ergäbe.

Andererseits, in Richtung Diskurs, kritisiert er den Mangel an materialen (Moral-)Kriterien,

speziell in »D«. Auch »U« kann nicht material verstanden werden. „Diese Kriterien müssen

konsensusunabhängig sein; denn sonst könnte man ja nicht innerhalb des Diskurses, also

schon vor einem möglichen Konsens für die fragliche These argumentieren“ (61). Im Rücken

dieser Kritik liegt ein Verständnis eines Diskurses als Wahrheitsprüfung einer These mit

klaren Gültigkeitsbedingungen, wobei „die hinzuzuziehenden Personen argumentativ

qualifiziert sein und über die im fraglichen Wissensbereich nötigen Hintergrundinformationen

verfügen“ müssen (59). Diese Interpretation übersieht das hermeneutische Element des

praktischen Diskurses sowie die Tatsache, daß genau die Betroffenen das erforderliche

Hintergrundwissen beisteuern können. Teilweise intuitives Wissen bedarf der Explikation und

Präzisierung. Allgemeine Regeln müssen auf konkrete Fälle bezogen werden - unter expliziter

Validierung der Korrektheit des Bezugs durch die Betroffenen. Grenzen der Moral, z.B.

gegenüber dem Guten Leben, liegen nicht bereits prädiskursiv fest. All diese prozeduralen

Aspekte können in einer ethischen Theorie nicht übergangen werden. Prozeduralist und

Materialist versuchen sich gegenseitig den Boden unter den Füßen wegzuziehen: Der eine

sagt, was richtig ist, läßt sich nur über das wie des Verfahrens explizieren; der andere sagt,

ohne das was ließe sich das wie nicht sinnvoll spezifizieren. Jedem von ihnen kann eine

Moralbegründung aber so nicht gelingen.��

Die finale Attacke richtet sich auf das „pragmatische Dilemma“, die von Habermas

zugestandene Unerfüllbarkeit der Bedingungen des idealen Diskurses. Erstens wären wir

nämlich gerade deshalb ohne sogenannte sekundäre Kriterien in der Praxis verloren. Doch der

Sinn von regulativen Ideen wird in diesem Einwand verfehlt – warum müssen sich sekundäre

Kriterien a-priori formalisieren und explizieren lassen?

60 Dies zeigt sich ebenfalls, wenn der Materialist das wie als ein was reformuliert: Etwa erklärt, dieDiskursregeln hätten selbst moralischen Gehalt. Dies ist nun aber unbestritten und kann auch über das vonHabermas eingestandene Maß hinausgetrieben werden (Honneth). Allerdings erschöpft sich der Sinn der Moralnicht in der Diskurs-Praxis oder der Herstellung der Diskursfähigkeit aller Teilnehmer, so daß man den Versuch,Moralinhalte komplett über die Voraussetzungen des Diskurses zu begründen, als nicht angemessen ansehenmuß: Es werden schlicht die falschen Gründe mobilisiert (z.B. wenn die Tötung Unschuldiger abgelehnt wird, dadiese ihnen die Möglichkeit der Teilnahme am Diskurs nimmt).

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- 64 - -

Zweitens erhöhe Konsens im (realen, N.G.) Diskurs nur die Wahrscheinlichkeit der

Richtigkeit, garantiere diese aber nicht. Das ist unbestritten.

Schließlich bleibe drittens die praktische Relevanz der begründeten Normen „völlig offen“, da

das (bereits erwähnte) Motivationsproblem unbeantwortet bleibt. So wie von Lumer

verstanden, muß dieses aber unbeantwortet bleiben. Die Perspektive des individuellen

Vorteils ist zumindest einer deontologischen Moral prinzipiell unangemessen.

Abschließend versucht Lumer zu zeigen (wem eigentlich?), daß Habermas’ Diskursprinzip

nicht als „einfaches Verhandlungsmodell“ im Sinne der kooperativen Spieltheorie verstanden

werden kann. Denn diese wäre dann nicht anwendbar, wenn die ungleichen

Ausgangsbedingungen der Beteiligten zur Disposition stehen können. Und wenn es keine

äußere Instanz gäbe, die die Einhaltung von Vereinbarungen erzwingen kann. Was Ersteres

angeht: Keine Theorie, die „unverhandelbare“ Vorteile gewährt, kann als Moralmodell

taugen, das sieht Lumer schon richtig. Aber ob eine Theorie, die Individuen als individuelle

Nutzenmaximierer modelliert, überhaupt als Moralmodell taugt, fragt Lumer nicht.

Insgesamt ergibt sich ein ambivalentes Bild: Richtige Punkte wechseln sich ab mit völligem

Mißverstehen. Doch im Kern hat Lumer recht: Der genaue Weg der Ableitung von »D« und

»U« sowie ihr Verhältnis zueinander sind unklar.

Im nächsten Abschnitt soll dem (von Lumer leider ausgesparten) Versuch von W. Rehg

nachgegangen werden, eine (teilweise formalisierte) Durchführung des

Begründungsprogramms zu leisten.

Versuch zur Durchführung des Begründungsprogramms permaterialer Implikation – W. Rehg (1991)

Trotz der Veröffentlichung seines Papiers bereits im Jahre 1991 und wiederholter Hinweise

darauf von Habermas selbst ist dieses in der Diskussion schlicht nicht zur Kenntnis

genommen worden. Auch Ott, von dem die m.E. avanciertesten Begründungsversuche der

deutschen Diskussion stammen (s.u.), zitiert Rehgs Arbeit nur pauschal als „verfeinerte

Begründung von »D« und »U«“ (1998: 8). Rehgs Arbeit wurde anscheinend in Habermas‘

Doktorandenkolloqium in Frankfurt diskutiert und von verschiedenen Vertretern der

Habermasschen Diskursethik kommentiert, so zumindest eine danksagende Fußnote. Es wird

eine sehr textnahe Ausführung des Begründungsprogramms versucht, ohne größere eigene

Modifikationen an den Aussagen der Diskursethik vorzunehmen. Dabei werden an einigen

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- 65 - -

Stellen interessante Präzisierungen (man könnte streckenweise auch sagen: Verrenkungen)

nötig, um die Habermasschen Formulierungen zu retten.

Rehg hält das Habermassche Begründungsprogramm für geglückt und für vergleichsweise

leicht auszuführen: Seine Strategie besteht hauptsächlich in der Erläuterung der beiden

Prämissen (Rehg 1991: 27):

„(1) what it means to discuss whether a norm ought to be adopted and (2) what those involved inargumentation must suppose of themselves if they are to consider a consensus they reach asrationally motivated.“

Aus diesen Prämissen, und aus einer „fairly innocious assumption about the context of

discourse“ (27) soll dann »U« abgeleitet („derived“) werden – per materialer Implikation, wie

Rehg von Habermas unhinterfragt übernimmt.61

Rehg ist sich der Problematik durchaus bewußt, daß Habermas‘ Begründungsprogramm

scheinbar die (unlösbare) Aufgabe stellt, eine bestimmte Moralkonzeption aus den

Präsuppositionen der Argumentation über Normen heraus abzuleiten. Er wird daher dafür

argumentieren, daß diese Konzeption so bestimmt garnicht ist, wie es zunächst den Anschein

haben mag.

Rehg konzentriert sich in seinen Ausführungen auf die Erläuterung der ersten Prämisse, die

sich bei Habermas auf den ersten Blick gar nicht als zentrale Prämisse darbietet, die aber,

gerade wenn man die Historie der verschiedenen Auflagen von Habermas‘ 1983er Text

betrachtet (vgl. Lumers Kritik), Anlaß zu einigen Unklarheiten gibt und sicher stark

erläuterungsbedürftig ist.

Zunächst nun wird rekonstruiert, warum ausgerechnet Normen im Zentrum von moralischen

Argumentationen stehen sollten (damit wird die Prämisse, daß wir über Normen diskutieren,

nicht einfach vorausgesetzt, was Rehg ja auch tun könnte, ohne seine Durchführung zu

gefährden). Er bemüht dazu, wie schon Habermas in (Habermas 1973), die Toulminsche

Argumentationstheorie. Diese sagt, daß moralische Begründungen, wenn sie eingefordert

werden, gewöhnlich in der Anführung eines „general warrant“ bestehen – eben der Norm. Die

Norm selber plausibilisieren wir – so Habermas über Toulmin hinaus – über die Angabe der

61 Rehg scheint sich ob der Ableitungsverhältnisse ziemlich sicher zu sein. Neben der Formulierung „derived“(allein auf den ersten beiden Seiten mehrmals verwendet) finden sich auch die Formulierungen „materialexplication“ (30), „the argument for »U« might be reconstructed“ (28) oder „move, with reasonable chances forformal validity, from an elaboration of the two premises, entered as assumptions, to a conclusion I take asequivalent to »U«“ (28).

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- 66 - -

Folgen und Nebenfolgen der Normenbefolgung im Hinblick auf akzeptierte Bedürfnisse, denn

Normen regulieren legitime Chancen auf Bedürfnisbefriedigung (wobei interpretierte

Bedürfnisse den betreffenden– jedoch immer wahrhaftigen und kritikoffenen – Individuen

privilegiert zugänglich seien), wie Rehg die Habermasschen Überlegungen resümmiert. Auch

die Wahl des geeigneten Sprachsystems trägt zur unverzerrten Bedürfnisartikulation bei, ist

also nicht der Kritik zu entziehen.

In dieser Konkretion ist die Erläuterung der Habermasschen Ideen für den Begründungsgang

aber m.E. nicht nötig. Denn worauf es im folgenden ankommt, ist vorerst nur, daß Normen

Konsequenzen haben, an denen wir interessiert sind und über die wir ihre Gültigkeit oder

Ungültigkeit begründen würden. Daß ausschließlich Normen im Zentrum einer Diskursethik

stehen müssen, ist durch den Verweis auf Toulmin natürlich nicht gesagt. Wie Rehg aber

richtig feststellt, ist für Habermas der zentrale Ausgangpunkt derjenige sozialer Koordination

und damit auch derjenige der Lösung potentieller Konflikte zwischen Individuen in einem

Sozialverband. Seine Frage ist, wie im Konfliktfall ein legitimes Einverständnis über das

zukünftige Miteinander zustandekommen kann, und seine Beobachtung die, daß der Verweis

auf eine relevante (Hintergrund-)Norm bzw. die Konstruktion einer solchen Norm dies in

geeigneten Argumentationen leisten.

Der nun folgende zentrale Punkt in Rehgs Erläuterungen betrifft die Begriffe der

Konsequenzen und der Interessen, von denen in »U« die Rede ist. Habermas‘ Position scheint

in der angelsächsischen Diskussion vorwiegend als Regelutilitarismus mißverstanden worden

zu sein (30), und auch Lumers soeben referierte zweite These legt die Vermutung eines

solchen Mißverständnisses nahe.

Konsequenzen einer Norm, so Rehg (33), fallen in direkter wie in indirekter Hinsicht an,

wobei die erste Hinsicht den deontologischen, die zweite den konsequentialistischen

Intuitionen entgegenkommen würde. R. Hare habe nämlich die direkten Konsequenzen von

Normen treffend herausgearbeitet:

„moral ‚oughts‘ always contain a general – hence universalizable – description of the relevantrespects under which one is ready to prescribe the given action as something one ought to do.“(33)

Daher gelte einerseits:

„the ‚consequences of a norm for the satisfaction of interests‘ are, at a semantic level, simply theaction constraints defined by the norm […].“ (34)

Andererseits sei das natürlich noch nicht alles:

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„One must also recognize that a norm has broader ‚consequences and side-effects‘ is so far as istgeneral observance has a variety of direct and indirect effects – more or less foreseeable on thebasis of empirical knowledge – on the form and degree of social order. Following Hegel’s critiqueof Kant, Habermas takes such consequences also as morally relevant.“ (34)

Bereits von K. Günther wurden, analog zu Rehgs Unterscheidung, „kausale“ und „normative“

Folgen unterschieden (Günther 1988: 47); Rehgs Reformulierung beugt hier

Mißverständnissen vor.

Rehg erläutert den Interessenbegriff im moralischen Diskurs so (29):

„[…] such an argumentation process should not be limited to the discovery of overlapping areasamong private interests. […] it should also allow for their creation.“

Ansonsten gerate die Konsensfindung zu sehr in die Nähe einer Kompromißbildung, „for

which no moral argumentation is necessary, only the clarification of of interest positions and

the agreement to mutual limitation – here areas of overlapping goals are merely happy

coincidences where limitation happens not to be necessary“ (29, mit Verweis auf Scheit 1987:

33-37). Demgegenüber knüpfe die Diskursethik an G. H. Meads Idee des „ideal roletaking“

an und verlange „that participants take an interest in each others’ interests, in so far as all

have to accept the norm in view of its consequences for each. This acceptance, moreover,

must be based solely on the convincing power of the better argument.“ (30, mit Verweis auf

Habermas 1981: II 92-111)

Nun müssen die Konsequenzen über Bedürfnisse auf Interessen bezogen werden, damit die

Habermassche Terminologie plausibel erscheint. Dabei scheint der Zusammenhang zwischen

Interessen und Bedürfnissen nicht eindeutig: Einerseits spricht Rehg von „interests (in the

form of needs)“ (30), andererseits sagt er auch (35):

„Bedürfnisnatur finds expression, and becomes an interest understandable to others, only throughcultural values deposited in traditions of need-interpretations.“

Wenn Interessen nämlich (u.a. qua Werte) interpretierte Bedürfnisse sein sollen, eine m.E.

plausible Habermas-Lesart, dann können Interessen nicht in Form von Bedürfnissen auftreten

– wahrscheinlich nur ein Lapsus von Rehg.62 Normen regeln jedenfalls, welche Interessen,

und damit auch: welche Bedürfnisse bevorzugt zu befriedigen sind. Dies sind ihre (direkten)

Konsequenzen, zu denen sich die indirekten Konsequenzen gesellen.

62 Interessanterweise treten hier Evaluationen in anscheinend anderer Funktion auf als in Fragen des „GutenLebens“, die ja nicht gleichermaßen konsensfähig sind. Oder sind dieselben Evaluationen gemeint?

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Die erste Hauptprämisse

Nach Einführung dieser Unterscheidungen kann nun die erste Habermassche Prämisse (36)

„(P1) We understand what it means to discuss hypothetically whether norm of action ought to beadopted.“

erläuternd umformuliert werden. Dazu benötigt man eine Definition des Begriffs ‚Norm‘ (a)

und muß etwas über den Diskurs über solcherart definierte Normen sagen (b).

a. Aus dem Vorherigen63 lasse sich, so Rehgs erster Schritt, folgende Definition einer „social

norm“ gewinnen:

„(P1.1) A social norm is to be understood as a shared behavioral expectation whose generalobservance:

(a) has the immediate consequence of coordinating action in potential conflict situations byregulating the satisfaction of the relevant interests of those involved (in light of a valueor values the norm defines as having priority for all);

(b) has the further consequences and side-effects of contributing to (or at least nothindering) the formation of a specific social order.“

An dieser Erläuterung gibt es einiges zu kommentieren: Handlungsnormen werden zu

sozialen Normen, das legt die Frage nahe, worin diese sich unterscheiden (und, ob

Moralnormen noch einmal eine andere Klasse von Normen bezeichnen). Die „general

observance“ wurde kommentarlos in die Definition hineingeschrieben und die Problematik,

daß Normen u.U. nicht von allen befolgt werden, ebenfalls eine Nebenfolge der Norm, damit

ausgeblendet. Normen sollen nun offenbar prioritäre Werte definieren, was eine recht enge

Verbindung von Werten und Normen nahelegt.

Die indikative Formulierung der Definition („has the consequences“) bezeichnet akzeptierte,

legitime soziale Normen. Neutraler wäre eine Definition, die zumindest auch für

Normvorschläge brauchbar ist und die auch illegitime Normen noch Normen sein läßt.

b. Nun müsse man angeben, was das Thema eines Diskurses zur Begründung dieser Normen

sei. Folgende Überlegung (nach Habermas 1973) sei hier zwar sehr plausibel (37):

„if norms are geared to consequences defined in (P1.1), it seems reasonable to justify them byreferring to just that consequences.“

Diese Konsequenz (37):

63 Den Überlegungen zu direkten und indirekten Konsequenzen, der Konfliktregelung per Normen und demBezug von Normen auf Interessen/Bedürfnisse

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„(P1.2) Therefore, if the members of a community are to reach agreement on a norm throughargument, they must convince each other that a given behavioral expectation selectsinterest-regulating values having priority for all. If necessary, they must also show that thenorm’s general observance will be favorable to the coordinated satisfaction of interestsnecessary to a desirable social order.“

folge aber nur scheinbar aus (P1.1), denn es könne auch indirekt für eine Norm argumentiert

werden, etwa „by the proper interpretation of a sacred text, or by reading entrails or the stars,

and so on“ (37). Die Prämisse (P1.1) lasse dies zu, sie gebe z.B. auch keinen egalitären Gehalt

vor, da „priority for all“ auch asymmetrische Rollenerwartungen zulasse – dies folge erst aus

(P2). Man tue also gut daran, schlicht zuzugeben, daß (P1.2) folgendes unterstelle (38):

[…] a modern pluralist society beset by conflicts of interest whose normative regulation can beconvincingly based – should one decide for argued solutions at all – only on direct argumentationover which interest or value is to have priority in situations of a given type. Here one simplyassumes that arguments over entrails, metaphysics, sacred texts, and so on, no longer have force inthe present context. Grounding this assumption falls not to a derivation of »U« but rather to atheory of modernity informed by a theory of communicative action.

Diesen Gedankengang halte ich für nicht schlüssig. In einer pluralistischen Gesellschaft

werden doch gerade alle möglichen Argumente zugelassen, mit denen die Menschen sich

jeweils von der Güte ihrer Gründe überzeugen – auch metaphysische, religiöse usw, also

„indirekte“. Zumindest interpretieren diese Menschen aber ihre Bedürfnisse mittels derselben.

Entweder sie dürfen ihre (und auch die fremden) Interessen so interpretieren, oder sie werden

eine andere Normdefinition als (P1.1) bevorzugen, nämlich eine, an die ihre bevorzugten

Gültigkeitskriterien Anschluß finden. Schließlich muß Rehg schlichtweg annehmen, daß

solche Gründe ihre Kraft verloren haben. Richtig scheint mir, daß solche Gründe ihre Kraft

mehr und mehr verlieren.

Offenbar hält Rehg die Definition (P1.1) aber für so allgemein, daß verschiedene (etwa auch

religiöse) Gültigkeitskriterien anschlußfähig sind. Das geht nur, wenn man diese so liest, daß

z.B. in religiösen Kontexten sowohl die Interessen als auch die prioritären Werte religiös

interpretiert werden – und damit auch (P1.1) zugrundegelegt werden könnte. Rehgs Idee, in

einer pluralen Gesellschaft könne man irgendwie „direkt“ auf Konsequenzen für Interessen-

bzw. Bedürfnisbefriedigung zu sprechen kommen, kann in einer Weise verstanden werden,

die sicher abwegig ist: Sind diese doch immer in bestimmter Weise interpretiert. Was Rehg

vielleicht meint, ist, daß aus niemandes Sicht eine besondere (etwa religiöse) Instanz diesen

Interpretationen immer zugrundezuliegen hat.

Die spezifisch modernen Züge der Norm-Definition (P1.1) sind vielmehr: Es geht

(ontologisch) um gemeinsam geteilte Verhaltenserwartungen (und nicht um göttliche Befehle,

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Sätze einer Schrift o.Ä.), d.h. Handlungsnormen können nicht einer anderen Ontologie

überstellt werden als derjenigen sozialer Normen. An diesen Erwartungen sind – sonst wären

sie ja nicht Teil der Definition – die Konsequenzen für Bedürfnisse/Interessen (und Werte)

und soziale Ordnung besonders wichtig. Diese Bedürfnisse/Interessen (und Werte) sind

Bedürfnisse/Interessen (und Werte) von Individuen, wobei diesen Individuen diese

Bedürfnisse/Interessen je privilegiert zugänglich sind. Dabei können die Individuen ihre

Interessen auch religiös, metaphysisch oder sonstwie artikulieren – aber niemand kann das für

sie. Der Startpunkt (P1.1) ist subjektivistisch und individualistisch – und das ist mitnichten

weltanschaulich neutral oder „direkt“.

Die (implizite) These von (P1.2) betrifft nun das, was an einer Norm zu diskutieren ist, wenn

ihre Richtigkeit festgestellt werden soll. Daß dies, wenn eine Norm definiert ist wie in (P1.1),

ihre Konsequenzen (etc.) sind, liegt zwar nahe, ist aber tatsächlich logisch nicht notwendig,

denn die geteilten Verhaltenserwartungen können auch anders motiviert sein als im Hinblick

auf diese Konsequenzen (etc.):

„The basis on which norms are justified – hence come to be seen as legitimate expectations bythose subject to them – varies from epoch to epoch.“ (37)

Wie oben ausgeführt, würde man dann die Definition wohl als nicht besonders glücklich

bezeichnen müssen, da etwas völlig Nebensächliches Aufnahme gefunden hat. Auch (und

gerade) in einer „modern pluralistic society“ werden wir indirekte Argumente vorfinden64 –

und was dann?

Anders als Rehg glaube ich also nicht, daß (P1.1) von einer „semantic nature“ ist (38), und

eine große, modernitätstheoretisch zu überbrückende Kluft zu (P1.2) besteht. Ich glaube

vielmehr, daß (P1.1) und (P1.2) eng zusammenhängen, und daß beide auf starken

modernitätstheoretischen Annahmen beruhen.

Die zweite Hauptprämisse

Als zweite Prämisse (P2) zitiert Rehg zunächst die Habermassche Kennzeichnung der idealen

Sprechsituation (s.o.), die die Öffentlichkeit des Diskurses sowie Gleichberechtigung und

Zwanglosigkeit sicherstellen soll und reformuliert diese dann (ohne Erläuterung der

Änderungen) wie folgt:

64 Es gibt nur einen Grund, aus dem in einer pluralistischen Gesellschaft die Prämisse (P1.2) ohne Alternativewäre (wie Rehg annimmt): Wenn man das Adjektiv „pluratistisch“ im Sinne der politischen Theorie desPluralismus (Fraenkel) verstünde. Aber das scheint Rehg nicht zu beabsichtigen.

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„(P2Rehg) Whoever aims to justify a norm discursively is commited to a discourse that (a) is opento all competent speakers on the issue; (b) provides its participants with symmetric chancesto introduce and problematize assertions, and to express their needs and wishes; and (c) issubject to neither internal nor external coercion.“ (39)

Im Vergleich zeigt sich, daß nun (a) nicht mehr die Sprach- und Handlungskompetenz zur

Zulassung genügen, sondern Kompetenz „on the issue“ gefordert wird65; (b) Symmetrische

Chancen zu gewährleisten sind und „wishes“ statt „attitudes and desires“ gesetzt wurde und

(c) die Zwanglosigkeit nicht nur auf (a) und (b) beschränkt sein soll.

Dadurch soll ausgedrückt werden, was „participants must suppose of each other if they are to

consider their consensus a rationally motivated one“ (39). Wenn (P2) nicht einmal

annäherungsweise erfüllt ist, werde der „rationally binding character of its results“ fraglich.

„That is, one can hardly consider the acceptance of a norm based on an insight into the norm’sintrinsic validity if its justification depends on the systematic exclusion of certain viewpoints andpossible objections – whether such exclusion is based on external force, denying voice to thoseexpected to obey the norm, or the participants‘ own distorted self-perceptions.“ (39/40)

Hier ist das Kernproblem der Ausschluß von Argumenten („viewpoints“ und „objections“),

und nicht, wie in (P2), von Personen. Dies deckt sich mit Rehgs Intention, „competence on

the issue“ zur Teilnahmevoraussetzung zu machen, müßte aber weiter erklärt werden (vgl. die

u.g. Kritik von A. Wellmer).

Die Ableitung von »U« in zehn Schritten

Rehg kann nun sein Vorhaben abschließen, indem er in zehn Schritten zu »U« fortschreitet

(40/41):

„(1) Assume [(P1.1), d.h. „a norm is a shared behavioral expectation whose GOC“66]

(2) Assume the members of a pluralistic group strive to arrive at a norm (regulating potentialinterest conflicts) through argument, i.e. on the basis of good reasons.

(3) Assume [(P2Rehg)].

(4) Therefore, the members of this group strive for a norm supportable by reasons which eachaffected person can accept as good, i.e. reasons surviving after each has been free toquestion them (1,2,3).“

65 Dies ist eine erhebliche Veränderung, wird doch gerade unter Verweis auf mangelnde Sachkompetenzkritischen Personen und Betroffenen die Teilnahme am Diskurs verweigert. Gerade Sachkompetenz läßt sichjedoch (im Diskurs) aufbauen, ist also im Prinzip kein Ausschlußgrund.66 Mit GOC der Abkürzung für den Rest der Formulierung aus (P1.1): „general observance (a) has the immediateconsequence of coordinating action in potential conflict situations by regulating the satisfaction of the relevantinterests of those involved (in light of a value or values the norm defines as having priority for all); (b) has thefurther consequences and side-effects of contributing to (or at least not hindering) the formation of a specificsocial order.

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Was hierbei verblüfft, ist die Stärke der Prämissen. Prämisse (1) wird überhaupt nicht

verwendet, und (2) führt den Normbegriff nocheinmal verkürzt ein. Prämisse (3) scheint

ebenfalls kaum ausgeschöpft. Prämisse (2) macht sehr starke Annahmen: Warum überhaupt

eine „pluralistic group“ einführen? Dieselbe Schlußfolgerung (4) würde für jede „group“ aus

(2) gelingen. Und was sind „good reasons“? Dies wird anscheinend erst im Nachsatz von (4),

also ungeschickterweise in der Konklusion, erläutert: „reasons surviving after each has been

free to question them“. Aber ist dies wirklich in (2) schon vorausgesetzt, was fügt dann (4)

der Prämisse (2) noch hinzu?

Betrachten wir, wie Rehg diesen Argumentationsschritt zusammenfasst (41). Der wichtigste

Fortschritt sei der Übergang von der „formal universality“ in [P2a] zur „more substantive one

required for »U«“ in (4). Die Konklusion (4) folge so:

„if (1) a norm is a general rule we legitimately expect each other to respect, and if (2) we decide tobase such an expectation on our ability to convince in argument anyone subject to, or affected bythe expectation, then (3) we not only commit ourselves to treating as equal dialogue partners inargument [i.e., ] not just a formally defined universe of ‚competent speakers‘, but, moresubstantively, (4) we commit ourselves to a discourse with all those affected by the norm.“

Jetzt ist (3K)67 Konklusion, und nicht mehr eigenständige Prämisse. Dies liegt daran, daß [P2]

hypothetisch formuliert ist, und ihr Wenn-Teil in (2K) bereits angenommen wird („convince in

argument“). Diese Kurzfassung scheint viel plausibler. Doch was heißt „commit ourselves to

a discourse“? Hieße dies, einen solchen Diskurs auch wirklich zu führen, wäre es mehr als die

bloße „ability“ in (2K). Und die Rehg so wichtige Substanzialisierung wird in (2K) bereits

explizit hineingesteckt! Dabei ist doch der Übergang von jedem „sprach- und

handlungsfähigen Wesen“ (P2Habermas) zu „allen Betroffenen“ logisch leicht möglich, wenn

alle Betroffenen auch sprach- und handlungsfähige Wesen sind (was Rehg ohnehin zu

unterstellen scheint).

Rehg zieht nun noch eine offensichtlich falsche Schlußfolgerung:

„If this reasoning is sound, then the universality of »U« requires two premises beyond thepragmatic rules of argument [P2], i.e. a semantic notion of a social norm and a description of amodern pluralistic situation.“ (41)

Hinreichende Bedingungen sind nämlich nicht immer auch notwendige Bedingungen: Daß

sich »U« (wie allerdings noch zu zeigen sein wird), aus irgendwelchen Prämissen zusammen

mit [P2] ableiten läßt, heißt nicht, daß sie sich nur so ableiten lassen (d.h. notwendig sind).

67 Hier und im folgenden bezeichne ich die Prämissen der Kurzfassung mit dem Index K.

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Neben diesem formalen Einwand gibt es auch inhaltliche Bedenken: Denn gerade die

„universality“ von »U« erfordert doch nichts als einen Teil von (2K).

Nun werden zwei Prämissen hinzugefügt, die den Inhalt des Diskurses näher bestimmbar

machen sollen, was – eine pluralistische Gesellschaft wurde ja schon angenommen – (P1.2)

ins Spiel bringt:

„The idea is that if a norm is understood as geared to the specific types of consequences defined in(1), then an argumentative search for a suitable norm must aim at finding that which will achievejust those consequences.“ (41)

Danach soll folgen:

„(5) One can accept a norm on the basis of good reasons if, and only if, one is rationallyconvinced that [NGOC] (1, 4).“ (ebd.)68

In (P1.2) war aber keine Äquivalenz formuliert, sondern eine Implikation: „if the members of

a community are to reach agreement on a norm through argument, they must convince each

other […]“ (s.o.). Und anders als in (4) ist in (5) keine Bezugnahme auf „those affected“ mehr

zu finden. Die Fragen, ob »U« oder »D« notwendige oder auch hinreichende Bedingungen

für die Gültigkeit von Normen bezeichnen, und ob die Zustimmung gerade der Betroffenen

erforderlich ist, wird bei Rehg gar nicht erst diskutiert. Entweder er hat die Verschiebung gar

nicht bemerkt, oder er hält sie für irrelevant.

Nun werde (5) näher ausgeführt im Lichte dessen, was eine „argued mutual behavioral

expectation“ mit sich bringt:

„(6) One is rationally convinced that a value has priority for all if, and only if, one rationallyholds that an orientation according to that value may be expected of oneself by others, andof others by oneself (= reciprocal behavioral orientation).“

In dieser Formulierung wird aber nicht ganz (5), sondern nur ein Teil von (5a) näher

ausgeführt; der erste Ausdruck der Äquivalenz (6) folgt sicher material (per „only if“) aus

dem zweiten Ausdruck der Äquivalenz (5), da die Überzeugung, daß NGOC die Priorität

eines konfliktregulierenden Werts voraussetzt, nennen wir diese Beziehung (5*). Die geteilte

(„shared“) Verhaltenserwartung aus (1) wird in (6) stillschweigend zu einer wechselseitigen

(„mutual“), es wird also (unterderhand) ein Reflexionsmoment eingebracht.

68 Mit der von mir eingeführten Abkürzung NGOC = „that the norm’s general observance (a) coordinates actionaccording to an interest-regulating value having priority for all; (b) has acceptable consequences for socialorder“. Diese Formulierung ist nicht wörtlich identisch mit „the norm’s GOC“ (wobei GOC die in (1)eingeführte Abkürzung für den entsprechenden Teil aus (P1.1) ist. Da Rehg in (5) aber „just thoseconsequences“ aus (1) bezeichnen will, halte ich NGOC für eine bloße Abkürzung von „the norm’s GOC“.

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Schritt (6) könne aber immer noch (wie oben angemerkt) Normen zulassen „defining rights

and duties unequally“ (41). Die Argumentationstheorie aus „Wahrheitstheorien“ (Habermas

1973) soll uns hier „einen Schritt weiter“ bringen, mit ihrer Hilfe könnten wir sagen:

„(7) One rationally holds a reciprocal behavioral orientation only if one supposes that one’sperception of the interests of both oneself and of others is not distorted by the language,conceptual framework, or notion of social order one holds, i.e. that such perception ismediated by an appropriate language, etc.“

Dies meint selbstverständlich nicht eine „vollkommene Transparenz“ von Interessen o.Ä.,

sondern (mit Verweis auf Benhabib 1990; Benhabib 1992a) (42):

„One does better to read this as a readiness to examine critically those specific concepts,assumptions, stereotypes, paradigm examples, and so forth – in short, any of the thematizableelements upon which arguments are based – which at a given time are beginning to appearproblematic.“

Dennoch sehe ich nicht, wie wir hierdurch gleiche Rechte und Pflichten eingeführt hätten

(verstanden so, daß nicht eine Herrscherin andere Rechte und Pflichten haben könnte als die

Untertanen, und sowohl die Herrscherin als auch die Untertanen dies in Ordnung finden).

Rehg wird dieses Problem aber bis zum Ende nicht lösen (er braucht es m.E. auch nicht zu

lösen; vgl. die Bemerkungen zu Otts Begründungsversuch), denn sehen wir weiter:

Bis hierher sei die „rational conviction“ der Prämissen (5,6,7) monologisch expliziert worden.

Erst im nächsten Schritt erreichten wir eine dialogische „full reciprocity between autonomous

subjects“ und damit eine genuine Intersubjektivität, wenn wir nämlich (5,6,7) „unter den

Bedingungen von (3) zusammenfassen“ (42):

„(8) But, since each can question claims in light of his or her interests, one can suppose one’sperception of interests undistorted only if one can convince others, in terms they considerappropriate, that [NGOC] (3,5,6,7).“

Rein logisch ist (8) aber nicht äquivalent (5,6,7), auch wenn (3) – abgekürzt im „since …“-

Nebensatz – den Übergang von „one“ zu „they“ möglich macht, ja, (8) folgt nicht einmal aus

(5,6,7), denn die rechte Seite von (7) ist nur notwendige Bedingung des Vorstehenden, und

keine hinreichende für irgendwelche Folgerungen.69

69 Es gilt bis hierher, mit LS(n) die linke und RS(n) die linke bzw. die rechte Seite des Ausdrucks (n)bezeichnend:(5) LS(5) Ù RS(5);(5b) RS(5) Æ LS(6);(6) LS(6) Ù RS(6);(7) LS(7) [=RS(6)] Æ RS(7);(8) LS(8) [=RS(7)] Æ RS(8)

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- 75 - -

Damit ist Prämisse (3) aber noch nicht voll eingebracht, denn „one must suppose a rational

conviction of others“ […]. Thus the referent of ‚one‘ [in (6,7)] now becomes precisely those

others originally defined as addresses.“ (43) Und damit:

„(9) But one can suppose their terms appropriate only if one is convinced that those terms do notdistort their perceptions of interests, both theirs and one’s own, i.e. only if they can show toone, in one’s own terms, that [NGOC]. (6,7,8)“

Nun könnten die letzten beiden Prämissen zusammengebracht werden (ebd.):

„(10) Therefore, a norm is reached on the basis of good reasons, and a rational consensus therebyattained, if and only if (a) each of those affected can convince the others, in terms they holdappropriate for the perception of both their own and other’s interests, that [NGOC], and (b)each can be convinced by all, in terms she or he considers appropriate, that [NGOC].[(8,9)]“

In (10a) taucht die Betroffenenklausel wieder auf, die von (4) nach (5) verlorengegangen ist,

allerdings nicht in (10b). Dort ist sie aber zu ergänzen, denke ich, denn sonst wäre ja keine

Reziprozität erreicht. Schon auf den ersten Blick sieht man, daß mehr als (8) und (9)

erforderlich sind, um (10) zu erhalten: Schließlich soll die Konjunktion zweier notwendiger

Bedingungen (die Konjunktion der rechten Seiten von 8 und 9) von irgendetwas notwendig

und hinreichend für irgendetwas sein.70

Über eine weitere Formalisierung der beiden Seiten jedes Argumentationsschrittes läßt sich

die Lückenhaftigkeit von Rehgs „Begründung“ klar erkennen. Die Indizes i und n

kennzeichnen „one“ bzw. „they“.

(5) Ai � RCi that NGOC

(5b) rCi that NGOC � rCi that VP

(6) rCi that VP � rHi RBO

(7) rHi RBO � Si ( Pi ( I ) not distorted by Ti )

(8) Si ( Pi ( I ) undistorted) � ( Ci,n ( NGOC in Tn) ∧ Cn (Tn appropriate) )

Hier schlage ich folgende Gleichsetzung vor:

(G) „Pi ( I ) undistorted“ = „Pi ( I ) not distorted by Ti“, und damit:

(8G) Si ( Pi ( I ) not distorted by Ti) � ( Ci,n ( NGOC in Tn) ∧ Cn (Tn appropriate) )

70 Es gilt hier (vgl. die letzte Fußnote):(8) LS(8) [=RS(7)] Æ RS(8);(9) LS(9) Æ RS(9);(10) LS(10) Ù ( RS(8) ∧ RS(9) );Direkt läßt sich aus (5,6,7,8,9) nur ableiten:

( LS(5) ∧ LS(9) ) Æ ( RS(8) ∧ RS(9) )

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- 76 - -

(9) Si ( Tn appropriate ) � Ci ( Pn (I) not distorted by Tn)

(9b) Ci ( Pn (I) not distorted by Tn) � Cn,i ( NGOC in Ti)

(10) N � Ci,n ( NGOC in Tn) ∧ Cn,i ( NGOC in Ti)

Nun zur Interpretation von (10): Diese bringe eine volle moralische Reziprozität, jedoch

keinen schlechten Zirkel, zum Ausdruck (45):

„I can be rationally convinced of the worthiness of a norm only if I suppose that others arerationally convinced, which in turn depends on their supposing I am rationally convinced. If this isnot to be a vicious circle, then rational conviction must be something we arrive at together – insome sense, simultaneously.“

Die beiden Teile des Reziprozitätsverhältnisses aus (10) können, so Rehg (44), interpretiert

werden als (10a) Solidaritäts- und (10b) Gerechtigkeits-Prinzip insofern, als einerseits (in

10a) „individuelle Ansprüche auf moralische Objektivität einem Intersubjektivitätstest

unterzogen“ werden müßten – wobei andere einem dabei helfen, diese Ansprüche zu

formulieren – und andererseits (in 10b) die „Notwendigkeit“ zum Ausdruck komme, daß „ein

gültiger Konsens auf der Zustimmung jedes Individuums im Lichte seiner Interessen“ beruht.

Eine ähnliche Dynamik interpretierte las bereits K. Günther an »U« an: Die „Interessen jedes

einzelnen“ stünden dort gegen das „von allen Betroffenen gemeinsam“; dies bedeute der

intersubjektive Rollentausch (Günther 1988: 48).

Entgegen Rehgs Aussage glaube ich aber nicht, daß die Habermassche Doppelung von

Gerechtigkeit und Solidarität, die die Diskursethik schützen soll, dadurch schon ausreichend

zum Ausdruck kommt (vgl. Habermas 1986). Solidarität zielt auf das Wohl der anderen

(gegenüber der Gerechtigkeit, die auf die Freiheit zielt), konkret und in Gemeinschaft, und

dennoch nichtpartikular. Wohl und Freiheit sind, wegen ihres wechselseitigen

Voraussetzungsverhältnisses,71 komplementäre Aspekte einer Anerkennung reziproker

Anerkennungsverhältnisse, eines gemeinsamen intersubjektiven Lebenszusammenhangs.

Jedenfalls aber, und in diesem Punkt liegt Rehg sicher richtig, werde der „moral point of

view“ nun gerade nicht als „impartial standpoint towards the various interests and desires at

stake in a conflict situation“ beschrieben (einen solchen Standpunkt schien auch Lumer gegen

die Diskursethik als einzig adäquaten Moralbegriff einfordern zu wollen), sondern:

71 Nur in Freiheit läßt sich das (eigene oder kollektive) Wohl bestimmen und als authentisch erleben; ohne Wohlaber keine Freiheit (sondern Notwendigkeit, d.h. Selbsterhaltungszwang). Diese Einsicht findet sich bereits beiKant, der eine abgeleitete Pflicht zur Wohlfahrt formulierte (s. Fußnote 146).

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„»U«, on the other hand, arrives at such impartiality only by way of a reciprocity defined in termsof the argumentative role-taking given with the need to find arguments convincing in the languageof the other participant.“ (44)

Rehgs Vorschlag tritt mit einem hohen Anspruch auf Vorlage einer wenigstens semi-formalen

Begründung auf. Er verfehlt diesen Anspruch in beinahe jedem Schritt. Dennoch gelingen

ihm einige Klärungen, so z.B. bezüglich der Konsequenzen, der Interessen, dem Normbegriff

und der Intersubjektivität wechselseitiger Überzeugungen. Sollte man sich nun die Mühe

machen, seine Begründung zu korrigieren? Dies hieße aber, in der Formalisierung die Lücken

der Begründung in Hilfsprämissen überführen oder Begründungsziele abzuschwächen. Im

folgenden will ich einige Positionen darstellen, die überzeugend für eine solche

Abschwächung argumentieren. Danach könnte wieder zu Rehgs Versuch zurückgekehrt

werden, doch wird dies nicht erforderlich sein, da Ott in seinem Begründungsversuch von

(1998) die überzeugenderen Elemente von Rehgs Begründung aufnimmt und auch die

„materiale Implikation“ als Schlußform hierbei zurecht verabschiedet.

Daß eine materiale Implikation nicht zur Moralbegründung geeignet ist, läßt sich leicht

einsehen: Wird die Moralbegründung verstanden als logisches Folgern aus Prämissen, dann

(und nur dann) läuft sie in das Albertsche Trilemma (Albert 1980; dann können die

Konklusionen nur gleich viel oder weniger normativen Gehalt haben wie die Prämissen.

Weiterhin können die Konklusionen gültig sein, ohne daß die Prämissen gültig sind (ex falso

quodlibet); vergegenwärtigt man sich die Prämissen von Rehg oder auch (weiter unten) von

Ott, wäre dies völlig absurd. Und wie rechtfertigt man schließlich die Richtigkeit der

Prämissen, speziell ihre normativen Gehalte? Eine materiale Implikation führt ja immer nur

auf Wenn-Dann-Aussagen, d.h. sie stellt nur eine necessitas conseqentiae, nicht aber eine

necessitas consequentis dar (Hubig 1995a) oder anders formuliert, es läßt sich nur die „Daß-

Geltung“ von Präsuppositionen erweisen, nicht die „Ob-Geltung“ (Niquet 1994; dazu s.u.).

Versuch einer Begründung der Diskursethik per pragmatischerImplikation – K. Ott (1996)

K. Ott (Ott 1996b; Ott 1997; Ott 1998) hat bereits mehrere Anläufe genommen und eigene

Vorschläge gemacht, die diskursethischen Prinzipien »D« (in der Fassung von Habermas

1992; s.o.) und »U« (in der Fassung von Habermas 1983a; s.o.) zu begründen. In diesen

Vorschlägen hat u.a. die umfängliche, aus Sicht des kritischen Rationalismus vorgebrachte

Kritik von H. Keuth am Begründungsgang der Diskursethik Berücksichtigung gefunden

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(Keuth 1993).72 Die Revision gegenüber Habermas 1983a betrifft sechs Punkte. Im folgenden

jeweils zunächst meine Meinung dazu in Thesenform, dann eine Erläuterung dieser Punkte.

Die Beziehung zwischen Prämissen und Konklusion (Moralprinzip):pragmatische Implikation

These: Die Kennzeichnung der Implikation als »pragmatisch« ist ein Fortschritt, aber so wie

von Ott eingeführt taugt die PI nicht zur Moralbegründung.

Die Idee der Habermasschen Diskursethik (DE) besteht, so eine Rekapitulation in meinen

eigenen Worten, in der rekonstruktiven Gewinnung normativer Einsichten aus einer allgemein

üblichen und privilegierten (weil faktisch unverzichtbaren) Praxis: dem

verständigungsorientierten kommunikativen Handeln (vgl. erstes Kapitel). Dieser Typ von

Handlungen, konstitutiv für eine Gesellschaft oder soziale Gemeinschaft, setzt eine

Übereinstimmung der Handelnden in gewissen Hintergrundüberzeugungen zunächst voraus.

Problematisiert ein Handelnder diese Überzeugungen, müssen sie ihm plausibel gemacht

werden können; für Wahrheitsfragen und solche der normativen Richtigkeit geschieht das in

Diskursen. Der Diskurs ist der Problem-Modus des kommunikativen Handelns, in dem diese

normalerweise als erfüllt angesehenen Geltungsansprüche dann explizit eingelöst werden.

Der Weg zur Ableitung einer Diskursethik ist: Die (immer schon) kommunikativ Handelnden

an die in diesem Handeln vorausgesetzte Erwartung erinnern, daß sie angesichts von Kritik in

einen Diskurs eintreten und eine strittige Norm begründen könnten. Dabei wird von der

kommunikativen Praxis (KP) auf ihre notwendigen Voraussetzungen rückgeschlossen.

Andererseits erfordert die Darstellung der Begründung auch eine progressive Richtung: Von

den (rekonstruktiv als gültig ausgewiesenen Prämissen) zum Moralprinzip.

Daher folgende Hypothese, die bei der Analyse der Ottschen Ausführungen hilfreich sein

wird: Es gibt (erst einmal) zwei Begründungsrichtungen, eine rekonstruktive und eine

progressive. Damit gibt es möglicherweise auch zwei unterschiedliche Implikationen und (im

Rahmen der Begründung) einen Unterschied zwischen den Konklusionen der einen und den

Prämissen der anderen Richtung.

Die naheliegende erste Frage ist: wie lassen sich die Übergänge formal kennzeichnen?

72 Deren Wege und Irrwege brauchen in dieser Arbeit daher nicht noch einmal verfolgt werden.

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In Habermas’ Schrift von 1983a ist von einer „materialen Implikation“ (MI) die Rede. Diese

gibt, so Ott (1996b: 14), nur die „Minimalbeziehung zwischen zwei Propositionen“ an: sie ist

bekanntlich immer wahr, es sei denn der Vordersatz ist wahr und der Nachsatz falsch. Anders

bei der „strikten Implikation“: Hier entspricht der Wahrheitswert des Nachsatzes immer dem

des Vordersatzes. Für den Beweiszweck scheinen Ott die Wahrheitsbedingungen der MI

ungeeignet, da diese auch dann wahr ist, wenn Vorder- und Nachsatz beide falsch sind. Das

größere Problem (und der Wahrheits-Unterschied zur SI) bleibt bei Ott undiskutiert: Daß die

MI auch dann wahr ist, wenn aus Falschem auf etwas Wahres geschlossen wird. Ob die

Wahrheitsbedingungen der SI besser passen, läßt Ott (1996b) offen; wahrscheinlich wäre

hierzu zu sagen (vgl. Ott 1997: 62/63): Daß die gesuchte Implikation keine SI sein kann, liegt

an der Definition der SI als Inklusion („entailment“) des Nachsatzes im Vordersatz: Eine so

strikte, begriffliche Verbindung besteht nämlich nicht bei einer Moralbegründung (analytische

Wahrheiten gelten tautologisch).

Ott erläutert die gesuchte Implikation als „pragmatische Implikation“ (PI): „Der

Grundgedanke der pragmatischen Implikation ist, daß immer dann, wenn eine Person A sich

auf eine bestimmte (Rede-)Praxis einläßt, eine beliebige andere Person B die Erwartung zu

hegen berechtigt ist, daß sich A an bestimmten Regeln und Normen orientiert.“ (1996b: 14).

Ähnlich auch (1997: 56), nur allgemeiner: „Die implikative Methode rekonstruiert

konstitutive Bedingungen gelingender Praxis, die sich als Normen darstellen lassen und als

Prämissen weiterer Schlußfolgerungen verwenden lassen. Eine pragmatische Implikation

erschließt eine Präsupposition bzw. eine Sinnunterstellung, die für die Teilnehmer einer

Praxis als nicht-beliebige normative Erwartung vorliegt.“ Diese Erwartungen, dies ist Ott

wichtig, sind die Erwartungen anderer Menschen. Eine PI soll dann vorliegen, wenn man von

jemandem, der die Prämisse akzeptiert hat, „erwarten darf“, daß er auch die Schlußfolgerung

akzeptiert (1996b: 44/45).

Praxis und PI

PIs sind „von einem Kontext bzw. vom Bezug zu einer Praxis abhängig“ (Ott 1997: 72) und

verweisen auf „standards of normality“, wie Ott (1997: 64) eine Arbeit von J. Hintikka zitiert.

Weiter formuliert Ott (1997: 86): „Eine Begründung des Implikats einer pragmatischen

Implikation gilt »via negationis« als erfolgt, sobald der Versuch, es zu bestreiten, in

Widersprüchlichkeiten führt.“ Widersprüchlichkeiten umfassen logische Widersprüche,

performative Selbstwidersprüche, aber auch pragmatische Inkonsistenzen (Böhler), Verstöße

gegen Vollständigkeitsbedingungen oder „clashs“ mit legitimen Erwartungen (Kettner).

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„Vorbildlich für die Rekonstruktion pragmatischer Implikationen ist, entgegen dem ersten

Anschein, das argumentativ-elenktische Gespräch [mit dem skeptisch eingestellten

Opponenten, N.G.] und nicht die deduktive Beweisführung.“ (1997: 88)

Jedoch, so meine Zwischenbemerkung, zeigt das argumentativ-elenktische Gespräch genauso

wie die Rede von „legitimen“ Erwartungen, daß nicht nur die Erwartungen anderer zählen

dürfen, sondern der Adressat dieser Erwartungen die Legitimität auch selbst einsehen können

muß – und in einem Diskurs hinterfragen können muß. Wie sonst könnte dem Adressat von

der Richtigkeit einer Moralkonzeption plausibel gemacht werden? Dies ist zentral auch

deshalb, weil man sich auf Praxen auch in subversiver Absicht einlassen (d.h. eigentlich: nicht

einlassen) kann. Auf Seiten des so Handelnden läßt sich mittels der PI dann kein Widerspruch

erweisen. Zu einer die Anerkennung nahelegenden Rekonstruktion gibt es dabei keine

Alternative – wie wir noch genauer sehen werden.

Wer sich auf eine Praxis einläßt, übernimmt (in ihr und mit ihr) eine bestimmte Rolle. Aber

nicht alle Rollen sind Praxen und nicht alle mit Praxen verbundenen Erwartungen sind

Praxisnormen: Praxen, so erläutert Ott seinen zentralen Begriff, seien produktiv (105); auf ein

Gelingen jenseits des bloßen Erfolgs hin ausgerichtet (ebd.); ein in der „Art einer

anspruchsvollen Dienstleistung i.w.S.“ ausgeübtes, intersubjektives Miteinander unter

Anerkennungsverhältnissen (106 f.); ein „Füreinander“ (108); „nicht ohne den Primat

verständigungsorientierter Sprechhandlungen aufrechtzuerhalten“ (114); auf die Fortsetzung

von Praxis abzielend (117) und schließlich „values in themselves“ (122). Die Wissenschaft sei

dabei genau „diejenige Praxis, die alle übrigen Praxen (Heilkunst, Pädagogik, Recht usw.) auf

Ebene ihrer Wissensbestände rationalisieren zu können beansprucht“ (115), ist also eigentlich

eine Metapraxis. Praxisnormen nennt Ott dabei nicht alle, sondern nur diejenigen Regeln

einer Praxis, die jenseits rein technischer oder funktionaler Standards einen „moralischen oder

juridischen Charakter“ (110) haben.

In Auseinandersetzung mit Castoriadis und MacIntyre, und um Vorhaltungen bezüglich

nazistischer, mafiöser u.a. Praxen vorzubeugen, propagiert Ott einen moralisch aufgeladenen

Praxis-Begriff: „Nur moralisch akzeptable Rollen“ (128) sollen auf Praxen führen; nur wenn

sich ihre Existenz „aufgrund moralischer Grundnormen und ethischer Prinzipien rechtfertigen

läßt“ (129), soll es sich wirklich um eine Praxis handeln können. Ott spricht in diesem

Zusammenhang gern von einer „doppelten Rationalität“, nämlich einerseits implikativer

Herleitung und andererseits argumentativ-diskursiver Überprüfung von Normen (94). In

(1998) wurde die Festlegung von Praxen auf moralische Praxisnormen offenbar nicht

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abgeschwächt; nun sind Praxen „genuin menschlich[e], in der Regel institutionalisiert[e]

Handlungsvollzüg[e], denen eo ipso ein ethisch-normativer Sinn innewohnt“ (1998, mit

Verweis u.a. auf Ott 1997). Auch wenn hier „ethisch“ im Habermasschen Sinne im Gegensatz

zu „moralisch“ verstanden wird, um den Bezug auf das Gute Leben zu kennzeichnen,

verweist „normativ“ auf die Sphäre der Moral.

Moralbegründung durch PI?

Die implikative Methode hat dreierlei Aufgaben, sie soll – im Rahmen einer angewandten

Ethik – sowohl auf die jeweiligen Praxisnormen (Ott 1997: 56; 1998), als auch – im Rahmen

einer Ethikbegründung – auf die Prämissen der Moralprinzipien »D« und »U« (284) sowie

von diesen Prämissen zu den Moralprinzipien (294) führen. Beim Einsatz der pragmatischen

Implikation (PI) für die Begründung der Diskursethik ist zu berücksichtigen, daß es bei der

angestrebten Moralbegründung um ein erst noch explizit zu machendes Wissen von

Argumentierenden bzw. um die Erwartungen an dieselben geht. Die Verpflichtungen der

Argumentationspraxis sind i.A. weniger explizit formuliert als beispielsweise die der

medizinischen Praxis (wo es Standesregeln, Ethikkodizes usw. gibt). Diesen Unterschied läßt

Ott (1996b; 1998) beiseite, auch (1997: 65 u. 67) erwähnt ihn nur am Rande. Wirklich

problematisch ist der Einsatz der PI für eine Moralbegründung:

1. Die implikative Methode setzt eine gerechtfertigte Moral bereits voraus, da nur

moralische Praxen wirkliche Praxen seien (s.o.).

2. Um einen Zirkel vollständig zu vermeiden, müßte dieser Vorbehalt entfallen, d.h., der

Inhalt der PI-Verpflichtungen ergäbe sich dann ausschließlich aus den Erwartungen

anderer.73 Zwei Folgeprobleme liegen auf der Hand : Wenn die Erwartungen schwinden,

nicht getäuscht zu werden, führt die PI in einen Widerspruch. Wenn beliebige andere

moralische Erwartungen pervertieren, wird die Moralbegründung zur

Unmoralbegründung.

3. Die Schlüssigkeit der pragmatischen Implikation (PI) beruht bereits auf einer ethischen

Prämisse, nämlich der Pflicht zur Erfüllung von (Rollen)erwartungen, mithin auf dem

Täuschungsverbot.74 Ansonsten wäre der Übergang von den faktischen Erwartungen zur

Verpflichtung ein Sein-Sollens-Fehlschluß. Wie sind diese Pflichten bei Ott normativ

73 Die „Legitimität“ dieser Erwartungen bemißt sich dabei ausschließlich an Üblichkeiten, nicht an Einsicht inihre normative Begründetheit (sonst droht der Zirkel aus 1).

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begründet? Die Moralprinzipien kann Ott hierzu nicht bemühen, da er diese ja selbst

mittels der PI gewinnen will. Die PI zur Begründung des Täuschungsverbots einzusetzen

– was Ott im Kapitel zur Ethikbegründung in (1997) zu versuchen scheint – scheint mir

zirkulär. Auch die von Ott bemühten Klugheitsüberlegungen (70) überzeugen nicht, denn

Ott will an einer deontologischen Moralgeltung festhalten.75

4. PI-Erwartungen sind hypothetische Imperative – nur wer eine Rolle in einer Praxis

übernimmt, braucht die entsprechenden Erwartungen zu erfüllen.76 Die Gültigkeit

mindestens der moralischen Grundnormen ist jedoch nicht an die Teilnahme an

irgendwelchen speziellen Praxen gebunden.77 Normative Forderungen danach, wenigstens

in bestimmten Konfliktsituationen Diskurse zu führen, wären dann kontingente

Diskursinhalte, da diese mit Mitteln der Diskursethik nicht priviligiert begründet werden

könnten. Zudem kann eine solche Moralbegründung keine Pflicht zu bestimmten,

spezielleren Praxen erfassen (es sei denn über die Teilnahme an anderen Praxen: s. den

nächsten Punkt). Schon einem möglichen Zerfall der Praxis « Wissenschaft » dürfte man

kaum moralisch neutral gegenüberstehen (denn damit ist nach Ott die Rationalisierung

aller anderen Praxen in puncto ihrer Wissensbestände gefährdet), umso mehr aber einem

Zerfall der Praxen « Medizin » oder « Recht ». Auch die notwendige Positionierung von

Praxen gegeneinander gerät aus dem Blick; so wäre etwa eine „zweckbewußte“

74 Letzteres ist in Form von Regel (2.1) auch ein Teil der Habermasschen »idealen Sprechsituation«.75 In einer Auseinandersetzung mit Kant beantwortet Ott die Frage »Warum aufrichtig sein ?« generalisierend :Würden alle lügen, erodierte das Vertrauen der Anderen, und die Erfolgsbedingung des Lügens entfiele (70).Aus Sicht des Lügners (oder allgemeiner gesagt : des free riders) entsteht dadurch aber kein Widerspruch ! Inder universalistischen Lesart wird demgegenüber der Widerspruch im Willen des Lügners hervorgehoben, etwasgleichzeitig beteuern und nicht beteuern zu wollen, d.h., das Problem ist, „daß man eine Verpflichtung eingehtund doch nicht übernimmt. Einem Versprechen, das man im Wissen und in der Absicht abgibt, es nicht zuhalten, liegt eine in sich widersprüchliche Maxime zugrunde“ (so Höffe 1988: 194 nach expliziter Abgrenzungvon der „empirisch-sozialpragmatischen Interpretation“, ebd.: 193). Begründet man das Lügenverbot - wie Ott -generalisierend, bleibt es auf eine beliebige Praxis bezogen, die der Lügner nicht schätzen muß. (Wenn dasVertrauen erodiert ist, läßt er das Lügen eben, bzw. sucht sich, wenn er free rider bleiben will, die nächste für einparasitäres Verhalten geeignete Praxis.) Der Wissenschaft, zentral in Ott (1997), kommt immerhin entgegen, daßsie keine beliebige Praxis, sondern eine Metapraxis ist, auf die zu verzichten die wissensmäßige Rationalisierungaller Praxen gefährdet. Dennoch wird es aufgrund der Struktur des Ottschen Arguments zu einer Sache derKlugheit, d.h. des eigenen Vorteils, Versprechen zu halten (oder zu brechen) ; würde die Moralbegründungtatsächlich von einer solcherart verstandenen PI abhängen, könnte – entgegen Otts Wunsch –keinedeontologische Moral resultieren.76 Dieses Problem läßt sich nicht vermeiden, wenn man das Sich-Einlassen auf Diskurse als „kontingentenHandlungszweck“ auffaßt (so bereits Habermas gegen die Erlanger Konstruktivisten; s.o.). Wenn Ott explizit„rekonstruieren“ will, „was es pragmatisch impliziert, sich auf die Teilnehmerrolle an praktischen Diskurseneinzulassen“ (1996b: 24), bleibt ungeklärt, warum man sich auf diese Praxis einlassen soll oder wenigstenssollte. Damit wird das Moralprinzip und mit ihm werden auch die Moralnormen zu hypothetischen Imperativen.77 Jedoch daran, an Diskursen teilnehmen zu können – denn wo moralische Einsichten nicht plausibel gemachtund verstanden werden können, sind sie auch nicht mehr sinnvoll zu adressieren.

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Wissenschaftsethik (Ott 1997; s.u. im Anwendungskapitel, wo diese kurz vorgestellt wird)

gehalten, stärker über das Verhältnis von wissenschaftsethischen zu anderen (Rollen-

)Pflichten nachzudenken, aber auch über Ausrichtung und Gewicht wissenschaftlicher

Praxen untereinander und im Verhältnis zu anderen Praxen.

5. Eine Moralbegründung über Rollenpflichten hat das generelle Problem, daß die Pflicht zur

Übernahme einer Rolle in einer anderen übernommenen Rolle begründet liegen muß.

Einer Begründung von Moralprinzipien droht ein Regreß, wenn nicht eine Rolle bzw.

Praxis als in irgendeiner Weise grundlegend ausgezeichnet werden kann. Die Standard-

Diskursethik (Apel/Habermas) führt u.a. die Wahrhaftigkeitspflicht auf pragmatische

Präsuppositionen der Argumentation zurück, die sich sicher weniger leicht negieren

lassen als irgendeine kontingente Praxis, aber auch weniger leicht als die

wissenschaftliche Metapraxis. Zu einer solchen (oder einer ähnlich basalen) Begründung

im Zuge der Ausweisung einer umfassenden Metapraxis, und das ist die Argumentation,

findet Ott m.E. keine überzeugende Alternative.78

Die genannten Probleme entstehen durch eine Überdehnung des Anspruchs an die PI. Sie soll

normative Gehalte sowohl von kontingenten Praxen als auch von Metapraxen (Wissenschaft),

schließlich aber auch – und dies gelingt nicht – vom moralischen Standpunkt und seinen

Prämissen selber begründen helfen können.

Konsequenzen von 1-3: Entweder die Definition der Praxis kommt ohne moralische Gehalte

aus, oder der Bezug der PI auf „Praxis“ muß – wenigstens zur Moralbegründung –

fallengelassen werden. Ich denke, beides ist möglich. Damit die PI aber überhaupt zu einer

Moralbegründung beitragen kann, muß „Pflichterfüllung“ oder „Nicht-Täuschung“ dem

Adressaten nahegelegt werden. Hier könnte man argumentieren (ähnlich wie bei der

Argumentation im Rahmen der Standard-Diskursethik), jeder und jede stehe immer schon in

Rollen/Praxen bzw. (s. Fußnote 78) sehe sich Erwartungen ausgesetzt und (a) ohne sich an

Erwartungen orientieren zu können, bräche die Sphäre des Sozialen zusammen, würde die

individuelle Sozialisierung scheitern o.Ä. Doch mit dieser konsequentialistischen

Argumentation kann man erstens keine deontologische Moral begründen und zweitens die

78 Eine Moralbegründung über das Sich-Einlassen auf Argumentationspraxen droht zudem, moralische Pflichtenals letztlich nur gegenüber Diskursteilnehmern bestehende ausweisen zu müssen. Dies führt auf die Problematik„falscher Gründe“ (s.u.). Moralisch relevante Verhaltenserwartungen bestehen aber (oder können gewecktwerden) auch gegenüber Lebewesen, die nicht diskursfähig sind. Denen gegenüber von Praxen zu sprechen,wirkt etwas hoch gegriffen und legt das Mißverständnis nahe, man müßte sich irgendwie eingelassen haben,

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normative Frage nur verschieben (denn warum soll ich an … interessiert sein?).

Erfolgversprechender scheint es, so fortzufahren: … und (b) diese Praxen sind mit

Erwartungshaltungen verknüpft (und aus diesen heraus eingerichtet), die man als Teilnehmer

normalerweise kennt und die man nicht enttäuschen sollte, weil man selber auch nicht

enttäuscht werden will / werden wollte / wurde (ein – u.U. auch transzendentaler –

„Erwartungserfüllungstausch“, wie man im Anschluß an Höffes transzendentalen

Vorteilstausch formulieren könnte). Doch mit diesem Appell an den eigenen Vorteil gelingt

auch keine Begründung einer deontologischen Moral (s. Kersting in Kersting 1997 zu Höffe).

Es muß m.E. notwendig so sein, daß man fortfahren kann (wie bei der Argumentationspraxis):

… und (c) darin liegen intersubjektive Anerkennungsstrukturen beschlossen, die man als

Beteiligter aktualisiert und die den Kern der Moral selbst ausmachen. Per Rekonstruktion

muß deren Gehalt expliziert und vorgeführt werden, ohne daß eine Anerkennung anderweitig

„herbeimotiviert“ werden könnte. Dies gelingt aber nicht bei jeder beliebigen Praxis, denn mit

der moralischen Dignität der aufrichtigen Erfüllung der Erwartungen anderer

(Pflichterfüllung) ist es ja u.U. nicht weit her. Deshalb genügt es auch nicht (vermeintlich im

Sinne von Kant) fortzusetzen: … und (d) Pflichten sind aus Pflicht zu erfüllen.

Vielleicht wäre es sinnvoll, die Zirkularität aus (1) zuzugestehen, allerdings die Moralität der

Praxen nur unter einem Vorbegriff des Moralischen anzusetzen (über einen solchen verfügen

wir ja bereits aufgrund der einzelnen Prämissen von »D«, etwa den Diskursregeln).79 Dazu

wäre die strikte Kennzeichnung der Praxisnormen als „aufgrund moralischer Grundnormen

und ethischer Prinzipien“ zu „rechtfertigen“ ehrlicherweise aufzugeben. Dann wird die

Begründung durchgespielt und der Moralbegriff verfeinert, und nach einigen Durchgängen

konvergiert dieses Verfahren oder es ist der Vorbegriff des Moralischen zu variieren. Dieser

Vorschlag ist vom methodischen Stellenwert dem „wide reflective equilibrium“ von J. Rawls

äquivalent, da so wie dort das Design des Urzustands hier das Design des Diskurses bestimmt

wird, ist aber zusätzlich selbstreflexiv, da der Diskurs gleichzeitig das argumentative Medium

ist, in dem die Modifikationen hinterfragt und begründet werden können.

Konsequenzen von 4+5: Aufgrund der hypothetischen Geltungsweise der PI-Erträge ist sie,

selbst wenn die Probleme (1-3) gelöst wären, allein zu einer Moralbegründung nicht geeignet,

da wesentliche Fragen in ihr nicht behandelt werden können. Eine Fortsetzung wie (c) würde

damit überhaupt ein moralisches Problem entstehen kann. Ich finde mich in einer Situation bzw. in Situationenvor, in denen immer schon Verhaltenserwartungen der unterschiedlichsten Art an mich adressiert sind (s.u.).79 Dieser Vorschlag entstand auf Anregung von Nadia Mazouz und wurde zusammen mit ihr entwickelt.

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zumindest die Richtung weisen, hier weiterzukommen. Die PI-Erträge einer

Moralbegründung müssen ihre Anerkennungswürdigkeit selbst erkennen lassen.

Für Ott scheint die letztgenannte Problematik einer Ethik-Begründung nicht im Wege zu

stehen. So schreibt er, die Diskursethik behaupte „ein Recht auf Teilnahme an, jedoch keine

Pflicht zum Diskurs“ (1996: 27). Dadurch wird aber unklar, wieweit die Diskursethik noch

über eine reine Kommunikationsethik hinausreicht. Sagt sie nur: »Wer Diskurse führen will,

muß prinzipiell jede und jeden teilnehmen lassen«, oder sagt sie auch etwas darüber, daß die

diskursiv gewonnenen Ergebnisse (gerechtfertigte Normen) im Handeln zu beachten seien

bzw. daß bei Konflikten Diskurse zu führen seien, um diese beizulegen? (Ott scheint

zumindest von ersterem auszugehen).80

Wahrheitsbedingungen der PI?

Schließlich soll es in diesem Unterabschnitt noch um die Form der pragmatischen Implikation

gehen, in den nächsten Abschnitten dann um die erforderlichen Prämissen. Zur näheren

Bestimmung der gesuchten Implikation versuche ich im folgenden eine Analyse ihrer

Wahrheitsbedingungen (wobei natürlich klar ist, daß die PI nicht mit einer logisch strikten

Implikation verwechselt werden sollte), muß dabei aber etwas weiter ausholen. Die Rede von

einer Implikation zur Begründung der DE ist nämlich insofern verwirrend, als doch von einer

Praxis auf ihre Präsuppositionen geschlossen werden soll. Dies kann nur gelingen, wenn die

Präsuppositionen notwendige Bedingung der Praxis sind. Beispiel: Wer sich ernsthaft auf die

Praxis der Argumentation (PA) einläßt, der muß auch die Diskursregeln (DR) anerkennen.

Dies ist die natürliche Richtung einer rekonstruktiven Moralbegründung, und als eine solche

wollen Habermas und Ott ihr Vorgehen verstanden wissen. Nur weil ich DR anerkenne, muß

ich mich jedoch noch nicht ernsthaft auf PA einlassen. Daß ich mich ernsthaft auf PA

einlasse, ist, sagen wir, erst unter den zusätzlichen Bedingungen Q der Fall. Und wenn ich

nicht an PA teilnehme, dann muß ich weder anerkennen, daß die DR gelten noch daß sie nicht

gelten. Die Rekonstruktion der Praxis erweist notwendige Bedingungen derselben (PA ~r~>

DR&Q) – wenn auch u.U. andere als für die Vorwärts-Begründung benötigt, dafür steht Q –

mit den Wahrheitsbedingungen der rekonstruktiv-pragmatischen Implikation „~r~>“ wie bei

einer Konjunktion: w ~r~> w ist w, alles andere ist f. Wahrheit der Prämissen heißt hierbei,

daß sie anerkannt werden. Die Rede von „notwendigen Bedingungen“ ist verschieden von der

üblichen Verwendung in der Aussagenlogik, denn dort gilt: „A notwendige Bedingung von

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B“ kann durch BÆA (mit „Æ“ der materialen Implikation) ausgedrückt werden, ist mithin bei

falschem B immer wahr. Bei der rekonstruktiv-pragmatischen Implikation ist es aber falsch,

aus dem Nicht-Vorliegen einer Handlung auf irgendwelche Anerkennungsakte zu schließen.

Für das Begründungsprogramm der Diskursethik ist diese Differenz nur dann unerheblich,

wenn man meint, daß es zur fraglichen Praxis ohnehin keine Alternative gäbe (PA notwendig

anerkannt).

Der angegebene Begründungsgang von Habermas und Ott verläuft nun aber „vorwärts“, d.h.

von den Prämissen P (Diskursregeln DR und evtl. weitere Prämissen X) zum Moralprinzip M.

Unter Voraussetzung dessen, daß die Diskursregeln und X anerkannt sind, soll progressiv-

pragmatisch erschlossen werden, daß ein Moralprinzip anzuerkennen sei (DR&X ~p~> M,

mit „~p~>“ der progressiv-pragmatischen Implikation). Wären die Einhaltung der

Diskursregeln und die Anerkennung der weiteren Prämissen X notwendige Bedingungen von

M im Sinne der Aussagenlogik, dann würde gelten: MÆP, id. M�(DR log.-und X). Damit

wäre aber für die Vorwärts-Begründung nichts gewonnen, denn trotz Einhaltung der

Diskursregeln bräuchte das Moralprinzip damit noch nicht anerkannt werden (fÆw ist w).

Eine gelingende V-Begründung81 scheint zu verlangen, daß die Prämissen hinreichende seien

(wenn die Prämissen anerkannt sind, ist der V-Begründungs-Schluß nur dann wahr, wenn die

Konsequenz M ebenfalls anerkannt werden muß). Wäre P aussagenlogisch-hinreichende

Bedingung für M, dann würde gelten: PÆM. Betrachten wir die beiden möglichen Fälle,

wenn die Prämissen nicht anerkannt sind:

1. (fÆf ist w) scheint keine Schwierigkeit darzustellen, denn Prämisse und Konsequenz

gemeinsam lassen sich einerseits konsistent bestreiten: wer z.B. die Diskursregeln nicht

anerkennt und das Moralprinzip „D“ ebensowenig, der widerspricht sich nicht. Andererseits

steht, wenn M nicht anerkannt wird, die Nicht-Anerkennung von P zu erwarten, denn sonst

beruht die Anerkennung von M auf weiteren Prämissen, die in der V-Begründung übersehen

wurden (V-Begründung lückenhaft) oder könnte M auch aus anderen Prämissen hergeleitet

werden (V-Begründung nicht alternativenlos). Eine gute Begründung sollte dies vermeiden –

dann ist aber die r-pragmatische Implikation von der p-pragmatischen Implikation zu

unterscheiden.

80 Auch Habermas scheint dies vorauszusetzen. Die Apel-Linie führt hingegen explizit ein Uh ein, um dieseVerpflichtung zu bezeichnen – welche dann allerdings im Teil B der Ethik strategisch »übertrumpft« wird.

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2. (fÆw ist w). Fände sich hier ebenfalls kein Unterschied, wären die Wahrheitsbedingungen

der p-pragmatischen gleich der der materialen Implikation. Ich behaupte nun, daß der

Unterschied im letzten Fall zu suchen ist (f ~p~> w ist f). Denn wie könnte man, um ein

Beispiel zu geben, die Diskursregeln negieren und dennoch dem Moralprinzip, bei Ott: „D“,

folgen? Die Anerkennung der Diskursregeln ist vielmehr notwendige Bedingung der

Anerkennung des Moralprinzips. Und dies sollte, wenn die Begründung gut ist, mit jeder

einzelnen Prämisse aus P so sein (sonst wäre sie ein Fall für Ockhams Messer bzw. sonst

würde man weniger Menschen zur Anerkennung von M motivieren, als möglich wäre). Daher

liegt folgendes nahe: der gesuchte p-pragmatische Übergang von P nach M (P ~p~> M)

entspricht in seinen Wahrheitsbedingungen idealerweise einer logischen Äquivalenz (PÙM).

Nur wenn die Menge der Prämissen unnötig vergrößert wird, kann aus der Anerkennung der

Konklusion nicht mehr auf die Anerkennung der Prämissen zurückgeschlossen werden. Wer P

anerkennt und irgendeine zusätzliche Prämisse, von dem kann ich immer noch erwarten, daß

er M anerkennt.��

Insgesamt entsteht nicht eine einzige Tautologie der Form: KPÙPÙM, denn die

Präsuppositionen von KP müssen nicht alle für das Moralprinzip relevant sein. KP

präsupponiert DR&Q. M beruht aber auf P, d.h. neben DR noch auf zusätzlichen Prämissen

X, so daß KP ~r~> DR&Q, aber DR&X ~p~> M.

Damit ist jedenfalls klar, daß auch bei der p-pragmatischen Implikation die Summe der

Prämissen eine gleichstarke oder stärkere Behauptung darstellen muß als die Konklusion. Die

Anerkennung der Konklusion kann – und das ist gut so – nicht aus zusammen schwächeren

Prämissen erschlichen werden. Die Überzeugungskraft beruht vielmehr auf der Konjunktion

von mehreren, einzeln leicht zuzugestehenden Prämissen und begründet so das Moralprinzip,

d.h. genauer: motiviert so zur Anerkennung des Moralprinzips.83 Die Motivation zur

Anerkennung der Einzelprämissen können demgegenüber nur eine Rekonstruktion des

81 Hier und im folgenden kennzeichnen die vorangestellten Buchstaben V oder R die Vorwärts- bzw.Rückwärtsrichtung der Begründung, sowie p oder r die progressiv- bzw. rekonstruktiv-pragmatische Implikation(Symbole: ~p~> bzw. ~r~>).82 Nur wenn dadurch ein Widerspruch in der Prämissenmenge auftritt, scheint ein Problem zu entstehen:Implikationslogisch wäre der Schluß auf die Anerkennung von M gültig, der Schluß auf die Nicht-Anerkennungvon M aber ebenfalls. Was wir pragmatisch erwarten dürfen, wissen wir nicht (wir würden sagen, es seien diePrämissen zu klären und konsistent zu machen). Die Äquivalenz trägt dem Rechnung: Von inkonsistentenPrämissen (Wahrheitswert: f) kann nicht auf die Anerkennung von M (Wahrheitswert w) geschlossen werden,und wenn M anerkannt, dann dürfen wir erwarten, daß die Prämissen nicht inkonsistent sind.

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alltäglich-kommunikativen Handelns oder ähnlich fundamentale Argumente erbringen, die für

sich plausibel sein müssen. Ansonsten droht ein Zirkel. Der Hinweis, daß man sich strittiger

Einzelprämissen im Diskurs (also unter Voraussetzung von M) versichern kann, ist richtig,

aber hier kein Gegenargument. Im folgenden untersuche ich diese Einzelprämissen (also

DR&X, nicht DR&Q).

Die Geltung der Diskursregeln: Unter einer egalitären Annahme

These: Ott hat recht, die strikte Gleichheit von Teilnahme- und Redechancen liegt nicht schon

begrifflich in der Rede vom Argumentieren. Allerdings sind die Teilnahme an und die Rechte

im Diskurs schärfer zu unterscheiden.

Ott beginnt mit der Unterstellung, es solle ein Diskurs geführt werden, und fragt dann nach

den konstitutiven Regeln. Dies erfordert ein Vorverständnis von »Diskurs«, das noch nicht die

Diskursregeln präjudiziert. Ich möchte daher mit der Unterstellung eines anspruchslosen

Diskursbegriffs (Suche nach den je besten Argumenten) beginnen. Dann fragt sich, nach

welchen Regeln wir verfahren müssen, um diese Argumente aufzuspüren. Habermas

unterscheidet (1983: 97ff.) drei Gruppen von Regeln: logische, dialektische und rhetorische

(s.o.). Otts Zweifel betreffen die dritte Gruppe, die „idealisierende(n) Voraussetzungen

hinsichtlich der pragmatischen Diskurssituation“ (Ott 1996: 34), genauer gesagt, die darin

zum Ausdruck kommenden egalitären Teilnahme- und Redechancen aller sprach- und

handlungsfähigen Subjekte. Es sei nicht widersprüchlich, wenn die Chance auf Teilnahme an

Diskursen einigen Personengruppen prinzipiell verweigert würde; Habermas‘ Argumentation

sei hier zirkulär (vgl. 1996: 36 und auch Benhabib; s.u.). Ott diskutiert allerdings

ausschließlich auf politischer Ebene, ob die Normadressaten auch alle Normautoren sein

müßten, und nicht alle zusammen der Meinung sein könnten (also auch die betroffenen

Gruppen), einige Gruppen seien hiervon auszunehmen. Dabei wäre die Frage auf

sprachpragmatischer Ebene zu klären.

Wann kann man also die Diskursteilnahme bestimmten Gruppen widerspruchsfrei

verweigern? Zwei Fälle sind zu unterscheiden: Erstens, nur den Übergang vom

kommunikativen Handeln zum Diskurs zu verweigern, und zweitens, das kommunikative

Handeln selbst zu verweigern. Ersteres ist pragmatisch widersprüchlich, denn warum sollte

ich mich an von diesen Gruppen erhobenen Geltungsansprüchen orientieren, wenn diese sie

83 Lebensweltliche Gründe können häufig nur als Erweiterungs-„Schlüsse“ rekonstruiert werden, die keineSchlüsse im Sinne der formalen Logik sind. Sie motivieren daher nur zur Anerkennung der „Konklusion“, und

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gar nicht einlösen können? Der zweite Fall ist weniger leicht zu »erledigen«: Er liefe

allerdings darauf hinaus, bestimmten Gruppen auch ein für uns anknüpfungsfähiges

kommunikatives Binnenhandeln abzusprechen. Ich halte (in beiden Fällen) das Argument für

überzeugend, daß es schlicht borniert wäre, anderen Gruppen von vornherein diskursive bzw.

kommunikativ-performative Kompetenzen abzusprechen (vgl. die Diskussion von Kettners

Vorschlägen; s.u.).84 Wenn man es gar nicht erst versucht, können einem nämlich u.U.

relevante Argumente entgehen.

Es ist hingegen nicht a-priori zwingend, daß eine strikt gleiche Chance bestehen muß, an

Diskursen teilzunehmen. Dies gilt auch für die Rederechte im Diskurs: Denn es ist einfach

falsch, daß eine Ungleichverteilung von Chancen gute Argumente verhindert (die

Argumentation dauert vielleicht etwas länger oder kürzer – warum nicht in

Wahrheitsdiskursen den wissenschaftlichen Experten mehr Redezeit geben?) oder nicht

zwanglos zustimmungsfähig wäre, zumindest nicht solange reelle, wenn auch nicht strikt

egalitäre Teilnahme- und Redechancen bestehen.85 Ansonsten würde man den Begriff der

Zustimmung entsprechend normativ überladen und, so würde ich hinzufügen, den

Kognitivismus der Konzeption von Gründen gefährden: Denn nun könnte es so scheinen, als

ob erstens die Quantität und nicht die Qualität des Gesagten ausschlaggebend für eine

diskursive Übereinstimmung wäre und zweitens die Konfliktparteien vorrangig für ihren

eigenen Vorteil argumentieren würden.

Die strikt egalitäre Chancenverteilung auf Teilnahme an bzw. auf Rederechte im Diskurs ist

unnötig und irreführend, sie sollte m.E. aus der idealen Sprechsituation gestrichen werden.

Ott gesteht weiterhin zu, daß die aufgeführten Diskursregeln möglicherweise nicht vollständig

sind (ein Regel-Kandidat betrifft z.B. die Verteilung der Argumentationslasten). Es ist wohl

unnötig zu sagen, daß die Vollständigkeit von einer gelungenen Begründung zu erwarten

wäre. Doch hieran sieht man, daß es im Kern nicht darum geht, ein vorgegebenes

Begründungsziel zu erreichen, sondern Implikate zu rekonstruieren, die das Begründungsziel

(hier: „D“) bestimmen.

erzwingen diese nicht.84 Überdies entsprpäche ein solches Verhalten nicht dem normalen Sozialisierungspfad (Kinder versuchen z.B.,mit Gegenständen, Tieren usw., zu sprechen – doch diese antworten nicht).85 Nicht einmal als Startoption (default option) ist eine strikte Gleichverteilung anzusetzen. Denn auch unterinegalitären Chancen kann für eine Gleich- oder eine Andersverteilung der Chancen argumentiert werden.

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Begriffliche Wahl (‘Moral’, ‘Norm’, ...) und weitere Prämissen

These: Ott hat recht, die begrifflichen Vorentscheidungen und andere Prämissen auf dem Weg

zu »D« sind zu explizieren, möglicherweise sind sie nämlich nicht unerheblich.

Erster Vorschlag zur Ableitung von »D« (1996; 1997)

Ott fügt nach der vergleichsweise umfangreichen Erläuterung der Diskursregeln verschiedene

Prämissen zu einem Versuch der Ableitung von »D« zusammen:

„Wir können nun den Knoten schürzen. Voraussetzen dürfen wir (a) den Unterschied von Fragendes guten Lebens und normativen Fragen, (b) den semantischen Begriff der Norm, (c) den Begriffder Argumentation, (d) die Diskursregeln und (e) die Perspektivendifferenz. Analytische Sätze wieetwa (f) »Gerechtfertigte Normen sind gültig« dürfen beliebig hinzugefügt werden. »D« kann mannun in Anlehnung an einen Vorschlag von Keuth (1993, S. 296ff.) als pragmatisches Implikat derPrämissen behaupten. Also gilt: Die Prämissen (a) & (b) & (c) & (d) & (e) & (f) implizierenpragmatisch »D«.“ (1996: 42)

Diskutieren wir diese Prämissen der Reihe nach:

(a) Die analytische „Unterscheidung von normativen Fragen und denen des guten Lebens“ ist

kardinal und alles andere als selbstverständlich. Die Fragen „Was ist gut für alle?“ und

„was ist gut für mich / gut für uns?“ drücken eine klare Differenz aus.86 Ott erläutert in

seinem Begründungsaufsatz (1996b: 21) normative Fragen als „Fragen der Gerechtigkeit,

d. h. der Frage nach den rechtlichen oder moralischen Handlungsnormen, auf deren

Einhaltung durch einen jeden wir uns trotz unserer verschiedenen Lebensformen und -stile

(idealiter) gemeinsam verpflichten können“. Ob wir auf das, was »gut für alle« ist, auch

einen jeden verpflichten können, ist m.E. aber eine zusätzliche Frage, bei der die

Unterscheidung zwischen Rechts- und Moralpflichten wichtig ist (vgl. Höffe 1990). Sie

betrifft bzgl. Moralpflichten den Unterschied zwischen dem, was wir den anderen an

Anerkennung schuldig sind, und dem, was wir den anderen an Anerkennung

sinnvollerweise (d.h. auch supererogatorisch) entgegenbringen könnten. Ließe man beides

in eins fallen, ergäbe sich ein teleologischer Perfektionismus.

(b) Der „semantische Begriff der Norm“ als »generalisierte Verhaltenserwartung« ist nicht

ganz unproblematisch, denn es sollen ja universelle und nicht generelle Normen

gerechtfertigt werden. Über den Grad der Generalisierung ist durch diesen „semantischen“

Begriff m.E. noch nicht entschieden. Und daß sich universelle Normen (und nicht Werte,

Maximen, Urteile etc.) im Kern einer deontologischen (und nicht teleologischen) Moral

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befinden sollen, müßte eigentlich als Prämisse explizit benannt werden. Für eine

deontologische Moral ist der soziologische Normbegriff nicht ganz treffend, da hier nur

ein Verhalten erwartet wird. In einer solchen Moral (im Gegensatz zum Recht) wird nicht

nur pflichtgemäßes, sondern ein Verhalten „aus Pflicht“, d.h. aus Einsicht erwartet.

(c) Einen „Begriff von Argumentation“ benötigen wir ohnehin bereits für das Unterfangen

der Aufstellung der Diskursregeln. Was liefert der Begriff Neues? Ott scheint an dieser

Stelle den Konsensbezug ernsthafter Argumentation einzuführen.

(d) Die „Diskursregeln“, sicherlich, als „konstitutives als-ob“ der Argumentation zugleich

regulative Vernunftidee, aber keine Fiktion oder Utopie (Ott 1997: 283). Die ideale

Sprechsituation besteht für Ott im Modus von durch ein Sich-einlassen konstituierten

„gegenseitigen Verhaltenserwartungen“ (ebd.); deshalb auch die Einschlägigkeit der

pragmatischen Implikation.

(e) Die „Perspektivendifferenz“ zwischen zweckrationalem Egoismus und dem „moral point

of view“ bzw. der „Staatsbürgerrolle“.87

Dies muß ich etwas ausführlicher kommentieren: Nicht die Perpektive des

zweckrationalen Egoismus einzunehmen heißt noch nicht, den „moral point of view“

(mpov) einzunehmen: Zwischen diesen Perspektiven tut sich ein weites Feld sich auf (vgl.

bereits (a)!). Gemeint sein könnte (e1: gut für einige / im Interesse einiger), (e2: gleich gut

für einige / im gleichmäßigen Interesse einiger), (e3: gut für alle, aber ungleich gut / im

Interesse, aber nicht im gleichmäßigen Interesse aller)88 oder eben (e4: gleich gut für alle /

im gleichmäßigen Interesse aller). Ich habe diese Abstufung so gewählt, daß (e4) identisch

ist mit dem, was Habermas in »U« meint.

Geht es um Staatsbürgerfragen, genügt (e2) dann, wenn die entsprechende Gruppe mit den

Betroffenen einer Norm identisch ist. In der Regel sind die Betroffenen aber gerade nicht

nur das Staatsbürgervolk. An dieser Stelle treffen wir auf eine wichtige Habermassche

Prämisse, die bei Ott ungenannt bleibt: Daß sich die nötige Zustimmung genau auf die

86 Ott schließt sich dieser Habermasschen Gegenüberstellung von Fragen an z.B. in Gottschalk / Ott 1996. ZurDifferenz dieser Fragen vgl. auch die Ausführungen zu L. Wingert in dieser Arbeit.87 Ott sagt hierzu (1997, 292), daß bereits aus (b) und (c) folgt, daß die egoistische Perspektive unangemessen ist– dies sehe ich nicht.88 Angesetzt in der Tradition der Vertragstheorie im Anschluß an Hobbes, so bei Buchanan oder Höffe (dortauch: „distributiver Vorteil“; Höffe 1987) (vgl. die Beiträge in Kersting 1997; s. auch unten, am Ende desBegründungskapitels)

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Gruppe der von einer Norm Betroffenen erstreckt. In »D« kommt dies explizit zum

Ausdruck, in »U« nicht (mehr). Diese Frage ist interessant deshalb, da sie den

Kognitivismus der Diskursethik betrifft (s.u.).

Entkoppelt man die Zustimmung vom Eigeninteresse, ist über die Wahl von (ex) noch

nichts gesagt:�� Jedes (ex) könnte ins Auge gefaßt werden, wenn es nur um einen

Unterschied zum zweckrationalen Egoisten geht. Den mpov kann man m.E. aus dem

Absehen vom Eigeninteresse nicht gewinnen. Ich weiß nicht, was Ott hierzu meint,

vielleicht aber auch einfach nur: Den Unterschied zu kennen heißt noch nicht, den mpov

anzuerkennen? Ott möchte, so wird sich im folgenden zeigen, (e4) auf dem Weg von »D«

zu »U« durch weitere Prämissen (gx) bzw. (jx) sicherstellen. Vielleicht ist er der

Meinung, im Rahmen von »D« sei nur die „faire“ Berücksichtigung der anderen

Interessen geboten, aber noch nicht die „gleiche“ (s.u.)? Dies könnte dann auf (e3)

hinauslaufen.

Wenn man sich aber klarmacht, wozu Diskurse dienen sollen (können), nämlich ein

normatives Einverständnis zwanglos wiederherzustellen, scheint es mir schlicht nicht

plausibel, warum sich die Teilnehmenden mit einer Lösung unterhalb von (e4)

zufriedengeben sollten. Natürlich wissen sie noch nicht, was das heißt: „gleich gut“ bzw.

„im gleichmäßigen Interesse“ – dies ergibt sich erst im Diskurs. Ich werde diesen Punkt

weiter unten wieder aufnehmen, wenn Otts Übergang zu »U« verfolgt wird.

(f) Einige „analytische Sätze“. Sind Sätze tatsächlich analytisch (oder zumindest

verhältnismäßig unproblematisch), können sie hinzugefügt werden, ohne das Argument zu

gefährden.

Vermissen tue ich die im Text (1996b: 21/22) weiterhin zugestandenen Prämissen aus der

Metaethik (Kognitivismus), der Sprechakttheorie (zit. Habermas 1981).

Mit diesen Prämissen, so Ott (1996b; 1997), gelingt die pragmatisch-implikative Ableitung

von »D«. In (1998) bezeichnet Ott diesen Vorschlag selbstkritisch als „in einigen Details

anfechtbar und fragwürdig“. Mein Hauptproblem mit diesem Vorschlag betrifft einen

zentralen Punkt: Es fehlt die Verbindung zwischen der Argumentation einerseits und den

89 Aus der Perspektive des Eigeninteresses gilt dagegen: Soll eine Norm zustimmungsfähig für alle (Betroffenen)sein, muß sie mindestens (e3) genügen, denn dann hat jeder einen Grund. Bereits unter strategischen Prämissenkann aber der höhere Nutzen für andere der eigenen Zustimmung im Wege stehen, nämlich dann, wenn

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Normen bzw. Normvorschlägen andererseits. Ott nimmt in (1998) einen neuen Anlauf zur

Ableitung von »D«.

Zweiter Vorschlag zur Ableitung von »D« (1998)

Die neuen Prämissen:

„(a) Personen können auf verschiedene Weise handeln. (b) Handlungsweisen und deontischeOperatoren bedürfen einer Zuordnung. (c) Wer eine Zuordnung vorschlägt, erhebt einenSollgeltungsanspruch. (d) Fragen dieser Zuordnung sind Fragen der normativen Richtigkeit. (e)Normen sind generalisierte Verhaltenserwartungen. (f) Zuordnungen von deontischen Operatorenzu Handlungsweisen werden durch Argumente gerechtfertigt. Unter modernen Bedingungenscheiden andere Formen der Zuordnung als Rechtfertigung aus. (g) Wer argumentiert, derdiskutiert. Mit Argumenten will man überzeugen. Man erheischt die Zustimmung, d.h. denKonsens aller, indem man argumentiert. (h) Wer sich auf Argumentationen in bezug [auf] Fragender normativen Richtigkeit einläßt, akzeptiert implizit eine Reihe von Diskursregeln. Diese lassensich explizieren und in Gruppen gliedern (Habermas 1983). Die allgemeine Beachtung der Regelnkonstituiert eine ideale Gesprächssituation. Diese ermöglicht einen Diskurs. (i) Nur gerechtfertigteNormen verdienen das Prädikat »gültig«.“ (1998: 9)

führen ihn zu der Schlußfolgerung:

„Wer in bezug auf Zuordnungen von Handlungsweisen zu deontischen Operatoren alsgeneralisierten Verhaltenserwartungen argumentiert, der erkennt an, daß nur die Normen dasPrädikat „gültig“ verdienen, die die Zustimmung aller von der Normgeltung Betroffenen alsTeilnehmerInnen an praktischen Diskursen finden können (»D«).“ (ebd.)

Diese Prämissenmenge ist wesentlich dichter. (a) bis (e) kommen noch ohne einen

Argumentationsbegriff aus. (b) soll wohl meinen: Handlungsweisen können deontische

Operatoren in verschiedener Weise zugeordnet werden. In Prämisse (f) kommt nun bereits die

Situation der Moderne zum Ausdruck, die (1996; 1997) erst im Übergang zu »U« erforderlich

schien (s.u.). Doch wie steht es mit Kant und anderen Moralphilosophen vor der

sprachpragmatischen Wende? Ich würde sagen, nicht nur die Moderne, sondern die

sprachpragmatische Wende ist in (f) vorauszusetzen.

Wozu dient in (g) der erste Satz „Wer argumentiert, der diskutiert“? Er kann m.E. gestrichen

werden, da von Diskussion im folgenden nicht die Rede ist. Der letzte Satz wäre klarer so

gestellt: „Indem man argumentiert, erheischt man die Zustimmung, d.h. den Konsens aller.“

Daß Gründe sich an präsumptiv alle richten, ist eine zentrale, m.E. aber haltbare Prämisse

(vgl. die Bemerkungen zu Kettner). Allerdings wird in der Schlußfolgerung nur noch von

„allen von der Normgeltung Betroffenen“ gesprochen; dies ist irreführend, da es die

Assimilation von »D« an ein politisches Konsensprinzip nahelegt. Ott (in 1998: 13) läßt sich

entnehmen, daß »Betroffene« mit »NormadressatInnen« identisch sind. Wären dann bei den

Konkurrenzverhältnisse bestehen. Dann zählt der relative Vorteil, und der darf sich nicht verkleinern, sonstriskiert man eine langfristige, absolute Verschlechterung der Position.

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universalistischen Normen der Moral nicht jede und jeder betroffen? Ich denke, daß »D« als

Moralprinzip hierin zu korrigieren ist, um Mißverständnisse zu reduzieren.90

In (h) kann „in bezug [auf] Fragen der normativen Richtigkeit“ gestrichen werden. In „Die

allgemeine Beachtung …“ kommt das kontrafaktische Moment der idealen Sprechsituation

nicht genügend zum Ausdruck; ich fände „Die Unterstellung der allgemeinen Beachtung …“

besser, gefolgt von „Ihre Befolgung im von den Teilnehmenden als ausreichend angesehenem

Umfang ermöglicht den Diskurs.“ Doch dies ist bereits teilweise eine Anwendungsfrage

(s.u.).

Prämisse (i) enthält eine Wenn-Dann-Beziehung und keine Äquivalenz. Letztere ist für die

von Ott gewählte Formulierung von »D« aber erforderlich („Gültig sind genau die

Handlungsnormen, …“; Habermas 1992 zitiert nach Ott 1998 (!); s.o.). Dies ist von Ott auch

in der oben zitierten Schlußfolgerung angegeben: „… nur die …“ ist zu wenig gegenüber dem

behaupteten Beweisziel »D«. Wie wir im folgenden sehen werden, interessiert Ott die

Zustimmungsfähigkeit nur als eine notwendige Bedingung für die Gültigkeit. Er zitiert die

»U«-Version von (1983a), die keine Äquivalenz beinhaltet (s. Fußnote 45), könnte also auch

eine entsprechende Formulierung von »D« wählen (Habermas schwankt hier; s. Fußnote 48).

In der von Ott formulierten Konklusion steht außerdem, anders als in der von ihm gewählten

»D«-Formulierung, „können“ und nicht „könnten“. Warum?

Die Begründung von »U« erfordert mehr als nur »D«

These: Da Ott »D« abschwächt, erfordert »U« nun eine oder mehrere zusätzliche normative

Prämissen (gx) – sowie eine Folgenakzeptanzregel. Von den sieben (1996b) bzw. sechs

(1997) vorgeschlagenen Alternativen können aber höchstens drei auch hinreichen. In der

Version von (1998) finden sich nur noch drei dieser Prämissen, von denen eine aber mit der

Folgenakzeptanzregel identisch ist.

Ziel des Schrittes von »D« nach »U« ist die Formulierung einer Argumentationsregel, die

Normen dann als zustimmungsfähig ausweist, wenn sie im „gleichmäßigen Interesse“ aller

sind. Ich kommentiere dieses Schritt wie folgt: »U« betrifft die Gleichheit auf der

Handlungsebene, und die wird auch unter egalitären Teilnahme- und Redechancen im Diskurs

sich nicht notwendig einstellen, sondern beruht auf einer zusätzlichen normativen Prämisse:

Nämlich (e4).

90 Wenigstens sollte darin von „NormadressatInnen“ die Rede sein, im Rahmen einer universalistischen Moral

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Ott schlägt (1996b: 43f. und 1997: 294) nun einige Prämissen (gn) vor, die m.E. letztlich (e4)

stützen sollen, von denen aber jedenfalls mindestens eine als gültig anerkannt werden müsse,

um zu »U« zu gelangen.

(g1-96/7) Habermasens Idee der Rechtfertigung von Normen ist analytisch wahr und darfdaher jeder Prämissenmenge hinzugefügt werden (Keuth, 1993)

Die Aussage (g1) ist nach Otts Ansicht falsch und dient wohl nur als Spitze gegen H. Keuth.

Von den anderen sechs Prämissen waren zwei offensichtlich deplaziert, worauf ich (und

wahrscheinlich auch noch andere Menschen) Ott noch 1996 hingewiesen haben: (g3-96) und

(g7-96) sind identisch mit (e1) und somit schwächer als (e3) oder gar (e4), jedenfalls aber

bereits Teil von (e).

(g2-96/7) Der Gebrauch der Personalpronomina hat egalitäre Implikationen (Humboldt,1829)

(g3-97 = g4-96) »Everyone to count for one and nobody for more than one« (vgl. Bentham)

(g4-97 = g5-96) Wir erkennen uns wechselseitig als Personen an, die einander respektieren.Unsere Standpunkte sind gleichermaßen der Berücksichtigung wert (Honneth1992; Benhabib 1990)

(g5-97 = g6-96) Wir müssen eine moderne, pluralistische Situation voraussetzen, in der es beiunterschiedlichen Wertvorstellungen Normen festzulegen gilt (Rehg, 1991)

(g6-97) Im vernünftigen Leben erkennen sich die Beteiligten praktisch gegenseitig alsPersonen an (Kambartel, 1989)

Aus (g5-97) folgt in puncto Egalität überhaupt nichts. (g6-97) scheint mir auch zu schwach,

wenn nicht im Sinne von (g4-97) gemeint (und dann überflüssig). Einzig (g2), (g3-97) und

(g4-97) könnten hinreichen, (e4) zu begründen – je nachdem, wofür ‘egalitäre Konsequenzen’

entstehen, oder was ‘to count’ bzw. ‘einen Standpunkt gleichermaßen berücksichtigen’ meint.

Jedenfalls läßt es sich nachträglich rechtfertigen, daß (e) nicht bereits als (e4) zu lesen ist,

denn dann wäre jedes (g) überflüssig.91

Die Prämisse (g2-96/97) wurde in (1998) erläutert, die Prämissen (g6-97) und (g4-97) wurden

zu einer verschmolzen und eine dritte Prämisse hinzugefügt; alle weiteren Möglichkeiten

wurden, bis auf (g3/97) wohl zurecht, fallengelassen:

(j1) Der Gebrauch des Systems der Personalpronomina (ich, du) hat egalitäre Konsequenzen fürAnerkennungsverhältnisse (Humboldt 1829).

dann aber: „jeder und jedes einzelnen“.91 Ott zufolge könne man „sogar versuchen, die innere Dichte der Ableitung zu erhöhen, indem man versucht,einige der (g)-Annahmen als pragmatische Implikate der [rhetorischen] Diskursregeln 3.1-3.3 nachzuweisen“(1997, 294). Genau das ist die Begründungsidee von Habermas.

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(j2) Im vernünftigen Leben erkennen sich die Beteiligten gegenseitig praktisch als Personen an.Ihre jeweiligen Standpunkte, Wertvorstellungen und Interessen sind gleichermaßen undgleichmäßig zu berücksichtigen.

(j3) Die Akzeptabilität von Normen bemißt sich anhand ihrer Konsequenzen für alle Betroffenen.

Diese letzte Prämisse paßt hier aber überhaupt nicht hinein – eine Egalität trägt sie nicht bei.

Die „faire Berücksichtigung aller Interessen, Standpunkte und Wertvorstellungen“ (Ott 1998:

10) ist ja schon in der dritten Gruppe der Diskursregeln ausgedrückt (so verstehe ich diese

Stelle); nötig wäre also eine darüber hinausgehende gleiche Berücksichtigung, d.h.

„gleichermaßen und gleichmäßig“, sei es nun von Interessen, Konsequenzen o.Ä., aller

Betroffenen. Daß Ott (j3) als „regelutilitaristisch“ bezeichnet, bringt das Problem klar heraus,

denn der Utilitarismus ist ja (in seiner Standardvariante) blind gegenüber ungleichen

Nutzenverteilungen, da nur die Nutzensumme über alle Individuen betrachtet wird. Außerdem

halte ich den Nutzenbegriff im Zusammenhang von »U«, und dahin soll (j3) ja führen können,

für irreführend (vgl. die Bemerkungen zu Rehg).

Schließlich führt Ott eine letzte Prämisse ein, die auf die Folgen-Formulierung in »U« und

damit schließlich zu »U« führt: Wer einer Norm zustimmt, anerkennt idealiter auch die

„Folgen und Nebenwirkungen einer (hinreichend) allgemeinen Normbefolgung“ (Z ~> F).

Genauer müßte es heißen: „Folgen und Nebenwirkungen für die Befriedigung der Interessen

eines jeden einzelnen …“. (Z ~> F) ist, da als Implikation formuliert, richtig, auch wenn für

einen Gesinnungsethiker andere Faktoren wichtig und Folgenbetrachtungen per se irrelevant

sein mögen (vgl. aber die oben dargelegten Überlegungen von W. Rehg zu direkten Folgen).

Nun sieht man, daß wenn (j1) oder (j2) egalitäre Konsequenzen haben und (Z ~> F) gilt, (j3)

ohnehin erfüllt sein muß; (j3) ist also nicht nur zu schwach, sondern auch überflüssig.

Nun zieht Ott zusammen: »D« & (Z ~> F) & (gx) [bzw. (jx) in 1998; NG] ~> »U«.

Dabei bezeichnet „~>“ die Ottsche pragmatische Implikation. Ob allerdings in (1998) eine

pragmatische oder eine materiale Implikation gemeint ist, läßt der Text offen.

Ott nutzt von der Äquivalenzbeziehung »D« jedenfalls nur die eine Richtung. Sein »U« läßt

es daher zu, daß Normen neben »U« noch weiteren Regeln genügen müssen, um gültig zu

sein. Falls Habermas »U« als Äquivalenz gemeint hat, was oben nicht geklärt werden konnte,

bekommt es bei Ott schon hier einen etwas anderen Sinn, in Anbetracht der Äquivalenz-

Formulierung von »D«.

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- 97 - -

Die Architektur: »D« als Moralprinzip vor »U« als Argumentationsregel

These: Dies ist fatal. Wenn »D« bereits das Moralprinzip ist, wohin führen dann zusätzliche

normative Prämissen? Auf ein Hypermoralprinzip?

Ott bezeichnet bereits »D« als Moralprinzip, obwohl eine wichtige normative Prämisse,

nämlich (gx) bzw. (jx), noch nicht darin enthalten ist. Dann gäbe es zwei Moralen, eine

schwache und eine starke.

Habermas nennt »U« die Operationalisierung von »D«; außerdem könne die Diskursethik auf

die sparsame Formel »D« gebracht werden. Ich glaube nicht, daß er dabei an die Einsparung

von normativen Gehalten gedacht hat. »U« sollte vielmehr zeigen, daß ein Konsens möglich

ist, und nicht (wie Ott es versteht), die (gesteigerte?) Moralität der Diskursergebnisse

sicherstellen. Unter den Bedingungen der Moderne, die Ott zurecht in »D« bereits

eingegangen sieht, können wir doch schlicht erwarten, daß die Teilnehmenden keine Normen

zwanglos akzeptieren, die inegalitären Anerkennungsverhältnissen entsprechen – denn warum

sollten sie? Logisch unmöglich ist eine solcher Ausgang nicht, daher erfordert es normative

Prämissen, einen egalitären Ausgang per Regel zu erzwingen. Das zeigt Otts

Ableitungsversuch. Doch egalitäre Anerkennungsverhältnisse werden sich ohnehin einstellen.

Ich glaube daher, daß »U« in dieser Hinsicht redundant ist (vgl. unten auch Benhabibs

Argumente).

Die Formulierung von »U«: Streichung der „Interessen“

These: Dies geht daneben. Die Streichung der ‘Interessen’ macht die normative Prämisse, die

Ott zwischen »D« und »U« für erforderlich hält, wieder unsichtbar.

Da es sich in »U« nur noch um (e4)-Interessen handeln darf, schlägt Ott (1996b, 1997) vor,

jeglichen Hinweis auf Interessen zu tilgen (was er in 1998 stillschweigend einfach getan hat).

Dabei kann allerdings die Gleichmäßigkeit der Interessenberücksichtigung nicht mehr

ausgedrückt werden, die gerade in »U« hineingesteckt wurde – selbst wenn die Rede von

„Interessen“ Mißverständnisse nahelegt. Warum nicht Habermas‘ 1996er Formulierung

nehmen (s. Fußnote 45)?

Die „allgemeine Befolgung“, die in der Formulierung enthalten bleibt, verweist m.E. nicht nur

auf ein marginales Folgeproblem, sondern ein Kernproblem: Warum nicht eine Norm unter

realistischer Berücksichtigung ihres voraussichtlichen Befolgungsgrades auf allgemeine

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- 98 - -

Zustimmung überprüfen? Natürlich muß eine Norm diesen Test bestehen, aber warum nicht

den strengeren der nicht-allgemeinen Befolgung? Keine Norm wird immer und überall

ausnahmslos befolgt, und welche Norm dadurch schon ihre Zustimmungsfähigkeit einbußt,

taugt nicht viel für die Praxis. Von Niquet wird dieses Problem, ein Anwendungsproblem,

wieder aufgenommen werden (s.u.).

Der 1998er Versuch zu einer Begründung von »D« erscheint, unter Berücksichtigung der

genannten Modifikationen insbesondere betreffs der pragmatischen Implikation, als gelungen.

Der Versuch, Annahmen der Diskursethik in Form von Prämissen offenzulegen und die Art

ihrer Verbindung (per pragmatischer Implikation) einer Klärung näherzubringen, ist nützlich

schon allein deshalb, weil es die Diskussion um die Diskursethik weiter voranbringen wird.

Die Positionierung von »U« gegenüber »D« wirft jedoch zu viele Fragen auf, als daß sie

überzeugend wirken kann.

Vorschläge zur partiellen Neubestimmung derDiskursethik und ihres Begründungsprogramms

Die folgenden Ansätze enthalten m.E. zentrale Einwände und Anregungen für die

Diskursethik, die von Habermas im Falle von Wellmer auch unter explizitem Verweis

aufgenommen worden sind. Ich will diese daher kurz skizzieren, auch wenn sie in ihren

Begründungsansprüchen weniger strikt sind als die bisher untersuchten Ansätze.

Das fortwährende Moralgespräch – S. Benhabib (1990)

Gegen die universalpragmatische Begründung der Diskursethik aus den „Präsuppositionen

von Sprechhandlungen, die der Befähigung kompetenter moralischer Aktoren auf der

postkonventionellen Entwicklungsstufe entsprechen“, wendet S. Benhabib in einem Ende der

achtziger Jahre entstandenen Aufsatz zweierlei ein: Erstens, worauf schon Th. McCarthy

hingewiesen habe, gibt es keine übereinstimmende Beschreibung der Kompetenz moralischer

Subjekte, die eine postkonventionelle Moralstufe erreicht haben.

Habermas‘ Beschreibung dieser »Befähigung« ist nur eine unter vielen, etwa jener von John Rawlsund Lawrence Kohlberg: Auf der Stufe postkonventioneller Moralauffassungen gehörenReversibilität, Verallgemeinerbarkeit und Unparteilichkeit immer zu den Aspekten desmoralischen Gesichtspunktes; die wirkliche Herausforderung des Problems besteht in einerannehmbaren oder adäquaten Beschreibung dieser formalen Merkmale des moralischenStandpunktes.“ (Benhabib 1992b: 41)

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- 99 - -

Zweitens sei damit eine Begründung der Geltung dieser Präsuppositionen noch nicht geleistet

(wenn man einen Sein-Sollens-Fehlschluß vermeiden wolle). Und drittens sei in Habermas‘

Rekonstruktionsversuch der diskursiven Praxis die Frage schlicht als beantwortet

vorausgesetzt, „wer, welche Gruppe von Menschen, als »Gesprächspartner« akzeptiert wird

und wer nicht“ (44) – nämlich: Jede und jeder.

Die Grundsätze universaler Achtung und egalitärer Reziprozität, die Habermas aus der

idealen Sprechsituation als Präsupposition der Argumentation herleiten wollte, bedürften

daher einer erneuten Begründung. Benhabib plädiert dabei für einen „Universalismus, der

sich seiner Geschichtlichkeit bewußt ist.

Die Grundsätze universaler Achtung und egalitärer Reziprozität sind unsere philosophischeKlärung der Konstituenten des moralischen Gesichtspunktes im Rahmen des Erkenntnishorizontsder Morderne. […] Zu diesen Grundsätzen gelangt man duch Herstellung eines»Überlegungsgleichgewichts« im Sinne Rawls‘, wobei man, als Philosoph, kulturell festgelegtemoralische Intuitionen im Licht klarer philosophischer Grundsätze analysiert, verfeinert undbeurteilt – ein Verfahren, das schließlich in eine »dichte Beschreibung« (thick description; CliffordGeertz) der moralischen Grundannahmen mündet, die den kulturellen Horizont der Moderneausmachen.“ (42).

Warum das so ist, sehen wir schnell ein, wenn wir uns das Begründungsprogramm vorlegen,

wie es Benhabib skizziert hat.

Begründungsschritte

Benhabib schreibt:

„Die einzelnen Schritte, die zur Festlegung der Normen der universalen moralischen Achtung undegalitären Reziprozität führen, sind:

1. Eine philosophische Theorie der Moralität muß zeigen, worin die Begründbarkeit moralischerUrteile und normativer Behauptungen besteht.

2. »Begründen« bedeutet zu zeigen, daß Ich und Du, wenn wir über ein bestimmtes moralischesUrteil (etwa Es war falsch, den Flüchtlingen nicht zu helfen, sie auf offener See sterben zu lassen)und verschiedene normative Feststellungen (Schulische Bildung sollte bis zum 19. Lebensjahr füralle kostenlos sein) diskutieren, im Prinzip zu einem rationalen Einverständnis gelangen können.

3. Ein »rationales Einverständnis« muß unter Bedingungen zustande kommen, die unserenVorstellungen von einer fairen Debatte entsprechen.

4. Die Regeln der fairen Auseinandersetzung können als die »universalpragmatischen«Präsuppositionen der argumentativen Rede gelten und in Form einer Reihe von Spielregeln Gestaltannehmen.

5. Diese Regeln spiegeln das moralische Ideal der gegenseitigen Achtung wider, das darauf beruht,daß wir einander als Wesen Grundsatz universaler moralischer Achtung); und schließlich solltenwir

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- 100 - -

6. einander als konkrete menschliche Wesen behandeln, deren Fähigkeit, diesen Standpunkt auchauszudrücken, wir fördern sollten, indem wir, wo immer möglich, soziale Verhaltensweisenpflegen, die das diskursive Ideal (den Grundsatz der egalitären Reziprozität) verkörpern.“ (42f.)

Die letzten beiden Schritte führten auf substantielle moralische Normen. Offenbar sei man

dahin „nicht durch philosophische Schlußfolgerungen von Schritt 1 bis 4 gelangt“, sondern

durch eine „Gruppe von Argumenten und Überlegungen […], die alle einzeln und für sich

dazu beitragen, diesen Grundsatz als moralische Grundnorm in den Mittelpunkt zu rücken“

(43). Eines dieser Argumente sei jedoch „in der Tat ein universalpragmatisches“:

„Jede argumentative Auseinandersetzung bedingt eine grundsätzliche Achtung desGesprachspartners – eine solche Achtung gehört zu unserer Vorstellung von fairer Argumentation;ein kompetenter Partner in einem solchen Gespräch zu sein bedeutet folglich, den Grundsatz derwechselseitigen Achtung zu respektieren.“ (43)

Schritt 5 sei also „in diesem Sinne eine Erklärung des materialen normativen Gehalts der

Begriffe Argumentation, faire Debatte etc.“. Diese Aussage widerlegt sie allerdings ungewollt

gleich selbst, denn Schritt 5 besagt ja ungleich viel mehr; in ihm gehe es um die universale

moralische Achtung, und im gerade ausgeführten Argument könne ja noch von einer

partikularen Gruppe von Argumentationsberechtigten ausgegangen werden.

Ein weiteres Argument, das so, wie von Benhabib vorgetragen, aber auch keinen

Universalismus plausibilisieren hilft, „stammt aus der Theorie des gesellschaftlichen

Handelns“ (44).

„Jedes kommunikative Handeln setzt Symmetrie und Reziprozität normativer Erwartungen unterGruppenmitgliedern voraus. Wir werden dadurch zu Mitgliedern einer Gruppe von Menschen, daßman uns im Sinne dieser Wechelseitigkeit behandelt. »Respekt« oder »Achtung« sind Haltungenund moralische Gefühle, die erst aus solchen Vorgängen der kommunikativen Sozialisierungerwachsen.“ (ebd.)

Reziprozität wird im ganzen Text nicht weiter ausgeführt. Und die „universale Achtung“ wird

fälschlicherweise mit der goldenen Regel gleichgesetzt:

„Somit ist auf einer Ebene die intuitive Idee hinter den Normen der universalen Achtung uralt, sieentspricht der traditionellen »goldenen Regel« - Behandle die anderen so, wie du von ihnenbehandelt werden willst. Verallgemeinerbarkeit bedingt, daß die Mitglieder einerMoralgemeinschaft ihre Standpunkte vertauschen (»Perspektivenumkehr«), das heißt, auch vomStandpunkt des oder der anderen urteilen.“ (44; Herv. NG)

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Vom Übersetzungsproblem einmal abgesehen (»wechselseitige Perspektivenübernahme«

sollte es heißen), scheint Benhabib zu übersehen, daß mit der goldenen Regel doch gerade die

Perspektivenübernahme vermieden, sondern die eigenen Vorstellungen projiziert werden!92

Die Fähigkeit zur wechselseitigen Perspektivenübernahme kann sich nach Benhabib auf eine

konkrete Gemeinschaft beschränken, ohne daß deren (Binnen-)Anerkennungsstrukturen

dadurch unmöglich würden (während Habermas gerade das universalistische Moment darin

aufgegriffen hat). Bei Benhabib wird der Übergang von der (sozialisationsnotwendigen)

partikularen zur universellen Reziprozität als Erfordernis der Moderne herausgestellt:

„Moderne unterscheiden sich von den sogenannten prämodernen Ethiktheorien dadurch, daß sieden Begriff der Moralgemeinschaft auf alle sprach- und handIungsfähigen Wesen, also potentiellauf die gesamte Menschheit, ausdehnen. [Fußnote zu nicht diskursfähigen Menschen.] In diesemSinn erstellt kommunikative Ethik ein Modell des Moralgesprächs unter Mitgliedern einermodernen ethischen Gemeinschaft, für die theologische oder ontologische Begründungen derUngleichheit menschlicher Wesen radikal in Frage gestellt sind.“ (45)

Die Moderne erlaube es jedoch, auch dieses vermeintliche Dogma in Frage zu stellen:

„Indem die Grundannahmen des moralischen Gesprächs innerhalb dieses Gesprächs in Fragegestellt werden dürfen, bleiben sie im Geltungsbereich der Argumentation. Insofern sie aberpraktische Regeln darstellen, die nötig sind, um ein solches moralisches Gespräch in Gang zuhalten, können wir sie zwar einklammern, um sie zu prüfen, nicht aber insgesamt außer Kraftsetzen.“ (ebd.)

Während konventionelle Moralen an irgendeinem Punkt „vom Standpunkt aller Beteiligten,

nicht genügend verallgemeinerungsfähig“ sind, unterliegt die kommunikative Ethik keiner

Einschränkung an Reflexivität.

„In einer entzauberten Welt verweist jede Einschränkung der Reflexivität auf einen Mangel anRationalität; nur ein moralischer Gesichtspunkt, der alle Verfahren der Rechtfertigung –einschließlich seiner eigenen – grundsätzlich in Frage stellt, kann die Bedingungen für einMoralgespräch schaffen, das offen und rational genug ist, um auch andere Gesichtspunkteeinzuschließen, auch die Perspektive jener, die ab einem bestimmten Punkt ihre Gesprächshaltungaufgeben. In diesem Sinne sticht die kommunikative Ethik andere, weniger reflexive moralischeGesichtspunkte aus (trumps them, wie Ronald Dworkin sagt); sie kann mit ihnen koexistieren undderen kognitive Schranken als gegeben hinnehmen.“ (59)

Hinzuzufügen wäre, daß nicht nur keine konventionelle, sondern auch keine andere Ethik der

postkonventionellen Stufe den Vorteil bietet, im Rahmen ihrer selbst ihre Grundlagen

reflektieren und für Kritik offen halten zu können.

92 Dies ist kein marginaler Punkt, da sie mehrfach Beipiele nach der goldenen Regel deutet (70f.). Bestenfallskönnte man sagen, daß es sich hierbei um einen Startpunkt moralischer Überlegungen handelt (ihre Beispielehandeln vom Moraldialog mit Kindern).

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Die Beweislast für den legitimen Ausschluß potentieller Diskursteilnehmer liege jedenfalls –

so Benhabib – beim Kritiker. Dabei kommt Benhabib der glückliche Umstand entgegen, daß

die meisten Partikularisten auch noch umfassend missionieren wollen:

„Im allgemeinen sollen aber etwa die Frauen nicht nur verschieden behandelt werden, sondern siesollen dies auch noch wollen, indem sie verstehen, daß dies natürlich sei; Nicht-Weiße sollenfreiwillig und dankbar die Überlegenheit des weißen Mannes anerkennen; Ungläubige sollenbekehrt werden, damit sie den richtigen Weg zu Gott erkennen.“

Nur unter dieser Bedingung wäre es für den Partikularisten nicht rational, auf deren

Zustimmung zu verzichten bzw. sie gar nicht erst ins moralische Gespräch einzubeziehen.

Werden sie aber einbezogen, können sie auch widersprechen. Benhabib glaubt schließlich,

unter dieser Bedingung folgern zu können:

„Behauptungen, die von der Ungleichheit der Menschen ausgehen, sind somit entweder irrational,das heißt, sie können die Zustimmung derer, die gemeint sind, nicht gewinnen, oder ungerecht,weil sie die Mög1ichkeit des Widerspruchs der Adressaten von vornherein ausschließen.“ (46)

Der erste Teilsatz ist ersichtlich falsch – denn nur weil sie widersprechen können, heißt das

noch nicht, daß sie widersprechen müssen. Der zweite Teilsatz zehrt von einem

Gerechtigkeitsbegriff, der derjenige der Moderne ist, und dem ein Partikularist ja gerade nicht

anhängen wird. Doch eigentlich möchte ja Benhabib auch gar kein echtes Argument für die

Moderne anbringen, sondern diese als unseren historischen Kontext aufzeigen.

Ihre Moralbegründung ist also tatsächlich »schwach«, so schwach allerdings, daß es sich hier

nicht lohnt, sie nachzuvollziehen. Insbesondere ist es verwirrend, daß sie zwar von einzelnen

Argumenten für die beiden Grundsätze spricht, aber nicht klar ist, was wodurch begründet

werden soll. So wird etwa »U« als „redundant“ und »D« als „Prämisse“ bezeichnet (51).

Revisionen

Wichtiger als ihre Überlegungen zu einer (Neu-)Begründung der Diskursethik sind die

Revisionen, die Benhabib an ihr vornimmt:

1. Die Diskursethik betrifft nicht irgendwelche abgehobenen Gedankenexerimente, sondern

die „Fortsetzung ganz gewöhnlicher Moralgespräche, in deren Verlauf wir uns darum

bemühen, die Sichtweise des oder der konkreten anderen zu verstehen und anzuerkennen“

(70, Herv. NG). Allerdings: Die „Diskursethik projiziert solche Moralgespräche, die auf

wechselseitiger Achtung beruhen, auf eine utopische Gemeinschaft der Menschheit.“ (71).

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2. In diesen Gesprächen gehe es auch nicht bloß um Fragen der Gerechtigkeit, dies sei eine

Unterbestimmung des Moralischen (55). Der andere tritt nicht als (potentieller) Träger von

unpersönlichen Rechten gegenüber, die Diskursethik sollte nicht auf ein „Modell der

politischen Legitimität“ reduziert werden (53).93 Es ginge in Moraldiskursen zwar vorrangig

um Normen, sie erlauben aber auch „Moraldebatten über unsere Auffassungen des guten

Lebens und macht sie dadurch der moralischen Reflexion und der moralischen

Transformation zugänglich“ (85). Auch wenn allgemeinverbindliche Definitionen des guten

Lebens in der Moderne nicht erforderlich und einmal erwünscht sind, können unsere

Vorstellungen dazu „ebenso wie unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit Gegenstand

intersubjektiver Debatte und Reflexion sein“ (84).

3. Ein solches Dialogverhalten – „Gespräch und wechselseitiges Verständnis“ – zu befördern

ist das Ziel der Diskursethik, nicht „Konsens“ (71). Diese Forderung trifft sich einerseits mit

der Fallibilität von konsentierten Richtigkeitsüberzeugungen (Habermas), betont aber

andererseits mehr den Wert des Prozesses als des Ergebnisses, d.h. „die Idee eines

fortwährenden Moralgesprächs“ (52). Was diese Fortführung unmöglich macht, kann daher

(auch ohne daß ein Diskurs wirklich geführt werden muß) im Lichte der Diskursethik

abgelehnt werden. Mehr noch, „wir würden vielmehr fragen, was erlaubt – vielleicht sogar

notwendig – wäre, um die Praxis des Moralgesprächs auf Dauer zu gewährleisten“ (ebd.).

Damit scheint sie strategisches Handeln zur Herstellung der Bedingungen der Praktizierung

von »D« zumindest nicht auszuschließen.

4. Habermas sieht in »U« eine „Garantie für die Herstellung von Konsens“;94 wegen der

Betonung des Prozeßcharakters gegenüber dem Ergebnis ist »U« überflüssig; es fügt „der

grundlegenden Prämisse der Diskursethik, >D<, nichts Wesentliches hinzu, führt aber zu

einer konsequentialistischen Verwirrung“ (51).95 »U« sollte daher besser aus der Diskursethik

gestrichen werden.

„>D< und jene Argumentationsregeln, die den Diskurs leiten – und deren normativen Gehalt ich[unter Hinzunahme der universalistischen Grundannahmen der Moderne, was Benhabib hierübergeht; NG] in den Begriffen universale moralische Achtung und egalitäre Reziprozität

93 Vor dieser Tendenz warnen gerade viele der wohlwollenden Kritikerinnen und Kritikern der Diskursethik, z.B.Wellmer 1986 und Kambartel 1989.94 Habermas schreibt dazu, daß »U« „Einverständnis in moralischen Argumentationen möglich macht“ (1983a:67). Es kann also höchstens von einer Garantie für die Herstellbarkeit eines Konsenses gesprochen werden, oderbesser davon, daß »U« die Findung eines Konsenses möglich macht (aber eben nicht: garantiert).95 Diese Beobachtung bezieht sich im wesentlichen auf den angelsächsischen Sprachraum, wo die Diskursethikals eine Variante des Regelutilitarismus mißverstanden zu werden scheint (s. den Abschnitt zu Rehg).

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zusammengefaßt habe –, reichen meiner Meinung nach als Universalisierungstest bereits aus.“(51)

Benhabib geht es um die „prozeßhafte Erzeugung vernünftigen Einverständnisses über

Moralprinzipien vermittels eines potentiell unendlichen Moralgesprächs“ (51).

5. Einer Diskurstheorie als poltitischer Philosophie gehe es nicht um die Ersetzung sämtlicher

Institutionen durch Diskurse. Sie ist nämlich „keine Theorie der Institutionen“, die letztlich

immer unter pragmatischen Zwängen funktionieren müssen, kann aber „Rückwirkungen auf

diese“ haben (64); „sie entwickelt vielmehr ein normatives und kritisches Kriterium zur

Beurteilung bestehender institutionalisierter Einrichtungen“ im Hinblick auf die

Unterrepräsentation bzw. die Ausgrenzung oder das Verschweigen „bestimmter Arten von

Interessen“ (ebd.).

6. Im moralischen Urteilen im Rahmen eines solchen Moralgesprächs sei kein

prinzipienorienterter Rigorismus gefragt, sondern Urteilen bedingt gerade – wie Benhabib im

Anschluß an H. Arendts Interpretation der Kantischen »reflektierenden Urteilskraft« feststellt

– „die Fähigkeit, sich die verschiedenen Blickwinkel und Bedeutungsschichten, die eine

»Situation« ausmachen, zu vergegenwärtigen, sie so »mit zu repräsentieren«“ (73). Die

erforderliche „Feinfühligkeit für das Partikulare“ bedingt „gewisse interpretative und

narrative Fertigkeiten“, wie es die Forderung nach wechselseitiger Perspektivenübernahme

bereits zum Ausdruck bringt (ebd.).

Damit schlägt Benhabib eine abgeschwächte und dadurch inklusivere Variante der

Diskursethik vor, die viele unplausibel oder überzogen erscheinende Festlegungen

zurücknimmt. Auch weist sie überzeugend darauf hin, daß die Bedingungen dafür, Diskurse

führen zu können, keine kontingenten Diskursergebnisse sind, ohne dies zu einem Teil B zu

verabsolutieren (s.u. im Anwendungskapitel zur Transzendentalpragmatik).

Auch A. Wellmer plädiert nach einer scharfsinnigen Kritik an der Diskurstheorie als

Konsenstheorie der Wahrheit/Richtigkeit für eine abgeschwächte, inklusivere Variante.

Richtigkeit als Einwandfreiheit – A. Wellmer (1979/1986)

Zuerst 1979 in einem unveröffentlichten (jedoch in Frankfurt zirkulierenden) Manuskript,

dann 1986 in Buchform (Wellmer 1986) und später auch in einigen Aufsätzen (Wellmer

1992; Wellmer 1993) hat A. Wellmer eine einflußreiche Kritik an der Diskursethik

vorgebracht und eine „schwächere Version der Konsenstheorie“ vorgeschlagen.

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Kritik an der Konsenstheorie

Seine Bedenken gegen die Diskursethik betreffen zwei Hauptpunkte: Einerseits sei sie noch

zu nah bei Kant in ihren konsenstheoretischen Voraussetzungen (d.h. ihren formal-

idealisierenden Begriffsbildungen und ihrer Orientierung an einem "Reich der Zwecke"). Sie

versuche eine direkte Ableitung einer universalistischen Vernunft aus universalen Strukturen

der Vernunft. Statt dessen schlägt Wellmer eine fallibilistische Deutung von Konsensen vor

und plädiert für einen schwachen und mehrdimensionalen Begründungsanspruch.

Andererseits sei die Diskursethik zu wenig kantisch: So sei die Moral zusehr nach dem Bilde

des Rechts modelliert (auch dies hänge mit der Konsenstheorie zusammen).

Wellmer faßt die Habermassche Konsenstheorie der Wahrheit bzw. Richtigkeit nach der

Diskussion einiger alternativer Interpretationen so zusammen, daß „»wahr« oder »gültig«

genau jene Geltungsansprüche genannt werden dürfen, über die ein diskursiver Konsens unter

Bedingungen der idealen Sprechsituation herbeigeführt werden könnte“ (69).96 Die

Hauptlinien seiner Kritik kündigt er dann wie folgt an:

„Durch die Grundthese der Konsenstheorie wird somit erstens die »Rationalität« von Konsensendurch die formalen Strukturmerkmale einer idealen Sprechsituation und wird zweitens »Wahrheit«als Inhalt eines rationalen Konsenses definiert. Ich möchte demgegenüber zeigen, daß sich (1) dieRationalität von Konsensen nicht formal charakterisieren läßt, (2) daß Rationalität und Wahrheitvon Konsensen nicht zusammenfallen müssen, daß deshalb (3) der rationale Konsens keinWahrheitskriterium sein kann und daß schließlich (4) eine nicht-kriteriale Interpretation derKonsenstheorie diese, wenn nicht gehaltlos, so doch ungeeignet machen würde für die Stützungeines diskursethischen Universalisierungsgrundsatzes.“ (70)

1. »Unmöglichkeit der formalen Charakterisierung der Rationalität von Konsensen«:

„Meine These ist, daß unsere Beurteilung von Konsensen als rational von unserer Beurteilungunserer (eigenen oder gemeinsamen) Gründe als triftig abhängt. Diese Abhängigkeit ist einelogische (begriffliche): der Begriff eines durch Gründe herbeigeführten Konsenses setzt den einerdurch Gründe herbeigeführten Überzeugung voraus. … Die Wahrheit folgt nicht aus derRationalität des Konsenses, sondern aus der Triftigkeit der Gründe, die ich für einenGeltungsanspruch anführen kann und von der ich mich überzeugt haben muß, bevor ich von derRationalität des Konsenses sprechen kann. Nun können sich solche Gründe aber im Prinzip immernachträglich als unzureichend erweisen. Wenn das aber geschieht, kann es unmöglichgleichbedeutend sein mit der Entdeckung, daß ein früherer Konsens nicht rational war in demSinne, daß die Symmetrie- und Freizügigkeitsbedingungen der idealen Sprechsituation nichtrealisiert waren. Wenn diese vielmehr formal charakterisiert waren, dann darf unser Urteil darüber,ob sie vorliegen, gerade nicht davon abhängen, welche Gründe wir jeweils für triftig halten.Anderenfalls würde sich die kriteriale Bedeutung der Konsenstheorie in nichts auflösen.“ (70/71)

Wellmer erinnert Habermas hier an die eigene Vorgabe, wahre Konsense nur formal

bestimmen zu wollen. Die Wahrheit einer Aussage läßt sich durch den Hinweis auf das Nicht-

Vorliegen dieser formalen Bedingungen zwar anzweifeln (denn verzerrte Kommunikation

96 Zur idealen Sprechsituation s. erstes Kapitel.

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gefährdet die Begründungspraxis, z.B. wenn Teilnehmer nur zum Schein oder aus Furcht

zustimmen), aber wohl auch nicht zwingend ausschließen; genausowenig läßt sie sich durch

den Hinweis auf das Vorliegen der formalen Bedingungen garantieren. Wellmer illustriert

dies durch ein Beispiel aus den empirischen Wissenschaften: „Weshalb sollte ein Konsens

bedeutender Physiker des neunzehnten Jahrhunderts über die Wahrheit der Newtonschen

Theorie nicht rational gewesen sein (im Sinne der Bedingungen der idealen Sprechsituation)?

Dies kann doch nicht schon deshalb der Fall sein, weil wir in der Physik heute weiter sind.“

Hier hat Wellmer recht: Neues empirisches Wissen hat diese Theorie unhaltbar gemacht,

welches nicht durch ideale Kommunikationsbedingungen sich einstellte, sondern durch neue

wissenschaftliche Experimente. Die Behauptung, die Newtonsche Theorie sei damals wahr

gewesen, hat aber einen anderen Sinn als, sie sei rational gewesen: Dies würde nämlich

heißen, daß die physikalische Welt damals eine andere gewesen wäre als heute (vgl. Putnam

1982, Kap. III). Rationale Akzeptierbarkeit kann Wahrheit nicht verbürgen97, deshalb bleiben

auch ideal rationale Konsense prinzipiell fallibel, mithin jede »Einlösung« der jeweiligen

Geltungsansprüche nur vorläufig.

Die Konsequenzen für normative Geltungsansprüche wären aber allererst zu bestimmen. Hier

unterstellen wir ja keine objektiv existierende Außenwelt (es sei denn, wir verträten einen

moralischen Realismus). Die Koppelung der Rationalität von Konsensen allein an formale

Bedingungen bedroht aber des Kognitivismus der Diskursethik, dies sieht Wellmer schon

richtig.

2. »Rationalität und Wahrheit fallen nicht zusammen«: Wellmer beginnt mit der Erläuterung

des Primats der Wohlbegründetheit, die eine Zustimmung zur legitimen Folge habe und nicht

umgekehrt.

„Nur aus der Innenperspektive der Beteiligten fällt beides, Konsens-Rationalität und Wahrheit,zusammen.“ Denn „wenn ich mit Gründen zustimme, so heißt das ja, daß ich einenGeltungsanspruch für wahr halte. […] Das kann aber nicht bedeuten, daß Rationalität einzusätzlicher Wahrheitsgrund ist.“ (71)

Ein wahrer Konsens wird für Wellmer nur dadurch möglich, daß wir alle aus guten Gründen

zustimmen können. Damit kann das Faktum des Konsenses nicht als zusätzlicher Wahrheits-

Grund angesehen werden. Wellmers folgende Argumentation versucht nun eine reductio ad

absurdum, die m.E. aber mißlingt:

97 Auch Putnams „ideale rationale Akzeptierbarkeit“ kann Wahrheit nicht verbürgen. Die Idealisierung beziehtsich nämlich nur auf die „epistemischen Bedingungen“. Auch ein noch so idealer Beobachter hat aber nicht

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„Dann sind wir aber auf die Gründe oder Kriterien der Wahrheit zurückgeworfen, die uns immerschon verfügbar sind, wenn wir den Sinn von Geltungsansprüchen verstehen. Nur dann könntenwir aus der Rationalität auf die Wahrheit von Konsensen schließen, wenn wir eine ausreichendeUrteilsfähigkeit aller Beteiligten unter die Bedingungen einer idealen Sprechsituation aufnähmen.“(72)

Damit wäre aber der rein formalistische Charakter des Kriteriums aufgegeben – die

formalistische Wahrheitsauffassung sei daher entweder falsch oder leer (72).

Wellmers Begriff von Urteilsfähigkeit ist zunächst unverständlich, wenn wir an die Physiker

des 19. Jahrhunderts zurückdenken. Waren diese etwa nicht urteilsfähig? Wellmer scheint die

Urteilsfähigkeit an das Verfügen über alle relevanten Gründe in der Sache zu binden – damit

wäre aber kein endliches, historisches Subjekt je urteilsfähig! Die damaligen Physiker haben

den Sinn der fraglichen Geltungsansprüche wohl verstanden, ohne bereits deshalb einen

wahren Konsens erzielen zu können. Der Witz von Einwand (1) ist doch gerade, daß uns nicht

alle Gründe „immer schon verfügbar“ sind.

Mir scheint Wellmer hier die Rationalität von Konsensen zu sehr als abgeleitetes Phänomen

zu betrachten. Die Wahrheit eines Konsenses ist weder notwendige noch hinreichende

Bedingung für seine Rationalität, soweit hat Wellmer schon recht. (Natürlich muß über das

Erfüllt-sein formaler Bestimmungen wieder – wie über jeden Wahrheitsanspruch – mit

Gründen entschieden werden.)

Ich denke, man kann Wellmer guten Gewissens eine (von Wittgensteins Praxisphilosophie

belehrte) intersubjektivistische Argumentations- und Begründungstheorie unterstellen. Wenn

wir Gründe somit nur gemeinsam als gute Gründe erkennen können, dann ist die Rationalität

eines Konsenses notwendige Bedingung dafür, die Wahrheit eines Konsenses einsehen zu

können (wenn auch keine hinreichende Bedingung). Denn nur in einer hinreichend idealen

Sprechsituation kann ich mich der Triftigkeit auch nur meiner eigenen Gründe versichern. Ich

halte es von daher für wenig glücklich, die „Wahrheit“ gegen die „Rationalität“ eines

Konsenses auszuspielen, denn die (je fallible) Einlösung eines Geltungsanspruchs erfordert

eine hinreichende Rationalität, d.h. Erfüllung der Diskursregeln. Dies nimmt der nächste

Punkt wieder auf.

3. »Konsens kein Wahrheitskriterium«: Habermas sei, so Wellmer mit Verweis auf Habermas

1985b, „von seiner kriterialen Interpretation der Konsenstheorie inzwischen abgerückt“. In

einer brieflichen Mitteilung „gesteht er zu, daß wir in einem gewissen Sinne immer schon

schon alle möglichen Experimente getätigt, ausgewertet und richtig interpretiert. Deshalb ergibt sich Wahrheit

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wissen müssen, was gute Gründe sind, um überhaupt argumentieren zu können. Ob aber

solche »guten« Gründe letztlich hinreichend gute Gründe sind, … »zeigt« sich erst unter

Bedingungen einer idealen Sprechsituation.“ (73) Wellmer unterscheidet nun zwei Lesarten

dieses Habermasschen Arguments: Entweder Habermas will sich auf die „immer schon

vorauszusetzende Gemeinsamkeit einer Sprache“ berufen, dann kann es aber „nicht um

argumentativ herbeigeführte Konsense [gehen], sondern um ein Einverständnis in der

Sprache, welches Argumentationen überhaupt erst möglich macht.“ (74) Oder Habermas will

darauf hinaus, „daß im Prinzip an die Stelle »naturwüchsiger« Einverständnisse in der

Sprache ein disursiv herbeigeführtes Einverständnis über die Angemessenheit sprachlicher

Regeln und Grundbegriffe, kurz, über die Angemessenheit unserer sprachlichen

Weltauslegung treten könnte.“ (74) Nur diese stärkere, zweite Lesart verhindert einen

(unerwünschten) Sprach- und Kultur-Relativismus, müßte aber, so Wellmer, dann wieder auf

einen rein formalistischen Rationalitätsbegriff hinauslaufen.

4. »Gehaltlosigkeit eines nicht-kriterialen Konsensbegriffs«: Auch die im vorigen Punkt

angeführte „unbestreitbare Vergewisserungsfunktion“ (76) von Konsensen kann die „schwere

Bürde einer Konsenstheorie der Wahrheit nicht tragen“ (ebd.), gerade weil Konsense fallibel

bleiben. Ein Ausweg scheint eine weitere Idealisierung zu bieten, hin zum „infiniten

rationaler Konsens“, der „niemals mit Gründen in Frage gestellt wird.“ (76/77) Diese bloße

„Idee“ katapultiert den Konsens aber über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus, kann

somit weder Vergewisserungs- noch Kriterien-Funktion haben (78).

Ein Hauptproblem von Wellmers Argumentation liegt in seiner Rede vom „Kriterium“. Er

unterstellt, daß es genau ein Kriterium geben müsse, das die definitive Wahrheit/Richtigkeit

eines Konsenses erkennbar macht. So verstanden wird die Unterscheidung zwischen

Wahrheits/Richtigkeitsdefinition und –kriterium aber witzlos. Denn Kriterien kann es ja

mehrere geben, die jeweils mehr oder weniger gut erfüllt sind, und die zusammen die

Wahrheit eines Konsenses mehr oder weniger wahrscheinlich machen.

Im Zuge einer Kritik an K.-O. Apel bringt Wellmer einige Argumente gegen eine

Konsenstheorie des Sinnverstehens an. Apel erläutert bekanntlich „die Idee eines infiniten

(begründeten) Konsenses durch die Idee einer unbegrenzten idealen

Kommunikationsgemeinschaft“ (82). Diese sei, ähnlich wie schon die „ideale Sprechsituation“

bei Habermas, zugleich eine für Kommunikationssituationen konstitutive notwendige

(bestenfalls) „in the long run“, wie Apel 1973 im Anschluß an Peirce betont.

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- 109 - -

Unterstellung und ein futurisch gemeintes Ideal bzw. eine regulative Idee. Apels

Formulierung suggeriere nun aber „einen zukünftigen Ort endgültiger und absoluter

Wahrheit“ sowie „die Idee einer letzten Sprache, in der nicht nur die Wissenschaft an ihr

Ende gekommen sei, sondern auch die Menschheit sich selbst vollkommen transparent

geworden wäre“ (82), letztlich einen „Zustand jenseits der Sprache“ (99). Für Apel seien

diese regulativen Ideen „ideale Grenzwerte, die zu realisieren – wenn auch vielleicht nur

approximativ – der Menschheit zugleich aufgegeben und auch möglich ist“ (82), mithin

„Ideale der Wirklichkeit“ (83). Obwohl nun Apel und Habermas an „unvermeidliche

idealisierende Präsuppositionen des Sprechens und Argumentierens anknüpfen“, so vermutet

Wellmer, würden diese von der (starken) Konsenstheorie der Wahrheit „in ähnlicher Weise

hypostasiert, wie die ebenso unvermeidliche Unterstellung, daß unsere Worte und Sätze einen

definitiven intersubjektiven Sinn haben, von der formalen Semantik hypostasiert wird (…); in

ihnen vergessen wir gleichsam den Zeitkern sprachlicher Bedeutungen und sprachlich

formulierbarer Einsichten, derer wir uns reflexiv vergewissern können“ (83).

Die uns nach Apel aufgegebene „Beseitigung aller Hindernisse der Verständigung“ (Apel

1973, 211f.) erstrecke sich nämlich explizit auch auf das hermeneutische Feld des

Sinnverstehens (87 mit Verweis auf Apel 1973, 215). Hier eine absolute Wahrheit zu denken,

ginge noch weiter als beispielsweise eine „vollendete Physik“, die sich wenigstens „noch als

ein Wissen endlicher Menschen denken“ ließe (94), und an der Apel laut Wellmer (99) seine

Vorstellung der Antizipation des infiniten Konsenses gebildet habe. „Demgegenüber müßte

die Verallgemeinerung eines futurisch gemeinten Begriffs absoluter Wahrheit am Grenzpunkt

des Absoluten eigentlich auch noch die geschichtliche Zeit durchstreichen: an der Wahrheit,

die vor aller Augen liegt, müßten auch die längst Gestorbenen noch teilhaben.Dies läßt sich

aber, wie Adorno sehr wohl wußte, nur noch theologisch denken.“ (94) Nämlich im Bild des

jüngsten Gerichts als Idee einer „vollendeten Wahrheit …, die offen vor aller Augen liegt“

(95). Für Habermas scheint die ideale Kommunikationsgemeinschaft hingegen Habermas

1991b die „Gemeinschaft sprachfähiger Wesen, die wie uns gleichsam in idealer

Gleichzeitigkeit versammelt denken“ (97) zu bezeichnen – ohne die (theologische)

Vorstellung eines Verständigt-seins. Doch auch dann könne „von einer, und sei es auch nur

approximativen Realisierung des Ideals sinnvollerweise gar nicht die Rede sein“ (97). Die

»ideale Kommunikationsgemeinschaft«, so Wellmers Fazit, könne in einem nicht

irreführenden Sinne als »ideal« verstanden werden erstens, weil sie nur in der Form möglicher

Argumente präsent ist, und zweitens, weil sie diese Gemeinschaft als in idealer

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- 110 - -

Gleichzeitigkeit sich versammelt vorstellt (112). Alle weitergehenden, konkretistischen

Vorstellungen seien irreführend oder absurd.

Kritik an der Diskursethik als Kommunikationsethik

Im folgenden versucht nun Wellmer, die Grundarchitektur der Diskursethik frontal

anzugehen.

„Meine These ist, daß sich ein universalistisches Moralprinzip nicht aus, wie es bei Habermasheißt, »normativ gehaltvollen Präsuppositionen« der Argumentation ableiten lassen.“ (102)

Und dies obwohl zugestanden wird, daß „derjenige, der die Gültigkeit dieser

Präsuppositionen argumentativ zu bestreiten versucht, sich in einen performativen

Widerspruch verwickelt“ (103). Aufrichtigkeit, Vorrang des besseren Arguments,

Argumentationsmöglichkeiten für alle Beteiligten – diese allgemeinen

Argumentationsnormen seien „keine universalistischen Moralnormen oder auch Metanormen

der Moral“; Aufnahme und Abbruch von Argumentationen bleibe durch sie notwendig

ungeregelt (105). Denn die (auch für Wellmer irrationale) Unterdrückung von besseren

Argumenten habe „keinerlei direkte Konsequenzen hinsichtlich der Frage, wann und mit wem

und worüber ich zu argumentieren verpflichtet bin.“ Daher sei fraglich, „ob das »müssen« der

Argumentationsnormen sich sinnvoll als ein moralisches »müssen« verstehen läßt. Denn ich

könnte dem Gegenüber ja die Ausübung von (Kommunikations-)Rechten dann bestreiten,

wenn ich gerade nicht mit ihm kommunizieren würde (107). „Überspitzt gesagt: Rationalitäts-

Verpflichtungen beziehen sich auf Argumente ohne Ansehen der Person; moralische

Verpflichtungen beziehen sich auf Personen ohne Ansehen ihrer Argumente. (…) Nur vom

imaginären »höchsten (Blick-)Punkt« einer idealen Kommunikationsgemeinschaft kann es so

scheinen, als ob beide letztlich zusammenfallen würden.“ (108)

Aber kann es wirklich so scheinen? Selbst bei einer starken, kriterialen Interpretation der

Diskurstheorie wäre (a) der andere nur ein bloßes Mittel, meine Zweifel über

Geltungsansprüche auszuräumen – er würde nicht um seiner selbst Willen geachtet. Und (b)

wäre der Schutz des Anderen bloß insoweit, wie ich ihn als Diskursgegenüber brauche, auch

nicht hinreichend, um das ganze Spektrum von Gerechtigkeitsforderungen abzudecken.

Kritik der Assimilation von Moral an Recht

Wellmer kritisiert zunächst die Konfundierung eines „universalistischen Moral- mit einem

prozeduralen (naturrechtlichen) Legitimitätsprinzip“ (114) in Habermas‘ Formulierung von

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- 111 - -

»U«, eigentlich aber die Angleichung von Moral an Recht: Daher die explizite Zustimmung

der Betoffenen einerseits (wo doch Moralnormen unabhängig davon Gültigkeit haben) und

die Gültigkeit für diesen Kreis von Betroffenen andererseits (wo doch Moralnormen für alle

gelten).

„Habermas hat das Moralprinzip so formuliert, als ginge es bei der moralischen Überlegung umdie Frage wie bei einer Diskussion über die Gerechtigkeit sozialer Normen, die wir einführen odernicht einführen, außer Kraft setzen oder beibehalten können. […] Paradigmatischer Fall einerentsprechenden Normeinführung wäre der einmütige Beschluß einer Gruppe von Menschen.“(1986: 67)

Diese Kritik ist im Kern berechtigt; Habermas hat hierauf mit der These von der

Doppelsinnigkeit moderner Moralnormen reagiert: Sie seien sowohl kognitivistisch als auch

konstruktivistisch zu verstehen (s.o.). Die von Wellmer herausgestellten Unterschiede von

Moral und Recht habe ich in einer Tabelle zusammengefaßt:

Pure Faktizität des Beschlusses von Recht (in

modernen Gesellschaften)

Begründetheit von Moralnormen

Recht ist Praxis-konstitutiv und bildet daher

ein System

Moralnormen betreffen „die Frage des

richtigen Handelns in einer vorgegebenen

Welt“ (117), zu der auch das Recht gehört,

und bilden deshalb kein System

Recht droht mit äußeren Sanktionen – auch

wenn zumindest teilweise auch freiwillige

Akzeptanz erforderlich ist

Innere Saktionierung der Moral (Wolf 1984:

35)

Ich will diese hier nicht im einzelnen diskutieren; wichtig ist, daß die Konsenstheorie der

juridisch-demokratischen Richtigkeit keine Interpretationsschwierigkeiten aufwirft:

„Wo freilich die Legitimität des Rechts mit der Idee einer freien Zustimmung aller Betroffenen(und daher letztlich mit demokratischen Prozeduren) verknüpft wird, wird ein Rechtszustanddenkbar, in dem physische Sanktionen nicht mehr notwendig wären, weil Konflikte in gewaltloserForm ausgetragen würden.“ (119/120)

Die Idee eines demokratischen Verständigt-seins ist hier keine Absurdität, da nicht sub specie

aeternitatis zu denken (wie die Wahrheit oder Richtigkeit). Die Wellmersche

Gegenüberstellung zehrt von der Normengenese aus bloßer Dezision; dies ist aber auch und

gerade in einer Demokratie nicht der alleinige Geltungsgrund legitimer Normen. Deshalb ist

Habermas‘ Kennzeichnung dieser Komponente als „konstruktivistisch“ auch hier treffender.

Erstens gehört zu jeder Entscheidung die Debatte dazu (und die Anhörung gesellschaftlicher

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- 112 - -

Gruppen etc.), so daß sich die Legitimität gesetzgeberischer Maßnahmen der Kombination

von gemeinsamer Beratung und gemeinsamer Entscheidung verdankt. Zweitens gibt es eine

Verfassung, die den Gegenstandsbereich legitimer demokratischer Entscheidungen regelt, und

die in ihrem Kerngehalt den demokratischen Entscheidungen mehr oder weniger entzogen ist.

Besonders in dieser kommen moralische Gehalte zum Ausdruck, die sich (trotz Rechtsform)

auch und gerade in der Moderne nicht kollektiver Dezision verdanken.

Fehlorientierung auf ein »Reich der Zwecke«

Wellmer steuert nun eine „fallibilistische Rekonstruktion der Diskursethik“ an (122), die sich

gleichzeitig auch von Kants Konzeption abgrenzt: Der Formalismus und der Rigorismus von

Kants Konzeption hänge nämlich direkt zusammen mit dem Versuch, die Ethik „sub specie

aeternitatis, das heißt aus dem Gesichtspunkt eines Reiches der Zwecke, zu begründen. Kants

Moralnormen sind Handlungsmaximen für die Mitglieder eines Reichs der Zwecke.“ (123)

Deshalb müßten sie zwar eindeutig sein, gleichzeitig genüge fürs Reich der Zwecke aber die

bloße „Form der Allgemeinheit“; die Urteilskraft könne somit keine wichtige Rolle spielen.

„Die wirklichen Probleme der Moral dagegen beginnen erst mit dem Problem der Vermittlung

von Besonderem und Allgemeinem; hierin hatte Hegel recht.“ Obwohl die Diskursethik aber

„eigentlich genau auf dieses Problem zugeschnitten“ sei, kann sie es laut Wellmer nicht lösen

– denn auch sie „beschreibt die Moral sub specie aeternitatis“ (123).

Gemeint ist damit folgendes: »U« fordert die Untersuchung von Normen unter idealen

Verständigungsbedingungen unter hypothetischer Unterstellung ihrer allgemeinen Befolgung.

„Damit ist aber naturlich noch wenig darüber ausgesagt, wie wir unter realen

Verständigungsbedingungen – also in der geschichtlichen Wirklichkeit, so wie sie ist –

handeln sollen“ (63).

Ein erster Problemtyp kann am Beispiel des Lügenverbots ausgemacht werden: Kant

orientierte sich an einem Reich der Zwecke (und interessierte sich nicht für die Folgen), so

konnte er das Lügen strikt verbieten.

„Wenn wir uns aber [wie in der Diskursethik; NG] um die Folgen kümmern, und wenn wirannehmen, daß die Welt im übrigen bleibt, wie sie ist, dann ist zu vermuten, daß die Folgen einerallgemeinen Wahrhaftigkeit die Opfer schwerer treffen müßte als die Henker: insofern könnte dieNorm »Du sollst nicht lügen« – rebus sic stantibus – nicht gültig sein. Ersichtlich müßten wir, umherauszufinden, wie unter den gegebenen Umständen zu handeln richtig sei, kompliziertereNormen formulieren, mit Einschränkungen und Ausnahmeklauseln, etwa in dem Sinne, in demHare es (als eine freilich unabschließbare Aufgabe) postuliert hat.“ (64)

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- 113 - -

Die Folgen und Nebenfolgen alle zu berücksichtigen und auf ihre Verträglichkeit mit den

Interessen der Betroffenen zu prüfen, sei eine „ungeheuerliche“ Aufgabe – und reale Diskurse

könnten hierbei „am Ende nicht weiterhelfen“:

„Solange wir namlich den Diskurs unter Bedingungen führen müssen, unter denen die Opfer sichdurch Lügen vor den Henkern schützen müssen, ist ein zwangloser Konsens nicht vorstellbar –sobald aber ein allgemeiner Konsens real herbeigeführt werden könnte, würden die Bedingungenwegfallen, unter denen die erwähnten Ausnahmen und Einschränkungen notwendig waren. Injedem Fall macht es offensichtlich keinen Sinn anzunehmen, daß wir, unter nicht-idealenVerständigungsbedingungen, unsere realen moralischen Probleme durch die Herbeiführung realerKonsense lösen könnten.“ (64)

Soweit hat Wellmer recht – doch »U« ist ja nicht über die faktische Zustimmung, sondern die

mögliche Zustimmung formuliert. Von daher ist, wenn Diskurse nicht geführt werden können,

genau das gefordert, was Wellmer nun selber vorschlägt:

„Wo die Möglichkeit der Verständigung aufhört, können wir uns nur noch überlegen, was dieVernunftigen und Urteilsfähigen oder was die von unserem Handeln Betroffenen, wären siegenügend vernünftig, gutwillig und urteilsfähig, sagen würden. Und in diesem Sinne ist natürlichin jedem moralischen Urteil ein möglicher rationaler Konsens antizipiert.“ (64)

Hierbei dürften wir aber nicht die allgemeine Befolgung unterstellen, ansonsten würden wir

immer nur die falschen (Ideal-)Normen begründen können (65).

Ein zweiter Problemtyp betrifft Normen, die nicht die Möglichkeit berühren, reale Diskurse

führen zu können, wie z.B. »Neminem laede« (65f.). Hierüber können wir also zu einem

Konsens schon im realen Diskurs kommen (anders als im vorherigen Problemtyp) – nur

unterstellen wir auch hier in der Normbegründung regelmäßig (und nunmehr völlig

unnötigerweise) die falsche, ideale Bedingung der allgemeinen Befolgung.

Wellmer vermischt allerdings zwei Probleme: Folgenkenntnis und –evaluation einerseits

(„ungeheuerliche Aufgabe“) und Befolgungsunterstellung andererseits. Letztere ist das

wirkliche Problem – das von Habermas als Problem der „richtigen Anwendung solcher [Ideal-

]Normen auf eine nicht-ideale Wirklichkeit“ behandelt wird, wie Wellmer richtig sieht – und

dessen Ausformulierung erhebliche Schwierigkeiten bereiten wird (vgl. weiter unten die

Diskussion zur Zumutbarkeit und Niquets Lösungsvorschlag). In einem wesentlichen Punkt

verliert der Grundsatz »U« so seinen Witz, wie Wellmer sagt, „wenn seine Anwendung auf

jenen Elementarbereich beschränkt würde, in dem wir schon mit Kant leidlich

zurechtkommen“ (66) – mehr schlecht als recht klarkommen, um es deutlicher zu sagen.

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- 114 - -

Stattdessen: eine schwache Konsenstheorie

Wellmer sucht nach einer (für ihn akzeptablen) „schwächeren Version der Konsenstheorie“

(80), die „einen infiniten rationalen Konsens zur wahrheitsverbürgenden Instanz macht“, sich

aber „nicht mehr [im starken Sinne; NG] kriterial verstehen läßt“ (81):

„Diese schwächere Version der Konsenstheorie läßt sich verstehen als eine Erläuterung desinternen Zusammenhangs zwischen der Idee der Wahrheit und der Idee eines möglichenallgemeinen, begründeten Einverständnisses. Diese beiden Ideen, so könnte man sagen, erläuterneinander wechselseitig: Zur Idee der Wahrheit gehört es, daß es gegen das, was wir jetzt als wahransehen, auch in Zukunft keine triftigen Gegenargumente geben wird, und dies schließt ein, daßauch unsere Art und Weise, über die Welt zu reden und unsere Probleme zu formulieren, nichtkünftig mit guten Argumenten in Frage gestellt werden wird. Andererseits ist schwer zu sehen, inwelchem Sinne ein infiniter begründeter Konsens nicht auch wahr genannt werden sollte;jedenfalls könnte man argumentieren, daß dies nur denkbar wäre, wenn wir den problematischenBegriff einer nicht erkennbaren oder sprachlich nicht faßbaren Wahrheit einführen würden.“ (80f.)

Wellmer ist der Meinung, daß zunächst zu zeigen sei, „in welchem Sinne argumentative und

kommunikative Klärungen moralischer Fragen möglich sind“. Dann, „sofern überhaupt

dialogische Klärungen möglich und womöglich für die Betroffenen wichtig sind“, sei es nicht

schwer, „eine Dialognorm Kantisch zu begründen“, da es leicht zu sehen sei, „daß eine

Maxime der Dialogverweigerung nicht verallgemeinerbar ist“ (124).

1. Unter der „simplifizierenden Voraussetzung, (...) daß die Logik moralischer

Argumentationen bereits durch ein universalistisch verstandenes Moralprinzip bestimmt ist“

und nicht durch „konkurrierende Quellen normativer Geltung wie etwa Gottes Wille, die

natürliche Ordnung oder die Autorität der Tradition“ (124), betrifft „moralische

Argumentation fast ausschließlich die Interpretation von Handlungs- und

Bedürfnissituationen sowie das Selbstverständnis von Handelnden und Leidenden“, also

„Situationsdeutungen und Selbstverständnisse“, da diesbezüglicher Konsens moralische

Kontroversen in der Regel auflöse (125). Wellmer erläutert seine These auf zwei

Beispielebenen: Erstens (125ff.) anhand kollektiver Deutungsmuster (etwa der Frauenrolle),

zweitens (127ff.) anhand moralischer Urteile in komplexen Situationen (etwa Kants

Lügenbeispiel). Abschließend wiederholt Wellmer noch einmal seine These, daß „in aller

Regel moralische Kontroversen sich auflösen, wenn in den bisher angesprochenen

Dimensionen des moralischen Diskurses – allgemeine Interpretationen, Selbstverständnisse

der Betroffenen, Situationsbeschreibungen sowie das Verständnis der in einer Situation

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- 115 - -

absehbaren Handlungsalternativen und Handlungsfolgen – Einverständnis erzielt ist.“ (132)98

Wellmer zufolge hat dies mehrere Konsequenzen:

• Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsfragen könnten aus dem moralischen Diskurs nicht

ausgegrenzt werden können, ohne ihn seiner Substanz zu berauben. Es entstünde durch

eine solche Ausgrenzung eben nicht ein „– gleichsam analytisch scharfgeschnittenes –

Problem der Begründung moralischer Normen“, sondern etwas, das sich entweder von

selbst versteht (in dem Sinne wie das Verbot, zum eigenen Vorteil zu lügen, im Lichte des

kategorischen Imperativs sich von selbst versteht), oder aber keine intersubjektiv

verbindliche Entscheidung mehr zuläßt (133).

• Moralische Urteile seien nämlich nicht etwa durch Rekurs auf Normen begründet, sondern

letztere bringen „eigentlich nur unser Verständnis entsprechender Handlungssituationen in

der Form einer Prima-facie-Norm zum Ausdruck“. „»Du hast es ihm versprochen« – das

ist ein einfaches moralisches Argument. Daß man aber – ceteribus paribus – Versprechen

halten soll, das ist nicht eigentlich die Prämisse des Schlusses »also mußt du es tun«; eine

Prämisse, über die sich dann auf einer höheren Ebene der Argumentation mit guten

Gründen streiten ließe“ (133).

• Die Unterscheidung zwischen Begründung und Anwendung von Normen verschwimmt

daher: „Die Normen selbst tragen gleichsam einen situativen Index, durch welchen sie

zurückgebunden bleiben an die Situationen ihrer Generierung. Nur deshalb gibt es ein

Problem der Anwendung moralischer Normen – und nur so läßt es sich verstehen. Mit

anderen Worten: Begründungs- und Anwendungsdiskurs lassen sich im Falle moralischer

Normen nicht voneinander trennen.“ (134)

• Das „Gebot einer kommunikativen oder diskursiven Klärung von Situationsdeutungen

und Selbstverständnissen hat daher nicht nur den Status einer Rationalitätsverpflichtung,

sondern den Rang einer moralischen Norm – zumindest soweit es darum geht, die

Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen“ (134).

Das Begründungsproblem im Falle der Moral habe daher, wie Wellmer gegen Habermas

unterstreicht, den Charakter eines Anwendungsdiskurses: „das, worum es im moralischen

Diskurs geht, ist die »Anwendung« des moral point of view, sei es auf konkrete

98 Ich glaube, daß damit geltungslogisch in der Regel universelle Richtigkeitsansprüche erhoben und begründetwerden, wenn auch verdeckt (s. die Asführungen zu Kettner oder auch zu Habermas‘ „ethischen Fragen“).

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- 116 - -

gesellschaftliche Problemlagen, sei es auf individuelle Handlungssituationen“ (136).

Habermas gestehe zwar ein Anwendungsproblem zu (Habermas 1991b, S. 21f.), wenn

nämlich vorgegebene Regeln oder Normen auf konkrete Fälle angewendet werden müßten.

Dies treffe, so Wellmer, zwar die Situation des modernen Rechts - hier sind auch die

Instanzen der Legislative und Judikative klar getrennt - aber nicht der modernen Moral, die ja

ohne vorgebene Inhalte auskommen müsse. Deshalb sei hier ein anderer Begriff von

Anwendung einschlägig (nämlich der oben beschriebene). Etwas später schreibt er hierzu

auch, es ginge bei dieser Anwendung „um die Frage, wie der »Standpunkt der Moral« selbst

jeweils in der richtigen Weise zur Geltung gebracht werden kann. Der moralische Diskurs hat

es mit dieser Frage zu tun und erst in einem abgeleiteten Sinn mit der Begründung von

Normen; er ist also in einem wesentlichen Sinne ein Anwendungsdiskurs.“ (137) Dies klingt

nun nach „Moralverantwortung“ (Kettner) bzw. nach dem Teil B der Diskursethik. Doch

Wellmer scheint tatsächlich, wie der folgende Verweis auf H. Arendt zeigt, die

„normbildende Anwendung“ (Bayertz) im Zuge der „reflektierenden Urteilskraft“ (Kant) zu

meinen (vgl. die Bemerkungen zu Günther im Anwendungskapitel).

Für Habermas endet mit der Begründung des Moralprinzips der philosophische

Arbeitsauftrag, er will sowohl die Begründung einzelner Normen als auch deren Anwendung

den Betroffenen überlassen. Es geht also, wie Wellmer wohl sieht, um das richtige

Verständnis dessen, was den Beteiligten überlassen bleiben soll.

2. Wie aber, wenn moralische Argumentationen nicht schon immer durch ein

universalistisches Moralprinzip bestimmt sind, sondern z.B. nur durch einen »minimal«

interpretierten kategorischen Imperativ: „Handle entsprechend deinen normativen

Überzeugungen“ (138)? Wellmer zufolge beruht diese Interpretation auf der Annahme, „daß

für alle diese Formen menschlichen Zusammenlebens eine Dimension der moralischen

Beurteilung und Selbstbeurteilung konstitutiv ist“ (ebd.). Dies klingt nach Mead, Wellmer

jedoch will mit dieser Idee „in freier Variation“ an Tugendhat 1984: 132f. anknüpfen: „In die

Reziprozitätsstrukturen menschlicher Sozialbeziehungen ist ein kategorisches »muß«

eingebaut, dessen Gebote nur um den Preis von moralischer Verurteilung und

Selbstverurteilung (Schuldgefühl) möglich ist.“ Der kategorische Imperativ stellt somit zwar

nicht den rationalen Sinn dieses »muß«, wohl aber seinen rationalisierbaren Kern dar – „als

die Negation dessen, was wir nicht als allgemeine Handlungsweise wollen können“ (139).99

99 Wellmers „minimalistische“ Interpretation des kategorischen Imperativs bewegt sich allerdings an der Grenzezum Absurden: Der Verallgemeinerungstest verläuft demnach so: Was ich nicht will, von dem weiß ich, daß es

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- 117 - -

Am Ende einer sukzessiven Eliminierung der Grundlagen eines partikularistischen

Verständnisses solcher Reziprozitätsstrukturen („Eliminierung des Falschen“; 140) steht dann

die universalistische Moral.

„Wir können uns keine Prozesse gelungener Individuierung denken, in denen nicht andere,Kantisch gesprochen, als »Zwecke an sich« uns gegenübertreten, oder welche nicht, Hegelischgesprochen, in Strukturen wechselseitiger Anerkennung eingebunden wären. Das Medium solcherAnerkennungsverhältnisse ist die Sprache. In der Sprache sind Anerkennungsverhältnisse alsnormative Geltungsansprüche repräsentiert und als sprachliche sind solche Geltungsansprücheimmer schon implizit auf die mögliche Zustimmung aller sprachfähigen Wesen bezogen. Genauhierin liegt das Recht des Versuchs, die universalistische Moral in den Grundlagen der Sprache zusuchen.“ (140/141)

Die Kantische Aufhebung des Sollens in ein Wollen als Fluchtpunkt moralischen Fortschritts

entspricht der möglichen Aufklärung des moralischen Bewußtseins über sich selbst. Am Ende

steht ein Bewußtsein dessen, „welchen Preis die Verletzung von Reziprozitätsstrukturen für

ein Selbst hat, das sich der Verinnerlichung solcher Rationalitätsstrukturen verdankt. Dann –

und erst dann – ist nämlich das kategorische »muß« moralischer Geltungsansprüche

aufgehoben in einem praktischen Wissen um die Bedingungen eines guten Lebens.“ (141). So

wäre der »lack of moral sense« kein kognitives Defizit (da bei mißlungener Einübung in

Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung bloße Argumente machtlos sind), wenn sich ein

Moralbewußtsein aber bereits entwickelt hat, „ist unter den Bedingungen der Aufklärung die

Entwicklung eines universalistischen Moralbewußtseins die einzige Alternative zum Rückzug

aus dem Sprachspiel der Moral. Ein solcher Rückzug aber, der die Bande der Solidarität mit

den anderen zerrisse, statt sie zu erweitern, bedeutete zugleich eine Selbstverletzung des

Individuums, im Grenzfall seine Selbstzerstörung.“ (142/143) Wellmer interpretiert das

Kantische „Faktum der Vernunft“, die Nötigung des Willens durchs moralische Gesetz, in

diesem Sinne. „Die Erinnerung an dieses Faktum ist nicht gleichbedeutend mit dem Nachweis

der Unausweichlichkeit von Rationalitätsverpflichtungen“ (143), da „wir die Unmöglichkeit,

ein gutes Leben zu führen, wenn wir uns selbst nicht in die Augen sehen können, in letzter

Instanz nicht begründen, sondern nur hinnehmen können“ (140) – eine Letztbegründung ist

damit aussichtslos.

Verflechtung von Geltungsansprüchen

Weiterhin untersucht Wellmer die Habermassche Einteilung von Geltungsanprüchen mit dem

Ziel, zu zeigen, daß der normative Geltungsanspruch nicht abgetrennt in Moraldiskursen

auch nicht alle wollen können (weil ich es ja nicht will). Sodann kommt es zu einer sukzessivengeneralisierenden Ausweitung (wir anstatt nur ich).

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- 118 - -

geprüft werden kann. Er schließt zunächst an Habermas Behauptung an, in jeder sprachlichen

Äußerung seien alle drei Geltungsansprüche präsent. Betrachtet man jedoch hypothetische

Imperative, grammatische Präskriptionen und ästhetische Sätze, stellt man fest: „in allen

diesen Fällen handelt es sich um begründbare und kritisierbare Geltungsansprüche, ebenso

wie im Fall moralischer Sätze, und es handelt sich in einem allgemeinen Sinn des Wortes

sicherlich um normative Geltungsansprüche (im Unterschied zu Wahrheits- und

Wahrhaftigkeitsansprüchen)“ (145). Nur moralische Geltungsansprüche bringen aber eine

unbedingte Verpflichtung zum Ausdruck – dieser Besonderheit trägt die Habermassche

Ableitung einer universalistischen Moral aus (allgemeinen) normativen Geltungsansprüchen

nicht Rechnung (146).

Ein möglicher Ausweg bestände in der Behauptung, alle Geltungsansprüche seinen letztlich

in moral-analogen Geltungsansprüchen begründet. Dies scheint sich in Habermas‘ Theorie der

Genese der Geltungsansprüche bereits anzudeuten: Im Gegensatz zum propositionalen und

expressiven Bestandteil der Rede verweist der illokutionäre Bestandteil auf eine bereits

symbolisch strukturierte Sphäre, die des Sakralen. Dort waren die verschiedenen

Geltungsansprüche noch nicht ausdifferenziert, ja noch nicht einmal Geltungs- von

empirischen Ordnungs-Begriffen unterschieden (Habermas 1981, I 81). Habermas konstruiert

diesen nun aber als normativen Konsens: als Urbild eines idealisierten Einverständnisses,

„einer auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft bezogenen Intersubjektivität“ (Habermas

1981, II 111). Wellmer findet dies m.E. zu recht nicht plausibel (d.h. schon daher als

eigenständiges Argument für den sprachpragmatischen Vorrang normativer, Wellmer sagt

hier unverständlicherweise: moralischer, Geltung nicht tragfähig), und außerdem zirkulär.

Vielleicht, so könnte Habermas antworten, bedeutete die Autorität des Sakralen aber dennoch,

„daß jede Vorschrift, jede Regel gleichsam mit der Aura eines unbedingten »muß« umgeben

und mit entsprechenden Affekten besetzt ist“ (154), also ein der Form nach (Unbedingtheit)

moralisches Normbewußtsein. Wellmer hält dem entgegen, daß nicht nur der Inhalt, sondern

auch die Funktion dieser Autorität (oder der eines Ritus oder Tabus) nicht moralisch sei: denn

es ginge nicht um zu schützende Bedürfnisse von Individuen oder deren Selbstachtung. Das

Argument verläuft ähnlich wie im vorigen Absatz: Wir können keine distinkten Funktionen

zuordnen, wo sich die entsprechenden Alternativen noch nicht differenziert haben. Wellmer

scheint damit sagen zu wollen, daß der (mögliche) Verweis auf ein unbedingtes Sollen zwar

legitim sein mag, aber dennoch nicht zureicht, um moralische Geltung zu privilegieren (vgl.

158).

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- 119 - -

Wieder einmal seien es die konsenstheoretischen Prämissen der Diskurstheorie, die einem

„offenen und pluralen Rationalitätsverständnis“ hier regelrecht „im Wege stehen“ (159). Für

eine „Rationalisierung der Lebenswelt – im Allgemeinen – und einer dialogischen Öffnung

der Ethik – im Besonderen –“ sei die starke Konsenstheorie gar nicht nötig. Habermas selbst

beschreibe hiermit nämlich einen Prozeß (und keinen Zustand), der einen „rational nicht

hintergehbare[n] Problem- und Möglichkeitsbestand moderner Gesellschaften bezeichnet“

(160), d.h. „die Möglichkeiten eines guten Lebens, die Möglichkeiten kritischer Revisionen

und die Möglichkeiten innovatorischer Veränderungen“ (161) offenhalten soll.

Auch die Ausdifferenzierung der Vernunftmomente (und deren Zusammenhang) wäre dann

anders zu fassen: Nicht als im moralischen Ideal perspektivisch versöhnte, aber klar

geschiedene Geltungsansprüche, wie bei Habermas, sondern als eigenständige, aber intern

zusammenhängende Ansprüche (163): Der Streit über »Tatsachen« hat eine prominente

Position in moralischen Diskursen, in die Interpretationen relevanter Tatsachen gehen aber

immer schon ästhetische Erfahrungen ein. Auch im theoretischen Diskurs seien Tatsachen-

mit moralischen und ästhetischen Fragen verbunden: Einerseits sei „die Sprache in der wir

über die menschliche Lebenswelt und Geschichte sprechen, mit Werturteilen imprägniert“,

andererseits stellten sich „die Tatsachen im Lichte alternativer lebensweltlicher

Orientierungen (...) auch verschieden dar“ (164). Kein Geltungsanspruch dürfe daher der

Kritik entzogen sein. Auch die entsprechenden institutionellen Sphären, Recht, Wissenschaft,

Kunst (mit Verweis auf M. Seel) zeigen bei genauerer Betrachtung diese Verschränkung;

allerdings blieben Habermas und Apel einem szientizistischen Wahrheitsmodell verhaftet, das

(vielleicht) als Komplement die strikte Separierung der normativ-moralischen Sphäre

verlange.

Das ganze Konzept der sprechakttheoretischen Differenzierung von Geltungsdimensionen

führt schon beim ästhetischen Diskurs in (Einordnungs-)Schwierigkeiten: Besser sei es,

innerhalb des theoretischen und des praktischen Diskurses zwischen verschiedenen Typen

von Geltungsdimensionen und zugeordneten Argumentationsformen und

Überprüfungsverfahren zu unterscheiden. Schon im theoretischen Diskurs gehe es um die

Gültigkeit von Aussagezusammenhängen, nicht von einzelnen Propositionen. Im praktischen

Diskurs geht es demgegenüber um die Bewertung von Handlungen, d.h. um Fragen des

„politisch, juridisch, ökonomisch, technisch, ästhetisch oder moralisch richtigen Handelns“,

deren Rationalitätsmaßstäbe (anders als im theoretischen Diskurs, 169) miteinander

konkurrieren. Erforderlich sei daher „Interrelationale Urteilskraft“, wie Wellmer zustimmend

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einen Ausdruck von M. Seel übernimmt. „Urteilskraft“ verweise darauf, daß es „nur hier und

jetzt richtige, das heißt immer auch: begründbare, aber keine allgemeinen oder letzten

Lösungen gibt.“ Ein Minimalkriterium läßt sich immerhin angeben: „unvernünftig“ wäre es,

sich einem dieser Erfahrungsbereiche bzw. Geltungsdimensionen zu verschließen (169),

„irrational“ wäre ein Verstoß gegen elementare Konsistenzforderungen oder ein

Konsistenzerhalt um den Preis einer Abwehr von Argumenten und Erfahrungen (171).

Thematisch sind diese Bereiche verschieden, aber die (jeweils angeführten) Argumente

überlappen genauso wie die jeweiligen Argumentationsformen. Dies verlange „Spürsinn,

Phantasie und guten Willen; Elemente der »Vernünftigkeit«, für die es keinen Idealzustand zu

realisieren, sondern Freiheitsspielräume und Lebensmöglichkeiten offenzuhalten und zu

erweitern gilt“ (171) – und Wellmers Kritikkonzeption bleibt negativistisch - „aber jeweils

nur auf dem Hintergrund vorhandener und erfahrbarer Unfreiheit“ (172), wobei jede

Generation immer wieder neu gefordert sei.

Wellmers Hauptpunkt, die Kritik an einem starken Verständnis der Konsenstheorie, und sein

Konzept der Richtigkeit als Einwandfreiheit ist m.E. überzeugend, ich werde es unten wieder

aufnehmen. Eine Diskursethik muß aber mehr behaupten. Seine Bemerkungen zu

Anwendungsfragen und zu einer Offenhaltung für Erfahrungen des Scheiterns von

Moralentwürfen sind richtungsweisend, werden im entsprechenden Kapitel im Zuge der

Auseinandersetzung mit Günther methodisch eingebracht.

Die Moral des doppelten Respekts – Wingert (1993)

Wingerts Versuch einer Neubegründung der Habermasschen Diskursethik beginnt mit einer

Moralphänomenologie. Dies mag zunächst einmal überraschen, hatte die Diskursethik doch

noch bei Habermas ihren Ausgang von einer Analyse des kommunikativen Handelns

genommen. Wingert stellt das Begründungsprogramm „von Kopf auf die Füße“ insofern, als

die Diskursethik nunmehr bloß eine anderen Ethiken überlegene Operationalisierung einer

unabhängig von ihr zu entwickelnden Phänomenologie moralischer Verletzlichkeit darstellen

soll.

„Man muß zwischen Dimensionen des moralischen Respekts und den korrespondiendenmoralischen Verletzlichkeiten einerseits und den Kriterien für die Feststellung, ob solcher Respektgeübt wird, andererseits unterscheiden. Der moralisch-praktische Diskurs und seine Regeln sindauf der Seite solcher Kriterien angesiedelt. […] Der Diskurs ist nicht das Telos der Moral.“(Wingert 1993: 268)

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Die moralische Verletztlichkeit selbst beruht nach Wingert auf einer Eingebundenheit des

Individuums in einen intersubjektiven Zusammenhang (166ff.), der in zweifacher Hinsicht

fragil ist, denn es gibt zwei irreduzible Formen des geschuldeten wechselseitigen Respekts als

Personen (179ff.), einerseits als unvertretbare Einzelne, sowie andererseits als gleiches

Mitglied einer menschlichen Gemeinschaft – also als konkrete bzw. allgemeine Andere (vgl.

bereits Benhabib; s.o.). Entsprechend lassen sich zwei Arten von Rechten und Pflichten

unterscheiden, einerseits konkret-personengebundene (Versprechen, Entschuldigungen usw.),

andererseits überpersönliche (z.B. politische und soziale).

Normative Richtigkeit

Die Moralphänomenologie soll dabei wesentlich den von Wingert verwendeten Moralbegriff

stützen, in Abgrenzung zu Fragen des Guten Lebens. Da wäre zuerst die notwendige

Adressatenallgemeinheit moralischer Gebote gegenüber einer zumindest möglichen

Partikularität ethischer Empfehlungen:

„Nun gibt es aber Urteile über Handlungen, für die wir den Anspruch auf notwendigeÜbereinstimmung mit allen erheben, für die ein Urteil über Handlungen gerechtfertigt oderungerechtfertigt sein kann. Diese Urteile sind moralische Gebote.“ (28)

Wingert benennt weiterhin die der Moral eigentümliche Semantik:

„Eine Moral besteht aus Geboten, eine Ethik aus Empfehlungen. Ehtische Sollsätze, dieEmpfehlungen aussprechen, sind als Wertsätze reformulierbar. (…) Moralische Sollsätze, diemoralische Gebote ausdrücken, sind hingegen nicht in Wertsätze übersetzbar. Mit der Übersetzungdes Satzes »Du sollst aufrichtig sein und die Wahrheit sagen« in den Satz: »Es ist gut für Dich,aufrichtig zu sein und die Wahrheit zu sagen« ändert sich nicht bloß der Wortlaut, sondern auchdie potentielle Begründungsaufgabe des Sprechers.“ (31)

Auf der Moral-Begründungsebene wird aber nicht, wie noch bei Kant, gänzlich von ethischen

Überlegungen abstrahiert. Es wird lediglich festgehalten, daß der Rekurs auf das Gute nicht

genügt, um moralische Forderungen zu begründen (32):

„In der Beantwortung der moralischen Begründungsfrage sind evaluative Sätze über Primärgüteroder über Interessen auch derjenigen zugelassen, an die sich moralische Gesetze richten. Nur sinddiese Sätze nicht konklusiv. In der Begründung müssen auch normative Sätze vorkommen, diez.B. das Prinzip der Unparteilichkeit in der Interessenberücksichtigung (Habermas) oder die Normformulieren, daß die Primärgüter lebensformneutral sein müssen (Rawls). Diese Sätze können aber– so die deontologische These – nicht wieder in evaluative Sätze übersetzt werden.“ (33)

Deontologische Urteile über Handlungen können nicht als teleologische reformuliert werden,

denn moralisch beurteilbare Handlungen werden in einer deontologischen Konzeption

überhaupt nicht verstanden als „das intentionale Herbeiführen der Existenz von

Sachverhalten“ (160).

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„Sie wird vielmehr begriffen als eine praktische Stellungnahme zu den interaktiven sozialenBeziehungen, die u.a. durch moralische Pflichten und korrespondierende Ansprüche geregeltwerden. In einem deontologischen Moralverständnis sind die Gründe, in einer moralischgebotenen Weise zu handeln (oder nicht zu handeln), auf die moralischen Ansprüche anderer, sound so behandelt zu werden, bezogen. Moralisch richtig ist eine Handlungsweise nicht, weil sie alsgut bewertete Zustände in der Welt herbeiführt, sondern weil sie bestimmte Ansprüche andererrespektiert.“ (160)

Diese Ansprüche laufen darauf hinaus, als Person anerkannt zu werden, d.h. als dasjenige

Lebewesen, das sich zu sich verhalten kann. Moralische Rechte sind, so Wingert richtig, als

Bedingungen für die Selbstverwirklichung von Personen, keine Güter (wie etwa Rawls es

formuliert hat), d.h. Inhalte bzw. Ziele der Selbstverwirklichung (152).

Doppelter moralischer Respekt

Gemäß der doppelten Form geschuldeten Respekts lassen sich Handlungen in einer

persönlichen und in einer intersubjektiven Weise moralisch problematisieren. Genauer gesagt,

auf eine persönliche und zwei intersubjektive Weisen, denn Wingert unterscheidet lokale von

überlokalen intersubjektiven Verbindlichkeiten. Der Grund dafür ist, daß auch das moralische

Gegenüber in zwei verschiedenen Weisen auftritt: als konkreter und als allgemeiner Anderer.

„Der lokale intersubjektive Problemaspekt ist deshalb das Pendant zum persönlichen Aspektmoralischer Probleme. Unter ihm kann mein Handeln moralisch problematisch sein, weil es einkomplementäres Handeln oder Unterlassen des anderen verlangt, das dieser in Ansehung seinerPerson nicht ausführen kann, ohne in Widerspruch zu dem zu geraten, als den er sich bejahenkann.“ (116/117)

Genauso problematisch sind (qua Rollentausch) Ansprüche der anderen an mich, an denen

meine Identität zu zerbrechen droht. Diese beiden intersubjektiven Aspekte verhindern, daß

sich moralische Fragen verlustfrei in ethische übersetzen lassen.

„Das Urteil, was ethisch gut ist für eine Person, ist letztlich ein Urteil darüber, an welchenWertmaßstäben diese Person sich in ihrem bewußten Verhalten ausrichten soll. Wenn nunmoralische Sollsätze übersetzte ethische Wertsätze wären, dann wäre die Zustimmung zu einemmoralischen Urteil in der Form eines Sollsatzes von der Einsicht motiviert, was man tun muß,damit man sich in Übereinstimmung mit sich und d.h. mit seinem bekräftigten Selbstverständnisbringt. Das begründete Moralurteil wäre dann nur die Lösung für einen einzigen – für denpersönlichen – Aspekt eines moralischen Problems.“ (151)

Mit der überzeugenden Beschreibung der moralischen Achtung des anderen auch als

konkretem anderen als wesentlichem Element des Universalismus, der hier nicht im Detail

ausgebreitet werden kann, gelingt Wingert die Lösung des bei Benhabib noch

offengebliebenen Problems, wie die scheinbare Partikularität ethischer Entwürfe mit der

Intersubjektivität moralischer Gründe zusammengedacht werden kann. Als Folge ist

allerdings anzuerkennen, daß es zu Konflikten zwischen diesen Formen der Achtung kommen

kann, d.h. zwischen dem, was er in Ansehung anderer als beliebiger anderer ausführen müßte,

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dem, was eine Person in Ansehung seiner Person nicht ausführen kann, dem und dem, was er

in Ansehung seiner lokalen Pflichten gegenüber konkreten anderen ausführen müßte. Die

Konflikte, die B. Williams in extenso ausgeführt hat (etwa am Beispiel des Malers Gauguin;

vgl. den Titelaufsatz in Williams 1981), sind ernstzunehmen, nicht weil Vorstellungen des

Guten Lebens mit denen einer universalistischen Moral kollidieren, sondern weil persönliche,

lokale und globale Verpflichtungen als universalmoralische Verpflichtungen kollidieren

können. (Zu Normenkollisionen komme ich im Zuge der Diskussion von

Anwendungsproblemen).

Das Moralprinzip ergibt sich bei Wingert entsprechend dem gleichen Schutz vor dieser

doppelten Verletzlichkeit:

„Dieses Prinzip besteht darin, daß die allgemein gebotene Handlungsweise oder die moralischeNorm N jeden der Zusammenlebenden gleichermaßen schützt in seinem Status eines unvertretbarEinzelnen und eines gleichberechtigten Angehörigen.“ (264)

Diese Verletztlichkeit wird im folgenden als mit dem Involviert-Sein in eine kommunikative

Lebensform verbunden herausgestellt, wodurch sie im Diskurs dann auch geschützt bzw.

operationalisiert werden kann.

Kommunikative Lebensform

Der zweite Schritt von Wingert ist der Aufweis der „kommunikativen Lebensform als Quelle

moralischer Verletzungen“ des in diese Lebensform als unvertretbar Einzelnen verstrickten

Individuums – was nach dem vorherigen leicht gelingt. Er kann nun zeigen, daß dieser

„Ordnungsgesichtspunkt“ moralischer Intuitionen (im Sinne Rawls‘) anderen prominenten

Vorschlägen überlegen ist: Dem Erhalt der Bedingungen der Handlungsfähigkeit (Höffe) und

der Leidvermeidung (Wolf u.a.) (175ff.).

Erstere wirke nämlich bereits im Fall der Tötung reichlich angestrengt. („Das Leben bildet

den Horizont des Handelns, nicht umgekehrt“, 176).100 Die Mißachtung des eigenen Willens

bereite noch größere Schwierigkeiten:

„Man mißachtet meinen Willen, indem man mir die Möglichkeit zu einem bestimmten Handelnnimmt. Die Verletzung von Bedingungen der Handlungsfähigkeit ist eine Form der Mißachtungmeines Willens und nicht umgekehrt.“ (176)

100 Höffe selbst beschreibe diesen Fall „entgegen seiner eigenen systematischen Perspektive“ als „Mißachtungdes Selbstbestimmungswillens des Getöteten“ (176), wodurch Wingert sich zurecht bestätigt sehen kann.

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Demütigung und kränkende Respektlosigkeit könne schließlich überhaupt nicht berücksichtigt

werden. Der Verlust von Selbstvertrauen sei vielleicht eine Folge dessen, aber nicht damit

identisch.101

Zudem mangele es beiden Vorschlägen an Reflexivität (Der Leidensfähigkeit scheint es,

wenn man ‚Leid‘ wie U. Wolf (Wolf 1990) weit genug faßt, weiter jedenfalls als physische

Schmerzen, sogar nur daran zu mangeln). Die Artikulation einer moralischen Verletzung

könne dort nämlich durch eine inadäquate öffentliche Sprache womöglich nur verzerrt oder

schematisch, bei Ausschluß von dieser Sprache u.U. sogar überhaupt nicht gelingen.

„Anders der hier vorgeschlagene Ordnungsgesichtspunkt. Das Involviertsein in einerkommunikativen Lebensform besagt ja gerade, daß der verletzbare Einzelne angewiesen ist auf einresponsives Verhalten anderer auf der Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses seinersymbolischen Äußerungen. Dieser Ordnungsgesichtspunkt vermag auch ein bestimmtes […]Verständnis der Aspekte, Ausdrucksformen und Bedingungen [moralischer Verletzungen] zubeachten. Dieses Verständnis bildet Ordnungsgesichtspunkte, die die Subjekte und z.T. dieObjekte moralischer Verletzungen selbst haben, also Ordnungsgesichtspunkte imGegenstandsbereich einer Moraltheorie.“ (178)

Weil Wingerts Vorschlag die Problematisierung auch dieser Ordnungsgesichtspunkte noch

zuläßt, ist er reflexiver als diese – „jedenfalls solange man in den Begriff der

Handlungsfähigkeit nicht auch die soziale Bedingung des Handeln-Könnens aufnimmt,

nämlich daß das eigene intendierte Handeln seiner Bedeutung nach ein komplementäres

Verhalten anderer impliziert“ (178).

Begründungsschritte

Wingerts Grundidee ist nun, daß „unter zu spezifizierenden Umständen die kommunikative

Lebensform nicht nur die Quelle moralischer Verletzungen ist, sondern auch ein Potential

zum Schutz vor diesen Verletzungen bereithält“ (208). Zu suchen ist also, und jetzt erst

kommt er auf die Diskursethik im engeren Sinne zu sprechen, nach „moralischen Elementen

in der Kommunikation“. Solche aufzuspüren gelingt Wingert in sieben Schritten (vgl. 221):

(a) Kommunikation ist sinnvermittelt und findet statt

(b) Dies setzt voraus: reflexive Übereinstimmung (sonst droht Sinnverlust)

(c) Dies setzt voraus: intersubjektive Gründe

101 Höffe macht es Wingert recht leicht, da jener sich nur auf die äußeren Bedingungen des Handelns kapriziert.Wenn man, etwa mit (Hubig 1993) auch die inneren, d.h. subjektiven Voraussetzungen berücksichtigt, trägt derBedingungserhalt schon viel weiter und läßt auch die Reflexion auf die Bedingungen autonomer Willensbildungzu.

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(d) Dies setzt voraus: Gemeinsamkeiten der Beteiligten, die den Stoff für (c) liefern und

die Beteiligten zu Angehörigen einer Gemeinschaft qualifizieren

(e) Daraus folgt: (b) beruht auf Entkräftung von impliziter oder wechselseitiger Kritik

wenigstens an den Interpretationen von Bedeutungen und von Handlungsnormen

(f) Da aber (c), müssen sich die Interaktionspartner als in ihrer Kritik gleichberechtigt

respektieren.

(g) Und aus der subjektiven Perspektive bei den Interpretationen von (e) folgt, weil die

Individuen als unvertretbar einzelne interagieren, auch die personengebundene Form

des Respekts (223).

Ungleichheiten in Rechten und Pflichten sind dabei, als Ergebnis, explizit möglich, somit sei

der Kommunikationsbegriff nicht (völlig?) präjudizierend (224).

Die Diskursethik, essentiell in den bekannten Diskursregeln (sowie dem „principle of

charity“) verkörpert, kommt diesen beiden Formen moralischen Respekts besser als jede

andere Ethikkonzeption entgegen. Obwohl Wingert dies nicht explizit schreibt, darf man wohl

unterstellen, daß er »D« als praktischen Grundsatz einer Operationalisierung, d.h. einer

„Durchführungsprozedur des Moralprinzips“ (264) akzeptieren würde. An die Stelle von »U«

tritt bei ihm das oben genannte Prinzip des doppelten Respekts, das wohl gleichzeitig auch als

Argumentationsregel dienen soll, nach der gültige Normen qualifiziert werden können:

„Das Urteil, in dem diejenigen, für die eine bestimmte Handlungsweise die Lösung einesmoralischen Problems sein soll, übereinstimmen müssen, ist ein Urteil der Form: »Jeder muß Neinhalten, weil N als Bestandteil eines Normensystems den Respekt eines jeden alsgleichberechtigten Angehörigen und als unvertretbar Einzelnen wahrt.«“ (265)

Was hier unausgeführt bleibt, ist der Zusammenhang einer „bestimmten Handlungsweise“ mit

einer Norm. Wir werden im Anwendungskapitel darauf zurückkommen.

Diese Begründung wird nun seinerseits auf ihre Voraussetzungen hin befragt:

„Genereller Ausgangspunkt für die Begründung ist das Erfordernis moralischer Normen, die dasZusammenleben von in einer kommunikativen Lebensform involvierten Subjekten regeln, indemsie die moralisch verletzbaren und handlungsmächtigen Subjekte kategorisch wechselseitig aufbestimmte Handlungsweisen und Unterlassungen verpflichten.“ (284)

Für Wingert ist die im Diskurs operationalisierte Moral des doppelten Respekts deshalb nur

unter Voraussetzung von drei Voraussetzungen begründbar (vgl. 284):

1) Ohne Moral ist eine (erwünschte) gewaltfreie Konfliktlösung unmöglich.

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2) Die gesuchten moralischen Normen müssen aus intersubjektiv geteilten Gründen akzeptabelsein, also z.B. nicht nur per persönlicher Konversion einsehbar.

3) Für diejenigen, deren (interaktives) Zusammenleben moralischer Regelungen bedarf, ist diesesZusammenleben nicht notwendig Teil ihres guten Lebens; ob sie wollen oder nicht, sie müssenzusammenleben.

Offenbar werden (1) und (2) benötigt, um den „generellen Ausgangspunkt“ zu stützen, doch

welche Funktion (3) hat, läßt der Text offen. Ich finde (3) nur schwer verständlich; wie kann

etwas notwendig Teil einer Vorstellung vom guten Lebens sein in dem angegebenen Sinne,

daß etwas gewollt werden muß? Falsch wäre jedenfalls folgendes: »Moralische Regelungen

wären dann überflüssig, wenn das Zusammenleben als Teil des guten Lebens gewollt ist.«

Denn nicht zusammenleben zu wollen, ist ja nicht die einzige Möglichkeit moralischer

Verletzung. Vielleicht meint Wingert (wie auch bei Rehg ausgeführt; vgl. auch Benhabib und

Ott), daß erst im Horizont der Moderne tatsächlich ein universeller moralischer Respekt

erforderlich wird, also die historische Verbreitung der Idee des Universalismus mit der

Forderung nach einer entsprechenden Geltungsweise vordem selbstverständlich partikularer

moralischer Gebote zusammenfällt?

Reflexivität

Begründen heißt für Wingert nicht, den radikalen Skeptiker zu überzeugen, der sich fragt:

»Warum überhaupt moralisch sein?«, sondern die „relative epistemische Überlegenheit“

seiner Konzeption zu zeigen: „Darunter ist zu verstehen, daß die normative Erwartung, sich

an diese Moral zu halten, nicht vernünftigerweise zurückgewiesen werden kann; es gibt keine

guten Gegengründe gegen sie, die diese Zurückweisung stützen.“ (281) Der Diskursethik ist

damit eine „Offenheit für Kritik“ (ebd.) eingeschrieben. Der Anhänger einer Diskursethik

wird nämlich

„[…] dazu angehalten, zwischen dem, was ein guter Grund ist, und dem, was er als einen gutenGrund ansieht, zu unterscheiden Sein Anspruch, daß x ein guter Grund dafür ist, daß sich alle (imoben spezifizierten Sinn von »alle«) in der so und so bestimmten Weise verhalten sollen, verbindetsich im Bewußtsein dieser Unterscheidung mit dem Anspruch, daß von allen eingesehen werdenkann, daß x ein guter Grund ist: Wenn x ein guter moralisch-praktischer Grund dafür ist, daß allesich so und so verhalten sollen, dann ist x als ein guter moralisch-praktischer Grund von alleneinsehbar.“ (286)

Eine fundamentalistische Position oder diejenige des „rationalen Nazi“ (an der R. Hare die

Konsequenzen einer auf interne Widerspruchsfreiheit verkürzten Universalisierung vorführt

Hare 1963), die (2) verletzen, kann als „epistemisch unterlegen“ herausgestellt werden, wie

Wingert ein Argument von Th. Nagel aufnimmt:

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„In der Erklärung der Nicht-Übereinstimmung darüber, ob x ein guter moralisch-praktischerGrund ist, wird auf eine präsumtiv gemeinsame Basis Bezug genommen, auf ein »common reasonin which both parties share, but from which they get different results because they cannot, beinglimited creatures, be expected to exercise it perfectly« [Unterzitat Nagel 1987: 234]. DieBezugnahme auf eine gemeinsame Rechtfertigungsbasis zwingt Opponent und Proponent einebestimmte Einstellung zu dem Faktum ihres Dissenses auf. Dieses Faktum muß von beiden als einIndiz dafür angesehen werden, daß keine Seite gute Gründe für jeweils ihre Überzeugung hat. JedeSeite muß auf die Entkräftung der Kritik des Gegenübers zielen, wenn sie zu dem Anspruchautorisiert sein will, daß x ein guter moralisch-praktischer Grund ist. Der fundamentalistischeAnhanger einer traditionalistischen Moral, die einen ungleichen oder eingeschränkten Respektzuläßt, kann diese Einstellung nicht einnehmen. Er hält die Normen dieser Moral für Gebote undVerbote einer vorgegebenen Autorität, die lediglich durch ihn spricht, wenn er diese Gebote undVerbote gegenüber anderen geltend macht. Er macht diese Normen nicht eigenverantwortlichgeltend, indem er sich zumindest ihre Auslegung persönlich zuschreibt. Deshalb stuft er dieGründe für seinen Geltungsanspruch nicht zu Gründen herab, die zunächst einmal nur er als guteGründe ansieht und die sich in der Entkräftung von Kritik anderer als gute Gründe erweisenkönnen müssen.“ (288)

Kurz und bündig faßt Wingert noch einmal zusammen, worin die epistemische Unterlegenheit

dogmatischer, metaphysischer oder religiöser Gegenpositionen besteht:

„Beide, der rationale Nazi und der Fundamentalist, unterscheiden nicht zwischen guten moralisch-praktischen Gründen dafür, daß alle sich so und so verhalten sollen, und ihrem Glauben was solcheGründe sind.“ (288)

Die Moral des doppelten Respekts ist epistemisch überlegen, wie Wingert richtig sieht, „weil

sie von Haus aus, d.h. durch ihre Operationalisierung im Diskurs, auf Kritik angelegt ist“

(285). Nicht nur die inhaltlichen Normen (in denen wir uns als gleiche Mitglieder

anerkennen), sondern auch die Kriterien für die Akzeptabilität von Normen (in deren

Interpretation wir unvertretbare Einzelne sind) stehen der Kritik offen (289). Besonders

letzteres ist m.E. eine elegante Antwort auf den beliebten Einwand gegen die Diskursethik

seitens des Kontextualismus (daß sich materiale Normen nämlich nicht ohne gemeinsam

geteilte Hintergrundüberzeugungen auszeichnen ließen, Habermas also ein Konzept von

„guten Gründen“ voraussetzen müsse, dessen Substantialität auch noch die Rede von der

„Akzeptabilität“ bzw. der „Zustimmungsfähigkeit“ kontaminiert). Wingert vertritt damit ein

Gegenkonzept zu der kantisch-universalistischen Wellmer-Variante (vgl. 275, FN 11), die als

einen Schwachpunkt gerade die zu starke Stellung der konkreten anderen (alle) gegenüber der

allgemeinen anderen (jede) heraushebt. Aus Wingerts Perspektive ergibt sich zwanglos die

Notwendigkeit der Einbeziehung der konkreten anderen in den Diskurs, ohne daß ein

Restdezisionismus (274) oder eine bloße Informations-Funktion (276) als Grund zureichen

muß.

Während sich Wingert sicher ist, daß hier nichts begrifflich erschlichen oder material einfach

vorausgesetzt wird, meint er, Zweifel hinsichtlich der Existenz eines intersubjektiven

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„moralischen Maßstabs“ letztlich nicht ausräumen zu können (301). Der Clou des reflexiven

Konzepts läßt sich aber noch auch auf der basalsten Ebene möglicher Einwände wiederfinden:

„Die Idee ist also, daß die Moral des universellen zweifachen Respekts ihre basalen Prinzipien,soweit sie in Form von (Aufforderungs-)Sätzen dargestellt werden, noch einmal der Bewährung ineinem diskursförmigen Streit der Interpretationen aussetzt, den sie selbst durch ihre Prinzipien aufder pragmatischen Ebene der Verwendung dieser Sätze ermöglicht.“ (303)

Diese „prozedurale Repräsentation der praktischen Vernunft“ (ebd.) erinnert von Ferne an

Niquets „transzendentalen Diskurs“ (1996), in dem sich die kommunikative Vernunft per

strikter Reflexion ihrer Sinnbedingungen versichert. Auch im Begründungsschritt (a) und (b)

mußte ja auf die Rettung des Sinns rekurriert werden.

„Die so verstandene moralisch-praktische Vernunft wird nicht bloß dargestellt von Sätzen, mitdenen wir rechtfertigende Gründe geben, sondern auch noch einmal von einem Prozeß derdiskursförmigen Auseinandersetzung darüber, wie gut diese Sätze ihre Funktion erfüllen,moralisch-praktische Gründe zu sein. Das für alle Subjekte moralischer Verpflichtungenakzeptable, minimale Verständnis von solchen Gründen, wie es im Diskurs zur Geltung gebrachtwerden soll, wirkt als eine Art Korrektiv. Das materiale, erfahrungsabhängige Verständnis vonguten moralischen Gründen muß keineswegs geleugnet werden; aber soweit es sich in solchenSätzen artikuliert, kann es auch kritisiert werden.“ (303f.)

Schließlich versucht Wingert doch noch ein transzendentales Argument, das auf die

Bedingungen der Möglichkeit wirksamen Einspruches zielt, und das er so zusammenfaßt:

„Die Idee ist, daß die Grundformen des moralischen Respekts, den diese Moral gebietet, als eineunumgängliche Voraussetzung gerechtfertigt werden können für eine Kritik an den vermeintlichenGütekriterien moralischer Gründe; und daß diese Kritik auch noch das Verständnis dieserElementarformen des moralischen Respekts, we es sich auf der Ebene von Normsätzen artikuliert,als unangemessen monieren kann. Das ist keine Letztbegründung. Denn diese Voraussetzung wirdnicht im Rekurs auf die Erfahrung eines performativen Widerspruchs, sondern in Ansehung derErfahrung des von ihr ermöglichten, wirksamen Einspruches gerechtfertigt.“ (19f.)

Wingert benennt die »Reflexivität« einer moralphilosophischen Konzeption als ein

wesentliches Qualitätsmerkmal. Diese Reflexivität der Diskursethik hat, so möchte ich

Wingerts Darstellung systematisieren, zunächst zwei Aspekte: Erstens, daß Vorschläge für

moralische Ordnungsgesichtspunkte, z.B. die Formulierung von »U« oder die

Normensemantik, und zweitens, daß ihre basalen konstitutiven Prinzipien, etwa die

Diskursregeln, im Rahmen ihrer selbst für Kritik offenstehen und offengehalten werden

müssen, d.h. die Diskursethik diese selbstkritisch reflektieren kann und muß.102 Ein dritter

Reflexionsaspekt, den Wingert nur ganz am Rande erwähnt und der erst in der Diskussion der

Anwendungsprobleme näher untersucht wird, besteht darin, daß unter einem moralischen

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Ordnungsgesichtspunkt gerechtfertigte Normen (oder Maximen o.Ä.) in ihrer Anwendung

überprüft und fortgebildet werden können und Kriterien ihrer Anwendbarkeit entwickelt

werden können – und daß auch dies im Rahmen der Diskursethik selbst, d.h. in praktischen

Diskursen, geschieht.

Versuch einer Neubegründung der Diskursethik auspartikularen Geltungsansprüchen – M. Kettner (1998)

Der Versuch einer Neubegründung der Diskursethik angesichts einer vielfach beklagten

Unbestimmtheit der Konzeption und offensichtlich ungelöster Begründungsprobleme

unternimmt M. Kettner (1998). Sein Vorschlag für eine „neue Perspektive“:

„Es geht in der Diskursethik um die Verwendung diskursiver Macht, moralisch normiert wird dieVerantwortung von Argumentationsgemeinschaften für deren vernünftige Ausübung. (4)

Diskursive Macht ist die Macht, Richtigkeitsüberzeugungen, die die Autorität von guten Gründenbetreffen, durch Argumentation zu modifizieren -somit die betreffenden Gründe selber zumodifizieren und somit auch das, was für uns aus diesen Gründen erfolgen oder auf ihnen beruhendarf.“ (5)

Während Argumentationen zwar darauf zielen, „strittige Gründe mit weniger strittigen neu zu

bewerten, um besser unterscheiden („urteilen“) zu können“ (5), beanspruchen Diskurse (in

normativer Begriffsverwendung), so geführt zu werden, als ginge es in ihnen nur um die

Erfüllung dieser Argumentationsintention. Das entsprechende Selbstverständnis nennt Kettner

dasjenige eines „rationalen Bewerters“ von Günden (6). Die vernünftige Ausübung

diskursiver Macht bedeutet daher, sich an einer Orientierungspraxis zu beteiligen mit dem

Ziel der „Suche nach der besten uns möglichen Verständigung über unsere möglichst besten

Gründe“ (8). Diskurse intervenieren in diesem Sinne in die (aus Gründen gewirkten)

normativen Texturen und in die Prozesse ihrer Veränderung. Diese Überlegungen zum

Verhältnis von Rationalität und Diskurs sind m.E. überzeugend, jedoch auch recht

unkontrovers. Kettner verzichtet auf den Ballast der Habermasschen Universalpragmatik und

ihrer Ableitung des universalistischen Geltungsanspruchs der „Richtigkeit“ als

wahrheitsanalog, und damit auch auf die starke Annahme, erst die Unterstellung, man könnte

moralische Fragen eindeutig und universell verbindlich entscheiden, gäbe einem praktischen

Diskurs seinen Sinn.103 Entsprechend verwirft er die Habermassche Abgrenzung moralischer

102 Vgl. zu diesem Begriff der Reflexivität auch Hastedt 1991. Er propagiert eine „Selbstthematisierung derThematisierungsweisen in praktischer Absicht“ (284).103 Er rückt jedoch nicht davon ab, daß ein moralischer Diskurs einen Konsens erbringt – nur „das kann auch einKonsens über einen Spielraum von Dissens in der anstehenden Sache sein, oder ein Konsens über einenSpielraum von Konsens, oder ein Konsens über komplementäre Spielräume von Dissens und Konsens“ (37).

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von pragmatischen oder ethischen Diskursen (Kettner 1994). Die Konzeption der Texturen

läßt Raum für den Zusammenhang von Geltungsansprüchen, den u.a. Wellmer herausgestellt

hat.

Ziel seiner Bemühungen ist der Aufweis einer universalistischen „»diskursermöglichenden«

Moral-im-Diskurs“ MID einerseits, die alle anderen (universalistischen wie

partikularistischen) vorfindlichen Moralen Mx zu „diskursiv integren Moralen“ DIMx

andererseits soll „ummodeln“ können (32). Die Berücksichtigung der MID, d.h. die

diskursive Integrität dieses Vorgangs, garantiert dabei die Nichtverschlechterung und die

Möglichkeit einer Verbesserung im Übergang von einer Textur T1 zu einer Textur T2 von

Gründen – Texturen, in denen auch Moralvorstellungen eingebettet sind (13/14).

Somit entwickelt Kettner den Apelschen Ansatz zu einer um die Letztbegründung

abgerüsteten Kommunikationsmoral weiter. Aus den essentiellen normativen Elementen der

Argumentation extrahiert er im Begründungsteil seiner Überlegungen jene mit

(kommunikations-)moralischem Gehalt, aus denen er die zentrale „diskursethische

Hypothese“ neu zu füllen und zu begründen versucht:

„(HDE) Richtig zu wissen, was es heißt, argumentieren zu können, schließt die Kenntnis einer

bestimmten Moralkonzeption ein, und daß man weiß, was es heißt, dieser Konzeption gemäß odervon ihr abweichend zu handeln.“ (18)

Diese Moralkonzeption bestimmt ausschließlich darüber, wie diskursiv argumentiert werden

soll, ist also eine reine Kommunikationsethik (genauer: Ein Teil der Argumentations-, und als

diese wiederum ein Teil der Kommunikationsethik). Was dann, in der Entwicklung des

„Diskursmodells angewandter Ethik“ folgt, ist als eine Entfaltung einiger Konsequenzen von

HDE angelegt. (Diese Anwendungskonzeption wird im nächsten Kapitel besprochen werden.)

Die nun näher zu betrachtende Begründung der „»diskursermöglichenden« Moral-im-

Diskurs“ verläuft über eine Untersuchung der Semantik von guten Gründen, d.h. davon, „wie

rationale Bewerter verallgemeinern sollten“. Ihr sind einige metaethische Überlegungen

vorangestellt, die das Begründungsziel schärfer fassen helfen sollen; diese werden im

Folgenden kurz skizziert.

Moralurteile und rationale Bewerter

Kettner beginnt seine Argumentation mit einigen begrifflichen Klärungen. Ein moralisches

Urteil ist ein normatives Urteil, in dem „ernstgenommen wird, wie Aktivitäten und ihre

Ergebnisse (=Tun/Lassen) für die Akteure selbst und für andere Wesen, an denen den

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Akteuren etwas liegt, zum Guten oder Schlechten ausschlagen“ (14). Gründe moralischer

Urteile repräsentieren daher, wegen dieses Ernstnehmens nämlich, Zuschreibungen von

„moralischer Verantwortung“ (14). Eine Moral ist in Kettners Ansatz eine Textur von

Gründen der Urteilenden:

„Jede Moral kann in gewissen Sinne als eine mehr oder weniger scharf gesonderte (im Extremsogar: modulare) Textur von Bewertungsgründen angesehen werden, und zwar von solchenBewertungsgründen, die zur Bewertung von Handlungsorientierungen bzw. Gründen in vielen (imExtrem sogar: in allen [FN: Wallace 1996]) übrigen normativen Texturen der Lebenswelt sozialhandelnder Personen aus der Sicht der Urteilenden für die Urteilenden wie die Beurteilten dortanzuerkennen sind, wo es darum geht, nach Maßgabe eines "moralisch Richtigen" zu urteilen. Jedeartikulierte Moral ist eine Textur, vermittels derer sich alle Adressaten dieser Moral "zwingend" -nämlich um den Preis von Furcht, Scham, Schuld, Selbstachtung oder Wertschätzung seitensanderer Mitglieder einer Moralgemeinschaft (Honneth 1992) - auferlegen, sich um bestimmteArten des Guten von bestimmten Arten von Wesen zu kümmern (Wingert 1993) und sich hierüberRechenschaft zu geben. Es ist daher falsch, das Moralische insgesamt ins Prokrustesbett"moralischer Rechte", "moralischer Pflichten", oder gar (wie Habermas) von "Gerechtigkeit" zuzwingen.“ (15)

Das jeweilige „Prokrustesbett“ moralphilosophischer Theorien heißt bei Kettner an anderer

Stelle auch (weniger polemisch): „moralischer Einheitsfokus“ (Kettner 1996b). In seinem

Ansatz ist er sichtlich bemüht, Raum lassen für die verschiedensten Moralvorstellungen,

vielleicht auch für solche, die durch einen wie auch immer gearteten moralischen

Einheitsfokus nicht zu rekonstruieren sind.

Ein moralisches Urteil muß aber auch in Kettners Ansatz ein deontisches Urteil sein; die

allgemeine Struktur eines deontischen Urteils soll dabei wie folgt lauten (eckige Klammern

hier ausnahmsweise im Original):

„(W)ir denken: Es ist aus bestimmten (G)ründen richtig: daß jede (A)ktorinstanz mit bestimmten(E1)igenschaften jedes Aktor(O)bjekt mit bestimmten (E2)igenschaften, unter bestimmten

(U)mständen auf bestimmte Weise be(H)andeln (D)arf - oder nicht behandeln darf [=Verbote]oder nicht nicht behandeln darf [=Gebote].

Verkürzt ausgedrückt: Wir, nämlich ich und alle anderen, die in dieser Sache so wie ich denken,halten es aus G für richtig, daß jeder, der E1 ist, jeden, der E2 ist, unter den Umständen U so-und-so behandeln (=Handlungsweise H) darf/nicht darf/muß (=deontischer Operator D).“ (18)

Damit es sich um ein moralisches Urteil handelt, muß G zudem ein Grund „spezifisch aus

einer Moral“ sein. (G) soll offenbar zuerst einmal so komplex sein, daß sich alle anderen

Strukturstellen damit rechtfertigen lassen – daher auch der Plural: (G) steht für mehrere

Gründe.

Zur den einzelnen Strukturstellen: (W) und (G) haben eine m.E. problematische

Sonderstellung. (W) kann schon aus logischen Gründen nicht zum Urteil hinzuzählen: Denn

inklusive (W) entsteht kein Urteil, sondern ein empirischer Satz. Ähnliches gilt für (G): Wenn

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man etwa sagt, jemand dürfe dies oder das tun (weil G), scheint der deontische Charakter

offensichtlich. Sagt man aber stattdessen, es sei wegen G richtig, daß jemand dies oder das

tun darf, klingt dies schon weniger wie ein deontisches Urteil. "Deontisch" kennzeichnet

nämlich das Resultat der Begründung: Der eigentliche deontische Kernsatz enthält nicht das

(G). Vielmehr wird in einem Urteil, welches (G) enthält, die Richtigkeit eines deontischen

Urteils qua (G) behauptet. Ob man dieser Sprachregelung folgt, und die Begründung als

unabdingbar für die Vollständigkeit eines deontischen Urteils hält (wie Kettner), hängt dabei

vom Kognitivismus der Perspektive ab.

Gewöhnlich sind die drei Personenstellen (W, A, O) unterschiedlich belegt, jedoch:

„Der abstrakte Gedanke eines "idealgültigen", nämlich vollständig diskursrationalen Moralurteilsist nun leicht zu bezeichnen: Es wäre ein Moralurteil, bei dem wir bezüglich jeder seinerStrukturstellen (W, G, A, E1, O, E2, H, D) auf Nachfrage mit guten Gründen rechtfertigenkönnten, warum sie keine andere Bestimmtheit als die, die wir (=die Mitglieder dieserMoralgemeinschaft) dort gesetzt haben wollen, haben soll; und jeder rationale Bewerter, der aneiner der drei Personstellen (W, A, O) steht, kann sämtliche Gründe gut finden, egal an welcherder drei Personstellen er steht.“ (18)

In dieser Aussage wird – könnte man sagen – die Begründungsschraube um eine volle

Drehung angezogen. Ich glaube jedoch auch nicht, daß die Strukturstelle (W) tatsächlich so,

wie von Kettner angesetzt, in einem vollgültigen Moralurteil auftritt. Wenn (W) nämlich „alle,

die in dieser Sache so denken wie ich“ umfassen soll, gibt es da nichts zu rechtfertigen:

„[D]iese Sache“ ist doch das fragliche Moralurteil, die faktische Zustimmung zum Rest (G bis

D) bestimmt daher die Extension von (W) – und irgendwelche weiteren Gründe sind nicht

erforderlich.

Betrachten wir nun die Strukturstelle (G). Sie zu begründen, wie für die Vollgültigkeit

verlangt, führt zu einer merkwürdigen Doppelung: Nun haben die Gründe (G) durch gute

Gründe gestützt zu sein, und auch die anderen Strukturstellen. Jedoch, die anderen

Strukturstellen zu begründen, sollte doch gerade (G) leisten. Warum also nicht sagen: Ein

idealgültiges Moralurteil ist ein Moralurteil, bei dem alle (G)ründe gute Gründe sind.

Die Frage ist dann natürlich: gute Gründe für wen? (Bzw.: Wem gegenüber „auf Nachfrage

mit guten Gründen rechtfertigen“?) Der erste Teilsatz läßt dies offen, betrachten wir also den

zweiten Teilsatz: Darüber hinaus, gute Gründe für die Belegung der verschiedenen

Strukturstellen anführen zu können, soll gelten: „[j]eder rationale Bewerter, der an einer der

drei Personenstellen (W, A, O) steht, kann sämtliche Gründe gut finden, egal an welcher der

drei Personenstellen er steht“ (s.o.). Dazu ist folgendes zu sagen: Wenn jemand an (W) steht,

hält er ohnehin (per Definition) alle Gründe für gut. Wenn jemand an (A) oder (O) steht, und

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alle Gründe gut finden können soll, heißt dies nicht – wie man vielleicht meinen könnte –, daß

er auch an die Stelle (W) gesetzt werden kann, denn alle (W) halten die Gründe auch wirklich

für gut (und können dies nicht nur). Was aber heißt es genau, daß jemand Gründe gut finden

kann? Wahrscheinlich doch, daß ihm auf Nachfrage ein Grund als guter Grund plausibel

gemacht werden kann. Wenn man der Sprechweise folgt, daß an (A) oder (O) zu stehen

bedeutet, von einem deontischen Urteil aktiv oder passiv betroffen zu sein, könnte man sagen:

Ein idealgültiges Moralurteil ist ein Moralurteil, bei dem alle Gründe für die Betroffenen gute

Gründe sein können.

Was bedeutet aber der Nachsatz: „[…], egal an welcher der drei Personenstellen er steht“?

Zunächst ersteinmal könnte dieser Nachsatz rein erläuternden Charakter haben: Gute Gründe

eben jeweils für jede Person, egal ob diese an (W), (A) oder (O) steht (wo sie tatsächlich auch

steht). Sodann könnte gemeint sein, daß eine Person einem deontischen Urteil nicht nur

deshalb zustimmen kann, weil sie dabei an einer bestimmten Personenstelle steht (z.B. der

Objektstelle und nicht der Subjektstelle eines Hilfegebots). Die Zustimmung soll vielmehr

anhand der (anderen) Subjekteigenschaften (E1) und (E2) begründet werden. Damit werden

die je zulässigen Gründe eingeschränkt. Eine dritte, noch stärkere Lesart wäre diese: Es haben

dieselben guten Gründe zu sein für alle betroffenen Personen; damit wäre – im Namen der

vollständigen Diskursrationalität – eine wechselseitige Perspektivenübernahme gefordert.

Eine „Idealgültigkeit“, so könnte man die Idealisierung viertens noch weiter treiben, wäre

aber auch dann vielleicht noch dadurch gefährdet, daß ein Außenstehender, der also weder an

(W), noch an (A) oder (O) steht, einen überzeugenden Einwand konstruiert. Wenn man diese

Personen nicht definitorisch unter (O) fassen will, was wohl nicht in Kettners Sinne ist,

könnte man also (viertens) sagen: Es haben dieselben guten Gründe für alle urteilsfähigen

Personen zu sein.

Wie weit Kettner gehen würde, läßt sich vielleicht am Ergebnis seiner philosophischen

Bemühungen ablesen: Dort werden fünf Parameter moralischer Diskurse abgeleitet: Der

vierte und der fünfte zusammen gebieten die wechselseitige Perspektivenübernahme unter

allen Betroffenen (W, A, O), daher scheint mir die dritte Lesart am treffendsten.

Gründe und gute Gründe

Die weitere Analyse dieser Idee erfordert eine Untersuchung der Definition eines „guten

Grundes“ (zuerst in Kettner 1996a, dann weiter ausgeführt in Kettner 1998) und führt uns nun

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zu einem Spezifikum des Kettnerschen Ansatzes, der Projektionseigenschaft.104 Den Weg

dorthin plausibilisiert Kettner folgendermaßen:

„Denn wie verstehen wir die "guten Gründe", mit denen wir als rationale Bewerter umgehen?Zunächst einmal so, daß ein Grund, der mein guter Grund ist (=so daß ich es für richtig halte,wenn einer aus diesem Grund agiert [FN: Das schematische Verb agieren steht im Folgendenimmer für irgendein Handeln (Tun, Lassen).]), für mich wie für alle anderen gleich mir ebenso einGrund ist. Gründe sind ja prinzipiell keine Privatsache. Des weiteren gehört hierzu, daß wenn Gwirklich ein guter Grund ist, dann derselbe Grund für jede andere Person, die mir in keinerrelevanten Hinsicht nicht gleicht, die jenen Grund in Betracht zöge, gleicherweise ein guter Grundzu sein hat. Daß ein Grund G gut ist heißt ja formal eben dies: 1. daß es eine rational bewertendeÜberlegung ("Argument") mit eben diesem Resultat gibt, und 2. daß diese Überlegung für jedePerson, die den Grund G in ihre Erfahrung zu bringen und rational zu bewerten vermag, zu diesemResultat hinführt, oder zumindest, daß die Person keinen ernstzunehmenden Gegengrund("Einwand") gegen dieses Resultat geben können sollte.“

Die Gleichheit in allen relevanten Hinsichten wird nun zur Projektionseigenschaft P von

„rationalen Bewertern“ zusammengefaßt:

„Das im vorigen Absatz artikulierte Moment im Konzept eines guten Grundes, wie wir diesesKonzept nun einmal verwenden, läßt sich in Form eines Verallgemeinerungsprinzips (V*) für guteGründe ausdrücken. (`B' steht für rationale Bewerter,`agieren-in-C' steht für eine gewisse Weisedes Handelns unter gewissen Umständen C, `P' steht für eine Eigenschaft, von der abhängt, wassich auf diejenigen, die diese Eigenschaft haben, projizieren läßt.):

(V*): Wenn G ein guter Grund für B1 ist, zu agieren-in-C, dann gibt es eine gewisse Eigenschaft

P von B1 hinsichtlich von G, so daß G derselbe gute Grund (zu agieren-in-C) für jedweden ist, der

P hat.“

Im Anschluß stellt Kettner eine Verbindung her zwischen einer Eigenschaft P von rationalen

Bewertern und einer zugehörigen Erklärung P dafür, daß auch andere Bewerter einen Grund

für gut halten sollen:

„Mit V* versuche ich die einfache, aber bemerkenswerte Tatsache auszubuchstabieren, daß wennjemand etwas für einen guten Grund hält, aus dem einer etwas in einer Situation tun darf,normalerweise auch eine gewisse Auffassung davon besteht (oder wenigstens auf Nachfrageentwickelt werden kann), was es sei, das den für gut gehaltenen Grund zu einem guten Grundmacht.“

Damit läßt sich derselbe Sachverhalt in Kettners Augen auch über die zur

Projektionseigenschaft P gehörende Erklärung P ausdrücken:

„(V*): Wenn einer einen Grund G für gut (zu agieren-in-C) hält, als ein rationaler Bewerter B1,

dann wird von uns von B1 erwartet, daß B1 für sich eine gewisse Erklärung P dafür hat, mit der

sich B1 zugleich darauf festlegt, daß von jedweder Person, die sich ihr rationales Bewerten so

(=gemäß P) erklären würde, erwartet werden darf, daß sie G als eben diesen guten Grund (zu

agieren-in-C) bewertet, als den B1 G wertet - es sei denn, sie hätte zusätzliche und gegensinnige

Gründe.“

104 Kettner gebraucht die Ausdrücke „Projektionseigenschaft“ und „Projizierbarkeitseigenschaft“ offenbaraustauschbar (so etwa auf S. 23) und benutzt (für beide) das Symbol P

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V* ist primär gegenüber V*, da jene, als pragmatische Feststellung, diese, als semantische

Feststellung, konstituiert. Die verbindende Gemeinsamkeit zwischen rationalen Bewertern

gemäß P soll explizit in der Anerkennung bestimmter Urteilsgrundlagen liegen, so daß etwa

eine naturalistische Eigenschaft nicht als P dienen kann.105 Kettner nennt als ein Beispiel für P

„die Eigenschaft, von der Berechtigung bestimmter Schlußformen überzeugt zu sein“.

„Daß sie jenen Grund so wie ich für gut (zu agieren-in-C) halten, kann ich realistischerweise nursolchen Anderen ansinnen, die ich als rationale Bewerter anerkenne und die mich als rationalenBewerter anerkennen, und die eine gewisse (eventuell sehr komplexe, weil mit dem relevantenWeltwissen verbundene) Eigenschaft haben; und entlang dieser Eigenschaft P projiziert einer nunseine Erwartung, daß alles, wozu seine Bewertung des Grunds G ihn selbst verbindet, gleich ihmselbst auch Andere verbinde. Natürlich nie Andere sans phrase, sondern stets die Anderen, die ersich als verbunden (=als mit ihm in Anerkennung bestimmter Urteilsgrundlagen verbunden)vorstellt, also stets irgendwie bestimmte, wenn auch auf verallgemeinernde Weise bestimmteAndere. Sie müssen nicht identifizierbar sein, keine benennbaren Personen; sie müssen nurirgendwie spezifizierbare Andere sein (nämlich als `die, von denen P und alles, was dazu gehört,gilt').“

Adressaten-Partikularität guter Gründe durchProjektionseigenschaften

Kettner betrachtet diese seine (in V* und V* resultierenden) Überlegungen als „absolut

allgemein“, da „alle möglichen Gründe betreffend“, jedoch nicht als „absolut

Adressatenallgemein.

„Keineswegs ist es konstitutiv für einen guten Grund, akzeptabel zu sein für alle Vernunftwesen,egal in welcher Situation sie sich vorfinden und egal wie ihr Dasein ansonsten beschaffen ist.Letztere Fiktion ist ein rationalistischer Irrglaube.“ (24)

Kettner vertritt damit eine (auf den jeweiligen „guten Grund“ bezogene)106 Eingrenzung der

Allgemeinverbindlichkeit moralischer Urteile gemäß der „Menge von Personen, von denen

eine Person eine wechselseitige Anerkennung ihrer eigenen Richtigkeitsüberzeugungen als

richtig erwartet“ (26). Geltungsansprüche, auch moralische Geltungsansprüche, werden für

Kettner typischerweise (adressaten-)partikular, nicht (adressaten-)universalistisch erhoben.

Nur Wahrheitsansprüche bilden eine Ausnahme, sie sind genuin „adressaten-universalistisch,

d.h. ihrem Sinn nach auf uneingeschränkt alle rationalen Bewerter zu beziehen. Kein anderer

Geltungsanspruch muß adressaten-universalistisch sein.“ (7). An anderer Stelle schreibt

Kettner dazu recht deutlich (Kettner 1996b, 454):

105 Eigenschaften, die die Anerkennung des Urteils selbst (und nicht nur seiner Grundlagen) umfassen oderlogisch implizieren, sind ebenfalls keine sinnvollen Kandidaten, da dann V* trivial wird.106 Dies unterscheidet Kettners Position von der des landläufigen Kulturrelativismus (dazu Rippe 1993). Indiesem würde nämlich nicht jeder einzelne Grund mit einer Projektionseigenschaft zu versehen sein, sondern (jenach Variante) die intersubjektive oder die transsubjektive Einsehbarkeit (zu dieser Unterscheidung vgl. das

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„Es gibt partikulare Geltungsansprüche, und gute partikulare Gründe für derenAnerkennungswürdigkeit.“

Dennoch ist V* (bzw. V*) in Kettners Augen ein Universalisierungsprinzip107:

„Es fordert für jeden für gut gewerteten Grund, daß ihn jeder rationale Bewerter für gut haltenkönnen muß, auf den die bestimmte angenommene Projizierbarkeitseigenschaft P zutrifft.“ (1998:23)

Die Projektionseigenschaft P scheint mir dazu zu dienen, den Kreis einer intendierten

Kommunikationsgemeinschaft iK festzulegen, die (und die allein) über die Güte eines

Grundes zu bestimmen hat.108

Insgesamt gibt es somit drei Hinsichten, unter denen eine Partikularität guter Gründe auftreten

kann: Hinsichtlich normativer Annahmen, die jeweils nicht von allen geteilt werden (P),

hinsichtlich von Erklärungen für die Güte von Gründen, die jeweils nicht alle in derselben

Weise geben würden (P), und hinsichtlich der für die Beurteilung der Güte von Gründen

jeweils zuständigen Kommunikationsgemeinschaft (iK). Kettner nennt explizit nur die ersten

beiden Hinsichten, sein Vorschlag scheint jedoch zu sein, alle drei Partikularitäten in

identischer Weise zu konstruieren: Die Menge von Personen, die P bezeichnet, sind genau

diejenigen, die die Erklärung P geben, und sind weiterhin genau diejenigen, die über die Güte

des dazugehörigen Grundes zu befinden haben.

Die intendierte Kommunikationsgemeinschaft (von, so könnte man sagen, je meinen

Kobewertern) muß mir in relevanter Hinsicht ähneln (was P ja anzeigt), darf mir jedoch nicht

so ähnlich sein, daß ich letztlich einen Monolog führe. Kettner nennt verschiedene

Anforderungen, deren Verhältnis zu P unklar bleibt: Einerseits müssen sie ihren eigenen

Erfahrungshintergrund einbringen:

„V* fordert unter rationalen Bewertern, daß diejenigen, die eine Projektionseigenschaft Pkonstruieren, dann allen, die unter P fallen, mit der Vorerwartung, die aber eines besseren belehrtwerden kann, begegnen, daß diese Anderen dieselbe Bewertung desselben Grundes akzeptieren(=ohne maßgeblichen Einspruch nachvollziehen) können. Die Vorerwartung ist, daß dieseAnderen keine ernstzunehmenden Gegengründe ("Einwände") haben würden, wenn sie aus ihrenErfahrungshintergründen heraus in die rationale Bewertung desselben Grundes, nun abervorgestellt als einer ihrer eigenen Gründe, eintreten würden.“ (23)

erste Kapitel) eines ganzen Netzes von Gründen (im Extremfall: aller Gründe) als an die Zugehörigkeit zu einerbestimmten Gruppe gebunden angesehen werden.107 Im Unterschied zur philosophischen Sprachverwendung der Kantischen Tradition muß aber festgehaltenwerden, daß dieses Prinzip nichts über den gleichmäßigen Ausfall von Normen aussagt (auch nicht, wie beiHabermas, durch die Akzeptabilität vermittelt), sondern ausschließlich über die Gleichberechtigung von Diskurs-Gegenübern.108 In der Konsequenz sind für Kettner, anders als für Habermas, normative Geltungsansprüche also in der Regelnicht gegenüber den Betroffenen zu rechtfertigen, sondern gegenüber der qua P intendiertenKommunikationsgemeinschaft.

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Andererseits müssen die Kobewerter über ein gemeinsames Problemverständnis verfügen

(was einen zum guten Teil gemeinsamen Erfahrungshintergrund voraussetzt). Kettners

Beispiel für P, nämlich „von der Gültigkeit bestimmter Schlußformen überzeugt zu sein“

(s.o.; Hervorh. N. G.), reicht hier sicher nicht zu, das zu garantieren. Allgemein gesagt: P muß

auch die Überzeugung von der Gültigkeit zumindest einiger der Prämissen des „Schlusses“

umfassen. Soll P letztlich das komplexe Gemenge von Gemeinsamkeiten und Unterschieden

ausdrücken können, muß diese Eigenschaft sehr viel mehr beinhalten als eine einzelne

Überzeugung. Eine explizite Formulierung von P stößt damit regelmäßig auf das Problem der

Explizierung von Erfahrungshintergründen.

Ein Nachteil der Kettnerschen Modellierung eines Grundes qua Projektionseigenschaft

besteht darin, daß sie suggeriert, man wüßte schon bei Erhebung eines Geltungsanspruches,

welche Gruppe von Personen über die Berechtigung dieses Erhebens mitzureden habe. Diese

Vorstellung widerstrebt Kettners Intention der Fassung von „Gründen“ als Oberbegriff für

Komponenten einer normativen Textur, die gerade nicht in eindeutige Teile zerlegt oder nach

eindeutigen Bedingungs- und Begründungsverhältnissen geordnet werden kann. Die

notwendige Offenheit einer (guten) Begründung gegenüber anderen (mehr oder weniger

guten) Begründungen zeigt sich auch darin, daß ein guter Grund als guter Grund garnicht

ohne Rekurs auf andere (weniger gute) Gründe bestimmbar ist (vgl. Kettner 1996b: 459) – mit

u.U. ganz anderen Projektionseigenschaften. Kettner sieht diese Offenheit auch selbst als

einen wesentlichen Zug guter Gründe an – er setzt nämlich in einer Fußnote die soeben

zitierte Überlegung zur Einwandfreiheitserwartung fort:

„Die Begründung ist: Diskursive Beteiligung würde sinnlos, wenn rationale Bewerter sich mitihren eigenen Projektionen zufriedengeben dürften und nicht auch bereit sein sollten, diese inweiteren argumentativen Begegnungen anderen Gründen auszusetzen, die ihre eigenen Gründemöglicherweise entkräften; Gründe, die von irgendwem eingebracht werden könnten, der jeweilsunter die bestimmte Projektionseigenschaft fällt.“

Mit den „eigenen Projektionen“ der rationalen Bewerter scheinen die je antizipierten

Gegenargumente ihrer Begründungen ("eigene Gründe") gemeint. Hier ist nicht explizit von

guten Gründen die Rede, für diese gilt jedoch dasselbe. Die Frage ist aber in jedem Fall:

Welche Projektionseigenschaft muß im Falle der Verteidigung des eigenen Grundes

gegenüber anderen Gründen zugrundegelegt werden, wenn jeder Grund seine eigene

Projektionseigenschaft mit sich bringt? Nur diejenige des eigenen Grundes?

Ein Versuch, diese Problematik zu umgehen, wäre zu behaupten, nur gute Gründe erforderten

eine Projektionseigenschaft. Doch diese „Lösung“ scheitert schon am Start: Denn ob ein

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Grund ein guter Grund ist, erweist sich ja nur als (vorläufig positives) Ergebnis eines

Diskurses unter rationalen Bewertern. Ohne Bestimmung der Diskursbeteiligten läßt sich aber

ein Diskurs nicht identifizieren, diese ist dem Ergebnis des Diskurses vorgängig. Damit

überhaupt ein Diskurs zwischen rationalen Bewertern zustandekommen kann, muß (so könnte

man Kettner verstehen) die Projektionseigenschaft schon allen Beteiligten klar sein. Dann

würde die Projektionseigenschaft eines Grundes die Kommunikationsgemeinschaft

bezeichnen, die über seine Güte zu befinden hätte. Man bedenke aber, daß ein guter Grund

seinen Status als guter Grund verlieren und zum bloßen Grund werden kann – ohne daß seine

Projektionseigenschaft damit einfach verloren gehen kann. Bereits ein potentiell guter Grund

(und jeder Grund ist ein solcher) benötigt eine Projektionseigenschaft, wenn ein guter Grund

eine Projektionseigenschaft benötigt.

Man muß daher sagen, daß Kettners Argumentation darauf hinausläuft, alle Gründe mit

Projektionseigenschaften zu versehen. Denn schon die Bewertung von etwas als Grund (für

etwas anderes) ist ja eine Bewertung, nicht erst die Bewertung eines Grundes als guter Grund.

Wie Kettner (in Kettner 1996b: 455) richtig sagt, gehört es

„»grammatisch« zur rationalen Bewertungspraxis, daß (1) ein Grund, der mein guter Grund ist, fürmich wie für alle anderen gleich mir ebenso ein Grund ist – Gründe sind prinzipiell keinePrivatsache – und (2) daß, wenn G wirklich ein guter Grund ist, derselbe Grund für jede anderePerson gleich mir, die ihn in gleichen Umständen in Betracht zöge (also auch keinenentgegenstehenden Grund hätte), gleicherweise ein guter Grund sein würde.“

Hier ist über die Kennzeichnung „gleich mir“ ja eine Projektionseigenschaft bereits für

Gründe (und nicht erst für gute Gründe) gefordert. Dies wirft die Frage auf, welche

Kommunikationsgemeinschaft denn zuständig ist, unter den verschiedenen Gründen Gi (mit

Projektionseigenschaften Pi) einen guten Grund G auszuzeichnen (dazu später mehr). Der

zweite Teilsatz führt zurück auf Kettners Kennzeichnung eines guten Grundes als gut: Nach

diesem Zitat scheint es an den Umständen zu liegen, ob ein guter Grund „wirklich ein guter

Grund“ ist – oder eben nur ein Grund. Sicher jedoch liegt es auch an anderen Gründen –

wobei veränderte Umstände evtl. auch andere Begründungen erfordern. Weil der Hinweis,

daß in einer bestimmten Situation etwas anderes zu tun sei, ein Grund ist, etwas anderes zu

tun, kann man allgemein sagen, daß es an anderen Gründen liegt, ob ein Grund ein guter

Grund ist.

Jedenfalls aber müssen sowohl Gründe als auch gute Gründe über Projektionseigenschaften

verfügen. Versuche einer Differenzierung von Gründen gegenüber guten Gründen können

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nicht weiterhelfen zu entscheiden, welche Projektionseigenschaften zugrundezulegen sind,

um speziell die Güte eines Grundes zu prüfen. Diese wichtige Frage bleibt (weiterhin) offen.

Noch einmal: Gründe und gute Gründe

Ich möchte folgenden Vorschlag machen, das Verhältnis von Gründen und guten Gründen zu

fassen: Etwas ist genau dann ein Grund (zu agieren), wenn es in irgendeiner Situation auch

ein guter Grund (zu agieren) ist.

Was ist nun genau ein guter Grund? Wir lesen dazu zunächst bei Kettner (22), daß einen

Grund als gut zu bewerten für mich bedeutet, daß „ich es für richtig halte, wenn einer aus

diesem Grund agiert“. Einige Zeilen weiter schreibt er dafür: „Daß sie jenen Grund für gut (zu

agieren-in-C) halten, (…)“, mit C einem bestimmten Kontext. Damit scheint es, als wäre ein

Grund ein guter Grund genau dann, wenn es mir und der von mir intendierten

Kommunikationsgemeinschaft richtig erscheint, aus diesem Grund zu agieren-in-C.

An einer anderen Stelle betont Kettner das nichtkonklusive Verhältnis von guten Gründen und

richtigem Handeln:

„V* erzwingt keineswegs Uniformität in jedermanns Handeln, sondern legt Mengen von Gründenfest, nämlich als solche Gründe, deren verantwortliche Berücksichtigung rationale Bewerter vonsich so wie von anderen ihresgleichen, die das betreffende Problemverständnis teilen, glaubenverlangen zu dürfen.“ (24)

Die Uniformität im Handeln, soviel vorweg, stand ohnehin nie ernsthaft zur Diskussion, da

moralische Überlegungen typischerweise verschiedene Handlungsalternativen als moralisch

erlaubt zulassen (so Kettner selbst in Fußnote 31). Dennoch läßt sich dieses Zitat so lesen, als

ließen auch gute Gründe das richtige Handeln noch nicht erkennen – denn die

„verantwortliche Berücksichtigung“ von guten Gründen hieße ja sonst nichts anderes als, daß

nach diesen Gründen zu handeln sei.

Ein Indiz dafür, daß auch gute Gründe das richtige Handeln noch nicht erkennen lassen,

könnte darin liegen, daß anscheinend nicht nur Gründe, sondern auch gute Gründe

konfligieren können – so jedenfalls kann man folgende Stelle verstehen:

„Rationale Bewerter bewerten im Bezug auf Problemstellungen, die sie miteinander teilen, ihreGründe aus ihren (jeweils sicher mehr oder weniger unterschiedlichen) Erfahrungshorizonten,Gründe, die sie zwar für jeweils gute halten, die aber konfligieren (denn sonst gäbe es nichts zuargumentieren); und sie versuchen, sich auf eine kohärente Antwort, alles in allem betrachtet,festzulegen.“ (25)

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Oder sind es nur vermeintlich gute Gründe, die konfligieren können? Nach dieser Lesart

ergibt sich kein Widerspruch zum zuerst erwähnten, konklusiven Verhältnis guter Gründe zum

richtigen Handeln, sie soll daher hier zugrundegelegt werden.

In jedem Falle hängt aber die Erkenntnis dessen, welche Handlung in einer gegebenen

Situation moralisch richtig (d.h.: erlaubt oder geboten) ist, von dem Verhältnis von

verschiedenen (vermeintlich) guten Gründen ab.

Gewichtungen von Gründen und Universalisierung

In Diskursen, in denen es ja darum geht, „die Kohärenz gemeinsamer Urteilsgrundlagen zu

verbessern“ (23), muß also auch die Gewichtung von (vermeintlich) guten Gründen noch

vorgenommen werden können – doch welche Kommunikationsgemeinschaft ist nun

zuständig? Es wiederholt sich hier das oben zurückgestellte Problem, als unter verschiedenen

Gründen nach guten Gründen zu suchen war. Dort war es die Suche nach guten Gründen

unter mehreren, je mit eigenen Projektionseigenschaften versehenen Gründen. Hier ist es die

Suche nach einer Handlungsweisung unter mehreren, je mit eigenen Projektionseigenschaften

versehenen guten Gründen. Eine dritte Problematik können wir hinzufügen: Rekapitulieren

wir nämlich Kettners allgemeine Struktur eines deontischen Urteils, so war bereits dort von

Gründen (im Plural) die Rede, und erinnern wir uns an den Gedanken eines "idealgültigen"

Moralurteils, so war dort von guten Gründen (ebenfalls im Plural) die Rede. Bei dieser

(dritten) Problematik waren die Hinsichten der Begründung wenigstens noch klar beschränkt

(auf die sieben Strukturstellen), über einen wichtigen Punkt sind wir nun, nach Diskussion der

Projektionseigenschaften, jedoch im Ungewissen: Mit welcher Projektionseigenschaft ist nun

das (durch Gründe bzw. gute Gründe) gestützte Gesamturteil verbunden?

Das in allen diesen drei Problematiken identische Grundproblem ist nämlich, welche Menge

von rationalen Bewertern dort nach guten Gründen und hier nach Handlungsweisungen zu

suchen hat, wenn hierfür Gründe bzw. gute Gründe im Plural heranzuziehen sind: Die

Schnittmenge der jeweiligen rationalen Bewerter der (guten) Einzelgründe, oder deren

Vereinigungsmenge? Oder ist dies (als höherstufige Frage) garnicht als mengentheoretische

Relation der einfachstufigen Bewerter zu fassen? Gäbe es hier einen mengentheoretischen

fixen Zusammenhang, hätte dies erhebliche Konsequenzen, denn die Textur von Gründen hat

ja (nach Kettner) eine „anti-atomistische, holistische“ Struktur (10): Qua

Schnittmengenbildung blieben nur sehr wenige andere Bewerter außer mir übrig, qua

Vereinigungsmengenbildung wird die Menge von rationalen Bewertern schnell sehr groß: Nur

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wenn jemand bestimmte Subjekte als prinzipiell nicht (d.h., als in keiner Frage)

mitspracheberechtigt ansieht, erstreckt sich diese Menge nämlich nicht auf die gesamte ideale

Kommunikationsgemeinschaft – ich will diesen Gedankengang, eine Adressatenallgemeinheit

zu erreichen, Universalisierung qua Gründegewichtung nennen.

Wenn die Zuordnung einer Projektionseigenschaft überhaupt sinnvoll sein soll, dann

wahrscheinlich nur in einer Weise, die der Konnektivität von (guten) Gründen Rechnung

trägt: Je größere Teile der normativen Textur unserer Gründe tragen eine gemeinsame

Projektionseigenschaft P, und eine Moral kann genau ein solcher Teil sein.

Rechtfertigung der Exklusion und Universalisierung

Kettner skizziert an der Stelle, wo die „Teilung diskursiver Macht unter rationalen Bewertern“

besprochen wird, eine scheinbar ähnliche Konsequenz:

„Was nicht sein darf […] ist, daß eine Argumentationsgemeinschaft ihre diskursive Macht (mitBezug auf ihre Argumentationsintention A) so verteilt, daß jeder dahingehende Grund, daßbestimmte Exklusionseffekte nicht sein sollen, unter allen Umständen aus dem Kreis derjenigenkommen muß, die aktuell (=unter dieser gegebenen Verteilung) als die zu Beteiligenden gelten,aber unter keinen Umständen mehr von denjenigen kommen kann, die nicht aktuell als (an derArgumentationsintention A) zu Beteiligende gelten. Dann wäre die betreffendeArgumentationsgemeinschaft für alle Kritik, die nicht aus den eigenen Reihen käme, prinzipiellunerreichbar.“ (31)

Kettner sieht sich mit dieser Überlegung seinem Ziel, der Begründung einer für alle rationalen

Bewerter verbindlichen „diskursinternen Moral“ (und damit der Hypothese HDE), bereits sehr

nahe. Man müsse nun noch „gedanklich verallgemeinernd diese Diskursstruktur von der

Bindung an eine besondere Problemstellung ('Argumentationsintention A')“ immer mehr

abzulösen, um so den Begriff einer Argumentationsgemeinschaft zu gewinnen, die „nach

außen immer offener sein muß als ihre Abschließung in sich selbst je sein darf - den Begriff

einer nicht definitiv zu begrenzenden Argumentationsgemeinschaft“ (31).

Dieses Argument ist nicht leicht zu fassen. Zum zweiten Schritt zuerst: Unklar ist, was die die

Loslösung dieser Diskursstruktur von der Bindung an eine besondere Problemstellung, die

Adressatenallgemeinheit leisten soll. Erst „dann“ gewinnen wir ja den Begriff einer „nicht

definitiv zu begrenzenden Argumentationsgemeinschaft“. Vorher also eine (definitiv) zu

begrenzende Gemeinschaft? Wohl nicht. Kettner will sagen, denke ich, daß wir (erst) dann

den Begriff dieser Argumentationsgemeinschaft gewinnen, wenn wir der je besonderen

Argumentationsintention absehen, d.h. danach fragen, welche Struktureigenschaft mit der

Frage nach der Machtverteilung im Diskurs immer verbunden ist. Entweder muß also schon

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bei gegebener Argumentationsintention eine „Abschließung in sich selbst“ problematisch

sein, oder das ganze Argument läuft leer.

Nun zum ersten Schritt: Bei gegebener Argumentationsintention, etwa der Bewertung eines

bestimmten moralischen Anspruchs, kann da die Argumentationsgemeinschaft je immer

begrenzt bleiben? Jede einzelne moralische Frage könnte dann ohne Ausweitung der

intendierten Argumentationsgemeinschaft adäquat diskutiert werden, ohne der diskursinternen

Moral zu widersprechen. Die Forderung, Exklusionseffekte problematisieren zu können, wäre

dennoch nicht sinnlos, sondern beträfe die Verteilung von Rede- und Zugangschancen unter

Angehörigen der intendierten Kommunikationsgemeinschaft. Daß Kettner von der

Argumentationsintention spricht (und nicht von P), wo er die Adressaten dieser Forderung

charakterisiert, stützt diese Interpretation, denn diese Intention teilen zunächst nur die aktuell

Argumentierenden und nicht alle durch P bezeichneten potentiellen Diskursteilnehmer.

Betrachten wir nun genauer die Kettnersche Antwort auf die Frage, warum „die Chancen, den

Gründen für gegebene Verteilungen diskursiver Macht im Diskurs nachzufragen“, im Diskurs

gleich verteilt sein müssen:

„Weil für jede gegebene Verteilung diskursiver Macht in einem bestimmten Diskurs gilt, daß sieeinigen der Beteiligten in Anbetracht dessen, worum es in dem betreffenden Diskurs material geht,als gerechtfertigt und sinnvoll erscheinen kann, anderen hingegen als ungerechtfertigt undsinnlos.“ (30)

Hier ist ausschließlich von Diskursbeteiligten die Rede, also von aktuellen

Diskursteilnehmern. Den Zweifeln der anderen Beteiligten ist diskursintern Raum zu geben,

so Kettner, ob eine bestimmte Machtverteilung gerechtfertigt ist. Dazu gehört auch (und

wesentlich) die Frage, wer überhaupt zu beteiligen ist.

Daß die Argumentationsgemeinschaft „die Frage offenhält, also als einen Problemhorizont

mitführt, welche Exklusionseffekte ihre aktuelle Verteilung diskursiver Macht nicht haben

soll - und ob sie sie auch wirklich nicht hat?“ (30/31), heißt jedoch noch lange nicht, daß die

Exklusion selbst ein Problem wäre. Kettner startet in der Argumentation, die ihn zu oben

zitierter Konsequenz führt, bei der Rechtfertigung der Verteilung diskursiver Macht unter den

aktuell Beteiligten eines Diskurses im Hinblick darauf, wer als zu Beteiligender gelten soll. Er

unterscheidet nicht, ob hier die aktuelle Beteiligung unter potentiellen – weil Teil der

intendierten Kommunhkationsgemeinschaft (iK) – Teilnehmern gerechtfertigt werden soll,

oder ob die Grenze der iK selbst thematisch ist. Daneben könnte die andere Situation

entstehen, daß andere Personen als diejenigen aus iK als zu Beteilgende gelten wollen.

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- 143 - -

Zunächst also wäre man denjenigen, die qua iK als zu Beteiligende gelten (es aber aktuell

nicht sind), eine Rechtfertigung der aktuellen Machtverteilung schuldig. Etwas anderes wäre

es, den Bedenken einiger der iK-Personen nachzugehen, ob einige derjenigen, die weder

aktuell beteiligt sind noch als zu Beteiligende gelten, in den Personenkreis derer aufzunehmen

sind, unter denen eine aktuelle Verteilung diskursiver Macht zu diskutieren ist. Und noch

etwsa anderes wäre es, auf Beteiligungsansprüche von Personen außerhalb der iK spontan zu

reagieren. Man beachte jedoch: Immer jedoch geht es um die Zulassung zu Diskussionen über

die Machtverteilung im Diskurs, nie schon um die Mitsprache über Gegenstände dieser

Diskurse selbst.

Unter Zuhilfenahme der Projektionseigenschaft P lassen sich die Unterschiede klarmachen:

Wird bei der Diskussion von bestimmten unerwünschten Exklusionseffekten das P (und damit

eine Exklusion) bereits vorausgesetzt? Geht es z.B. nur um die Interpretation von P, d.h. um

die (intensional) überzeugende Rechtfertigung und die (extensional) richtige Praktizierung

jeweiliger Exklusion? Eine Ausweitung des Beteiligtenkreises zur Klärung dieser Frage

(Inklusion qua Exklusionsinterpretation) ist zwar für rationale Bewerter erwünscht, führt

jedoch – darauf wird zurückzukommen sein – zu einer Beteiligung an anderen, u.U. nicht

mehr moralischen Diskursen. Oder geht es dabei um die Infragestellung der Exklusion im

moralischen Diskurs, d.h. um eine Kritik an P selbst? Natürlich kann aus den Reihen der

intendierten Kommunikationsgemeinschaft (oder auch der aktuell Beteiligten) eine solche

Kritik kommen. Doch ist genau diese iK der richtige Adressat für eine solche Frage? Wäre

dem so, dann wäre damit gerade nicht gegeben, daß auch Personen, die nicht durch P erfaßt

werden, darüber mitzureden hätten, warum „bestimmte Exklusionseffekte nicht sein sollen“.

Ist es in der Regel ein anderer Personenkreis, der mit der ursprünglich intendierten

Kommunikationsgemeinschaft nur teilweise oder gar nicht deckungsgleich ist, dann kann, ist

es in der Regel ein weiterer Personenkreis als diese iK, dann wird eine bloß selbstbestätigende

Exklusion vermieden werden. Allerdings besteht die Möglichkeit einer fremdbestätigten

Exklusion weiterhin: P muß sich ja nicht schon deshalb als zu eng erweisen, weil andere

Personen in die Rechtfertigung von P einbezogen werden. Die Frage der Exklusion von

potentiellen Diskursteilnehmern in Diskursen über strittige moralische Fragen ist damit also

weiterhin offen, außer in einem einzigen Punkt: Wenn es um die Rechtfertigung der

Exklusion geht, sind möglicherweise auch andere Personen zu beteiligen. Diese (fragile)

Strategie soll daher als Inklusion qua Exklusionsrechtfertigung bezeichnet werden. Sie muß

jedoch genauer auf ihre Tragfähigkeit hin untersucht werden.

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- 144 - -

Begründungen von Begründungen und Universalisierung

Wie steht es nämlich um die Frage, wie und wem gegenüber die Eingrenzung einer

intendierten Kommunikationsgemeinschaft zu rechtfertigen ist? Zunächst könnte man

annehmen, daß eine Erklärung P, unter der jemand seine Behauptung nur gegenüber einer

(gemäß P) eingeschränkten Kommunikationsgemeinschaft zur Prüfung vorlegt, jeder und

jedem einleuchten muß, also der gesamten idealen Kommunikationsgemeinschaft. Ist es nicht

ein Wahrheitsanspruch, der damit erhoben wird, daß jemand, der die Projektionseigenschaft

nicht teilt, den fraglichen Grund sicher nicht adäquat bewerten kann? Dann wäre nach

Kettnerschen Prämissen tatsächlich jede/r angesprochen. Andererseits will Kettner doch auf

eine diskursinterne Moral hinaus, und wird die Verteilung von diskursiver Macht von ihm als

eine moralische Frage gesehen. Allgemein gesprochen beruht die Eingrenzung auf eine

Kommunikationsgemeinschaft (idealiter) auf Gründen, und Gründe bringen

Projektionseigenschaften mit sich, von daher scheint diese Eingrenzung – so betrachtet – i.A.

erst einmal nicht gegenüber allen rechtfertigungspflichtig.

Zwei Anschlußfragen wären dann zu beantworten: Erstens, sollte die Eingrenzung einer

intendierten Kommunikationsgemeinschaft (iK) qua P nicht mindestens gegenüber dieser

selbst begründungsfähig sein? Und zweitens, sollte die Eingrenzung einer iK nicht gegenüber

auch anderen Personen als denen aus genau dieser iK begründungsfähig sein?

Ad 1) Die iK-Personen müssen wissen können, daß ihre Teilnahme intendiert ist. Denn sie

müssen ja selber sich und die anderen als iK ansehen. Damit müssen sie auch über P verfügen

können. Geht es also in einem Diskurs um die richtige Verwendung von P, sind sie sicher zu

beteiligen. Geht es hingegen um die Richtigkeit der Zuordnung von P zu einer Behauptung,

ist die Lage schon weniger eindeutig. Muß gegenüber der iK begründbar sein, warum gerade

sie intendiert ist? Es würde zwar eine Reflexions- und Rationalitätseinbuße darstellen, nicht

begründen zu können, warum man angesichts einer Behauptung zur iK zählt. Vor allem aber

erscheint fraglich, ob es dafür, auf der Basis von P über eine Behauptung diskutieren zu

können, erforderlich ist zu wissen, warum gerade auf der Basis von P darüber zu diskutieren

ist.

Ad 2) Eine Beschränkung der Rechtfertigungsfähigkeit der richtigen Verwendung von P auf

die iK birgt das Risiko des kollektiven Irrtums. Von daher ist es für rationale Bewerter

vorderhand rational, ihre Projektionseigenschaften gegenüber auch anderen Personen zu

rechtfertigen, als sie durch P bezeichnet werden. Anders die Rechtfertigung der Zuordnung

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- 145 - -

von P zu einer Behauptung: Diese richtet sich gerade an solche Personen, die durch P nicht

bezeichnet werden. Wo diese Zuordnung nur innerhalb von iK (oder eines Teils von

derselben) überhaupt diskutabel erscheint, gerät diese Zuordnung tendenziell

selbstbestätigend.

Umfaßt der Adressatenkreis der Rechtfertigung der Eingrenzung allerdings mindestens die

Eingegrenzten, und wenigstens manchmal auch einige mehr (Inklusion qua

Exklusionsrechtfertigung), lassen sich die Begründungspflichten iterieren: Denn wem

gegenüber rechtfertige ich die Rechtfertigung der Eingrenzung, usw.? Auch hier wird, wenn

jemand nicht gerade bestimmte Subjekte als prinzipiell nicht (d.h., als in keiner Frage)

mitspracheberechtigt ansieht, die gesamte ideale Kommunikationsgemeinschaft am Ende

stehen. Ich will diese Überlegung die Universalisierung qua Iteration der

Exklusionsrechtfertigung nennen.

Freilich ist der ethische Ertrag dieser Universalisierung recht begrenzt. Es sind zwar a limine

alle zu beteiligen, aber woran? Entweder explizit an Wahrheitsdiskursen, oder doch an

ähnlich moralentleerten Fragen. Denn ob diese Rechtfertigung der Rechtfertigung (usw.) nun

gelingen mag oder nicht, über die eigentlich strittige moralische Behauptung selbst darf

weiterhin nur eine (wie auch immer) intendierte, und das heißt in aller Regel: partikulare

Kommunikationsgemeinschaft befinden.

Kettner geht es zwar um die Verteilung diskursiver Macht angesichts des Diskurses über (je

bestimmte) moralische Fragen. Wie die zugrundeliegende Projektionseigenschaft betroffen

ist, sagt er jedoch nicht. Doch eine Umverteilung diskursiver Macht derart, daß ein Diskurs

offen gegenüber anderen Personen ist, die zur je zu diskutierenden Frage etwas beizusteuern

wollen, obwohl sie nicht durch P als potentielle Diskursteilnehmer bezeichnet sind, ist von

Kettner garnicht generell beabsichtigt (dies würde letztlich eine Anpassung von P erfordern).

Er will vielmehr darauf hinaus, daß die Verteilung diskursiver Macht genau bei der Frage

nach der Verteilung diskursiver Macht nicht festliegen darf.

Die Brücke von partikularen Geltungsansprüchen zur universalistischen Moral ist von Kettner

im Begründungsteil noch nicht geschlagen. Wie wir sehen werden, wird dies im

Anwendungsteil nachzuholen versucht.

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- 146 - -

Diskurs, Anerkennung und das kognitivistischeRahmenkonzept der Diskursethik

Eine Diskursethik sucht ja ganz allgemein nach Bedingungen der Möglichkeit der

Rechtfertigung einer Handlung als moralisch geboten oder erlaubt, d.h. der Argumentation für

die normative Richtigkeit einer Handlung. Ich werde eine grundlegende Architektur

vorschlagen und in einzelnen Stufen zunächst grob nachzeichnen, anschließend dann diese

Stufen näher erläutern und auf die mit der jeweiligen Stufe eingezogenen normativen

Annahmen aufmerksam machen.

Das Vorgehen der Diskursethik besteht dabei darin, in einem ersten Schritt vor dem

Hintergrund des realen, lebensweltlichen Phänomens des Gründe-Gebens eine Explikation

verschiedener Stufen von Diskursbegriffen vorzunehmen, die zentrale normative Elemente

dieses Gründe-Gebens artikulieren (Ideale). Diesen Idealen kann und muß stets eine Realität

wenigstens ansatzweise entsprechen. Je nachdem, wie weit diese Interpretation getrieben

wird, können schwächere oder stärkere, je »aufwärtskompatible« Moralprinzipien formuliert

werden. Doch damit ist eine ethische Konzeption noch nicht vollständig charakterisiert: Erst

der zweite Schritt, die Formulierung einer Handlungsqualifikation („Handle so, daß …“), sagt

einem Aktor ja, wie er sich unter dem entsprechenden Ideal verhalten soll. In einer

Diskursethik ist es dabei ein nicht-beliebiges Element, daß das jeweilige Ideal auf die Realität

derart zurückprojiziert wird, daß unter ihm bestimmte Kommunikationsprozesse und ein diese

förderliches Handeln positiv normativ ausgezeichnet werden. Der zweite Schritt wird in

dieser Arbeit als Anwendung bezeichnet, und so soll nur der erste Schritt, die Begründung, in

diesem Abschnitt thematisch sein.

Richtigkeit, Einwandfreiheit und Diskurs

Die architektonische Darstellung beginnt zunächst mit einer „fast schon analytischen“

(Wellmer) Einsicht: Daß nur die Behauptungen richtig genannt werden können, gegen die es

keine triftigen Einwände gibt. Die Richtigkeit als Einwandfreiheit zu definieren, also an die

Begründungslage zu binden, ist zwar keine Erschleichung von normativen Prämissen,

allerdings eine Entscheidung zugunsten eines Rationalismus.109 Ich verwende diesen Begriff

109 Natürlich, nicht jeder wird sich um Begründungen seiner Behauptungen scheren. Wenigstens einenpraktischen Diskurs (über die Richtigkeit von Handlungen) nicht vermeiden zu können, ließe sich über dieAnnahme plausibel machen, daß Handeln-Können voraussetzt, Gründe für seine Tätigkeiten geben zu können.

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also in einem sehr umfassenden Sinn (ratio=Grund)110 der Wohlbegründetheit, der nicht mit

dem Pejorativ »Rationalismus« verwechselt werden sollte.111 Den entsprechenden,

unspezifischen Diskursbegriff will ich D0 nennen. Dies ist die allgemeinste und damit

»höchste« Stufe des Diskurses. Ein darüber hinausgehender Kognitivismus fügt dem nun eine

bestimmte, starke Auffassung dessen hinzu, was ein guter Grund ist:112 Nämlich etwas, daß

sich (im Prinzip wenigstens) gegenüber jedem sprach- und handlungsfähigen Wesen plausibel

machen läßt (D1).113 Die Folgelasten von D1 können über die Habermasschen Diskursregeln

expliziert werden. Und wo immer das Verstehen Anderer nötig wird, ist das principle of

charity angebracht – also bereits in D0.

Ein Unterschied innerhalb von D1 läßt sich über die unterschiedlichen Geltungsweisen von

Gründen entlang der Konzepte von Transsubjektivität und Intersubjektivität erläutern (vgl.

das erste Kapitel und Fußnote 33). In ersterem kann die Güte von Gründen eingesehen

werden, ohne daß diese Gründe den eigenen Willen dem Anspruch nach binden müßten (ob

sie dies faktisch tun, ist hier ohnehin unerheblich). In letzterem hingegen ist ein guter Grund

ein solcher, der meinen Willen genauso wie den jeder und jedes anderen binden müßte.

Transsubjektiv kann ein guter Grund relativiert werden, wobei diese Relativierung dem

Anspruch nach in intersubjektiv einsehbarer Weise erfolgen muß, um die Güte der Gründe

weiterhin kontrollierbar zu halten. Transsubjektivität setzt daher Intersubjektivität voraus.

Wer nicht der Meinung ist, daß sich wenigstens ein Teil der praktischen Fragen mit (im

Prinzip) für alle einsehbaren Gründen wenigstens provisorisch klären lassen, wird schon den

ersten Übergang von D0 zu D1 unplausibel finden.114 Doch ein überzeugendes Konzept von

110 Im ersten Kapitel wurde ein Modell von Begründungen gebraucht, der Syllogismus. Er diente dazu, inmöglichst direktem Anschluß an Habermas die Herausforderungen und potentiellen Dissense zu skizzieren, vordenen eine Diskurstheorie steht. Hier kann dieses Modell verabschiedet und ein Grund formaler gefaßt werdenals das, was eine zwanglose Zustimmung der zuständigen Kommunikationsgemeinschaft hervorruft (Genaueress. die Ausführungen zu Kettner, wo ich dafür argumentiere, daß sich Gründe an präsumptiv alle richten).111 Wie im ersten Kapitel bemerkt glaube ich gerade nicht, daß Einstellungsänderungen nur dann legitim sind,wenn sie von guten Gründen oder gar dem „rationalen Denken“ ausgelöst werden. Die Praxis der(wechselseitigen) Begründung ist jedoch das ausgezeichnete Medium, in dem wir uns aller unsererEinstellungsänderungen reflexiv versichern können (soweit wir das können).112 Dabei kann es gut sein, daß die Güte eines Grundes von anderen Gründen abhängt. Gründe, und auch guteGründe, bilden Texturen, wie Kettner (s.o.) ausgeführt hat.113 Dieser Übergang könnte auch durch den Hinweis gerechtfertigt werden, daß man an der Begründung einermodernen Moral interessiert sei und „Moral“ daher als etwas zu verstehen sei, was allen plausibel gemachtwerden kann (s.o. Wingerts Nagel-Referat). Eine Erfolgsgarantie, hierbei fündig zu werden, kann ja ohnehinnicht gegeben werden.114 Der geläufigste Einwand, dem ja auch Kettner entgegenkommen will, scheint mir auf folgende Formulierungzu führen: „… mit wenn schon nicht für alle, dann doch für eine mehr oder weniger bestimmte Gruppe

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nicht wenigstens präsumptiv universellen, sondern partikularen Geltungsansprüchen müßte

erst noch entwickelt werden. Das gilt auch für ethische Geltungsansprüche, wie wir sehen

werden. Die Diskurse D0 und D1 sind praktische Diskurse jedenfalls dann, wenn es in ihnen

(direkt oder indirekt) um die Beurteilung von Handlungen geht. Diese Beurteilung kann in

ganz verschiedenen moralischen Einheitsfoki (Kettner) / moralischen

Ordnungsgesichtspunkten (Wingert) erfolgen. Sie kann indirekt, also über die Auszeichnung

von Maximen, Normen, Werten usw. verlaufen, die eine Einheit / Ordnung der Beurteilung

stiften. Sie kann aber auch völlig unordentlich geschehen. Wenn aber Handlungen beurteilt

werden, oder wenn Maximen, Normen oder Werte als Beurteilungsgründe eingebracht

werden, sind sie auf Einwandfreiheit (D0) bzw. explizit auf Zustimmungsfähigkeit gegenüber

jeder und jedem (D1) zu prüfen.

Auf jeder Stufe könnte festgelegt werden, daß wir (in praktischen Diskursen) gerade Normen

zu prüfen haben (dafür will ich den vorangestellten Buchstaben n verwenden). Habermas tut

dies auf dem Weg zu moralischen Diskursen im Zuge der Formulierung eines allgemeinen

Diskursprinzips. Um diesem den Sinn zu geben, den Habermas ihm geben möchte, wäre von

D1 überzugehen zum Normenprüfungsdiskurs genau unter den Norm-Adressaten (nD2, Otts

»D«-Diskurs und Habermas‘ unspezifizierter »D«-Diskurs seit 1992, oben »DD« genannt);

nur in universalistischen Moralen fallen ja die Norm-Adressaten mit der Gruppe aller sprach-

und handlungsfähigen Wesen zusammen. In Diskursen über Fragen des Guten Lebens, der

Politik oder des Rechts ist dies i.A. anders. Schließlich wäre der autonomistische

Moraldiskurs zu erreichen, d.h. der Diskurs im Hinblick auf den gemeinsamen Umgang

untereinander (nD3, also Habermas‘ »D«-Diskurs bis 1991, der immer schon durch »U«

geregelt ist, bzw. Otts »D«-Diskurs, soweit er durch »U« geregelt ist).

Diese (Dx) bauen ersichtlich aufeinander auf: D1 ergibt sich durch Spezifizierung (im

Rahmen von D0), D2 im Rahmen von D1, usw. Diese Übergänge wiederum zu rechtfertigen,

erfordert natürlich Gründe – im Rahmen der jeweils allgemeineren Diskurs-Konzeption. Die

Normensemantik könnte wie gesagt auf jeder Stufe eingeführt werden. nD2 und nD3 sähen

ohne diese, also als D2 und D3, etwas anders aus, dort würde vielleicht allgemeiner

„Handlungsbeurteilungsregel“ anstelle von „Norm“ stehen.

Quer zu dieser Nummerierung und ihren Präfixen kann und muß jeweils (d.h., unter dem

Diskursbegriff der jeweiligen Stufe, also D0 bis D3) ein Übergang des

einsehbaren Gründen …“ Damit wird immerhin noch ein Rationalismus vertreten, der partikulare Geltungssinnvon Gründen aber in seiner Partikularität nun erklärungsbedürftig.

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Rechtfertigungsverfahrens von idealen Diskursen zu realen Diskursen erfolgen. Zunächst ist

die Rechtfertigung ja nicht weiter spezifiziert. Doch die erfolgreiche Prüfung von Einwänden

läßt sich als kontrafaktischer Konditionalsatz lesen: Wenn man die Begründung einem Test

im Rahmen eines bestimmten Verfahrens aussetzen würde, könnte sie wohl standhalten. Die

mit der Behauptung, ein Grund sei ein guter Grund einhergehende kontrafaktische

Unterstellung, er würde jeglichen Einwänden standhalten, kann als ein fiktives Verfahren

angesehen werden, in dem gute Gründe abschließend als solche beurteilt werden könnten

(was real nie der Fall ist), was zu der Idee des idealen Diskurs (Di) führt. Dieses ideale

Verfahren kann dann genauer bestimmt werden, wenn gezeigt werden kann, daß sich nur

durch die Einhaltung von bestimmten Diskursregeln (wie etwa, daß jeder mit fairen

Redechancen an Diskursen teilnehmen darf; s.o.) sicherstellen läßt, daß auch alle guten

Argumente auf den Tisch kommen können. Eine solches Prüfen der Einwandfreiheit kann nun

aber, da Gründe auf eine Argumentationspraxis bezogen sind, nicht durchweg kontrafaktisch

bleiben, so daß ein Übergang zu realen Diskursen stattfindet (Dr). In diesem wird die Kritik

der jeweiligen Diskurs-Gegenüber auch wirklich entkräftet, und die Möglichkeit dieser

Entkräftung nicht nur unterstellt (wie in Di).

Die Apelsche Begründung einer transzendentalpragmatischen Diskursethik fußt in diesem

Schema gegenüber D1 auf genau dieser Überlegung: Qua „Letztbegründung“ wird der

Nachweis der internen Bezogenheit von Gründen als Versuch der Einlösung von

Geltungsansprüchen – und zwar auch schon von theoretischen Geltungsansprüchen

(Wahrheitsfragen) – auf eine „ideale Kommunikationsgemeinschaft“ und damit auch auf eine

„reale Kommunikationsgemeinschaft“ angestrebt, der bestimmte kommunikative Rechte

zuzugestehen sind bzw. die allererst zu verwirklichen ist (Herstellung von Diskurs-

Bedingungen). Diese (Letzt-)Begründungsargumentation ist zu führen im transzendentalen

Diskurs (DT), wobei ich sagen würde, daß DT ist eine (vielleicht besondere, vgl. Niquet)

Form von D1 ist. Wer einen Geltungsanspruch erhebt, ohne die genannten Implikationen zu

bejahen, dem droht in dieser Variante der Diskursethik ein individueller Sinnverlust: seine

Sprechakte werden schlicht unverständlich.

Die Habermassche Begründung einer universalpragmatischen Diskursethik verläuft in

diesem Schema zunächst bis nD3 und dann in Richtung nDr, wobei, stärker als in der

Transzendentalpragmatik, reale Diskurse bereits im Hier und Jetzt zu führen sind, nämlich

(im Prinzip) immer dann, wenn normative Erwartungen auseinandergehen. Im Übergang zu

realen Diskursen wird gefordert, daß auch gewöhnlich kommunikativ Handelnde, die also

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nicht bereits argumentieren, dann, wenn ein (normativer) Geltungsanspruch strittig wird, in

einen gemeinsamen (Moral-)Diskurs eintreten sollen. Wer dies nicht tut, der beschädigt das

Netz von intersubjektiven Erwartungen als Voraussetzung intersubjektiver

Anerkennungsstrukturen, welche ihm (wie allen anderen) die Herausbildung seiner selbst als

Subjekt sowie die objektive wie die soziale Welt als eine solche zugänglich gemacht haben

und welche nur dadurch aufrechtzuerhalten sind, daß diese Erwartungen, wenn sie

problematisch werden, entweder als Richtige plausibel gemacht werden können oder durch

andere derartige Erwartungen ersetzt werden können. Wer sich dem verweigert, beschädigt

die gemeinsame, kommunikativ erzeugte und integrierte Lebenswelt, und damit droht ein

kollektiver Sinnverlust, der einen individuellen Sinnverlust nach sich ziehen kann. Der

wichtigere Punkt ist aber, daß wenn diese pragmatische Rekonstruktion richtig ist, eine

Ethikbegründung auf ihrer Basis zumindest immer Anknüpfungspunkte finden wird, die

individuell überzeugen können (nicht: müssen), ohne an egoistische Motivationen appellieren

zu müssen.

Mit dieser Anerkennung untrennbar verbunden ist aber die Forderung, je seine bzw. die

gemeinsam geteilten Gründe auch ernstzunehmen. 115 Durch diese Gründe und damit in der

Argumentationspraxis kommt nämlich nicht nur die Anerkennung der Diskurs-Gegenüber

zum Ausdruck, sondern diese fordern von sich selbst das richtige Handeln auch gegenüber

anderen, nicht an dieser Praxis Teilnehmenden – und zwar auch (aber nicht immer) um dieser

anderen selbst willen. Einer Aufforderung zum Diskurs nicht nachzukommen, bedeutet daher

moralisch eine Bedrohung sowohl der Achtung der Diskurs-Gegenüber (die z.B. von mir

einen solchen fordern, weil sie mit meinem Verhalten nicht einverstanden sind), als auch der

Integrität der oder des Handlungs-Gegenüber (handlungs- oder handlungsfolgebetroffenen

Wesens), um deretwillen die Diskurs-Gegenüber einen Diskurs von mir fordern. Dabei

können Diskurs- und Handlungsgegenüber zusammenfallen, müssen dies aber nicht.

Eine Ethikbegründung über die Rekonstruktion der wechselseitigen Handlungs- und

Rechtfertigungserwartungen, wie sie die Diskursethik vornimmt, hat also nicht das Problem

wie Ethikbegründungen über den wechselseitigen Vorteil (Höffe; Tugendhat), daß sie die

Achtung anderer um ihrer selbst willen unmöglich macht oder unter einer bestimmten

Hinsicht zurichten muß (Leidensfähigkeit; Präferenzerfüllung; Konsequentialismus). Und

dies, obwohl (wie weiter unten erläutert wird) die Habermassche Diskursethik unnötigerweise

115 Denn ohne Diskurs-Gegenüber können wir unsere Gründe nicht prüfen, und ohne material wichtige Gehaltehätte es keinen Sinn, diese zu prüfen.

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eine solche Verengung vornimmt, nämlich auf in Kommunikation mit Handlungsgegenübern

übernommene Pflichten. Da qua guter Gründe in ihr alle „anderen“ Moralphilosophien zum

Zuge kommen können, und auch Gründe, die unabhängig von einer Moralphilosophie

überzeugend sind, ist sie total inklusiv. Da diese Gründe sich auch »gegen sie selbst« richten

können (was im Rahmen des hier vorgeschlagenen Stufenkonzeption heißen soll: auf Basis

einer höheren Stufe, etwa D0, eine Konzeption der niedrigeren Stufe, etwa D1, in Frage

stellend), ist sie auch selbstreflexiv.

Je nach Verständnis bzw. Begründungsziel einer Diskursethik kann Dr zum Begründungsziel,

dem Moralprinzip (MP), gerechnet werden oder nicht. Dr kann auch als Anwendungsteil

verstanden werden, ist aber für eine Diskursethik unverzichtbar. Andere Ethiken können, u.U.

in leicht verändertem Vokabular, natürlich ebenfalls Reale Diskurse erfordern – etwa zur

Aufklärung von Präferenzen (im Utilitarismus), zur Ermittlung des Fremdverständnisses (bei

Tugendhat) oder des angemessenen Fremd- und Selbstverständnisses (bei Wellmer) oder zur

Konkretisierung und Anreicherung von transzendental begründeten Grundrechten (bei Höffe).

Für eine Diskursethik muß ein realer Diskurs aber immer Mittel und Zweck zugleich sein,

wenn sie sich von anderen Ethiken unterscheiden will.

Diskurs und Anerkennung

Für eine Moralbegründung muß irgendwo die Hinsichtlichkeit der Begründung eingeführt

oder abgeleitet werden. Ott versteht Habermas so, als geschähe dies letztlich mittels »U«, also

auf Ebene nD3. Ich will nun die verschiedenen Diskurs-Stufen ausführlicher durchgehen und

die dort jeweils vorliegenden moralischen Anerkennungsakte aufzeigen.

Auf der Ebene von D0 ist der materiale Inhalt moralischer Verpflichtung einerseits noch

völlig kontingent. Gute Gründe sind logisch nicht an bestimmte Sprecher gebunden

(Wellmer), und schon gar nicht an alle Sprecher gleichermaßen. Die Frage nach Inklusion und

Chancengleichheit bleibt offen. Dennoch sind andererseits bereits basale Anerkennungsakte

erfolgt: Daß ich überhaupt nach einer moralischen Rechtfertigung frage, bedeutet eine

Anerkennung des Handlungs-Gegenübers insofern, als in Anbetracht des Umgangs mit ihm

eine Rechtfertigung erforderlich wird – wenn auch noch nicht ihm gegenüber.

Der nächste Schritt (hin zu D1) liegt in der Einsicht, daß das Aufsuchen von Gründen und das

Einschätzen ihrer Triftigkeit notwendig auf eine Kommunikationsgemeinschaft angewiesen

ist. Woher sonst sollen die Einwände auch kommen? Zwar lassen sich eine bestimmte Anzahl

von Einwänden antizipieren, nie aber das in die Zukunft offene gesamte Argumentationsfeld

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im voraus überblicken. Nun besteht aber ein methodischer Primat der Argumentationspraxis

vor der Argumentationstheorie (Wittgenstein): Die Frage, ob ein vermeintlich guter Grund

wirklich einer ist, läßt sich letztlich nur in einer wirklichen Argumentation herausfinden.

Keine reale Argumentation ist aber in der Lage, eine Norm ein für alle Mal als gültig zu

erweisen. Die Argumentation muß zukunftsoffen, aber doch gleichzeitig gegenwartsgebunden

bleiben. Apel nennt dieses Verhältnis die „Dialektik von idealer und realer

Kommunikationsgemeinschaft“. Als Kommunikationspartner sind einige der anderen

praktisch unabdingbar, damit ich mir über die Triftigkeit von Gründen klarwerden kann.

Kurz: ohne diese anderen gäbe es keine Wahrheit oder Richtigkeit.

Ein erstes Argument gegen den prinzipiellen Ausschluß bestimmter Personen oder Gruppen

vom Diskurs liegt nun nahe: Nur wenn ich zumindest niemanden davon abhalte, einen

Einwand vorzubringen, kann ich das bestmögliche zur Prüfung eines Arguments getan haben!

Anders ausgedrückt: Argumente richten sich an präsumptiv alle.

Es gibt daneben noch ein weiteres einfaches Argument, daß Personen, die sich per

Argumentation der Gültigkeit der moralischen Rechte und Pflichten vergewissern, potentielle

Normadressaten nicht von der Teilnahme an Diskursen ausschließen dürfen. Dies erfordert

nur die (bei Habermas sowieso zugestandene) weitere Prämisse, daß ein deontologisches

Moralverständnis vorliegt. Denn in dieser müssen die Adressaten von

Handlungsbeurteilungen diesen Beurteilungen immer auch „aus Pflicht“, d.h. aus Einsicht,

folgen können. Die dazu nötige Einsicht in die Gültigkeit dieser Beurteilungen aber ist genau

die, die sich den Diskursteilnehmenden in ihrem Diskurs eröffnet!116

Die Frage, wie Gründe funktionieren, also eine Argumentationstheorie, kann hier nicht

entwickelt werden (da gäbe es viel zu tun). Festzuhalten bleibt, daß die endgültige Einlösung

eines Richtigkeitsanspruches (und analog: eines Wahrheitsanspruches) zwingend erfordern

würde, letztlich die Möglichkeit von Irrtümern ausschließen zu können. Dies ist eine starke

Forderung, die nur durch entsprechend starke Idealisierungen der Argumentationstheorie

aufgenommen werden könnte. Die Diskursethik fordert die Zustimmungsfähigkeit für jeden.

116 Dieses Argument erinnert die Diskursteilnehmer daran, ihre moralischen Überzeugungen als moralischeÜberzeugungen ernstzunehmen. Die scheinbare Alternative wäre, bestimmte Personen gar nicht alsHandlungsbeurteilungsadressaten, sondern nur noch als Handlungs-Gegenüber zu betrachten. Doch wer seinemoralischen Überzeugungen ernstnimmt, wer mit seinen moralischen Überzeugungen gar (wie bei Habermas inder Abgrenzung moralischer Fragen gegenüber Fragen des Guten Lebens vorausgesetzt) einen universalistischenAnspruch verbindet, will auch, daß möglichst viele Personen sich nach diesen seinen Überzeugungen richten,wird also niemanden von vornherein als potentiellen Handlungsbeurteilungsadressaten ausschließen.

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Dies ist ersichtlich schwächer, aber immer noch mit erheblichen Idealisierungen verbunden.

Hierbei ist zweierlei zu beachten:

I. Kritisierbarkeit durch jeden ist sicher nicht deckungsgleich mit der Forderung, alle

Menschen müßten sich im Prinzip von der Wahrheit oder Richtigkeit einer Aussage

überzeugen lassen können. Denn es bestehen immer die Möglichkeiten immanenter Kritik,

z.B. in folgenden Hinsichten:

a. Kohärenz und Konsistenz von Aussagensystemen lassen sich evtl. logisch beweisen, aber

schon die Idee des Beweises der Fehlerfreiheit dieses Beweises führt in einen Zirkel.

b. Die fraglichen Überzeugungen sind nie vollständig in Aussagen übersetzbar. Es kann mir

immer ein Hinweis gegeben werden, der mich die Ausformulierung meiner Prämissen

überdenken läßt.

c. Auch die Schlüsse selbst sind ebenso fragil wie die Formulierung der Prämissen und in

den seltensten Fällen auf die Form logischer Deduktionen zu bringen.

II. Die Forderung nach allgemeiner Zustimmungsfähigkeit bedeutet eine Absage an echt

partikulare Geltungsansprüche. Wer etwa sagt, diese Norm gelte nur für ihn (nicht), muß

damit meinen, nur für ihn als denjenigen, der ein xy ist oder sein will. Damit wird dann kein

normativer, sondern ein ethischer Geltungsanspruch erhoben. Dieser ist jedoch, voll

expliziert, nicht partikular zu verstehen, denn dies gilt ja nun für jede und jeden, der ein xy ist

bzw. sein will. Wer etwa sagt, Wahrheiten seien pragmatisch fundiert, daher zweckbezogen

und somit keine universellen Behauptungen, muß damit meinen, wahr für denjenigen, der yz

tun will – oder wie man den Handlungsbezug auch sonst ausdrücken mag. Dieser

Geltungsanspruch ist freilich ein pragmatischer; wieder gilt: der unverkürzte

Geltungsanspruch richtet sich an präsumptiv alle.

Bis hierher ist immerhin ein schwacher normativer Gehalt ersichtlich, da wir zwar gute

Gründe von bestimmten Personen erwarten dürfen (z.B. von Experten über ihr Spezialgebiet),

aber nicht ausschließen können, daß auch andere einen gültigen Einwand bringen können.

Folgt daraus aber im Umkehrschluß eine Gleichverteilung der Rede- und Teilnahmechancen?

Wie wir bei der Diskussion der Ottschen Begründung bereits dargelegt haben, folgt dies nicht.

Wenn es nämlich darum geht, daß das beste Argument den Ausschlag gibt, genügt in idealen

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Diskursen bereits eine nichtverschwindende Möglichkeit für jeden, am Diskurs teilzunehmen

und darin seine Argumente anzubringen (es gibt ja im idealen Diskurs keine Zeitbegrenzung).

Chancengleichheit als notwendige Bedingung gelingender idealer Argumentation zu fordern,

unterminiert letztlich den Kognitivismus.��� Eine plausiblere Strategie scheint die Überlegung,

daß in begrenzter Zeit ohne diese Egalität nicht alle Teilnehmer die gleiche Chance hätten,

Gehör zu finden. Die Chancengleichheit auf die Nicht-Idealität zu gründen ist aber riskant, da

wir unter Knappheit auch wieder eher diejenigen sprechen lassen würden, denen wir gute

Argumente am ehesten zutrauen. Allerdings wird es in einer realen Diskussion, unter

„mäßigen Knappheitsbedingungen“, immer ein Vorteil bleiben, größere Rede- und

Teilnahmechancen als ein Opponent zu haben. Von daher sollten diese sich ihre Chancen

einvernehmlich zugestehen und wäre im Zweifel für eine strikte Chancengleichheit zu

votieren.

Auch bis hierher sind die Inhalte moralischer Verpflichtung scheinbar noch unbestimmt.

Denn an dieser Stelle wären dann ja alle materialen Inhalte noch kontingent.��� In keinem

moralischen Diskurs kann dies aber so sein: Er beruht immer bereits auf basalen

Anerkennungsakten, einerseits auf der Handlungsebene und andererseits auf der

Diskursebene: Das Handeln angesichts eines Handlungs-Gegenübers119 erfordert für mich120

eine Rechtfertigung unter Diskurs-Gegenübern.121 Die Anerkennung des Handlungs-

Gegenüber moralischer Verpflichtung ist keineswegs zu vernachlässigen. Immerhin zeigt

mein Verhalten, daß ich das Handlungs-Gegenüber für wert halte, nach einer Rechtfertigung

117 An dieser Stelle müßten die zugrundeliegenden Annahmen, über eine Theorie der Begründung oder derAbwägung zwischen Gründen, jedenfalls offengelegt werden. Ott ist z.B. der Meinung, die Anzahl der Gründefür eine Rechtfertigung sei endlich. Vielleicht daher sein Zugeständnis der inegalitären Chancen. Aber auch beiunendlicher Anzahl von Gründen für oder gegen eine Handlung lassen sich egalitäre Chancen nur aufproblematische Annahmen stützen, wie etwa derjenigen, daß Gründe proportional zu ihrer Anzahl wiegen.118 Dies ist ein wesentlicher Kritikpunkt von Apel an Habermas’ idealer Sprechsituation: Eine rein prozeduraleFassung der Idealisierungen garantiert noch nicht, daß die Diskurs-Teilnehmer auch im Besitz der richtigenArgumente sind (Apel 1973, 139ff.). Daher habe Apel, so Wellmer 1993: 159, das PeircescheKonvergenzprinzip in sein Verständnis von Wahrheit als letztgültigem Konsens einer idealenKommunikationsgemeinschaft aufgenommen, quasi in Kombination von Habermas (prozedural: idealeSprechsituation) und Putnam (material: rationale Akzeptierbarkeit).119 Im weiten Sinne verstanden, d.h. auch ein Tier, ein Lebewesen oder eine sonstige Entität, gegenüber der meinHandeln irgendeinen Unterschied für diese Entität macht, ist hier gemeint. Das Gegenüber muß auch keindirektes Gegenüber sein, also in der Handlungssituation unmittelbar zugegen sein oder zugegen sein können(Achtung des Willens Verstorbener, Erhalt der Handlungsfähigkeit zukünftiger Generationen etc.).120 Ich bin mir selbst in einem gewissen Sinne immer sowohl Handlungs- wie auch Diskursgegenüber.121 Die Diskurs-Gegenüber können dabei von mir auch bestimmte Handlungen fordern (und ich diese Forderungeinsehen), die für sie und nicht für das Handlungs-Gegenüber einen Unterschied machen. Dann bedeutet, diesenAnsprüchen Folge zu leisten, eine Anerkennung der Ansprüche der Diskurs-Gegenüber, nicht schon der Diskurs-Gegenüber selbst. Je nach Moralbegriff kann auch diese einen Unterschied machen.

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meines es betreffenden Handelns zu suchen (vgl. bereits in D0). Auf dieser Seite finden etwa

mitleidsethische oder sonstige Überlegungen122 Eingang, denen ein asymmetrisches

Verhältnis zugrundeliegen kann. Den Diskurs-Gegenübern bringe ich eine andere Form der

Anerkennung entgegen: Immerhin halte ich sie mindestens für in der Lage, zur Lösung eines

konkreten Problems etwas beizutragen. Ihre möglichen Einwände sind mir nicht völlig

unwichtig, ich gebe ihnen Gelegenheit, ihre Meinung vorzubringen. Sie wiederum achten

mich insofern, als daß sie sich mit ihren guten Gründen nicht zurückhalten, wo es in meinem

Handeln wichtig sein könnte. Dort, wo der moralische Geltungsanspruch die Handlungen der

anderen Diskurs-Gegenüber ebenfalls betrifft – wie bei allen universalmoralischen

Ansprüchen –, ist die Kehrseite dieser Anerkennung die moralische Mißachtung, mit der ich

andere (und andere mich) überziehen kann und muß (können und müssen), wenn sie (ich)

entgegen den anscheinend besten Gründen handeln.

Ob ich auf beiden Ebenen das geschuldete Maß an Anerkennung gewähre, läßt sich natürlich

wieder im Diskurs erörtern. Insofern ist die Anerkennung der Diskurspartner primärer. Aber

die Handlungsebene ist immer mitbetroffen, denn Argumentieren ist auch eine Handlung.

Damit meine ich folgendes: Aus der notwendigen Anerkennung der Diskurs-Gegenüber

lassen sich zumindest einige der demokratisch-moralischen Grundrechte, z.B. die

Meinungsfreiheit, als notwendige Bedingungen der Rechtfertigungspraxis interpretieren und

somit „begründen“.��� An dieser Stelle zu einer kompletten Moralbegründung abzukürzen,

muß hingegen mißlingen. Bereits die Egalität von Chancen auf bzw. im Diskurs läßt sich so

nicht ableiten, wie wir gerade gesehen haben. Wie könnte dann daraus auf gleiche

demokratische Rechte geschlossen werden? Ein anderer Einwand scheint mir noch

vernichtender: So richtig es ist, daß ich auf den anderen angewiesen bin, um eigene Irrtümer

zu erkennen, sowenig kann dies der Hauptgrund sein, den anderen anzuerkennen (Topos des

falschen Grundes). Dies würde den deontologischen Sinn von moralischer Anerkennung

122 Hier kann z.B. auch den (mehr oder weniger rudimentären) Verhaltenserwartungen moralisch Rechnunggetragen werden, die (noch) nicht diskursfähige Lebewesen uns gegenüber entwickeln. Diese erst zu wecken unddann nicht zu erfüllen, oder u.U. auch schlicht: diese nicht zu erfüllen, ist ja (auch ohne daß hier eine Praxisvorliegen müßte) nicht moralisch gleichgültig.123 Insofern kann eine Diskursethik aber auch nicht neutral gegenüber allen Vorstellungen des Guten Lebens seinund sich auf „entgegenkommende Lebensformen“ einfach verlassen (wie Habermas zu fordern scheint). Wennder Diskurs nicht voraussetzungslos ist, sondern so etwas wie universalistische (Gesprächs-)Tugenden erfordert,dann muß man auf Basis einer Diskursethik auch eine Förderung solcher Tugenden verlangen können. Dies führtin Richtung der Debatte um eine teleologische Interpretation des Diskurses (wie bei Apel).

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verfehlen, nämlich andere um ihrer Selbst willen anzuerkennen.124 Natürlich kann ich

kognitive Einsichten auch um der Einsichten Selbst willen anstreben, aus Liebe zum Wahren

oder Richtigen. Nur wäre der Sinn moralischer Anerkennung m.E. auch dadurch noch

verfehlt, denn es geht mir dabei ja nicht um einen Selbstzweck, sondern um die anderen.

Die universalpragmatische Diskursethik führt nun, neben der erwähnten Normensemantik, auf

dem Weg zu D2 und D3 zwei wesentliche Beschränkungen ein: In D2 die Einschränkung der

Gruppe der möglichen Handlungs-Gegenüber genau auf die der möglichen Diskurs-

Gegenüber, in D3 dann eine bestimmte Argumentationsregel. Ersteres schließt bereits im

Ansatz eine Reihe von moralischen Intuitionen aus der Begründung aus, die Verpflichtungen

gegenüber nicht sprach- und handlungsfähigen Wesen betreffen (Tierethik, Teile der

medizinischen Ethik, usw.), die aber auf den vorherigen Stufen volle Berücksichtigung

finden. Der Wortlaut von »D« erzwingt diesen Ausschluß dann nicht, wenn wir (a) unter

„Betroffenen“ diejenigen verstehen, die sich nach der fraglichen Norm zu richten haben (also

die Normadressaten). Dann würde »D« nur die Rechtfertigungspflicht gegenüber Diskurs-

Gegenübern in Ansehung ihrer Behandlung auch der nicht diskursfähigen Handlungs-

Gegenüber zum Ausdruck bringen, wäre also nichtexklusiv. »D« würde damit verstanden als

nD1.

Ein zweiter Interpretationsvorschlag, der den Habermasschen Intentionen entspricht, wäre (b)

unter den „Betroffenen“ diejenigen zu verstehen, die von Handlungen gemäß der fraglichen

Norm betroffen sind. Im letzteren Fall wird nämlich durch die Formulierung, daß die

Betroffenen „als Teilnehmer an praktischen Diskursen“ zustimmen können müßten, scheinbar

unterstellt, daß gegenüber denen, die nicht teilnahmefähig sind, beliebige Handlungen

zugelassen seien. Das ist nun eine mögliche Variante (b1), die einen wirklichen Unterschied

zu (a) macht. Das ist jedoch nicht notwendig der Fall; für eine zweite Variante (b2) spricht die

potentiale Formulierung („zustimmen könnten“) zusammen mit dem Hinweise von Habermas

auf advokatorische Beteiligung am Diskurs. Es gibt daher die Möglichkeit, den letzteren Fall

so zu lesen: Nämlich, daß wir den Ausfall von Normen für diejenigen, deren Bedürfnisse,

Interessen und Gefühle (oder was sonst moralisch einen Unterschied macht – »D« gibt hier ja

nichts vor) von Handlungen berührt sind, die der Regelung der fraglichen Norm unterliegen,

unter uns Diskurs-Gegenübern nach bestem Wissen und Gewissen artikulieren und für

Richtigkeitsüberlegungen von Normen berücksichtigen sollen. In der Konsequenz sind (a)

124 Soweit die Transzendentalpragmatik, wie bei Apel dort, wo er gegen den kritischen Rationalismusargumentiert, ihre Argumentation mit theoretischen Geltungsansprüchen startet, ist sie von dieser Kritik

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und (b2) dann identisch: In beiden Lesarten können alle potentiellen Normadressaten bei

ihren Handlungsbeurteilungen auch die Auswirkungen auf nicht-diskursfähige Wesen adäquat

berücksichtigen.

Die Habermassche Diskursethik geht zwar in ihrer Begründung von kommunikativen

Interaktionen aus (wie auch die im Anschluß an Habermas vorgenommene Rekonstruktion in

einen kommunikativen Lebenszusammenhang deutlich macht). Aber sie scheint zu übersehen,

daß die Gründe ernstzunehmen, die in kommunikativen Lebensformen eine Rolle spielen,

nicht nur die Achtung von kommunikationsfähigen Wesen bedeutet (s. die obigen

Ausführungen zu D1).

Seine Bemerkungen zum Schutz von Tieren zeigen deutlich, welch mißliche Konsequenzen

dies hat: Da die Moral auf strikte Gegenseitigkeit ziele, könne es Tieren gegenüber nur eine

„moralanaloge Verpflichtung“ geben. Immerhin wird diese nicht offen als ein letztlich

gegenüber den Diskurs-Gegenübers bestehendes Problem verstanden (Tierschutz deshalb,

weil die Menschen in ihrem Umgang untereinander verrohen – wie bei Kant; vgl. Wolf 1990).

Doch dominiert letztlich der Schutz der Personalität über den der leiblichen Integrität, und wir

können moralische Pflichten gegenüber Tieren nur insoweit begründen, wie wir mit ihnen

kommunizieren können:

„Wir müssen den Tieren Aktoreigenschaften zuschreiben können, unter anderem die Fähigkeit,Äußerungen zu initiieren und an uns zu adressieren. Dann haben wir Pflichten, die unserenmoralischen Pflichten analog sind, weil sie wie diese in den Voraussetzungen kommunikativenHandelns ihre Basis haben.“ (Habermas 1991a: 225)

Selbst wenn es also in der Formulierung von »D« (und auch in der Formulierung von »U«)

nicht explizit erwähnt ist, gibt es also in der Habermasschen Diskursethik sicher ein Problem

der Inklusion von nicht kommunikativ handlungsfähigen Wesen (denn hier bestehen nicht

einmal moralanaloge Pflichten), und wahrscheinlich ein Problem der Einbeziehung von nicht

diskursfähigen, aber kommunikativ handlungsfähigen Wesen (denn die Pflichten ihnen

gegenüber sind nur moralanalog).125 Die oben vorgeführten beiden Lesarten (a) und (b) der

Inklusion von nicht Diskursfähigen sind nach Habermas‘ Ansicht nicht durch die Begründung

aus den Unterstellungen kommunikativen Handelns heraus gedeckt.

Das Inklusionsproblem bezeichnet aber nur einen Teil der Problematik, die sich aus der

Verengung von D2 ergibt. Denn hierin werden auch die gegenüber den Handlungs-

betroffen.

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Gegenüber, die Diskurs-gegenüber sind, zulässigen Gründe eingeschränkt. Kurz gesagt, in D2

werden nur autonome Wesen berücksichtigt, und das auch nur in ihrer Autonomie.

Ernsthafte Probleme ergeben sich aus dieser Nicht-Inklusion nur, wenn man das

Habermassche Moralverständnis »verabsolutiert«. Denn bei diesem handelt es sich nur um

eine partielle Explikation des moral point of view, bezogen auf den Schutz der Autonomie.

Demgegenüber greifen die anderen Moralbegründungen, die etwa auf Leidensfähigkeit

abzielen (s. Wolf 1990), aber weiterhin. Verabsolutiert man die partielle Explikation, und die

modernen Moralphilosophien treten ja regelmäßig mit einem Alleinexplikationsanspruch

gegeneinander an, muß man nämlich sämtliche moralischen Überzeugungen in ihrem Rahmen

reformulieren oder aufgeben. Doch ich sehe nicht, wie sich dieser Anspuch überhaupt

begründen ließe, wenn nicht im Rahmen einer reflexiven Konzeption, die den legitimen

Gehalt aller dieser Moralphilosophien integrieren kann.

Soweit die Handlungs-Gegenüber auch Diskurs-Gegenüber sein können (was ja auch auf den

vorherigen Stufen der Fall sein kann, aber nicht der Fall sein muß), bedeutet eine

Anerkennung und Achtung ihrer Autonomie, daß ich sie nicht nur als Handlungs-Gegenüber

betrachte. Der explizite Rekurs auf die Zustimmungsfähigkeit seitens gerade der Betroffenen

in D2 und D3 verengt den moral point of view auf den Schutz ihrer Autonomie,126 und wo von

Autonomie nicht (mehr) die Rede sein kann, werden D2 und D3 sinnlos.127 Ob und wie ich

etwa aus mitleidsethischen Erwägungen heraus handle, berücksichtigt dann dabei den Willen

und die authentische Willensbildung der Handlungs-Gegenüber. Doch deren Autonomie

einfach zu unterstellen, kann dort, wo sie fehlt, genauso unmoralisch sein wie ihren Willen zu

ignorieren (beide kann übrigens in bester Absicht erfolgen). Sowohl der Inhalte ihres Willens

auch auch der Plausibilität der autonomen Willensbildung versichere ich mich im Diskurs mit

Dritten, aber, da sich Intentionen nicht aus der Perspektive der dritten Person beobachten

125 Eine solche Kritik (stellvertretend für viele Krebs 1995) trifft die Diskursethik in der Form, wie sie vonHabermas und Apel intendiert war, m.E. zurecht.126 Dabei scheinen mir ganz verschiedene Versionen des Autonomiebegriffs vorliegen zu können, ohne daß diesdie These gefährdet: Autonomie als „freie Dezision“, als „Sich-Entwerfen“, als „freie Bindung seines Willens anGründe“, oder auch stärker kommunitaristisch-gemeinschaftliche Varianten (denen der Respekt der Autonomieim gemeinsamen Diskurs ja entgegenkommt).127 Die oben dargestellte universalpragmatische Begründung der Diskursethik zielt von vornherein auf die EbeneD2. Dies wird an Wingerts Moralphänomenologie besonders deutlich. Wenn man aber, wie oben versucht,Diskurs- und Handlungs-Gegenüber nicht zusammenfallen läßt, lassen sich im praktischen Diskurs immer nochzahlreiche Formen der Anerkennung rekonstruieren, die ebenfalls in unserer kommunikativen Lebensformbeschlossen liegen, auch ohne daß Diskurs- und Handlungs-Gegenüber identisch sind. Denn diese fordert dasErnstnehmen aller guten Gründe, nicht nur der, die den Umgang mit sprach- und handlungsfähigen Wesen (bzw.der zuständigen Kommunikationsgemeinschaft) betreffen.

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lassen, immer auch wenigstens versuchsweise mit ihnen; deshalb erfordert die Achtung

potentiell autonomer Handlungs-Gegenüber die Behandlung als präsumptiver Diskurs-

Gegenüber. Moralische Verletzlichkeiten von Personen sind prima facie immer auch seitens

dieser selbst artikulations- und interpretationsbedürftig. Das heißt gerade nicht, daß in ihrer

Autonomie der einzige Punkt moralischer Verletzlichkeit liegt. Leidensfähigkeit etwa wird

gerade in den Situationen wichtig, wo seitens des Handlungs-Gegenübers keine Autonomie

unterstellt werden kann, z.B. weil die physischen Voraussetzungen für die nötigen mentalen

Fähigkeiten fehlen, sie noch nicht existieren usw. (geistig Schwerbehinderte, Tiere,

zukünftige Generationen usw.). Möglicherweise gibt es also Schichten, die

voraussetzungslogisch basaler sind. Diese sind aber durch die Einbettung in eine

kommunikative Lebensform hoffnungslos „kommunikativ überformt“, d.h. gerade nicht in

einer irgendwie „ursprünglichen“ Form anzusprechen. Die Begründungspflicht ist nun

umgekehrt zu handhaben: Es bedarf guter Gründe, jemandem die Autonomie abzusprechen,

wenn seine faktische Zustimmung als heteronom erklärt werden soll.

Habermas‘ allgemeines Diskursprinzip, oben »DD« genannt, soll neben moralischen Fragen

auch für juristische und politische Diskurse einschlägig sein. Hier wird, anders als in der

Moral (die ja ein „informal public system“ ist; s. Gert 1983), eine explizite Entscheidung über

(faktisch) gültige Normen getroffen. Der Unterschied ist daher diskurstheoretisch nicht nur,

daß in (universal-)moralischen Fragen immer alle von den entsprechenden Normen betroffen

sind.128 Durch die vorgeordnete Autonomie bleibt eine in solchen realen praktischen

Diskursen verweigerte Zustimmung auch als solche moralisch relevant – sofern sie seitens

von Normbetroffenen oder von von kollektiven Entscheidungen Betroffenen erfolgt. Der

Anspruch ist dann, daß man von der Richtigkeit einer Entscheidung mindestens die

Betroffenen überzeugen kann, jedoch prinzipiell jeden anderen überzeugen könnte – wenn sie

die Betroffenen wären. Dieser Anspruch ist insoweit identisch mit ethischen

Geltungsansprüchen. Nur daß im Falle juridischer und politischer Entscheidungen alle

Betroffenen mit dieser Entscheidung leben müssen, oder sie entziehen sich physisch (während

die Anerkennung eines ethischen Geltungsanspruchs letztlich individuell freigestellt bleibt;

dies gilt auch für »kollektive« Identitäten).129

128 Und zwar wenigstens auf der Adressatenebene, aber allgemein auch insofern, als daß es um Handlungsweisengeht, die wir glauben, von jeder und jedem im Umgang mit jeder und jedem in bestimmten Situationen fordernzu dürfen – und die Richtigkeit dieser Forderung für alle intersubjektiv einsehbar ist.129 In ethische Fragen fordern wir nur eine transsubjektive Einsichtigkeit: Hier hängt es letztlich am Adressaten,ob er sich so (oder anders) verstehen will, während moralische Geltungsansprüche dasjenige ausdrücken, wasjeder einsehen sollte, egal ob er sich so oder anders versteht. Im Konfliktfall ist der Anspruch auf unveränderter

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Worin könnte die privilegierte Rolle eines einzelnen angesichts von guten Gründen insgesamt

bestehen? Natürlich immer in der Anerkennung der pragmatisch nicht auszuräumenden

unsicheren Prämissen (bzw. evtl. auch der Schlußregeln). Dort, wo es um den Umgang mit

der je nicht abgebauten Rest-Kontingenz geht, ist der Einzelne methodisch unverzichtbar. Im

Diskurs hingegen ist er dies in der Interpretation seiner Interessen und Bedürfnisse, bzw. der

Evaluation einer Option vor dem Hintergrund derselben usw., vor dem Hintergrund eines

lebensweltlichen Wissens, das sich nicht vollständig in Propositionen und explizite Gründe

überführen läßt. Wird die Lebenswelt als prinzipiell opak eingeführt, ist der Kognitivismus

der Moral in Gefahr. Dient sie hingegen als Grenzbegriff zur Bezeichnung eines Bereichs, wo

implizites Wissen jeweils teilweise explizit gemacht werden kann, ergibt sich kein

Widerspruch zum Kognitivismus: Denn irgendwoher müssen die guten Gründe ja kommen.

Berate ich mich schließlich über meine Handlungen nicht nur mit den anderen, sondern

mache meine Handlung von ihrer Zustimmung abhängig, anerkenne ich die Diskurs-

Gegenüber in einem höheren Maße: die anderen haben dann ein Veto-Recht. Dabei ist klar,

daß das Insistieren auf einer Mehrheitsentscheidung hier nur das Problem verschieben würde,

denn diese setzt voraus, daß die unterlegene Seite zustimmen kann, überstimmt zu werden.

Zustimmung der Handlungs-Gegenüber und ihre möglichen Gründe

In D3 wird die Angabe einer Argumentationsregel versucht. Um diese explizit einzuführen,

bedarf es weiterer Prämissen. Diese sind jedoch weniger problematisch als es auf den ersten

Blick scheint. Fraglich ist eher, und die Anwendungsdiskussion wird hier reichlich Stoff

bieten, ob eine solche Formulierung nicht überflüssige oder irreführende Einschränkungen

macht.

Zudem könnte sie als materielle Zustimmungsregel angesehen werden. Wann darf eine

Regelung auf allgemeine Zustimmung hoffen? Dies ist dann im Kern eine Frage nach den

zugelassenen Gründen für eine Zustimmung.

Exkurs: Kriterien der Zustimmung?

Nehmen wir die gestellte Frage auf und spielen hypothetisch einige materiale Kriterien der

Zustimmung durch, durch die ein formales Diskursprinzip ergänzt werden könnte. Dies soll in

Beibehaltung seiner Identität dabei nur ein Argument unter anderen, daher ist die Priorisierung hier einemoralische Frage.

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der erklärten Absicht geschehen, zu zeigen, daß so in der Regel der Boden einer Diskursethik

verlassen wird, und weitere (problematische) Annahmen ins Spiel kommen.

Welche Gründe wollen wir also zulassen, gesetzt den Fall, daß wir diese normieren könnten

und müßten?

I. Erlauben wir hier Beliebiges, verschwimmt die Moralbegründung zusehens. Übrig

bliebe eine Art von Dezisionismus, dem nur eines schlecht anstehen würde: Die

Dezision als (einzigen) normativen Gehalt in Frage zu stellen.

II. Modellieren wir die Zustimmung unter Individuen, die auf ihren Eigennutzen bedacht

sind, führt dies zur Idee des distributiven Vorteil (Höffe 1987; dazu Kersting 1997).

Jeder hat dann einen zureichenden Grund, einer Regelung zuzustimmen, wenn sie ihm

einen positiven Nutzen bringt.

III. Eine Gesellschaft von Utilitaristen würde wohl nach einem anderem

Rationalitätskriterium zustimmen: Nämlich nur dann, wenn eine Regelung einen

maximalen Gesamtnutzen (oder Durchschnittsnutzen) erbringt.

IV. Die Kombination von (II) und (III) führt auf ein Pareto-Kriterium (Kersting 1997):

Allgemeine Zustimmung verdient diejenige Regelung, die niemanden schlechterstellt

und alle zusammen so gut wie möglich. Pate steht hier ein individueller

Eigennutzenmaximierer, etwa der homo oeconomicus,

Bis hierher können offensichtlich noch ganz verschiedene Regelungen die Kriterien

erfüllen, die Kriterien zeichnen keine Regelung eindeutig aus.

V. Dies würde anders, wenn wir materialen Egalitarismus vertreten würden. Verteilungs-

Egalitaristen könnten etwa eine strikt gleiche Größe der zu verteilenden Bündel pro

Person, Besitz-Egalitaristen einen strikt gleichgroßen Endzustand einer Verteilung als

erstrebenswert erachten. Diese Positionen sind (als allgemein moralische) natürlich

nur karikierte Folien, die eines zeigen sollen: Auch sie beruhen noch auf dem

(liberalistischen) Kalkül unhinterfragter Interessen (das sich der Berechtigung der

Interessen der anderen nicht im Detail zu versichern braucht) insofern, als das diese

entweder für völlig irrelevant (und damit gleich unwichtig) oder eben als für alle

identisch unterstellt werden müßten.

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Nun sollen aber Normen beurteilt werden, bei deren Beurteilung gerade nicht (wie in I

– IV) der jeweilige Eigennutz unhinterfragt zugrundegelegt werden darf (Habermas

1992). Habermas geht um ein gemeinsames Interesse, welches in der Kommunikation

sich konstituiert. Die gesuchte Regelung habe „im gleichmäßigen Interesse aller“ zu

liegen bzw. „für alle gleichermaßen gut“ zu sein (wie Habermas immer wieder betont

hat). Habermas’ Ausführungen hierzu sind unklar. Gemeint ist wohl: Wenn alle eine

Regelung aus wechselseitiger Einsicht in die Begründetheit der jeweiligen Interessen

vorziehen, ist die Grenze von Einzel- und Gemeininteresse aufgelöst. Insofern ist (VI)

auch nicht nur eine bloße Übersetzung in ein kollektivistisches Vokabular – und der

Interessenbegriff vielleicht irreführend, denn es handelt sich ja nicht um Interessen an

den Interessen Anderer, sondern um die Anerkennung der Legitimität der Interessen

Anderer. Danach ist etwa eine strikte Gleichverteilung als Resultat weder zwingend

noch wahrscheinlich, sondern es dürfte z.B. nach unterschiedlichem Bedarf oder

Verdienst ungleich verteilt werden– nach Maßgabe einer dahinterstehenden, normativ

höherstehenden Gleichheit z.B. der Chancen auf ein gelingendes Leben, die den

gemeinsam geteilten Grund abgibt.

Punkt VI ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Kriterium gemeinsam geteilter Gründe.

Immer wurde nämlich unterstellt, daß die Entscheidung für (I-VI) übereinstimmend und

nach nach bester Einsicht getroffen wurde, der Grund für die Zustimmung zu einer

konkreten Regelung also in der Anerkennung von (I, II ... oder VI) liegt. Pragmatisch mag

das natürlich nicht so sein: Zwar wurden einige der Regelungen (I-VI) zur Erläuterung an

Modell-Individuen gebunden, pragmatischerweise mag aber z.B. auch ein Egalitarist dem

distributiven Vorteil zustimmen (wenn auch nicht aus vollem Herzen). Das besondere von

Punkt VI ist aber, daß die gemeinsam geteilten Gründe mitreflektieren, daß sie von allen

geteilte Gründe sind können müssen.

Warum nun dieser Exkurs über mögliche Zustimmungskriterien? Eigentlich soll er nur

illustrieren, daß mit der Zustimmungsfähigkeit allein noch kein Moralkriterium impliziert

ist und es zusätzlicher materialer Prämissen bedarf, um schon die Zustimmung unter

idealen Bedingungen, also ohne pragmatische Kompromisse, an eine Argumentationsregel

zu binden (wenn diese die Zustimmung über „D“ hinaus qualifizieren soll). Es bedarf der

weiteren Explikation des moral point of view, und die erhält man nicht gratis aus dem

Begriff der Zustimmung.

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Gerade weil also eine Diskursethik in nD2 den Sinn eines posttraditionalen

Begründungsniveaus von Normen expliziert, muß sie formal bleiben. Keine materialen

Prinzipien, nicht einmal Zustimmungskriterien, dürfen daher fixiert, und auch keine

Hinsichten, etwa durch formale Bestimmungen des Guten á la Seel, vorgegeben werden. Man

könnte, will man plausible Vorschläge für eine materiale Anreicherung machen, bei den

Bedingungen der Handlungsfähigkeit und der Rechtfertigungsfähigkeit beginnen. Denn die

moralische Wichtigkeit dieser beiden Punkte zu bestreiten und sich dennoch um eine

Rechtfertigung von Handlungen zu bemühen, ist verdächtig nahe am Selbstwiderspruch.

Diese Begründungsfigur greift übrigens auch auf D0 und D1: Auch dort ist es so, daß der

Erhalt der Handlungsfähigkeit und des Diskurses als desjenigen Mediums, in dem

Handlungen reflektiert werden können, bereits vorausgesetzt ist. Alle anderen Ethiken z.B.

setzten als Ethiken (System von Sätzen mit wenigstens minimalem Überzeugungsanspruch)

das Medium guter Gründe in Form von D0 und (meistens) D1 voraus, und als philosophische

Ethiken umso mehr. Wie in ihrer Begründung, so auch in ihrer Anwendung: denn ihre

orientierenden Entitäten (Normen, Werte, Regeln, Erzählungen, usw.) beziehen sich nicht von

allein auf die »Welt«. Über den richtigen Bezug, oder doch wenigstens ex post über den

falschen, muß sich vergewissert werden können.

Doch nicht nur moralische, sondern auch theoretische, pragmatische und ethische Diskurse

basieren auf bestimmten Anerkennungsakten:

In theoretischen Diskursen anerkenne ich Teilnehmende zunächst erst einmal als kompetent in

einer bestimmten Fragestellung. Das regelmäßige Abschlagen von Beteiligungswünschen

stellt bereits eine Form der Geringschätzung dar, da so nicht einmal die Chance zu einem

Beitrag im Diskurs gegeben wird. Da jedoch aufgrund des mehr oder weniger direkten

Praxisbezug allen Wissens, theoretisches Wissen in zukünftigen Handlungen zugrundegelegt

werden kann, z.B. in Situationsdeutungen, geht es um mehr: Besonders brisant wird dies bei

Handlungen des eigenen Kollektivs, die auch im eigenen Namen stattfinden.

In pragmatischen Diskursen ist der Praxisbezug bereits offenbar. Hierbei tritt die im ersten

Kapitel beschriebene Doppelung auf einerseits der Effektivität einer Strategie, letztlich eine

theoretische Frage (mit den bereits beschriebenen Anerkennungsakten verknüpft), und

andererseits der Legitimität der Strategie, d.h. der Konformität mit ethischen oder moralischen

Überlegungen. Deren Anerkennungsakte sind erst teilweise beschrieben, da diejenigen

ethischer Diskurse noch fehlen (s.u.). Die Einbeziehung von Strategie-Betroffenen, d.h. nicht

nur die Offenlegung von Strategien (offen-strategisches Handeln), sondern auch die

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Substitution von Strategien unter Beibehaltung von im pragmatischen Diskurs nicht zur

Disposition gestellten Zielen, bedeutet das Höchstmaß der in diesem Diskurs möglichen

Anerkennung.

In ethischen Diskursen werden individuelle oder kollektive Ziele zu übergreifenden

Konzeptionen verdichtet und mit Vorstellungen des Guten abgestimmt. Die je individuelle

Wertbindung, der individuelle Identitätsentwurf unterliegt nun ebenfalls der Anerkennung der

Diskurs-Gegenüber. Dabei wird die Wahrhaftigkeit zu einem zentralen Geltungsanspruch.

Wer an einem ethischen Diskurs beteiligt wird, dem wird nicht nur die Fähigkeit

zugesprochen, in Sachen der fraglichen Identitätsfindung etwas beitragen zu können, dem

wird auch die Möglichkeit gegeben, eigene (individuelle) Lernprozesse zu katalysieren. Wo

es um kollektive Identitäten geht, bedeutet der Ausschluß vom entsprechenden Diskurs nicht

nur die Verschließung der Kritik- und Reflexionsmöglichkeiten fremder bzw. eigener

Identitäten, sondern – da man sich kollektiven Identitäten nicht einfach entziehen kann, weder

„von innen“ (Selbstwahrnehmung) noch „von außen“ (Fremdwahrnehmung) – die

Unterstellung unter eine fremde Definitionshoheit.

Sowohl theoretische, als auch pragmatische und ethische Überlegungen können in moralische

Überlegungen eingehen, so daß ein Ausschluß von jenen immer auch eine Bedrohung der

moralischen Anerkennung darstellt. Doch im Zentrum jener Diskurse stehen unterschiedliche,

je eigene Anerkennungsakte. Auch hier gilt, wie schon bei denen moralischer Diskurse: sie

können in jedem Einzelfall nicht einfach aus Präsuppositionen des Argumentierens abgeleitet

werden, sondern werden individuen- und problembezogen entweder geleistet oder eben nicht.

Diskursethik als rationalistisches bzw. kognitivistischesRahmenkonzept

Die Stufen D0 und D1 sollten auf einer anderen Ebene angesiedelt werden als nD2 und nD3.

In nD2 wird die Breite des praktischen Diskurses eingschränkt, in nD3 wird mit »U« bereits

eine Argumentationsregel eingeführt, die als ein bestimmtes Zustimmungskriterium gelesen

werden kann, das den moralischen Diskurses dann nochmals deutlich normiert. Ich meine, Ott

und Behabib haben hier Recht gegenüber Rehg damit, daß »U« kein Zustimmungskriterium

für jedweden Diskurs gemäß nD2 abgibt, sondern stärkere Anforderungen stellt. Aber ich

meine auch, daß Benhabib und Wingert recht haben darin, daß es der expliziten Vorgabe von

»U« nicht bedarf, die nD3 von nD2 unterscheidet.

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Die eigentlich interessanten Perspektiven für eine Diskursethik tun sich aber nach meinem

Dafürhalten auf den Ebenen D0 und D1 auf. Hier ist nicht schon ein bestimmter Einheitsfokus

/ Ordnungsgesichtspunkt vorausgesetzt, hier werden daher nicht notwendig nur deontische

Operatoren zugeordnet, sind nicht notwendig Diskurs- und Handlungsgegenüber identisch.

Ich würde hierzu die konzeptuellen Vorschläge von Wellmer und insbesondere von Kettner

heranziehen (Texturübergänge, keine extensionale Trennung von Geltungsansprüchen –

womit ihrer Verschränkung Rechnung getragen werden kann, usw.), allerdings weder seine

(qua Projektionseigenschaften) notwendig partikularen Geltungsansprüche übernehmen

wollen (obwohl auf D0 dafür bewußt Platz gelassen wurde) noch seine Kennzeichnung der

Hinsichtlichkeit der Diskursethik, nämlich der Normierung diskursiver Macht. Wie die

dargestellten Anerkennungsakte zeigen, geht es im Diskurs, und damit auch in einer

Diskursethik, um mehr.

Die Diskursethik als ein rationalistisches bzw. kognitivistisches Rahmenkonzept zu verstehen

bedeutet, D0 und D1 bereits als Diskursethiken anzusehen. Natürlich ist bereits in D0 ein

moralisches Moment enthalten, durch die damit erfolgte Anerkennung von

Rechtfertigungspflichten bezüglich der Behandlung eines (dann: moralischen) Gegenübers.

Und natürlich ist in D1 das moralische Moment enthalten, diese Rechtfertigung gegenüber all

denen zu intendieren, die urteilsfähig sind, und zwar auf eine Weise, die den Diskursregeln

entspricht. D0 scheint mir hier zu schwach, weil hierin u.U. nicht gewährleistet werden kann,

daß autonome Wesen in ihrer Autonomie geachtet werden.

Ab der Stufe nD2, erst recht aber mit nD3, wird demgegenüber offenbar eine ganz bestimmte

diskursethische Moralkonzeption entwickelt, die gegen andere (auch diskursethische)

Moralkonzeptionen gestellt werden kann.

Die Probleme von »U« sind von Benhabib und Wingert ja ausreichend benannt worden. Mit

nD wird die Terminologie der „Normen“ vorgeschlagen. Hier gibt es zwei Möglichkeiten:

Entweder können alle universellen Beurteilungen von Handlungen per Normen formuliert

werden, oder es gibt Beurteilungen, für die das nicht geht. Solange Ersteres nicht gezeigt ist,

erfordert eine solche Eingrenzung eine gute Begründung. Habermas selbst operiert mit einem

Begriff moralischer Normen, der sicher nicht auf Ersteres hinausläuft.130 Otts und Alexys

(s.u.) Normbegriffe lassen erheblich mehr Freiraum. Jedenfalls aber würde mit einer

130 Seine Kennzeichnung, in moralischen Fragen ginge es um Fragen der Gerechtigkeit, verengt das Spektrummöglicher deontischer Qualifizierungen noch weiter. Damit wird der Bereich des Moralischen noch stärkerbeschnitten.

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Normierung der Gegenstände des moralischen Diskurses bereits auf der Eingangsseite die (im

Diskurs zu leistende) Transformation des Einheitsfokus doch nur unnötig erschwert. Wer aber

eine Diskursethik zur Ethik der Beratung aufbauen will, sollte Raum für wohlbegründete

Ratschläge lassen, wenn er nicht den Kern dieser Tätigkeit verfehlen will: Empfehlungen

lassen sich im Kern nicht in deontischen Operatoren ausdrücken, sondern diese begrenzen

höchstens den Argumentationsraum. Empfehlungen sind adressatenspezifisch, was aber nicht

heißt: mit einem partikularen Geltungsanspruch versehen. Man kann mit gutem Recht sagen,

in einem nD sprechen wir nur über die Zuordnung von deontischen Operatoren zu

Handlungen. Doch da diese nicht die einzigen Beurteilungsoperatoren sind, die

Richtigkeitsansprüche gegenüber den Adressaten ausdrücken, sollte ein Moraldiskurs nicht

darauf eingeschränkt bleiben. Der praktische Diskurs muß auch als Moraldiskurs dann die

ethischen und pragmatischen Aspekte nicht ausklammern, ohne den Anspruch auf universelle

Geltung seiner Resultate zu verlieren (zu ethischen Geltungsansprüchen s.u.). Alles andere

hieße, eine analytische Unterscheidung als extensionale mißzuverstehen.

Zudem formuliert Habermas in nD3 die Einschränkung der Richtigkeitsüberlegungen auf

einzelne Normen. Durch »U« in nD3 wird dies noch unterstrichen. Doch wie wir in der

Diskussion der Anwendungsfragen sehen werden, leistet dies viel zu einfachen Vorstellungen

Vorschub. Ob eine einzelne Norm im Diskurs konsensfähig sind, hängt davon ab, welche

anderen Normen konsensfähig sind und wie es um die faktische Befolgung aller dieser

Normen steht (sowie von den Resultaten anderer Diskursarten; s.o.). Plausibel finden wir nur

das ganze Netz normativer (oder allgemeiner: moralischer) Überzeugungen, das nämlich nur

zusammen den moralischen Verletzlichkeiten Rechnung tragen kann.

Die Diskursethik enthält eine produktive Doppelung: Als objektstufige Diskursethik behauptet

sie, eine vollständige Explikation moralischer Intuitionen zu leisten, da moralische

Verletzlichkeiten sämtlich kommunikativ erzeugte sein sollen (Habermas; Wingert). Dies

kann nur dort stimmen, wo Handlungs- und Diskurs-Gegenüber identisch sind. Dieser

Anspruch ist verfehlt; sie sollte mit dem Anspruch auftreten, eine vollständige Explikation

moralischer Intuitionen zu leisten, soweit moralische Verletzlichkeiten kommunikativ

erzeugte sind. Moralische Verletzlichkeiten auf dieser, der objektstufigen Ebene, sind immer

artikulations- und interpretationsbedürftig. Auf dieser Ebene muß jedweder objektstufige

Zugang in Frage gestellt werden können, die Adäquatheit von Sprachsystemen in Frage

gestellt werden können usw. Dies leistet bereits in Ansätzen auch nD2 und nD3, nämlich

bezüglich der Artikulation der Bedürfnisse und Interessen.

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- 167 - -

Andererseits ist sie ein rationalistisch-kognitivistisches Rahmenkonzept: Auf dieser Ebene

muß auch die objektstufige Fassung des moral point of view etwa durch »U« und »D« noch

kritisierbar sein, sind diese jedenfalls nur zwei Einheitsfoki unter vielen. Und die Frage ist

doch, ob sie in jedem Falle die plausibelsten sind. Wenn eine Diskursethik das leistet, ist sie

reflexiv noch einmal überlegen (vgl. Wingert). Erst auf dieser Ebene, der Reflexionsebene,

sind D0- und D1-Diskursethik ohne Alternativen, weil sie Fragen dieser Art, die u.a. D2 und

D3 aufwerfen, noch innerhalb ihrer selbst zu diskutieren gestatten. Die moralischen

Erwartungen anderer können sich dabei auf alle möglichen Handlungen beziehen (und nicht

nur auf den Umgang mit Personen). Die Verwobenheit der Adressaten moralischer Ansprüche

in eine kommunikative Lebensform kommt gerade darin zum Ausdruck, daß von ihnen

zurecht überzeugende Gründe für bestimmte Handlungen gefordert werden können – nur

müssen diese Gründe nicht immer mit dieser kommunikativen Lebensform zu tun haben (wie

die objektstufige Diskursethik zu behaupten scheint).

Wenn man derart mit Habermas gegen Habermas argumentiert, lassen sich nD2 und D2

polemisch gesprochen als »Schwundstufen« von D1 verstehen.

Im folgenden werden nun Anwendungsprobleme der Diskursethik untersucht werden;

Anwendungsprobleme auf den Stufen nD2 und nD3. Ich sehe gute Chancen, diese Probleme

im Rahmen eines rationalistisch-kognitivistischen Rahmenkonzepts vermeiden zu können.

Jedenfalls aber werden auch die nun zu unterscheidenden Anwendungsprobleme im Rahmen

der Diskurstypen dieses Konzepts, also D0 und D1, bearbeitet werden können.

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Diskursethik: Anwendungsprobleme

Das Vorgehen der Frankfurter Diskursethik besteht, wie das vieler anderer moderner Ethiken

auch, zuallererst in der Rechtfertigung eines Moralprinzips. So kann ein normatives Prinzip

formuliert werden, das die Ansprüche an eine gelungene Normen-Rechtfertigung ausdrückt:

Gültige Normen haben sich an diesem zu messen, d.h., an »U« bzw. an »D«. Doch erst die

Anwendung des Moralprinzips führt zur Formulierung einer Handlungsqualifikation („Handle

so, daß …“). Dieser Schritt, genauer: alles, was nach der Begründung des Moralprinzips noch

erforderlich ist, um sich anhand einer Ethik im Handeln zu orientieren, wird in dieser Arbeit

als Anwendungsteil einer Ethik bezeichnet, während die argumentativen Bemühungen bis hin

zum Moralprinzip als Begründungsteil verstanden werden sollen.

Die folgenden Abschnitte verstehen sich als analytisch-philosophische Suchmatrix, um die

schließlich zu diskutierenden diskursethischen Probleme im Bereich der Anwendung besser

einordnen zu können.131

Problemtaxonomie

Ich werde in diesem Abschnitt schlicht voraussetzen, daß es sinnvoll ist, Begründungs- und

Anwendungsprobleme in der philosophischen Ethik zu unterscheiden und diese getrennt

darzustellen. Inwiefern dies wirklich sinnvoll ist, wird sich anhand der Diskursethik noch

herausstellen müssen. Eine Begründung stellt (im Erfolgsfall) typischerweise ein

Moralprinzip M als richtig heraus, und zwar aufgrund von möglichst plausiblen (normativen

und evtl. auch empirischen) Begründungselementen P. Das Moralprinzip ist dabei gewöhnlich

in einem „normativen Einheitsfokus“ (Kettner) formuliert, einem bestimmten

„Ordnungsgesichtspunkt“ (Wingert), spricht also über Werte, Normen, Maximen o.Ä. Das

Moralprinzip soll nun geeignet sein, Handlungsweisen (act-types) in bestimmten Situationen

zu beurteilen (d.h., diese zu empfehlen, zu gebieten, zu erlauben o.Ä.). Kurz gesagt: P

begründet M und M begründet b(H-in-S), mit b(X) dem Operator für die Beurteilung von X.

Vier Hinsichten des Problems: A1 – A4

Anwendungsfragen stellen sich dann in folgenden Hinsichten: Erstens („Angewandte Ethik“),

wie kommt man vom Moralprinzip zu speziellen, bereichsspezifischen Urteilen über

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Handlungsweisen H;132 zweitens („Urteilskraft“), wie ordnet man konkreten Situationen

überhaupt Handlungsweisen zu; drittens („Moralnotstand“), was soll ich tun, wenn eine oder

mehrere der deskriptiven Begründungselemente aus P nicht erfüllt sind (und damit M nicht

gilt); viertens („Moralpaternalismus“), was soll ich tun, wenn ein Mensch oder mehrere

Menschen M (bzw. eine der Prämissen P) nicht anerkennen oder H nicht anerkennen133?

Eine Differenzierung der Problemlage wird weiter unten vorgenommen, zunächst sollen diese

vier Hinsichten exemplarisch erläutert werden.

Exemplarische Erläuterung dieser vier Hinsichten

Zur Veranschaulichung vgl. im Folgenden ein (schematisches) Beispiel, den

Präferenzutilitarismus: Dessen Moralprinzip MU laute: „Richtig ist, das zu tun, was die

vorhandenen Präferenzen maximal erfüllt.“ Die Begründung mag sich u.a. auf Prämissen

stützen wie: „Präferenzerfüllung ist prinzipiell richtig“; „Alle vorhandenen Präferenzen sind

gemäß ihrer Stärke zu berücksichtigen“, etc. Beide Prämissen lassen sich selbstverständlich

bestreiten, etwa von Vertretern nicht-teleologischer Anthropologien bzw. angesichts von (aus

deren Sicht) unmoralischen oder unreflektierten Präferenzen.

1. Wie kommt man nun zu konkreten Urteilen? Nehmen wir ein Beispiel: „Es ist richtig, ein

Stück Brot einem Hungrigen und nicht einem Satten zu geben.“ Diese Aussage folgt aus MU

durch Hinzufügung von scheinbar rein deskriptiven Prämissen, etwa: „Die Brotverteilung ist

bezüglich anderer Präferenzen als der der beiden potentiellen Brotempfänger irrelevant“ und

„Der Hungrige hat eine stärkere Präferenz, Brot zu bekommen, als der Satte“. Beides muß

nicht so sein, z.B. könnte es noch zehn andere Menschen mit starken Präferenzen dafür geben,

das Brot dem Satten zu geben, oder könnte der Hungrige eine Fastenkur machen und das Brot

sowieso nicht wollen. Diese Prämissen sind deshalb nicht rein deskriptiv, weil sie – wie die

stillschweigend unterstellten kontrafaktischen Annahmen zeigen – eine Interpretation von M

131 Vgl. die analogen Bemühungen von Ott 1996a und Bayertz 1990 sowie Bayertz 1991: Einleitung.132 Universell oder auch: Universalisierbar sind Sätze genau dann, wenn die in ihnen vorkommendenSituationsbeschreibungen nur universelle Eigenschaften verwenden, also Eigenschaften, deren Definition keinesingulären Termini enthalten (Hare, Meggle). Generell (und nicht speziell) oder auch: Generalisierbar sind Sätzehingegen dann, wenn diese Sätze auf eine große Zahl von Situationen zutreffen. Universelle Normen könnensomit gleichzeitig sehr speziell sein. Neben dieser schwachen Verwendung von Universalität (semantischeUniversalität) gibt es auch stärkere Verwendungen (moralische Universalität), wie in der Diskursethik etwadurch die Argumentationsregel »U« zum Ausdruck kommt.133 Die logisch voneinander unabhängigen Möglichkeiten sind: Erstens kann jemand M ablehnen (und sichmöglicherweise auf ein anderes Moralprinzip M‘ berufen), jedoch H zustimmen. Zweitens kann jemand einen

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in folgendem Sinne leisten: sie legen paradigmatisch fest, wann Präferenzen irrelevant bzw.

schwach sind, und damit, was eine maximale Erfüllung von Präferenzen eigentlich ist.134

(Hubig nennt dies das »Interpretationsproblem«: es müssen Begriffe mit Begriffen verbunden

werden; vgl. Hubig 1993). Diese Festlegungen sind aber gewöhnlich nicht durch die

begründenden Prämissen P zu gewinnen, ja, wollte man sie alle als Prämissen formulieren,

erhielte man genausoviele Prämissen wie verschiedene moralische Urteile und brächte das

Moralprinzip zum Verschwinden. Allerdings lassen sich die Prämissen nach Relevanzen

unterscheiden („Je quantitativ wichtiger, desto mehr Aussagen ändern sich mit Veränderung

der Prämisse“ oder: „Je qualitativ wichtiger, desto mehr Anwendungsbereiche sind

betroffen“), wenn man beachtet, daß die Zählweise bzw. die Einteilungen selbst bereits

Ausdruck von Relevanzüberlegungen sind. In solchen Hinsichten relevantere Prämissen

lassen sich dann z.B. den Prämissen P zu einer Prämissenmenge P‘>P von spezielleren

Moralprinzipien M‘ hinzufügen, nach denen sich die Schulen binnendifferenzieren können

(Durchschnittsnutzen vs. Gesamtnutzen, Pure vs. gefilterte Präferenzen etc.).

2. Es ist andererseits wichtig, daß eine Situation auf eine M gemäße, seinem normativen

Gehalt gewissermaßen entgegenkommende Weise wahrgenommen und beschrieben wird,

nämlich so, daß sie unter den Definitionsbereich von M fällt. Diese Arbeit ist unabhängig

davon, wieweit die Explizierung von Prämissen (in 1.) auch betrieben wurde, immer zu

leisten (Hubig nennt dies das „Überbrückungsproblem“, von Begriffen zur »Welt«; vgl.

Hubig 1993) – ja, eine nennenswerte Konkretisierung von M (zu M‘) setzt, da diese im

Hinblick auf moralisch relevante Probleme geschehen soll, eine im wesentlichen gelungene

Situationserfassung bereits voraus. Am Beispiel der Brotverteilung kann dies deutlich

gemacht werden: Denn warum sollte diese Situation als Brotverteilung beschrieben werden?

Das Geben des Brotes könnte ja auch Teil eines Tauschhandels sein, zur Begleichung früherer

Schulden etwa dienen, o.Ä., kurz: Die Situation kann in vielerlei Hinsicht beschrieben

werden, und mit diesen Beschreibungen wechselt die Situation ihren Charakter. Dadurch, daß

in ihr so je andere Handlungsweisen herausgestellt werden, verändert sich auch ihre

moralische Beurteilung unter M‘. Aus Sicht einer Prinzipienethik kann daher eine bloße

Subsumtion von Fällen unter (noch so präzise) moralische Vorschriften nie wirklich erfolgen,

denn es bleibt eine Kluft: Die Überbrückung zwischen (wie weit auch immer begrifflich

Verstoß gegen H rechtfertigen entweder unter Berufung auf dasselbe M oder auf M‘ oder auf außermoralischeGründe. Drittens kann jemand auch ohne Begründung H ignorieren; dies wurde unter A3 subsummiert.134 Die Variante, Präferenzen rein deskriptiv zu verstehen (als Beschreibungsweise von äußeren Tätigkeiten),führt erst recht zu keiner Ethik, sondern zu einer unüberbrückbaren Sein-Sollens-Kluft. Gerade das, wasPräferenzen bzw. ihre Erfüllung ethisch relevant macht, wird durch eine solche Variante ja ausgeblendet.

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interpretierten) Aussagensystemen und der phänomenalen Welt (die begrifflich unendlich

weit bestimmbar ist). Daher kann uns nur die Urteilskraft, in deren Domäne (mit Kant und

auch schon mit Aristoteles) die Verknüpfung von Anschauung und Begriff fällt, und nicht der

mit Begriffen operierende Verstand hier weiterhelfen.

3. Dieser Fall ist genau dann ein Problem, wenn entweder M auf empirischen Prämissen

aufsitzt (implizite Einschränkung) oder (durch eine entsprechende Klausel in M, also als

explizite Einschränkung) alle speziellen Aussagen unter Voraussetzung der Gültigkeit von

empirischen Prämissen stehen. Das erste Problem zieht das zweite Problem nach sich, da ein

Vorbehalt der Gültigkeit von M sich immer auch als Vorbehalt in H ausdrückt. Dennoch ist

auch hier zu unterscheiden zwischen Moralprinzips und universalistischer Norm, denn

Normen stehen häufig unter zusätzlichen, wohlgemerkt: empirischen,

Gültigkeitsvoraussetzungen.

Empirische Prämissen des Moralprinzips hingegen lassen zwei Interpretationen zu, eine

partikularistische und eine universalistische. Denn wodurch ist die Behauptung der

Geltungseinschränkung selbst gerechtfertigt? Entweder wird hier ein (dogmatischer)

Partikularismus angenommen („das Moralprinzip gilt eben nicht universell“), oder die

Geltungseinschränkung wird als eine universalistische Spezifizierung eines implizit

unterstellten allgemeineren Moralprinzips verstanden.

4. Wenn einige Menschen M nicht anerkennen, was durchaus fallweise variieren mag, liegt

ein höherstufiges Anwendungsproblem vor. Der Dissens liegt nicht auf Ebene der

Anwendung des (als gültig anerkannten) M, sondern betrifft die Gültigkeit von M als

solchem. Zwar durch die nicht hinreichend überzeugende Begründung von M hervorgerufen,

bringt dies dennoch u.U. ein Anwendungsproblem hervor. Hier sind zwei Fälle zu

unterscheiden: Einerseits Moralprinzipien, die die Überzeugungen der Betroffenen

einbeziehen (Utilitarismus; Diskursethik), und solche, die das nicht tun (Objektiv-

idealistische Wertlehre; „Wahre Bedürfnisse“; Rein kontrafaktische Konsenstheorie). Für

letztere ist dieses Problem nicht existent (oder nur kontingenterweise existent, wenn es

nämlich zu den Moral-Inhalten gehört, und damit auf einfachstufiger Ebene zu behandeln).

Für erstere ist dies dann ein Problem, wenn sich die Überzeugungen auf M selber richten

dürfen. Betrachten wir unser Beispiel M=MU, was zur ersteren Gruppe gehört: Zunächst

scheint es, als könne es problemlos gelingen, die Ablehnung von MU als eine Präferenz unter

anderen in eine Summation zu integrieren. Dabei wird aber gerade unterstellt, daß der MU

ablehnende auf einer höheren Stufe dann doch MU zustimmen kann. Aber warum sollte das so

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sein, wenn er doch im betreffenden Fall bereits auf einer niedrigeren Stufe dieses Prinzip

ablehnt?

Wenn jemand H bestreiten, aber M anerkennen kann, verweist dies auf ein ungelöstes A1-

Problem. Wenn jemand jedoch H unter Verweis auf M-externe Gründe verletzt, verweist dies

auf ein Begründungsproblem, nämlich auf eine mangelnde Reflexivität von M. Wenn jemand

jedoch H ohne Gründe zu geben verletzt, H aber nicht bestreitet, wird dies gewöhnlich als

Motivationsproblem verhandelt.

Wie aber, wenn jemand über M oder H schlicht uninformiert ist? Dies führt auf ein

interessantes, wiederum höherstufiges Anwendungs- oder besser: Umsetzungsproblem. In

solchen Ethikkonzeptionen, die die motivationale Dimension völlig vernachlässigen, also

nicht zwischen moralkonformem Handeln und Handeln aus moralischen Gründen

unterscheiden (wie etwa bestimmten Konsequenzenethiken), kann dies zu extremen

Konsequenzen führen: Wie Williams herausgestellt hat, kann es dann moralisch geboten sein,

eine Werbung für die eigene Ethikkonzeption zu unterlassen, falsche Moralvorstellungen

bewußt zu verbreiten etc. Anderenfalls ist die entsprechende Unterrichtung intrinsisch

gefordert, da erst die moralische Einsicht ein Handeln im emphatischen Sinne, d.h. aus

moralischen Gründen, möglich macht. In bestimmten Fällen kann es aber auch hier zu

Konflikten kommen, in denen es auch aus moralischen Gründen unerlaubt ist (etwa wegen

eines anderswo dringlicheren Ressourceneinsatzes), diese Unterrichtung vorzunehmen.

Problemdifferenzierung: Intermediäre Regeln

Je nachdem, welcher Typ von philosophischer Ethik vorliegt, müssen die genannten Probleme

u.U. weiter differenziert werden. In einer Ethik etwa, wo sich das Moralprinzip nicht direkt

auf einzelne Handlungen anwenden läßt, sondern über zwischengeschaltete, auf eine Reihe

von Situationen bezogene Regeln (Normen; Maximen; utilitaristische Regeln), ist das Schema

zu erweitern: M begründet R-in-{S} und R begründet dann b(H-in-S). Insgesamt erscheint das

Problem A1 („angewandte Ethik“) zweigeteilt (M nach R und R nach b(H)), es zerfällt in die

Teilprobleme A1a und A1b. Unter A1b fällt nun auch die Möglichkeit der Regelkollision.135

Noch elaboriertere Ethiken mögen vielleicht zudem verschiedene Regel-Ebenen

unterscheiden, etwa zwischen das Moralprinzip und die Normen noch (allgemeine) Regeln,

135 Auf einer basaleren Stufe ist jede Ethik von einem strukturgleichen Problem betroffen, denn dem Verhalten inEntscheidungssituationen können verschiedene Handlungen alternativ zugeordnet werden, oder das Verhaltenkann in kleinere, aufeinanderfolgende Handlungseinheiten zerlegt werden – was eben u.U. widersprüchlicheethische Beurteilungen mit sich bringt.

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wie „Prinzipien“ (R. Alexy), schieben. Das Anwendungsproblem A1 zerfällt dann noch

weiter.

Unter den Problemtyp A1 fällt auch ein höherstufiges Problem, nämlich die Möglichkeit der

Kollision von Moralprinzipien. Das bisher betrachtete Moralprinzip M ist ja nicht das einzig

existierende, so daß unterschiedliche Prinzipien unterschiedliche Handlungsweisen oder

intermediäre Regeln begründen können.

Ein bestimmter Ethiktyp wird durch das hier angesetzte Schema nicht erfaßt: Manche Ethiken

besitzen Regeln, aber kein Moralprinzip (etwa der moderne Dekalog von B. Gert 1983),

manche weder Regeln noch Moralprinzip (etwa narrative Ethiken). Aufgrund eines fehlenden

Ordnungsgesichtspunktes droht den „freischwebenden“ Regeln eine (mehr oder weniger

verdeckte) kategoriale Inhomogenität, so daß Regel-Kollisionen nicht sauber formuliert

werden können. Jedenfalls aber wird dadurch implizit meist ein Moralprinzip behauptet oder

es läßt sich eines formal konstruieren, daß die Begründunglast tragen helfen kann (etwa der

Art, daß die ausgezeichnete Entität (Regeln, Narrationen usw.) überhaupt zur Beurteilung von

Handlungssituationen herangezogen und die in ihrem Lichte am plausibelsten erscheinenden

Handlungen ausgeführt werden sollen oder sollten.

Viele Ethiken behaupten keinen umfassenden moralisch-praktischen Rationalismus, in dem

alle Gründe unter ein Moralprinzip zu stellen sind. Neben unserem Schema kann – rein

formal – noch andere Gründe geben, die dieselbe (oder nicht dieselbe) Beurteilung b‘(H-in-S)

begründen, u.U. auch b(H‘-in-S), allgemein aber: b‘(H‘-in-S). Deontologische Ethiken, die

Fragen des individuell guten Lebens von einem Kernbereich gemeinsamer Verpflichtungen

trennen (Kant; Rawls; Dworkin; Höffe; Habermas), müssen typischerweise divergierende

Antworten auf diese Fragen integrieren können; es stellt sich dann die Frage nach dem

Verhältnis und der Vereinbarkeit von Gutem Leben und Moral. Eng verwandt mit diesem

Problem ist die Problematik der individuellen Motivation zur Moral, die kognitivistische

Ethiken häufig als Anwendungsfragen sehen. Je nachdem, so wurde ausgeführt, ob diese

Probleme als Prämissen P explizit reflektiert werden oder nicht, stellt sich so das

Anwendungsproblem A3 oder A4.

Die Grenze zwischen Begründungs- und Anwendungsfragen kann insgesamt verschieden

gezogen werden; manch einer mag eine Ethik ja gerade deshalb ablehnen, weil sie nicht oder

nicht eindeutig anwendbar ist. Auch soll damit nicht gemeint sein, daß es in

Anwendungsfragen keine zureichenden Gründe gäbe. Ich hatte vorgeschlagen, Begründung

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und Anwendung so zu unterscheiden, daß nur die Argumentationsschritte auf dem Weg zum

Moralprinzip zur ersteren Gruppe gehören, und will dies auch beibehalten.

Fassen wir die erweiterte Variante des Schemas zusammen: P begründet M, M begründet R-

in-{S} und R begründet b(H-in-S), andere Gründe G dagegen evtl. b‘(H‘-in-S).

Anwendungsfragen speziell in der Diskursethik

Ich will die genannten Probleme nun kurz im Blick auf die Habermassche und die Apelsche

Diskursethik nachzeichnen:

Das Moralprinzip M – also wahlweise »U« wie bei Habermas, »D« wie bei Ott 1996b und

Benhabib 1992 oder beide zusammen wie bei Ott 1997 u. 1998 – beruht auf Prämissen P wie

etwa den Diskursregeln, der Entscheidung für eine deontologische Perspektive, der Trennung

von Moral und Gutem Leben, etc. Die Anerkennung dieser Prämissen kann mehr

(Deontologie) oder weniger (Diskursregeln) sinnvoll verweigert werden. Insofern,

insbesondere jedoch wenn »U« ins Zentrum gestellt wird und »U« wirklich zusätzliche

Prämissen enthält (so Ott), steht dieser Ethikansatz vor dem Paternalismus-Problem A4 (das

objektivistische Ethiken nicht trifft). Aber auch A3 wird relevant, etwa durch die Klausel „bei

allgemeiner Befolgung“.

Das Problem A2 wird innerhalb der Diskursethik wenig beachtet, da sie eine konkrete

Situation bereits voraussetzt, in der bestimmte, bisher als gültig angesehene Normen fraglich

(„brüchig“) geworden sind. Von daher ist die Diskursethik darauf angewiesen, daß das

Problem A2 im „vorethischen Bereich“ bereits ansatzweise gelöst ist (die Situation muß ja

immerhin soweit gedeutet sein, daß problematische Normen dahinter sichtbar werden).

Falsche Problemwahrnehmungen lassen sich dann zwar im Diskurs korrigieren (insbesondere

auch durch die Möglichkeit der Sprachkritik), aber der Startpunkt muß markiert sein.

Als Normenethik zerfällt das Problem A1 in A1a (vom Moralprinzip zur Norm) und A1b (von

der Norm zur Fall-Beurteilung). Die Diskursethik ist eine formal-prozedurale Konzeption,

d.h. der Übergang A1a ist nicht als ein substantielles Begründungsverhältnis konstruiert.

Gerade wurde ja schon ausgeführt, daß die Diskursethik als Normenprüfung funktionieren

soll. Die besondere Situation ist also, daß unabhängig von einer bestimmten, ausgezeichneten

Praxis (dem Diskurs) keine moralischen Normen gerechtfertigt werden können. Natürlich

müssen alle Ethiken ihre Begriffe interpretieren, sobald irgendwelche Inhalte verhandelt

werden: Einerseits werden vielleicht häufig erst Begriffe geklärt und dann konkrete Urteile

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gefällt. Doch andererseits kann (und muß irgendwann) eine solche Fixierung auch implizit, im

Zuge der Praxis einer Ethik, erfolgen. Soweit die Diskursethik als prozedurale Ethik

verstanden werden muß, wären hier zunächst diejenigen verwendeten Begriffe zu erläutern,

die über legitime Verfahren Auskunft geben. Soweit diese Verfahren als reale Prozesse

verstanden werden müssen, sind sie auch wirklich durchzuführen, bevor inhaltliche

Ergebnisse vorliegen können. Dann erst verfügen wir über ein Verfahren zur Gewinnung

gültiger Normen – mit allen Folgeproblemen. Doch als realer Prozeß müßte schon die

Durchführung selbst schon die Beantwortung von moralischen Fragen voraussetzen (mit dem

Ergebnis, daß reale Diskurse hier und jetzt verantwortbar sind) – ohne daß wir diese

Antworten jedoch bereits kennen würden.

Prinzipiell versucht die Diskursethik, dieses Problem des „unmöglichen Anfangs“ durch einen

rekonstruktiven Ansatz zu unterlaufen: Wir können so etwas bereits (knowing-how), und

dieses Können läßt sich explizieren (knowing-that) – im Prinzip jedenfalls. Wie sollen wir

aber im Einzelfall mit Anwendungsproblemen vom Typ A3 und A4 umgehen? Diese Frage

werde ich weiter unten, bei der Diskussion der Literaturpositionen, wieder aufnehmen.

Bestimmung des Verfahrens

Durch das Moralprinzip (M=D: Gültig sind genau die Normen, die die Zustimmung aller

Betroffenen in praktischen Diskursen finden könnten) wird keine spezielle Norm als gültig

ausgezeichnet. Die Diskursethik überläßt die Argumentation zwar den Betroffenen, muß aber

(als Ethik) wenigstens Vorschläge machen können, nach welchen Kriterien die Gültigkeit

einer Norm festgestellt werden kann (und nicht nur: könnte). Der diesbezügliche Vorschlag ist

ein Fallibilismus: Diejenigen Normen, gegen die wir noch keine überzeugenden Einwände

finden konnten, nennen wir (vorläufig, versteht sich) gültig. Die entsprechende Prüfung dieser

Einwände geschieht im Diskurs, die Normvorschläge selbst kommen aus der Lebenswelt, sind

also Normvorstellungen, die man in Gesellschaften faktisch vorfindet. Das Problem hierbei

ist, daß die Diskursregeln derart idealisierend formuliert sind, daß sie nie real zu erfüllen sind.

Ihnen kann aber mehr oder weniger nahe gekommen werden, so daß sie eine leitende

Funktion haben können (wenn auch die Frage, wieweit ein realer Diskurs wirklich zu führen

ist, auch wieder einer Begründung bedarf).

Bestimmung der Inhalte

Trotz des Verweises auf erst noch zu führende Normenbegründungs-Diskurse sind einige

Normvorschläge bereits durch M und P ausgeschlossen („M-gültigen Normen ist stets

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zuwiderzuhandeln“ o.Ä., was M bzw. P direkt widerspricht).136 Weitergehende inhaltliche

Vorschläge kann der Diskursethiker natürlich auch machen.137 M.E. bieten sich dazu zunächst

ersteinmal die Inhalte an, die durch die Prämissen von M naheliegen: Geht es in der

Moralphilosophie um das richtige Handeln, ist es plausibel zu unterstellen, daß die Fähigkeit

zu handeln einerseits und diese Handlungen normativ rechtfertigen zu können andererseits,

gewahrt bleiben sollte.138 Die erste Bedingung läuft auf den Erhalt von äußerer und innerer

Freiheit hinaus. Die zweite Bedingung betrifft im Kern kommunikative Freiheiten im

negativen, aber auch im positiven Sinne – letzteres meint eine individuelle

Kompetenzerhöhung und die institutionelle Absicherung diskursiver Verfahren. Das

Verhältnis von Handlungs- und normativer Rechtfertigungsfähigkeit läßt sich noch genauer

bestimmen: diese sind nämlich intern aufeinander bezogen. Die Rechtfertigungsfähigkeit

erscheint nämlich einerseits auch als Vermächtniswert der Handelnden. Die normative

Rechtfertigungsfähigkeit umfaßt dies dann, wenn nicht nur die Möglichkeit irgendeiner

Rechtfertigung, sondern (gerade) auch der normativen Rechtfertigung für eine vollwertige

Handlung erforderlich wäre.139 Andererseits ist die Rechtfertigung gemäß der

Sprachpragmatik auch eine Handlung, so daß von dieser Seite wenigstens ein Teil der

Handlungsfähigkeit ebenfalls gewahrt bleiben muß.

Nichtstandard-Diskursethik

Eine Diskursethik ist jedoch nicht in jedem Falle darauf angewiesen, den Einheitsfokus

moralischer Normen zu bemühen. Eine allgemeinere Variante wurde soeben kennengelernt

(Kettner), in der dennoch eine Prozedur der Begründung (und ein Universalisierungsprinzip)

gerechtfertigt werden. Dann dürfte die einfach hierarchische Binnendifferenzierung in A1

entfallen, da es ja nun gleichzeitig mehrere Typen von Regeln gibt. Unser Schema wäre dann

um die Problematik kollidierender Regeltypen zu erweitern.

136 vgl. Ott 1997; Alexy (Alexy 1995b: 123) nennt diese Normen „diskursiv unmöglich“.137 Apel (1973) u. Peters (1974) schließen etwa vom Diskursprinzip direkt auf moralische Grundnormen. Alexymeint, mit zwei Zusatzprämissen den Menschenrechtskatalog ableiten zu können (Alexy 1995a). Auch Ottglaubt, ohne die Durchführung von Diskursen bestimmte Inhalte auszeichnen zu können (s.u.). Habermas lehntdiesen Weg ab, er will sich auf die Rechtfertigung von (normativ gehaltvollen) Argumentationsregelnbeschränken und alle Inhalte erst als Ergebnis von praktischen Diskursen akzeptieren (1983a: 96)138 Eine solche Klugheit wird erst da problematisch, weil je nach Definition möglicherweise nicht mehrmoralkonform, wo der Erhalt von Fähigkeiten dem persönlichen Vorteil gegenüber Anderen dienen soll.

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Doch beginnen wir jetzt – nach diesem kurzen Versuch, den Möglichkeitsraum zu

struktuieren – mit der Durchsicht dessen, was in den diskursethischen Literaturpositionen

selbst an Anwendungsüberlegungen angestellt wird. Die Behandlung von

Anwendungsproblemen seitens der philosophischen Diskurstheoretiker ergibt eine Vielfalt

von unterschiedlichen Konzeptionen, die grob entlang der beiden unterschiedlichen

Begründungspositionen auseinandergehalten werden können. In der universalpragmatischen

Tradition werden Normen als eher allgemeine und abstrakte Sollsätze aufgefaßt und wird

demzufolge stärker auf die Anwendungsproblematik A1 und damit teilweise auch auf A2

fokussiert (Habermas; Günther; Ott). In der transzendentalpragmatischen Diskussionslinie

werden insbesondere aufgrund des starken Begründungsanspruches die

„Ausnahmesituationen“ der Anwendungsprobleme A3 und A4 thematisch (Apel; Böhler;

Niquet).

In dieser Arbeit sollen die einzelnen Beiträge aber nicht nach diesen Traditionen geordnet

präsentiert werden, sondern so, daß sich eine inhaltlich fortschreitende Problemdarstellung

ergibt. Ich beginne daher mit Habermas, der in seinen Texten (wenn auch leicht verstreut) das

breiteste Spektrum von Anwendungsproblemen berührt.

Anwendungsprobleme aus Sicht von J. Habermas

Nach der in dieser Arbeit zugrundegelegten Terminologie sollen argumentative Stützungen

einer philosophischen Konzeption bis hin zum Moralprinzip als Begründungs- und diejenigen

der weiteren erforderlichen Schritte auf dem Weg zur konkreten Handlungsbeurteilung als

Anwendungsprobleme bezeichnet werden. In einer Normenethik sind also sowohl die

Begründung einzelner Normen als auch die Anwendung dieser Normen in einzelnen Fällen:

Anwendungsprobleme. In den darauffolgenden Passagen wird zusammengetragen, was

Habermas an verschiedenen Stellen seiner moralphilosophischen Schriften zu solchen

Anwendungsproblemen in der Ethik ausgeführt hat. Anwendungsfragen sind für Habermas

nicht zentral, daher mußten die verstreuten Äußerungen zusammengetragen und

aneinandermontiert werden. So läßt sich immerhin seine (mit der Zeit veränderte)

Problemwahrnehmung erkennen; trotzdem wird dieser Textteil vielleicht für sich gesehen

etwas unbefriedigend bleiben, da Habermas sich schließlich nurmehr auf Ausführungen seiner

Schüler stützt. Deren Anwendungskonzepte werden im Anschluß untersucht.

139 In diesem Sinne argumentiert Werner 1998 gegen einen rein deskriptiven Verantwortungsbegriff, der eineZuschreibung von Handlungen und Handlungsfolgen unabhängig von moralischen Standards ermöglichenwürde.

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Habermas‘ Sicht auf die Anwendungsprobleme ist vom über die Jahre modifizierten Status

der Diskursethik als ganzer nicht unbeeinflußt geblieben. Noch einmal zur Erinnerung (vgl.

das erste Kapitel): Die Frühphase ist geprägt durch einen umfassenden Anspruch der

Diskurstheorie (die Bezeichnung Diskursethik fehlt noch) auf praktische Richtigkeit, in der

mittleren Phase wird dann die Diskursethik explizit entwickelt und im engeren Sinne auf

Fragen der Gerechtigkeit (auch: moralische Fragen) eingeschränkt, d.h. von Fragen nach dem

Guten Leben (auch: ethische Fragen) unterschieden. In der Spätphase werden diesen beiden

noch die Fragen nach der effizienten Mittelwahl (auch: pragmatische Fragen) beiseitegestellt;

alle drei Fragetypen seien diskursfähig, allerdings nicht in denselben Typen von Diskursen.

Habermas entwickelt seine Anwendungskonzeption explizit erst in der mittleren Phase, in

Auseinandersetzung mit Hegels Kritik an Kants Moralphilosophie – die Diskursethik versteht

sich ja als in der kantischen Tradition stehend. Er hat dort, grob gesagt, zuerst zusammen mit

der Entwicklung des diskursethischen Begründungsprogramms eine Schematisierung

angedeutet, dann besonders das Moral-Ethik-Verhältnis neu geordnet, und schließlich eine

leicht veränderte zweite Schematisierung vorgelegt. Das Verhältnis von Fragen des Guten

Lebens zu denen der Moral ist für die Konzeption der Anwendungsproblematik von zentraler

Bedeutung und wird hier unter dieser Perspektive noch einmal thematisch (vgl. das erste

Kapitel). „Ethische“ Fragen, das ist Habermas‘ Bezeichnung für solche des „guten Lebens“,

dienen ihm nämlich als Kontrastfolie, die bestimmte Eigenschaften (und Probleme) der

modernen Moral deutlich werden lassen und die dem Diskurs (zunächst) gerade dadurch

entzogen bleiben sollten. Ich versuche nachzuzeichnen, wie Habermas dann über die Jahre

hinweg zur Diskursfähigkeit „ethischer“ Fragen vorstößt. Dies könnte ja prinzipiell auf

unterschiedlichen Wegen geschehen sein: Von wenig überzeugenden Möglichkeiten einmal

abgesehen (wie, deren Diskursfähigkeit einfach zu behaupten), müßte nämlich entweder der

Diskursbegriff erweitert, oder müßten ethische Fragen anders beschrieben worden sein (so

daß sie unter den alten Diskursbegriff fallen). Meine Ausführungen belegen hoffentlich ein

über die Zeit verändertes Verständnis ethischer Fragen. Diese Revision ist mit einer

veränderten Darstellung des Anwendungsproblems insoweit verknüpft, als der Moral – im

Vergleich zur Ethik – spezifische Abstraktionsleistungen zugeschrieben werden: Vom

Kontext, von Motiven der gelebten Sittlichkeit. Diese Leistungen müßten nämlich im Zuge

der Moral-Anwendung wieder rückgängig gemacht werden. Was dies genau heißt, und

inwiefern dies gelingen können soll, wird im folgenden näher ausgeführt.

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- 179 - -

Habermas dringt im Laufe der Zeit zu einer Konzeption vor, in der moralische Normen als

hochgradig generelle und nur für ideale Verhältnisse gerechtfertigte Sollsätze verstanden

werden. Die aus dieser metaethischen Wahl resultierenden Anwendungsprobleme stehen in

den neunziger Jahren dann im Zentrum der Untersuchungen von Habermas und seinen

Schülern. In dieser Spätphase findet eine Aufwertung ethischer Probleme unter einem eigenen

Geltungsanspruch statt. Anwendungsprobleme der Moral lassen sich nicht mehr schematisch

gegenüberstellen, sondern werden auf eine bestimmte Art kanonisiert: Seit dieser Zeit findet

sich der regelmäßige Verweis auf Anwendungsdiskurse (die ohne eine Aufweitung des

Diskursbegriffs garnicht als Diskurse möglich wären; vgl. Kapitel eins) sowie auf die

eventuelle Unzumutbarkeit moralischer Idealnormen, deren allgemeine Befolgung nicht

unterstellt werden kann. Unter regelmäßigem Verweis auf die entsprechenden Arbeiten von

K. Günther bzw. M. Niquet werden die eigenen Überlegungen nicht mehr weitergetrieben.

Ich halte diese metaethische Konzeption für wenig glücklich, was im Laufe der Diskussion

der Ausführungen von Habermas, Günther und Niquet deutlich zu machen sein wird. Einige

wissenschaftstheoretische Argumente gegen eine Separabilität von Normenanwendungs- und

Normenbegründungsfragen habe ich oben, im ersten Kapitel, bereits beigebracht.

Frühphase (70er Jahre): Keine explizite Diskursethik

Eine spezifische Diskursethik war in der Frühphase noch nicht entwickelt. Die Diskurstheorie

sollte bekanntlich dazu dienen, die kritischen Ambitionen der älteren kritischen Theorie

(Horkheimer/Adorno) auf eine methodisch weniger angreifbare Basis zu stellen. Eine

Anwendung der Diskurstheorie dürfte daher wesentlich auf zwei Feldern intendiert gewesen

sein: Einerseits sollte damit die empirische Sozialforschung anzuleiten sein, als empirische

Wissenschaft nicht einem positivistischen Wissenschaftsverständnis verfallen zu müssen,

sondern gemäß einem kritisch-emanzipatorischen forschungsleitenden Interesse tätig zu

werden. Andererseits sollten sich auch konkrete Politiken an dem in Habermas‘ Philosophie

formulierten Ideal orientieren und unverzerrte Kommunikationsverhältnisse sichern helfen

können, über die sich lebensweltliche Zusammenhänge reproduzieren. Bis zum Erscheinen

der TkH (Habermas 1981), also einer expliziten Gesellschaftstheorie, schien dieses Ideal in

einer umfassenderen Art und Weise gesellschaftliche Wirklichkeit werden zu sollen; dieser

Zielvorstellung entspricht, wie Habermas wohl sieht, eine gravierende Veränderung unserer

Lebensform, deren „Vorschein“ jedoch bereits im einzelnen verständigungsorientierten

Handeln zu erkennen sei.

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Spätestens mit dem Erscheinen der Theorie des kommunikativen Handelns, d.h. mit der

umfassenden Ausarbeitung seiner Gesellschaftstheorie, wurden gesellschaftliche Systeme des

Marktes und der Verwaltung (mit ihren Medien Geld bzw. Macht) nicht mehr nur als

Bedrohung der Lebenswelt, sondern als legitimer Teil ihrer Rationalisierung begriffen. Von

nun an galt es, Übergriffe der systemischen Steuerung auf Bereiche zu verhindern, die

(weiterhin) über kommunikatives Handeln integriert werden sollen. Lebenswelt und System

stehen in einem prekären Wechselverhältnis, das jederzeit in eine „Kolonialisierung der

Lebenswelt“ umschlagen kann.

Darüber, wie sich nun Anwendungsprobleme in dieser Zeit dargestellt haben mögen, läßt sich

höchstens plausibel spekulieren. Anfangs scheint eine schwache Teleologie vorgelegen zu

haben, nach Möglichkeit Verhältnissen sich anzunähern, in denen alle Konflikte diskursiv

gelöst werden können. Schwach ist diese Teleologie insofern, als offen bleibt, mit welchen

Mitteln dieses Ziel erreicht werden könnte oder sollte. Seit Ausarbeitung seiner

Gesellschaftstheorie ist der utopische Gehalt, der dieser Teleologie noch innewohnte, beinahe

unsichtbar geworden. Es bleibt eine negative Orientierung auf die Verteidigung

kommunikativer Kernbereiche der Gesellschaft, wobei diese Kommunikation durchaus

gesellschaftsweit zirkulieren sollte (die Massenmedien sind nach Habermas‘ Dafürhalten

immun gegen eine Einverleibung durch die Systeme). In den neunziger Jahren wird die

Diskursidee dann stärker dem politischen Prozeß als Ganzem zugrundegelegt, als nämlich die

konstitutionelle Demokratie in ihrem institutionellen Kerngehalt als Prozeß der per

Verfassung geschützten dauernden Selbstverständigung über normative Grundsatzfragen

verstanden werden kann. Anwendungsfragen stellen sich damit insofern neu, als das

Verhältnis der Diskursidee zu Moral, Demokratie und Recht jetzt in den Vordergrund tritt und

auch andere Interaktionsformen als der Diskurs (etwa: Verhandlungen) normativ betrachtet

jetzt zu ihrem Recht kommen: die Rechtfertigung von Institutionendesigns und

institutionellen Verfahren.

Ich werde mich im folgenden darauf konzentrieren, diejenigen Anwendungsprobleme zu

untersuchen, die explizit im Zusammenhang mit der Diskursethik, d.h. seit den 80er Jahren,

angesprochen worden sind. Die Diskurstheorie als politische Philosophie wird erst gegen

Ende, im Abschnitt über Institutionen, an die diskursethische Diskussion angeschlossen.

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Mittlere Phase (80er Jahre): Hegels Kantkritik

Der Aufsatz „Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm“ (1983a) ist Habermas‘

erste systematische Argumentation für eine eigene diskursethische Position. Das Moralprinzip

wird nun expliziert als universalistische Prüfinstanz, nämlich als Argumentationsregel, die in

realen Diskursen je fraglich gewordene Normen, genauer: moralische Normen, in legitimer

Geltung halten kann. Der Geltungsanspruch der normativen Richtigkeit wird (gegenüber den

Fragen des Guten Lebens) klar gefaßt, über die von K.-O. Apel übernommene

Argumentationsfigur des performativen Selbstwiderspruchs wird eine

Begründungsargumentation entwickelt.

Mit der Ausarbeitung der Diskursethik geht auch eine Ausdifferenzierung der

Anwendungsfragen einher. Gegen Ende wird dort nämlich der aus Hegels Kant-Kritik

bekannte „Formalismus-Einwand“ behandelt (1983a: 112-119). Wie schon der ganze Aufsatz

(1983a) ist auch dieser Teil als Auseinandersetzung mit einem vorgestellten Skeptiker

gestaltet, der hier nun – als letzte Gegenwehr, nachdem er dem Begründungsprogramm keine

Einwände mehr entgegensetzen kann – in vier Runden „den Sinn einer solchen

formalistischen Ethik selbst in Zweifel“ zieht (112).

Unter der Überschrift des „Formalismus“ (später auch unter anderen) stellt sich Habermas der

Kluft zwischen „Moralität und Sittlichkeit“, zwischen der Sphäre der diskursethisch

gerechtfertigten moralischen Sollsätze und dem eingewöhnten, gelebten Ethos einer

konkreten Lebensform, die jede normative Theorie aufwirft. Um diesen Zusammenhang nicht

ganz aus den Augen zu verlieren, und da in den folgenden Passagen mehrere Problematiken

sich überlagern, soll etwas ausführlicher als gemeinhin üblich zitiert werden. Ich werde die

einzelnen Punkte zunächst herausstellen und sie dann zusammenfassen. In den nächsten

Abschnitt wird den Veränderungen dieses Problembestands nachgegangen, schließlich auch

denen der neunziger Jahre. Erst nach Durchsicht der Habermasschen Positionen werde ich

dann einige dieser Probleme systematisch diskutieren, und zwar diejenigen, zu denen nicht

von Niquet bzw. Günther Lösungsvorschläge unterbreitet worden sind (denn diese werden

anschließend gesondert analysiert).

1. Habermas läutet die erste der vier letzten Runden mit dem Skeptiker in (1983a)

folgendermaßen ein:

„Der diskursethische Grundsatz nimmt auf eine Prozedur, nämlich die diskursive Einlösung vonnormativen Geltungsansprüchen Bezug; insofern läßt sich die Diskursethik mit Recht als formalkennzeichnen. Sie gibt keine inhaltlichen Orientierungen an, sondern ein Verfahren: den

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praktischen Diskurs. Dieser ist freilich ein Verfahren nicht zur Erzeugung von gerechtfertigtenNormen, sondern zur Prüfung der Gültigkeit vorgeschlagener und hypothetisch erwogenerNormen. Praktische Diskurse müssen sich ihre Inhalte geben lassen. Ohne den Horizont derLebenswelt einer bestimmten sozialen Gruppe, und ohne Handlungskonflikte in einer bestimmtenSituation, in der die Beteiligten die konsensuelle Regelung einer strittigen gesellschaftlichenMaterie als ihre Aufgabe betrachteten, wäre es witzlos, einen praktischen Diskurs führen zuwollen. Die konkrete Ausgangslage eines gestörten normativen Einverständnisses, auf die sichpraktische Diskurse jeweils als Antezedens beziehen, determiniert Gegenstände und Probleme, diezur Verhandlung »anstehen«. Formal ist mithin diese Prozedur nicht im Sinne der Abstraktion vonInhalten. In seiner Offenheit ist der Diskurs gerade darauf angewiesen, daß die kontingentenInhalte in ihn »eingegeben« werden. Freilich werden diese Inhalte im Diskurs so bearbeitet, daßpartikulare Wertgesichtspunkte als nicht konsensfähig am Ende herausfallen.“ (113)

In dieser ersten Runde wird gegenüber dem Skeptiker, der die Inhaltleere des Moralprinzips

bemängelt, der prozedurale Charakter der Diskursethik ausdrücklich betont: Praktische

Diskurse seien bloße Verfahren; Inhalte müssen in es eingegeben werden – insofern also eine

formale Ethikkonzeption.

2. In einer zweiten Runde stellt Habermas ein nächstes Merkmal des ethischen Formalismus

heraus, die Abtrennung von Fragen des Guten Lebens:

„[D]er Universalisierungsgrundsatz funktioniert wie ein Messer, das einen Schnitt legt zwischen»das Gute« und »das Gerechte«, zwischen evaluative und streng normative Aussagen. KulturelleWerte führen zwar einen Anspruch auf intersubjektive Geltung mit sich, aber sie sind so sehr mitder Totalität einer besonderen Lebensform verwoben, daß sie nicht von Haus aus normativeGeltung im strikten Sinne beanspruchen können – sie kandidieren allenfalls für eine Verkörperungin Normen, die ein allgemeines Interesse zum Zuge bringen sollen.“ (113f.)

Eine solche Unterscheidung kann also nicht vordiskursiv getroffen werden, sondern ist im

Ergebnis von Diskursen wiederzufinden. Erforderlich ist in praktischen Diskursen eine

„hypothetische Einstellung“ zu „Normen und Normensystemen, die aus der Gesamtheit des

Lebenszusammenhangs herausgehoben werden“ (1983a: 114). Ein weiteres

Anwendungsproblem auf der Eingangsseite von Diskursen deutet sich dadurch, daß eine

bestimmte Distanzierung vonnöten ist, bereits an (dazu später mehr). In ethischen Fragen, i.e.

denen des Guten Lebens, – Habermas ordet ihnen die Evaluationen zu – sei eine solche

Distanzierung hingegen nicht möglich, da dort im Kern Identitätsfragen berührt seien (denen

eine Distanzierung die Substanz rauben würde).

„Vergesellschaftete Individuen können sich nicht zu der Lebensform oder zu derLebensgeschichte, in der sich ihre eigene Identität gebildet hat, hypothetisch verhalten.“ (114)

Dennoch müssen nun (anders als in der frühen Konzeption, wo der praktische Diskurs auch

Werte umfassen durfte) moralische Forderungen mit Überlegungen zum (je eigenen) Guten

Leben in Einklang gebracht werden – ebenfalls ein Anwendungsproblem, das aus

konzeptionellen Gründen bereits angelegt, von Habermas aber (noch) nicht ausgeführt wird.

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3. Zwei weitere Anwendungsprobleme sind in der nun folgenden Passage konfundiert, in dem

Habermas den Hegel-inspirierten Kritiker den nunmehr dritten Anlauf nehmen läßt:

„Weiterhin bleibt aber der hermeneutische Zweifel bestehen, ob nicht dem diskursethischenVerfahren der Normenbegründung eine überschwengliche, in den praktischen Auswirkungen sogargefährliche Idee zugrunde liegt. Mit dem diskursethischen Grundsatz verhält es sich wie mitanderen Prinzipien: er kann nicht die Probleme der eigenen Anwendung regeln. Die Anwendungvon Regeln verlangt eine praktische Klugheit, die der diskursethisch ausgelegten praktischenVernunft vorgeordnet ist, jedenfalls nicht ihrerseits Diskursregeln untersteht. Dann kann aber derdiskursethische Grundsatz nur unter Inanspruchnahme eines Vermögens wirksam werden, welchesihn an die lokalen Übereinkünfte der hermeneutischen Ausgangssituation bindet und in dieProvinzialität eines bestimmten geschichtlichen Horizonts zurückholt.“ (114; Herv. i. Orig.)

Habermas kontert diesen Vorhalt durch einen Verweis auf die Teilnehmerperspektive. Dabei

verschiebt er allerdings die Problemstellung von der Anwendung des „diskursethischen

Grundsatzes“ »D«, d.h. von der Anwendung des Moralprinzips auf Normen, hin zur

Anwendung von Normen auf Fälle, vermengt also A1a mit A1b:

„Das ist nicht zu bestreiten, wenn man die Probleme der Anwendung aus der Perspektive einerdritten Person betrachtet. Diese reflexive Einsicht des Hermeneutikers entwertet dennoch nicht denalle lokalen Übereinkünfte transzendierenden Anspruch des Diskursprinzips: diesem kann sich derArgumentationsteilnehmer nämlich nicht entziehen, solange er in performativer Einstellung denSinn der Sollgeltung von Normen ernst nimmt und Normen nicht als soziale Tatsachen, als etwasin der Welt bloß Vorkommendes objektiviert. Die transzendierende Kraft eines frontalverstandenen Geltungsanspruchs ist auch empirisch wirksam und kann durch die reflexive Einsichtdes Hermeneutikers nicht überholt werden.“ (114f.; Hervorh. i. Orig.)

An dieser Stelle scheint es noch um die Anwendung des Prinzips »D« zu gehen, das vom

„Sinn der Sollgeltung von Normen“ in seiner Anwendung betroffen sei – soweit ist noch kein

Fehler zu ersehen. Im folgenden wird nun aber auf der Ebene von inhaltlichen Normen (und

nicht mehr auf Ebene des Moralprinzips) fortgesetzt:

„Die Geschichte der Grundrechte in den modernen Verfassungsstaaten liefert eine Fülle vonBeispielen dafür, daß die Anwendungen von Prinzipien, wenn diese erst einmal anerkannt sind,keineswegs von Situation zu Situation schwanken, sondern einen gerichteten Verlauf nehmen. Deruniverselle Gehalt dieser Normen selbst bringt den Betroffenen, im Spiegel veränderterInteressenlagen, die Parteilichkeit und Selektivität von Anwendungen zu Bewußtsein.Anwendungen können den Sinn der Norm selbst verfälschen; auch in der Dimension der klugenApplikation können wir mehr oder weniger befangen operieren. In ihr sind Lernprozessemöglich.“ (114; Hervorh. i. Orig.)

Diese ganze Passage spricht zwar weiterhin von „Prinzipien“, meint aber tatsächlich Normen;

dies wird am Ende auch explizit so ausgesprochen. Anscheinend möchte Habermas sowohl

die Anwendung von »D«, d.h. die Begründung von Normen, wie auch die Anwendung der

durch »D« gerechtfertigten Normen ohne Verlust des universalistischen Geltungssinns, aber

auch ohne Verlust an applikativer Bestimmtheit sich vollziehen sehen. Auf beiden

Anwendungsebenen gilt: Die „Selbstkorrektur“ der Anwendung des Prinzips bzw. der Norm

wird möglich durch die Kollision eines selektiven oder parteilichen Anwendungsversuchs mit

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dem Sinn (der Intension?) des Prinzips bzw. der Normen. Das ist eine sehr vage Metapher.

Lernprozesse gehen in diesem Modell nur in eine Richtung: Korrigiert wird die Anwendung

im Lichte der (erfolgreichen) Begründung. Die Gegenbewegung, daß also über ein

Unbehagen in der Anwendung die Begründungsfrage neu gestellt wird, ist nicht vorgesehen.

Vielleicht ist dies aber auch schon zu weit gedacht, und es geht Habermas wirklich nur darum,

daß der Gegenstandsbereich der Personenvariablen der Norm nicht willkürlich, d.h. anders als

in der Norm explizit formuliert, eingeengt wird (Selektivität).

4. In den darauffolgenden Absätzen, der vierten Runde in der Auseinandersetzung mit dem

Skeptiker, kommen hingegen die echten „Beschränkungen, die gegenüber einem

fundamentalistischen Selbstverständnis in Erinnerung gebracht werden müssen“, zur Sprache

(115). Jeder dieser Beschränkungen korrespondiert ein Anwendungsproblem: Da wäre

zunächst die im ersten Kapitel bereits erwähnte Verschränkung von praktischen Diskursen mit

den (nicht diskursfähigen) Argumentationsformen der ästhetischen und therapeutischen

Kritik:

Erstens behalten praktische Diskurse, in denen auch die angemessene Interpretation vonBedürfnissen zur Sprache kommen muß, einen internen Zusammenhang mit der ästhetischenKritik auf der einen, der therapeutischen Kritik auf der anderen Seite; und diese beiden Formen derArgumentation stehen nicht unter der Prämisse strenger Diskurse, daß grundsätzlich immer einrational motiviertes Einverständnis müßte erzielt werden können, wobei »grundsätzlich« denidealisierenden Vorbehalt meint: wenn die Argumentation nur offen genug geführt und langegenug fortgesetzt werden könnte. Wenn aber die verschiedenen Formen der Argumentationletztlich ein System bilden und nicht gegeneinander isoliert werden können, belastet eineVerknüpfung mit den weniger strengen Formen der Argumentation auch den strengeren Anspruchdes praktischen (auch des theoretischen und des explikativen) Diskurses mit einer Hypothek, dieder geschichtlich-gesellschaftlichen Situierung der Vernunft entstammt.“ (115)

Der Einbezug dieser Fragen, wenn sie denn wirklich nicht konsensfähig sein können, stellt ein

u.U. erhebliches Anwendungsproblem dar. Wo diese Problematik im Vordergrund steht, ob

etwa in A1a oder in A1b (oder auch in A2), wird von Habermas offengelassen. Noch stärker

wäre aber die Begründungsseite getroffen: Denn wenn wir in praktischen Fragen tatsächlich

nicht mehr unterstellen dürften, daß eine richtige Lösung existiert, würde die entscheidende

Unterstellung der Diskurstheorie hinfällig, nämlich daß „grundsätzlich immer ein rational

motiviertes Einverständnis müßte erzielt werden können, wobei »grundsätzlich« den

idealisierenden Vorbehalt meint: wenn die Argumentation nur offen genug geführt und lange

genug fortgesetzt werden könnte“. Aber was dann?

„Zweitens können praktische nicht in gleichem Maße wie theoretische und explikative Diskursevom Druck der gesellschaftlichen Konflikte entlastet werden. Sie sind weniger»handlungsentlastet«, weil mit strittigen Normen das Gleichgewicht intersubjektiverAnerkennungsverhältnisse berührt wird. Der Streit um Normen bleibt, auch wenn er mitdiskursiven Mitteln geführt wird, im »Kampf um Anerkennung« verwurzelt.“ (115f.)

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Inwiefern dies ein Anwendungsproblem darstellen könnte, läßt Habermas offen. Wenn

praktische Diskurse prinzipiell nicht handlungsentlastet werden können, ließe sich dieses

Faktum nur konstatieren; ein echter Diskurs unter Normbetroffenen wäre dadurch aber

unmöglich, denn stets würden auch Anteile strategischen („kämpferischen“) Verhaltens zu

erwarten sein. Der Begriff der Anerkennung schiebt dabei immerhin bestimmten Auswüchsen

den Riegel vor (etwa, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen materielle Zugeständnisse zu

erwirken).140 Eine vollständige Handlungsentlastung ist in einem Diskurs über

Handlungsnormen tatsächlich nie zu haben – aber ist dies schon die gesamte Pointe?

Wenn aber eine Handlungsentlastung im Prinzip möglich wäre, die Diskursteilnehmer sich

dazu nur nicht durchringen wollen, geht dieses Problem in das nun folgende, dritte Problem

über:

Ein weiteres, echtes Anwendungsproblem ergibt sich nämlich dann, wenn andere nicht bereit

sind, praktische Diskurse auch zu führen, oder wenn diese nicht bereit sind, sich nach

diskursiven Einsichten auch wirklich zu richten. Die Situation, reale Diskurse nicht führen zu

können, sondern sein Handeln an idealen Konsensen ausrichten zu müssen, also auf eine

zukünftige Zustimmung spekulieren zu müssen, führt in paternalistische Aporien:

„Drittens gleichen praktische Diskurse, wie alle Argumentationen, den von Überschwemmungbedrohten Inseln im Meer einer Praxis, in dem das Muster der konsensuellen Beilegung vonHandlungskonflikten keineswegs dominiert. Die Mittel der Verständigung werden durchInstrumente der Gewalt immer wieder verdrängt. So muß sich ein Handeln, das sich an ethischenGrundsätzen orientiert, mit Imperativen ins Benehmen setzen, die sich aus strategischen Zwängenergeben. Das Problem einer Verantwortungsethik, die die zeitliche Dimension berücksichtigt, istim Grundsätzlichen trivial, da sich der Diskursethik selbst die verantwortungsethischenGesichtspunkte für eine zukunftsorientierte Beurteilung der Nebenfolgen kollektiven Handelnsentnehmen lassen. Andererseits ergeben sich aus diesem Problem Fragen einer politischen Ethik,die es mit den Aporien einer auf Ziele der Emanzipation gerichteten Praxis zu tun hat und jeneThemen auf nehmen muß, die einmal in der Marxschen Revolutionstheorie ihren Ort gehabthaben.“ (116)

In dieser Passage gibt es eine interessante Doppelung, die erst im folgenden differenziert

werden wird: einerseits gibt es das Problem einer Verantwortungsethik, das eine

Berücksichtigung des strategischen Verhaltens anderer Menschen im moralischen Diskurs

selbst betrifft; andererseits gibt es das Problem einer politischen Ethik, die sich der Situation

stellen muß, daß – aus welchen Gründen auch immer – Diskurse nicht geführt werden

können.

140 Zur Problematik der Rede eines Kampfes um Anerkennung vgl. u.a. Luckner 1995.

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Bevor wir untersuchen, welche Erläuterungen Habermas für den systematischen

Zusammenhang dieser Probleme gibt, sollen die bisher erwähnten Anwendungsprobleme

noch einmal zusammengestellt werden: Zuerst die »Eingabe« kontingenter Inhalte in ein

Normenprüfungsverfahren (1), sodann die notwendige hypothetische Einstellung zu Normen

(2a) im Zuge einer Trennung von ethischen und moralischen Fragen (2b), weiterhin die

praktische Klugheit bei der Anwendung von »D« (3a) und von Normen (3b) – Habermas

unterschied hier nicht –, und schließlich die Verschränkung praktischer Diskurse mit

ästhetischer und therapeutischer Kritik (4a), die tendentiell mangelnde Handlungsentlastung

durch die Verklammerung von Normgeltung und intersubjektiver Anerkennung (4b), sowie

die Verantwortungsethik in einer gewalttätigen Welt (4c).

Nicht alle dieser Probleme sind genuine Anwendungsprobleme. Insbesondere (4a) und (4b)

reichen weiter, sie gefährden die gesamte diskursethische Konzeption. Speziell (4c) scheint

für Habermas die Konsequenz zu haben, daß eine Diskursethik ihren Bezugsbereich verliert.

Die anderen Probleme, die Anwendungsprobleme im engeren Sinne, hält Habermas

anscheinend für ausreichend gut lösbar, jedenfalls nicht für echte Beschränkungen.

Abstraktionsleistungen der Moral

Nach dieser Durchsicht von Einzelproblemen kommt Habermas noch einmal auf ihre

gemeinsame Wurzel zu sprechen, den Abstraktionsleistungen universalistischer Moralen, und

versucht so, einen vereinheitlichenden Hintergrund dieser Probleme auszumachen, den ich

zunächst einmal am Stück darstellen will:

„In dieser Art von Beschränkungen, denen praktische Diskurse stets unterliegen, bringt sich dieMacht der Geschichte gegenüber den transzendierenden Ansprüchen und Interessen der Vernunftzur Geltung. Der Skeptiker neigt freilich dazu, diese Schranken zu dramatisieren. Der Kern desProblems besteht einfach darin, daß moralische Urteile, die auf dekontextualisierte Fragendemotivierte Antworten geben, nach einem Ausgleich verlangen. Man muß sich nur dieAbstraktionsleistungen klarmachen, denen universalistische Moralen ihre Überlegenheit über allekonventionellen Moralen verdanken, dann erscheint das alte Problem des Verhältnisses vonMoralität und Sittlichkeit in einem trivialen Licht.“ (116; Herv. i. Orig.)

Im Diskurs werden Geltungsansprüche nämlich hypothetisch erwogen, und zwar beim Sein

genauso wie beim Sollen: „was bis dahin als Tatsache oder Norm fraglos gegolten hatte, kann

nun der Fall oder auch nicht der Fall, gültig oder ungültig sein.“ (117) Wie die Wissenschaft

für die deskriptiven, so habe sich auch die Moralität für die normativen Fragen als

eigenständige „Wertsphäre“ (Weber) ausdifferenziert.

„Die lebensweltliche Fusion von Gültigkeit und sozialer Geltung hat sich aufgelöst. Gleichzeitigist die Praxis des Alltags in Normen und Werte auseinandergetreten, also in den Bestandteil desPraktischen, der den Forderungen streng moralischer Rechtfertigung unterworfen werden kann,

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und in einen anderen, nicht moralisierungsfähigen Bestandteil, der die besonderen, zuindividuellen oder kollektiven Lebensweisen integrierten Wertorientierungen umfaßt.“ (118)

Gerade die (universalistische) Isolierung von Fragen der Moral gegenüber solchen des Guten

Lebens, „die einer rationalen Erörterung nur innerhalb des unproblematischen Horizonts einer

geschichtlich konkreten Lebensform oder einer individuellen Lebensführung zugänglich

sind“, bedeute also einen „Rationalitätsgewinn“, führe andererseits aber auch auf die

„Folgeprobleme einer Vermittlung von Moralität und Sittlichkeit“ (118). Antworten auf

Fragen des Guten Lebens, eingeführt quasi als Residuen des moralischen Diskurses, bleiben

hingegen der je kontingenten Sittlichkeit verhaftet:

„Innerhalb des Horizonts einer Lebenswelt entlehnen praktische Urteile sowohl die Konkretheitwie die handlungsmotivierende Kraft einer internen Verbindung mit den fraglos gültigen Ideen desguten Lebens, mit der institutionalisierten Sittlichkeit überhaupt. Keine Problematisierung kann, indiesem Umkreis, so tief reichen, daß sie die Vorzüge der existierenden Sittlichkeit verspielenwürde. Genau das tritt ein mit jenen Abstraktionsleistungen, die der moralische Gesichtspunktfordert. Deswegen spricht Kohlberg vom Übergang zur postkonventionellen Stufe des moralischenBewußtseins. Auf dieser Stufe löst sich das moralische Urteil von den lokalen Übereinkünften undder historischen Färbung einer partikularen Lebensform; es kann sich nicht länger auf die Geltungeines lebensweltlichen Kontextes berufen. Und moralische Antworten behalten nur mehr dierational motivierende Kraft von Einsichten zurück; sie verlieren mit den fraglosen Evidenzen eineslebensweltlichen Hintergrundes die Schubkraft empirisch wirksamer Motive.“ (118f.; Herv. i.Orig.)

Fragen des Guten Lebens scheinen sich also, im strikten Gegensatz zu moralischen Fragen,

stets im Horizont eines (notwendigerweise) unhinterfragten lebensweltlichen Kontextes zu

stellen. Die Antworten auf Fragen des Guten Lebens, so muß man Habermas wohl verstehen,

können zur je konkreten Sittlichkeit auch nicht in Opposition stehen. Moralische Einsichten

müssen demgegenüber erst in einen lebensweltlichen Kontext zurückgeholt werden, damit sie

praktisch wirksam werden können:

„Jede universalistische Moral muß diese Einbußen an konkreter Sittlichkeit. die sie um deskognitiven Vorteils willen zunächst in Kauf nimmt, wettmachen, um praktisch wirksam zuwerden. Universalistische Moralen sind auf Lebensformen angewiesen, die ihrerseits soweit»rationalisiert« sind, daß sie die kluge Applikation allgemeiner moralischer Einsichtenermöglichen und Motivationen für die Umsetzung von Einsichten in moralisches Handeln fördern.Allein Lebensformen, die in diesem Sinne universalistischen Moralen »entgegenkommen«,erfüllen nowendige Bedingungen dafür, daß die Abstraktionsleistungen der Dekontextualisierungund der Demotivierung auch wieder rückgängig gemacht werden können.“ (119)

Bevor wir diese Erläuterungen genauer diskutieren, sollen die von Habermas erwähnten

Anwendungsprobleme (s.o.) in den von ihm anvisierten Gesamtzusammenhang eingeordnet

werden: Wenn die eingangs bereits erwähnten „Abstraktionen“ der gemeinsame Hintergrund

für alle Anwendungsprobleme sind, müssen sie intern mit einer Dekontextualisierung oder

einer Demotivierung verbunden sein. Praktische Diskurse erfordern, gewissermaßen auf der

Eingangsseite, eine hypothetische Einstellung zu Normen (2a) – die Dekontextualisierung.

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Werte werden dabei in Normvorschläge übersetzt (2b): eine Folge der Hypothetisierung, wie

auch der Prozeduralismus (1), da ja alle Inhalte unter Geltungsvorbehalt stehen. Bei der

Anwendung von »D« und von durch »D« gerechtfertigten Normen (3a bzw. 3b) muß die

Dekontextualisierung rückgängig gemacht werden. Auch die Verschränkung praktischer

Diskurse mit ästhetischer und therapeutischer Kritik (4a) kann bei der De- oder der

Rekontextualisierung problematisch werden. Die Rekontextualisierung fordert, als Folge von

(2b), eine Vereinbarung von moralischer und ethischer Perspektive, die bei negativem

Ergebnis ein Motivationsproblem mit sich bringt. Würden moralische Diskurse keine

Demotivierung mit sich bringen, wäre weder eine mangelnde Handlungsentlastung zu

erwarten (4b) noch eine gewalttätige Welt (4c).

Eine allgemeine Betrachtung vorweg: Habermas erläutert zwar Fomalität über Abstraktheit,

‚formal‘ ist aber nicht dasselbe wie ‚abstrakt‘. Während eine formale Moraltheorie nur die

Form (und nicht die Inhalte) gültiger Normen bestimmt (eben die Rechtfertigbarkeit im

Diskurs), bestehen Abstraktionsleistungen einer solchen Theorie in einem Absehen von

bestimmten Merkmalen zugunsten von anderen. Abstraktionen können alle Inhalte zugunsten

der bloßen Form ausblenden, müssen dies aber nicht. Weiterhin ist nicht klar, wie

Dekontextualisierung und Demotivierung zusammenhängen: Ist das eine die Folge des

anderen, oder sind dies zwei Seiten derselben (welcher?) Medaille?

Dekontextualisierung und Demotivierung

Bevor wir den Zusammenhang näher untersuchen, soll anhand eines bereits 1982

entstandenen, aber erst 1984 erstveröffentlichten Vortrags (Habermas 1991c) die

Dekontextualisierung und die Demotivierung ausführlicher dargestellt werden. Dieser Vortrag

dreht sich nicht um die Begründung der Diskursethik, sondern stellt sich – anhand der auf der

Hegel-Linie von R. Bubner vorgebrachten Moralitäts-Kritik – der Frage: „was wir mit einer

solchen Position gewonnen hätten, wenn sie sich begründen ließe“ (1991c: 33). Er ist

streckenweise textidentisch mit dem soeben diskutierten Aufsatz (1983).

„Praktische Fragen, die die Orientierung im Handeln betreffen, entstehen in konkretenHandlungssituationen – und diese sind stets in den historisch geprägten Kontext einer besonderenLebenswelt eingelassen. Im Lichte streng moralischer Maßstäbe müssen sich solchelebensweltlichen Fragen verwandeln, denn unter moralischen Gesichtspunkten werdenproblematische Handlungen und Normen nicht mehr nach dem Beitrag beurteilt, den sie zurErhaltung einer bestimmten Lebensform oder zur Fortsetzung einer individuellenLebensgeschichte leisten. Sobald wir Handlungsweisen oder Normen unter dem Gesichtspunktprüfen, ob sie im Falle allgemeiner Verbreitung bzw. Befolgung die ungeteilte Zustimmung allerpotentiell Betroffenen finden würden, sehen wir zwar nicht von ihrem Kontext ab; aber dieHintergrundgewißheiten der faktisch eingewöhnten Lebensformen und Lebensentwürfe, in denendie Normen stehen und problematisch geworden sind, dürfen dann nicht mehr als ein fraglos

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gültiger Kontext vorausgesetzt werden. Die Transformation von Fragen des guten und richtigenLebens in Fragen der Gerechtigkeit setzt die Traditionsgeltung des jeweiligen lebensweltlichenKontextes außer Kraft.“ (33)

Einige Seiten später, nachdem über die Trennung von Fragen des Guten identisch wie in

(1983a: 113) gesprochen wurde, führt Habermas diesen Punkt nocheinmal klar aus.

Abstrahiert werden soll, im hypothetischen Blick, nur von der Geltung, nicht von Inhalten

(oder gar dem Kontext selber):

„Die Abstraktionsleistungen, die eine formalistische Ethik erfordert, beziehen sich also nicht aufhistorische Randbedingungen und konkrete Inhalte der regelungsbedürftigen Konflikte, sondernauf etwas ganz anderes. Der hypothetische Blick des moralisch urteilenden Subjekts bringteinzelne problematisch gewordene Handlungen und Normen, gegebenenfalls auch eine Gesamtheitlegitim geregelter interpersonaler Beziehungen, unter den Gesichtspunkt deontischer Geltung. Erschneidet diese nicht von dem Kontext der jeweiligen Lebenswelt, sondern von derselbstverständlichen Geltung, d. h. von den Evidenzen des lebensweltliches Hintergrundes ab.Dadurch verwandeln sich die zum Problem gewordenen Normen in Sachverhalte, die gültig, aberauch ungültig sein können.“ (1991c: 35)

Einzelne Normen können so von einer (partikularen und konventionellen) Geltungsbasis auf

eine (universalistische und postkonventionelle) Gültigkeitsbasis umgestellt werden. Die

Sphäre der Moralität wird dadurch von der identitätsverbürgenden, unhinterfragten Totalität

der konkreten Sittlichkeit unterscheidbar:

„So entsteht eine Differenz zwischen dem Bereich hypothetisch zugänglicher und abstrakterHandungsnormen einerseits, der Totalität der als Hintergrund fraglos präsenten Lebensweltandererseits. Intuitiv lassen sich diese Bereiche von Moralität und Sittlichkeit leicht unterscheiden:eine Lebenswelt im ganzen können wir nämlich einer moralischen Betrachtung schon deshalbnicht unterwerfen, weil vergesellschaftete Subjekte zu den Lebensformen und denLebensgeschichten, in denen sich ihre Identität gebildet hat, eine rein hypothetische Einstellungnicht einzunehmen vermögen.“ (1991c: 35).

Um die Diskussion der Abstraktionsleistungen vorzubereiten, fragen wir uns zunächst: Wie

hat man sich eine Rekontextualisierung bzw. eine Remotivierung vorzustellen? Sicher nicht

so, daß die nun diskursiv geprüften normativen Überzeugungen wieder in einen

lebenweltlichen Horizont reintegriert werden, aus dem sie genau wie vor der Prüfung ihre

handlungsleitende Kraft schöpfen. Denn dieses Modell der Reintegration würde ihren

besonderen Status wieder unsichtbar machen, kognitive Lernprozesse wieder zurücknehmen

müssen. Soweit die Dekontextualisierung die Geltung des lebensweltlichen Kontextes betrifft

(und keine Inhalte), wie Habermas ja (in der ersten Runde der Auseinandersetzung, s.o.)

explizit schreibt, wäre vor einer Rekontextualisierung also geradezu zu warnen. Diese

gefährdete den universalistischen Geltungssinn moralischer Normen.

Überhaupt läßt sich die reflexiv erzeugte Spaltung von universellen Richtigkeiten und

partikulären Identitätskernen nicht mehr zurückdrehen. Der genealogische Prozeß dieser

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- 190 - -

Ausdifferenzierung darf mit dem auch nach dieser Ausdifferenzierung weiterhin bestehenden

Abstraktionszwang nicht verwechselt werden, der mit der Einnahme des „moral point of

view“ regelmäßig verbunden ist. Zwar verbleiben für jede und jeden die

entwicklungspsychologischen Schritte hin zum Verständnis des Geltungssinns einer

universalistischen Moral zu tun (und die korrespondierenden Anwendungsprobleme, diese

Schritte zu unterstützen). Jedoch müssen die dabei gewonnenen Abstraktionen in einzelnen

Handlungskonflikten sich anders als von Habermas angegeben niederschlagen, denn einfach

rückgängig gemacht werden können und sollen sie nicht. Nach der genealogischen

Ausdifferenzierung ist nämlich nicht mehr zu sehen, wo es überhaupt „fraglose gültige Ideen“

mit der Schubkraft „empirisch wirksamer Motive“ geben kann: Zugespitzt gefragt, warum

sollten Identitäten in der Moderne konventionelle Identitäten sein? Und selbst wenn sie dies

wären, wie könnten sich Identitäten, egal ob konventionell oder postkonventionell,

unmittelbar in empirisch wirksame Motive transformieren? Es ist schwer zu sehen, was

Antworten auf ethische Fragen den Antworten auf moralische Fragen prinzipiell voraus

haben, soweit es um motivationale Schubkraft geht, denn: „Gewiß, auch die kulturellen Werte

transzendieren die faktischen Handlungsabläufe“ (1983a: 118).

Doch Habermas scheint, wenigstens perspektivisch, ohnehin ein anspruchsvolleres

Identitätskonzept auszumachen, wie wiederum der 1982er Vortrag offenlegt:

„In dem Maße, wie sich die drei Komponenten einer Lebenswelt, nämlich Kultur, Gesellschaft,Persönlichkeit, voneinander differenzieren, verstärken sich die genannten Trends, von denenniemand a priori wissen kann, wie weit sie sich fortsetzen werden. Die Fluchtpunkte, denen siezustreben, lassen sich für die Kultur durch eine Dauerrevision verflüssigter, reflexiv gewordenerTraditionen, für die Gesellschaft durch die Abhängigkeit legitimer Ordnungen von formalenVerfahren der Normsetzung und der Normbegründung, für die Persönlichkeit durch einehochabstrakte Ich-Identität kennzeichnen.“ (1991c: 45)

Dieser Äußerung kann man wohl entnehmen, daß moderne Identitäten gewöhnlich abstrakt

sind (und im Fluchtpunkt sogar hochabstrakt – wie die Moral?). Nur, wovon abstrahieren

Identitäten, wenn nicht auch von Traditionen, Kontexten usw., oder zumindest von ihrer

Geltung?

Ein weiteres Indiz für den Verlust der Unmittelbarkeit des Ethischen in der Moderne ergibt

sich aus dem Problem der Vereinbarkeit von Ethik und Moral. Sicher, eine ethische Integrität

nicht mehr aufrechterhalten zu können, hätte die offen pathologische Konsequenz eines

Identitätsverlustes. Einer solchen Konsequenz muß aber eine universalistische Moral

keineswegs neutral gegenüberstehen. So verstanden wird, falls es Konflikte gibt, bei der

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- 191 - -

Problemlösung die universalistische Moral in Führung gehen können. Häufig stellt die

moralische Integrität aber auch eine Bedingung der individuellen ethischen Integrität dar.

Ethische und moralische Fragen sind nämlich aus Habermas‘ Sicht nicht vollständig

unabhängig voneinander zu beantworten:

„Ob ein Leben gelungen oder entfremdet ist, richtet sich nicht nach den Maßstäben normativerRichtigkeit – wenngleich die intuitiven, schwer explizierbaren Maßstäbe für ein, sagen wir esbesser: nicht verfehltes Leben auch nicht völlig unabhängig voneinander variieren. …Lebensformen kristallisieren sich ebenso wie Lebensgeschichten um partikulare Identitäten. Diesedürfen, wenn das Leben nicht mißlingen soll, moralischen Forderungen, die sich nach Maßgabedes in einer Lebensform jeweils verwirklichten Grades der Rationalität ergeben, nichtwidersprechen.“ (1991c: 48)

Wenn diese Maßstäbe miteinander verknüpft sind, wenn moralischen Forderungen nicht

nachzukommen die ethische Integrität gefährdet, kann der Kontext einer Lebensform auch in

ethischen Fragen nicht unhinterfragt gelten.

Dennoch gibt es natürlich auch vormoderne, traditionale Identitäten: Während eine ethische

Identität also nicht reflektiert sein muß, sich also u.U. ethische Fragen als Fragen gar nicht

stellen, sondern immer schon beantwortet sind, ist dies für moralische Fragen nicht möglich.

Eine universalistische Moral ist eine reflektierte Moral, oder sie ist keine. Jedenfalls aber führt

die Trennung von moralischen und ethischen Fragen auf Folgeprobleme, die sich gerade aus

der Teilnehmerperspektive i.A. nicht über eine Ineinssetzung von ethischen Fragen und

traditionaler Sittlichkeit verstehen lassen.

Die Dekontextualisierung führt, so Habermas, zu einem Verlust an „Konkretheit“ (118),

nämlich „konkreter Lebensgewohnheiten“ (117) sowie der „Aktualität des

Erfahrungszusammenhangs“ (116). Vielleicht kann man den hier beschriebenen Verlust auch

als Verlust an Unmittelbarkeit bezeichnen. Gerade habe ich zu zeigen versucht, daß dieser

Verlust – ist die postkonventionelle Stufe einmal erreicht – sowohl die ethische als auch die

moralische Perspektive betrifft. Weil eine solche Abstraktion aber auch die ethischen Fragen

betreffen kann, ist sie für die moralischen Fragen noch nicht weniger problematisch. Eine

adäquate Formulierung des Problems scheint noch nicht erreicht.

Formalismus und Abstraktion

In einer darauffolgenden Publikation (1991b), die auf einem 1985 gehaltenen Vortrag basiert,

wird dieser Problembestand im Kern beibehalten, jedoch teilweise neu systematisiert. Jetzt

widmet Habermas einen eigenen Aufsatz dem Problem der Hegelschen Vorwürfe gegen

Kants Ethik, die er als Formalismus, abstrakten Universalismus, Ohnmacht des bloßen

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Sollens und als Terrorismus der reinen Gesinnung bezeichnet. Auch hier werden nicht explizit

Annwendungsprobleme gesucht, jedoch – wie schon in der Diskussion der oben dargestellten,

ebenfalls durch Hegel inspririerten Generalkritik – einige zentrale Anwendungsprobleme

herausgestellt.

1. Formalistisch sei das Moralprinzip der Diskursethik nicht in dem Sinne, daß lediglich

„logische und semantische Konsistenz“ gefordert wird (da nämlich „die Anwendung eines

substantiell gehaltvollen moralischen Gesichtspunktes“ auf vorgefundene Inhalte vorgesehen

sei; 1991b: 22, Hervh. NG). Es zeichne eine Prozedur aus, die darauf angelegt ist, moralische

von ethischen Aussagen zu trennen (was ebenfalls eine formale Bestimmung ist). Trotz dieser

„Abstraktion vom guten Leben“ muß die Moral aber nicht „ihre Zuständigkeit für die

substantiell wichtigen Probleme des täglichen Zusammenlebens“ aufgeben – man denke an

die Menschenrechte. Eine „prinzipielle Frage“ sei hingegen schon schwieriger zu

beantworten:

„ob es überhaupt möglich ist, Grundbegriffe der Diskurstheorie wie universale Gerechtigkeit,normative Richtigkeit, moralischer Gesichtspunkt usw. unabhängig von der Vision eines gutenLebens, vom intuitiven Entwurf einer ausgezeichneten, aber eben konkreten Lebensform zuformulieren.“ (1991b: 22)

Habermas schlägt hierzu „indirekte Fassungen“ des Moralprinzips vor, die sich „aller

positiven Beschreibungen enthalten und, wie z.B. der diskursethische Grundsatz, negatorisch

auf das beschädigte Leben beziehen, statt affirmativ aufs gute“.

Diese Problematik betrifft der Formulierung nach die Begründung der Diskursethik, benennt

also scheinbar kein Anwendungsproblem. Und doch: Nicht nur die Formulierung, sondern

auch die Interpretation von »D« und »U« dürfen keine konkrete Konzeption des Guten

präjudizieren. Den diskursiv zu gewinnenden Normen, oder auch nur ihrer Awendung im

konkreten Fall, stünde dies ebenfalls nicht gut zu Gesicht: Universalismus und

Unparteilichkeit wären sonst gefährdet.

Betrachten wir Habermas‘ Lösungsvorschlag, den negatorischen Bezug. Erstens ist im

„diskursethischen Grundsatz“, also in »D«, gar kein negatorischer Bezug zu sehen. Und

zweitens ist nicht zu erkennen, wie gerade im negatorischen Bezug eine Entkräftung liegen

kann: Gefordert sollte doch sein, die Grundbegriffe einer Theorie gegenüber jeder

Lebensform explizieren zu können. Wenn die Universalpragmatik richtig ist, wird dies ja

immer gelingen können, da der Übergang zu Argumentationen im kommunikativen Handeln

jeder Lebensform zumindest angelegt ist (1983a: 111 mit Verweis auf Habermas 1981) und

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- 193 - -

damit die Voraussetzungen einer gelingenden Explikation eines Defizits als Defizit gegeben

sind. Der Vorschlag eines negativen Bezugs läßt sich aber auch unabhängig von der

Universalpragmatik möglicherweise so lesen, daß die universalistische Moral die universellen

Anteile oder (stärker) die Bedingungen jeglichen Guten Lebens schützt, Anteile bzw.

Bedingungen, die sich erst im Scheitern von konkreten Lebensentwürfen zeigen, da wir über

kein apriorisches diesbezügliches Wissen verfügen (vgl. oben die Analyse der Position von

Wellmer). Die intersubjektive Struktur kommunikativen Handelns kann sich so einerseits, qua

Phänomenen des Scheiterns, als ein unverzichtbares Element in jeglichen Varianten eines

Guten Lebens herausstellen. Das könnte mit einem negatorischen Bezug gemeint sein. Um sie

als eine Bedingung auszuweisen, muß man mehr behaupten: nämlich etwa, daß sich ein

Scheitern kriterial nur fassen läßt, wo Strukturen intersubjektiver Anerkennung bereits

vorliegen (denn nur auf ihrem Hintergrund ist die Gelingensvoraussetzung der Authentizität

überhaupt erfüllbar) – d.h. daß nur dann auf ein Scheitern auch reflektiert werden kann.

2. Unter dem Stichwort des abstrakten Universalismus wird nun der Umgang mit

pluralistischen Wertvorstellungen in modernen Gesellschaften, das Problem der

Folgenorientierung und das Problem der klugen Regelanwendung (oben: 2) subsummiert. Der

Reihe nach:

„Je mehr sich in modernen Gesellschaften besondere Interessen und Wertorientierungenausdifferenzieren, um so allgemeiner und abstrakter sind eben die moralisch gerechtfertigtenNormen, die die Handlungsspielräume der Individuen im allgemeinen Interesse regeln. Inmodernen Gesellschaften wächst auch der Umfang regelungsbedürftiger Materien, die nur nochpartikulare Interessen berühren und daher auf die Aushandlung von Kompromissen, nicht aufdiskursiv erzielte Konsense angewiesen sind. Dabei sollten wir nicht vergessen, daß faireKompromisse ihrerseits moralisch gerechtfertigte Verfahren der Kompromißbildung erfordern.“(23).

Jetzt sind moralische Normen schon abstrakt und allgemein. Eine neue Kennzeichnung, die,

betrachtet man das Argument der Verfahrensgerechtigkeit, auf eine Höherstufigkeit zielen

könnte.

Die Diskussion der Folgenorientierung umfaßt nicht das Problem der nichtallgemeinen

Befolgung (oben: 4c), sondern die Tatsache, daß die Diskursethik Folgenüberlegungen in ihr

Moralprinzip eingeschrieben hat und nicht monologisch angewandt werden soll. Der dritte

Unterpunkt, das Problem der klugen Regelapplikation, wird nun folgendermaßen formuliert:

„Ethiken des Kantschen Typs sind auf Fragen der Rechtfertigung spezialisiert; Fragen derAnwendung lassen sie unbeantwortet. Es bedarf einer zusätzlichen Anstrengung, um die imBegründungsprozeß zunächst unvermeidliche Abstraktion von jeweils besonderen Situationen undeinzelnen Fällen wieder rückgängig zu machen. Keine Norm enthält die Regeln ihrer eigenenAnwendung. Moralische Begründungen helfen nichts, wenn nicht die Dekontextualisierung der

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zur Begründung herangezogenen allgemeinen Normen im Anwendungsprozeß wiederwettgemacht werden kann.“ (24)

Habermas fokussiert (auch im Folgenden) nur noch auf die Anwendung von „Normen auf

besondere Fälle“, also nicht mehr auf die Anwendung des diskursethischen Grundsatzes.

Wichtiger noch erscheint mir, daß die Dekontextualisierung nun zur Begründung allgemeiner

Normen eine Abstraktion von jeweils besonderen Situationen und einzelnen Fällen erfordert.

Also doch von Inhalten? Damit die Anwendung nicht „an die lokalen Übereinkünfte der

hermeneutischen Ausgangssituation gebunden ist und somit den universalistischen Anspruch

der begründenden Vernunft unterläuft“ (24), beharrt die Diskursethik darauf,

„daß wir hinter das von Kant erreichte Niveau der Ausdifferenzierung derBegründungsproblematik von der Problematik sowohl der Anwendung wie der Verwirklichungmoralischer Einsichten nicht zurückfallen dürfen. Sie kann zeigen, daß sich auch in der klugenAnwendung von Normen allgemeine Grundsätze der praktischen Vernunft durchsetzen. In dieserDimension sind es ganz unverächtliche Topoi, z.B. die von der juristischen Topik entwickeltenGrundsätze der Beachtung aller relevanten Aspekte eines Falles oder der Verhältnismäßigkeit derMittel, welche dem moralischen Gesichtspunkt einer unparteilichen Applikation Geltungverschaffen.“ (24; Herv. i. Orig.)

In dieser Passage findet sich zuerst einmal eine nähere Erläuterung zum Problem der

Normapplikation (oben: 3a). Dies ist vor dem Hintergrund zu lesen, daß ja von einzelnen

Fällen bei der Normbegründung zu abstrahieren sei; Habermas spätere Position deutet sich

hier bereits an. Was die Verhältnismäßigkeit der Mittel angeht, liegt der Fall anders:

Unverhältnismäßige Forderungen stellt eine diskursiv gerechtfertigte Moral von Hause aus

nicht, denn alle derartigen Überlegungen können und müssen im Diskurs bereits zur Sprache

kommen. Der moralisch legitime Einsatz von Mitteln kann genausogut wie gebotene Ziele im

praktischen Diskurs thematisiert und unter Normen gestellt werden. Ich sehe nicht, was

gerade die unparteiliche Applikation hier Besonderes beizutragen hätte. Soweit aber

moralstrategisches Handeln gemeint ist, also etwa die Herstellung der Bedingungen bzw. die

Einrichtung realer Diskurse, wird dieser Punkt unter der übernächsten Überschrift

weitergeführt.

3. Die Ohnmacht des Sollens trifft eine Ethik nur, wenn sie – wie bei Kant – „Pflicht und

Neigung, Vernunft und Sinnlichkeit kategorial trennt“, da sie dann nämlich „folgenlos bleibt“

(25).

„Nicht in derselben Weise wird von diesem Einwand eine Diskursethik getroffen, die die Zwei-Reiche-Lehre preisgegeben hat. Der praktische Diskurs erfordert die Einbeziehung aller jeweilsberührten Interessen und erstreckt sich sogar auf eine kritische Prüfung der Interpretationen, unterdenen wir bestimmte Bedürfnisse als eigene Interessen allererst erkennen.“ (25)

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Autonomie, die „Freiheit unter selbstgegebenen Gesetzen“, werde in der Diskursethik nicht

als „objektivierende Unterwerfung der eigenen Natur“ verstanden und trägt zudem „der

Tatsache Rechnung, daß die freie Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden von der

Realisierung der Freiheit aller Personen abhängt“ (25). Soweit meint Habermas, den

Hegelschen Bedenken problemlos entgegenkommen zu können.

„In anderer Hinsicht behält Hegel freilich auch gegenüber der Diskursethik recht. Auch impraktischen Diskurs lösen wir die problematischen Handlungen und Normen aus lebensweltlichenZusammenhängen substantieller Sittlichkeit heraus, um sie ohne Rücksicht auf vorhandene Motiveoder bestehende Institutionen einer hypothetischen Beurteilung zu unterwerfen. Auch dieDiskursethik muß sich dem Problem stellen, wie dieser für die Begründungsleistungunvermeidliche Schritt zur Entweltlichung der Normen rückgängig gemacht werden kann.Moralische Einsichten müßten für die Praxis in der Tat folgenlos bleiben, wenn sie sich nicht aufdie Schubkraft von Motiven und auf die anerkannte soziale Geltung von Institutionen stützenkönnten. Sie müssen, wie Hegel sagt, in die konkreten Pflichten des Alltags umgesetzt werden.“(25)

In diesem Punkt wird nun erläutert, wie sich Habermas die universalistischen Abstraktionen

genauer vorstellt, die (im vorigen Punkt) bereits die Notwendigkeit der „klugen

Regelapplikation“ nach sich gezogen hatten. Betrachten wir die Textstelle genauer: Wird hier

etwa eine gänzliche Abstraktion von Motiven vorgeschlagen? Dies scheint plausibel dadurch,

daß Normen semantisch zwar Sollsätze, aber keine Wollenssätze darstellen. Freilich können,

ja müssen vorliegende Handlungsmotive schon in Rechtsnormen differenzierend

berücksichtigt werden: Etwa bei der Unterscheidung von Mord und Totschlag, dem

„Verbotsirrtum“ u.ä. Abstrahiert werden soll mithin nur von den Motiven der

Normbefolgung? Jedoch wurde bereits eingangs festgehalten, daß eine solche Abstraktion nur

im Recht möglich ist, nicht in der Moral. Denn in letzterer muß ja – zumindest in der

deontologischen Tradition – pflichtgemäßes Handeln vom Handeln aus Pflicht unterschieden

werden können. Sollte ein Handeln aus Pflicht nicht auch ein Motiv darstellen können, wäre

es um die Überzeugungskraft einer deontologischen Ethik wahrlich schlecht bestellt. Nun hat

Habermas aber gerade keine Zwei-Reiche-Lehre instituiert, sondern richtige Normen auf als

eigene Interessen erkannte Bedürfnisse bezogen (s.o.) – warum fehlt der resultierenden Norm

dann die motivationale Schubkraft? Sicher nicht deshalb, weil moralische Einsichten in die

konkreten Pflichten des Alltags umgesetzt werden müssen, denn so formuliert scheint es sich

eher um ein kognitives als um ein volitives Problem zu handeln. Die motivationale Schubkraft

ist dabei, so gesehen, entweder immer schon vorhanden, oder bleibt auch der „konkreten

Pflicht“ fremd. Auch die „hypothetische Beurteilung“ ändert hieran nichts, denn obschon ich

angesichts eines Handlungskonflikts in einen praktischen Diskurs eintrete und so meine

Handlungsmotive zur Disposition stelle, werde ich doch versuchen, sie auf gerechtfertige

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Interessen und Bedürfnisse rückzubeziehen; verloren geht die motivationale Kraft auch

dadurch nicht.

Habermas scheint insgesamt die enge Verbindung von Motiven und Begründungen zu

unterschätzen. Soweit sich eine Handlung überhaupt als Handlung, und nicht als bloße

Tätigkeit ansprechen läßt, muß sie ja als intentionale Tätigkeit verstanden werden. Die

eigenen Intentionen durchgängig kausal zu rechtfertigen, hieße aber, sich als vollständig

fremdbestimmt zu verstehen. Einzig der Verweis auf Gründe, nicht auf Ursachen, beschädigt

nicht von vornherein die Autonomie des Handelnden. Wer also überhaupt versucht, sein

Handeln als Handeln zu bestimmen, ist auf Gründe angewiesen – und kann damit moralische

Gründe nicht deshalb ignorieren, weil es (nur) Gründe sind.141

Wie steht es andererseits um die Abstraktion von „bestehenden Institutionen“? Auch hier ist

zunächst einmal das naheliegende Mißverständnis auszuschließen, Normen bräuchten auf das

Bestehen von Institutionen keine Rücksicht zu nehmen. Es gibt jedoch, anders als für Motive,

keine interne Verbindung von gerechtfertigten Normen und Institutionen derart, daß in

Handlungskonflikten stets eine bestimmte Institution fraglich werden müßte (wohl aber ein

bestimmtes Motiv). Gerade in der Moderne bestimmen ja nicht Institutionen, sondern

individuelle Motive das Handeln (und damit auch die Handlungskonflikte) der Aktoren.

Das Wiedereinbettungsproblem stellt sich für Institutionen daher etwas anders als für Motive.

Institutionen stellen ja – so ein Interpretationsvorschlag zum Verständnis dieser Passage –

mögliche Ziele bereit (vgl. Hubig 1982), insofern ist ihre empirische Anerkennung mit

Motiven (wirklichen Zielen) eng verknüpft. Während über die eigenen Motive rein individuell

disponiert werden kann, betrifft die „anerkannte soziale Geltung von Institutionen“ immer

mehrere Individuen. Die „motivationale Schubkraft“ kann in einem individuellen Akt

bereitgestellt werden, Institutionen können so aber nicht in Geltung gesetzt werden.

Institutionen können immerhin ein Problem wenigstens ansatzweise lösen helfen: Das der

mangelnden Konkretheit moralischer Aufforderungen. In Institutionen können nämlich,

offenbarer jedenfalls als in motivationalen Prozessen, erfolgreiche Übersetzungskompetenzen

von allgemeinen Regeln in konkrete Handlungsanweisungen präsent sein. Institutionen

141 Bereits die alltägliche Rede vom Motiv trägt dem Rechnung: Wenn wir etwa darüber spekulieren, ob jemandder Täter ist, heißt es oft: Es fehlt das Motiv. Gesucht wird dann keine Ursache, sondern ein passender Grund füreine Tat. Wenn wir etwa meinen, unterstellen zu dürfen, die fragliche Person sei am eigenen materiellen Vorteilinteressiert, stellt ein mit der Tat voraussehbar eintretender entsprechender Vorteil ein mögliches Tatmotiv dar.

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können also, sei es durch explizite Bereitstellung von Wissen, von Methoden oder von

Verfahren, das Bezugsproblem von Normen auf Fälle entschärfen.

Habermas setzt jedoch in einer Weise fort, die eine Problemverschiebung vermuten läßt:

„Soviel also ist richtig: jede universalistische Moral ist auf entgegenkommende Lebensformenangewiesen. Sie bedarf einer gewissen Übereinstimmung mit Sozialisations- undErziehungspraktiken, welche in den Heranwachsenden stark internalisierte Gewissenskontrollenanlegen und verhältnismäßig abstrakte Ich-Identitäten fördern. Eine universalistische Moral bedarfauch einer gewissen Übereinstimmung mit solchen politischen und gesellschaftlichenInstitutionen, in denen postkonventionelle Rechts- und Moralvorstellungen bereits verkörpertsind.“ (25)

Diese Stelle scheint sich nämlich eher auf das motivationale Problem zu beziehen, überhaupt

moralisch zu sein, und nicht auf eine mangelnde Konkretheit. Dies ist aber ein

Begründungsproblem. Interessant ist Habermas‘ Bemerkung über den Charakter der

Identitäten – sie müssen jetzt mindestens „verhältnismäßig abstrakt“ sein (und im Fluchtpunkt

wahrscheinlich weiterhin „hochabstrakt“), wo sie doch anfangs (s.o.) den Hort des Konkreten

und Unmittelbaren einer Lebensform darstellten.

Auch was die Institutionen angeht, wechselt Habermas im Laufe seiner Erläuterungen zur

Frage nach der Ohnmacht des Sollens überhaupt. Hier sieht er uns in einer günstigen

Situation:

„Heute leben wir glücklicherweise in westlichen Gesellschaften, in denen sich seit zwei bis dreiJahrhunderten ein zwar fallibler, immer wieder fehlgeschlagener und zurückgeworfener,gleichwohl aber gerichteter Prozeß der Verwirklichung von Grundrechten, der Prozeß einer, sagenwir: immer weniger selektiven Ausschöpfung der universalistischen Gehalte vonGrundrechtsnormen durchgesetzt hat. Ohne solch Zeugnisse einer in Fragmenten und Splitternimmerhin »existierenden Vernunft« hätten sich die moralischen Intuitionen, die die Diskursethikbloß auf den Begriff bringt, jedenfalls nicht in ganzer Breite ausbilden können.“ (26)

Die wesentlichen Fortschritte seit der ‚Initialzündung‘ der Moderne, d.h. seit Kant und

Rousseau, sieht Habermas hier offenbar in der Anwendungsdimension. Sie verdanken sich „in

erster Linie den Anstrengungen sozialer und politischer Bewegungen“, und nicht etwa

Philosophen, muß man wohl hinzufügen. Dieser im Ganzen empirisch-historischen These

wird eine problematische Behauptung unterlegt: Daß die Diskursethik moralische Intuitionen

bloß auf den Begriff brächte. Inwiefern kann dies so sein? Als formale Theorie bringt sie

selbst keine besonderen Inhalte auf den Begriff, wohl aber den ‚moral point of view‘ als

solchen. Bezüglich der moralischen Inhalte wird also kein intuitionistisches

Wahrheitskriterium vertreten, hier bleibt die Zustimmung im Diskurs entscheidend. So

scheint hier die Gültigkeit der Diskursethik als Ganze an das Vorliegen moralischer

Intuitionen geknüpft zu werden. Gravierender noch das Wörtchen ‚bloß‘: Soll dieses

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- 198 - -

ausdrücken, die moralischen Intuitionen könnten durch das Auf-den-Begriff-bringen, d.h.

durch philosophische Reflexion, keinesfalls verändert werden? So könnte ja auch eine andere,

ähnlich radikale Behauptung aus dem programmatischen Text von 1983 verstanden werden:

„Die moralischen Alltagsintuitionen bedürfen der Aufklärung durch den Philosophen nicht.“

(1983a: 108; Hervorh. i. O.). Wenn man jedoch berücksichtigt, daß diese Bemerkung gegen

das Letzbegründungspathos der Transzendentalpragmatik gerichtet ist, gegen die „präsumtive

Relevanz für die Lebenswelt“ einer philosophischen Begründung normativer

Geltungsansprüche, scheint Habermas‘ Bemerkung wiederum nur auf den Status moralischer

Überzeugungen als solcher gerichtet zu sein, nicht auf konkrete Inhalte. Moralische

Intuitionen werden aus Habermas‘ Sicht (heute und in westlichen Gesellschaften jedenfalls)

„im Sozialisationsprozeß naturwüchsig erworben“ – und damit unabhängig von

philosophischen Begründungen. Vielleicht wird damit die Verklammerung wenigstens der

universalistischen Intuitionen mit entsprechenden Begründungen, sicher aber der

Fortentwicklung von Intuitionen über Begründungen, unterschätzt (man denke an Kohlbergs

Stufenschema).

4. Die Problematik des Terrorismus der reinen Gesinnung führt Habermas als Tugend und der

Weltlauf aus: Einerseits entgeht die Diskursethik dem Vorwurf, totalitäre Handlungsweisen zu

rechtfertigen, und rechnet gerade nicht mit dem besseren Wissen einer Avantgarde, sondern

allenfalls mit der „höherstufigen Intersubjektivität von Öffentlichkeiten, in denen sich

Kommunikationen zu gesamtgesellschaftlichen Selbstverständigungsprozessen verdichten“

(26f.). Das ist natürlich sehr restriktiv formuliert – wenn nämlich die Voraussetzungen der

Entfaltung dieser Öffentlichkeiten nicht gegeben ist, ergibt sich ein im Rahmen der

Moralphilosophie unüberwindliches Problem. Das „Problem des Gefälles zwischen Urteil und

Handeln, das sich (im Computer-Jargon) an dessen Ausgabe-Seite stellt, wiederholt sich an

dessen Eingabe-Seite:

Vom Diskurs selbst können die Bedingungen nicht erfüllt werden, die notwendig sind, damit allejeweils Betroffenen für eine regelrechte Teilnahme an praktischen Diskursen instandgesetztwerden. Oft fehlen Institutionen, die für bestimmte Themen an bestimmten Orten eine diskursiveWillensbildung sozial erwartbar machen; oft fehlen die Sozialisationsprozesse, in denen dieerforderlichen Dispositionen und Fähigkeiten zur Teilnahme an moralischen Argumentationenerworben werden – beispielsweise das, was Kohlberg ein postkonventionelles moralischesBewußtsein nennt. Noch häufiger sind die materiellen Lebensverhältnisse und diegesellschaftlichen Strukturen so beschaffen, daß die moralischen Fragen vor aller Augen liegenund durch die nackten Fakten der Verelendung, Beleidigung und Entwürdigung eine hinreichendeAntwort längst gefunden haben. Überall dort, wo die bestehenden Verhältnisse für Forderungeneiner universalistischen Moral der pure Hohn sind, verwandeln sich moralische Fragen in Fragender politischen Ethik.“ (27)

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Was meint Habermas damit, daß sich angesichts dieser Problematik ein „Gefälle zwischen

Urteil und Handeln“ auftut? Es ist doch nicht dasselbe Gefälle zwischen Urteil und Handeln,

wenn einmal das Urteil gut begründet vorliegt (wie an der Ausgabe-Seite) und wenn

andererseits das Urteil erst gar nicht gefällt werden kann (wenn es nämlich an der Eingabe-

Seite klemmt). Einmal geht es um Diskurs-Ergebnisse, das andere Mal um den Diskurs selbst;

Von daher sind die Probleme „auf der Eingabe-Seite“ radikalerer Art. Doch Parallelen

bestehen natürlich: Für das Problem fehlender Institutionen, d.h. Teil (b) der „Ohnmacht des

bloßen Sollens“, erwähnt er das Pendant. Der schlichte Fall des fehlenden guten Willens der

potentiellen Moraladressaten, dem derjenige der potentiellen Moralautoren korrespondieren

würde, d.h. Teil (a) der „Ohnmacht des bloßen Sollens“, wird von Habermas hingegen nicht

erwähnt. In den folgenden zwei Punkten geht er über die Problematiken der Ausgangs-Seite

hinaus: eine entsprechende Sozialisation zum moralischen Handeln – als Voraussetzung des

guten Willens – und insbesondere die materiellen Verhältnisse als solche sind es, die lt.

Habermas Diskurse unmöglich machen sollen. Dies ist streng genommen inkompatibel zu

seiner weiteren Behauptung, moralische Fragen, seien im letzten Fall schon beantwortet.

Wären sie es, brauchten sie sich auch nicht in andere Fragen zu verwandeln. Wozu könnte

überhaupt eine „politische Ethik“ in Opposition stehen, vielleicht zu einer »moralischen

Ethik«? Verfolgen wir zunächst, was Habermas sich darunter vorstellt; er verweist zur

Erläuterung dessen, was diese politische Ethik erfordere, auf eine Passage aus der Einleitung

zur Neuausgabe zu „Theorie und Praxis“ von 1971, nach der strategisches Handeln in

objektivierender Einstellung gegenüber den Betroffenen nur insoweit gerechtfertigt werden

kann, als es auf eine zukünftige Zustimmung (unter geeigneten Bedingungen) seitens der

Betroffenen abzielt und sich – dies gegen den orthodoxen Marxismus – der Zustimmung der

je diskursbereiten Diskursfähigen versichert. In der Diktion der frühen siebziger Jahre klingt

das so:

„Die Gruppen, die sich als theoretisch aufgeklärt verstehen (und die Marx seinerzeit als dieAvantgarde der Kommunisten bzw. der Partei identifiziert hat), müssen im Hinblick auf denGegner jeweils zwischen Strategien der Aufklärung und des Kampfes, also zwischen Beibehaltungund Abbruch der Kommunikation wählen. Selbst der Kampf, strategisches Handeln im engerenSinne, soll freilich an Diskurse innerhalb der Avantgarde und ihrer Zielgruppen rückgekoppeltbleiben. In diese praktischen Diskurse, die unmittelbar die Organisation des Handelns und nichtder Aufklärung dienen, kann natürlich der durch Kommunikationsabbruch ausgeschlosseneGegner (auch der potentielle Bundesgenosse) nur virtuell einbezogen werden.“ (Habermas 1971:43 - Einleitung zur Neuausgabe. Hervorh. NG)

Für Habermas scheint also die Frage der Wahl zwischen verschiedenen Strategien bzw.

zwischen strategischem und verständigungsorientiertem Handeln keine moralische Frage zu

sein. Eine Praxis moralisch zu rechtfertigen, die „auf die Realisierung notwendiger

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Bedingungen für ein menschenwürdiges Dasein und die Einrichtung von Diskursen abzielt“

(1991b: 27), wird dann unmöglich. Der Grund scheint zu sein: strategisches Handeln möchte

Habermas nicht moralisch nennen, selbst wenn es die Bedingungen der Moralität herstellt

und durch einen Konsens unter den schon Diskursfähigen qualifiziert ist. Die Ethik zerfällt

dadurch in einen politischen und einen moralischen Teil; und da jede Einrichtung von

Diskursen eine Entscheidung zwischen strategischem und verständigungsorientiertem

Handeln voraussetzt, läßt sich die politisch-ethische Komponente in der Realität nie völlig

vernachlässigen.

Probleme „an der Ausgangs-Seite“ von Diskursen werden von Habermas im folgenden unter

dem Stichwort der „Zumutbarkeit“ von Diskursergebnissen weiter ausgeführt (s.u.). Die Frage

nach der Möglichkeit von realen Diskursen, die man auch die Frage der Zumutbarkeit dieser

Diskursen selbst nenne könnte, und nach der Ermöglichung dieser Diskurse wird in der Apel-

Linie weiter diskutiert und von P. Ulrich schließlich erfolgreich in den Bereich moralischen

Deliberierens zurückgeholt.

Ich will als Zusammenfassung einmal tabellarisch den Ergebnissen des obigen Abschnittes

gegenüberstellen, wie in diesem Abschnitt die in Auseinandersetzung mit Hegels Kant-Kritik

gewonnenen Anwendungsprobleme konzipiert wurden:

Runden 1983

1 Eingabe vorgefundener Inhalte

2 (a) Hypothetische Einstellung zu Normen, spez.

(b) im Zuge der Trennung ethischer und moralischer Fragen

3 (a) Praktische Klugheit bei der Prinzipien- bzw.

(b) bei der Normenanwendung

4 (a) Verschränkung praktischer Fragen mit ästhetischer und therapeutischer Kritik

(b) Mangelnde Handlungsentlastung wg. Verklammerung von Norm und Anerkennung

(c) Politische Ethik in gewalttätiger Welt

Gemeinsamer Hintergrund dieser Probleme ist die Abstraktion von Kontexten (des Guten) und Motiven.

Tabelle 5

Mögliche Generalkritik an der Diskursethik trotz gelungener Begründung; nach Habermas (1983)

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- 201 - -

Bezeichnung 1986

Formalismus (a) Eingabe vorgefundener Inhalte

(b) Abtrennung von Fragen des Guten Lebens

(c) Unabhängigkeit der Grundbegriffe von konkreten Konzeptionen des Guten

Abstrakter Universalismus (a) Umgang mit Pluralismus

(b) Folgenberücksichtigung im dialogischen Moralprinzip

(c) Kluge Normenapplikation

Ohnmacht des bloßen Sollens Rücknahme der Abstraktion von (a) vorhandenen Motiven und

(b) vorhandenen Institutionen

Terrorismus der reinen

Gesinnung

Oft fehlen Voraussetzungen, die vom Diskurs nicht hergestellt werden können

und die eine politische Ethik erforderlich machen, d.h.:

(a) Institutionen, die Diskurse erwartbar machen,

(b) Sozialisationsprozesse, die Diskurs-Kompetenzen vermitteln,

(c) materielle Lebensverhältnisse und gesellschaftliche Strukturen für ein

halbwegs würdevolles Leben, was Diskurse überflüssig macht.

Tabelle 6

Hegels Kantkritik, soweit sie auch die Diskursethik trifft; nach Habermas (1991b). Vgl. auch Tabelle 5.

Im Vergleich der beiden Konzeptionen (Tabelle 5 und Tabelle 6) erkennt man zwar eine

Neuorganisation, aber keine substantielle Veränderung der Problemwahrnehmung. Die

Abstraktion von Kontexten und Motiven ist nun nicht mehr Hintergrund aller anderen

Probleme, sondern Teil der Liste. Der zweite Punkt von 1983a ist in das Formalismus-

Problem eingearbeitet, der Punkt (4c) weiter aufgefächert und von der Ebene der bloßen

Moral-Verweigerung auf die der Voraussetzungen von Moralität gehoben. In den Hintergrund

getreten sind die Klugheit bei der Anwendung des diskursethischen Grundsatzes bzw. dem

Moralprinzip (2a) und die mögliche interne Verbindung der Geltungsansprüche (4a). Neu

hinzugekommen sind die Unabhängigkeit der Begrifflichkeit von konkreten Konzeptionen des

Guten, der Umgang mit dem Pluralismus (etwa in fairen Verhandlungen), die

Folgenberücksichtigung im Dialog und die Rücknahme von institutionellen Abstraktionen.

Es werden nun zunächst noch die in den darauffolgenden Jahren vorgenommenen Revisionen

dargestellt. Erst dann wird die Habermassche Sicht auf Anwendungsprobleme der

Diskursethik systematisch erörtert.

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Spätphase (90er Jahre): Kontextgebundene Diskurse

Bereits Ende der achtziger Jahre nimmt Habermas einige Revisionen seiner Diskurstheorie

vor. In der 1988 in Berkeley gehaltenen Howison-Lecture, 1991 in deutscher Sprache

veröffentlicht unter dem Titel „Zum pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der

praktischen Vernunft“, werden erstmals auch pragmatische und ethische Fragen als

diskursfähig bezeichnet. Pragmatische Fragen führen auf ein „relatives Sollen“ (Habermas

1991d: 102):

„es geht um ein rationale Wahl der Mittel bei gegebenen Zwecken oder um die rationaleAbwägung der Ziele bei bestehenden Präferenzen. Unser Wille ist faktisch durch Wünsche undWerte schon festgelegt; für weitere Bestimmungen offen ist er nur noch im Hinblick aufAlternativen der Mittelwahl bzw- der Zielsetzung.“

Diskurse über pragmatische Fragen sind Diskurse über eine optimale Zweck- oder

Praferenzrealisierung: „es geht allein um geeignete Techniken“ (102); pragmatische Fragen

können (wie technische Fragen auch) eindeutig beantwortet: „Technische oder strategische

Empfehlungen entlehnen ihre Gültigkeit letztlich dem empirischen Wissen, auf das sie sich

stützen.“ (111). Eingangs wurde bereits dafür argumentiert, daß dies eine krasse Verkürzung

darstellt: Die Eignung von Mitteln, und erst recht ihre Empfehlung, bemißt sich auch an ihrem

Verhältnis zu Werten und Normen. Habermas verkürzt die Reflexion darauf, ob bestimmte

Mittel hinreichend für einen bestimmten Zweck sind, d.h. er vernachlässigt hier, daß es in der

Regel auch andere Mittel gibt, die den gegebenen Zweck mehr oder weniger gut erreichen,

und daß es in der Regel auch weitere Auswirkungen hat, dieses Mittel zu mobilisieren

(Nebenfolgen).

Leider werden die vier von Habermas im gerade angeführten Zitat angeführten Begriffe nicht

klar geschieden: Zwecke, Präferenzen, Wünsche und Werte – wie verhalten sich diese

zueinander? Über eine diesbezügliche Klärung, die auch ein ausreichend komplexes

Handlungsmodell erforderlich machen würde, ließe sich vielleicht in der Charakterisierung

pragmatischer Diskurse weiterkommen.

Werte kennzeichnen (nach gewöhnlichem Sprachgebrauch) jedenfalls die tiefste Schicht

dieser vier Relata pragmatischer Fragen. Deshalb ist es wohl kein Zufall, daß Habermas den

Übergang zu ethischen Fragen gerade dadurch bezeichnet, daß „die Werte selber

problematisch werden“ (103). Habermas ordnet ethischen Fragen nämlich weiterhin die

fundamentale Ebene der „je eigenen Identität“, „existentieller Entscheidungen“, „gravierender

Wertentscheidungen“ (103) zu. Allenfalls noch die Entscheidung über „»starke« Präferenzen“

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- 203 - -

(mit Verweis auf Ch. Taylor), später auch: starke Wertungen (112), kann auf dieselbe Stufe

gestellt werden.

Kontextgebundenheit ethischer Diskurse

Habermas‘ Erläuterungsversuch dessen, was in ethischen Diskursen geschehen könnte,

beginnt mit einer Beschreibung des Prozesses des „aneignenden Verstehens“ der „eigenen

Lebensgeschichte wie auch der Traditionen und Lebenszusammenhänge, die den eigenen

Bildungsprozeß bestimmt haben“ (104, Verweis auf H.-G. Gadamer) im Kontrast zum

eigenen Ich-Ideal. Hierbei können hartnäckige Illusionen“ aufgelöst werden – wie aber

„starke Wertungen auf dem Wege hermeneutischer Selbstverständigung begründet werden“

können, bleibt vorerst unklar, weil der Begründungsbegriff an dieser Stelle (noch) nicht

ausgeführt ist. Dies geschieht erst einige Seiten später, wo Habermas erläutert, warum

Begründungen in „ethisch-existentiellen“ Diskursen „ein rationales Motiv für den Wechsel

von Einstellungen bilden“ (111):

„In solchen Selbstverständigungsprozessen überschneiden sich die Rollen von Diskursteilnehmerund Aktor. Wer sich über sein Leben im ganzen Klarheit verschaffen, gravierendeWertentscheidungen begründen und sich seiner Identität vergewissern will, kann sich im ethisch-existentiellen Diskurs nicht vertreten lassen – weder als Bezugsperson noch alsBewährungsinstanz. Von einem Diskurs ist gleichwohl die Rede, weil auch hier dieAgumentationsschritte nicht idiosynkratisch sein dürfen, sondern intersubjektiv nachvollziehbarbleiben müssen. Reflexiven Abstand gewinnt der Einzelne zur eigenen Lebensgeschichte nur imHorizont von Lebensformen, die er mit anderen teilt und die ihrerseits den Kontext für jeweilsverschiedene Lebensentwürfe bilden. Die Angehörigen der gemeinsamen Lebenswelt sindpotentielle Teilnehmer, die in Prozessen der Selbstverständigung die katalysatorische Rolle desunbeteiligten Kritikers übernehmen. Diese kann zur therapeutischen Rolle eines Analytikersausdifferenziert werden, sobald verallgemeinerbares klinisches Wissen ins Spiel kommt. Freilichbildet sich dieses klinische Wissen selbst erst in solchen Diskursen.“ (111)

Wir sind hier an der Art der Kontextabhängigkeit ethischer Fragen interessiert. Insgesamt

haben wir drei Kernbegriffe, die wir gegeneinander positionieren müssen: Lebensentwurf,

Lebensform und Lebenswelt. Lebensformen umspannen verschiedene Lebensgeschichten und

Lebensentwürfe, soviel scheint gewiß. Lebensformen bilden einerseits den Horizont (im

Singular) zur Reflexion der je eigenen Lebensgeschichte, andererseits aber auch, so scheint

es, den Kontext (im Singular) für Lebensentwürfe (im Plural). Wie ist das angeführte Zitat

weiter zu verstehen – nimmt ein Individuum in der Regel an verschiedenen Lebensformen

teil? Oder ist ein Individuum immer nur Teil einer bestimmten Lebensform? Letzteres halte

ich für die plausibelste Interpretation. Denn an anderer Stelle war vom „unproblematischen

Horizont einer geschichtlichen Lebensform“ die Rede, innerhalb dessen ethische Fragen nur

zugänglich seien (1983a: 118). Das Verhältnis von Lebensform und Lebenswelt ist weniger

klar; sind in einer Lebenswelt verschiedene Lebensformen vorfindlich? Liegen u.U. gar

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verschiedene Lebenswelten separat, so daß es neben Angehörigen der (eigenen) Lebenswelt

auch Individuen gibt, die an bestimmten ethischen Diskursen vielleicht nicht teilnehmen

sollten oder könnten? Zwei Varianten sind vorstellbar: Erstens, ein Begriff wird dem anderen

übergeordnet; also umspannt entweder eine Lebensform verschiedene, nur teilweise

deckungsgleiche Lebenswelten, oder eine Lebenswelt bietet Raum für verschiedene

Lebensformen. Eine Lebensform wäre, wenn übergeordnet, vielleicht eher biologistisch, also

objektiv konnotiert, bzw. wenn untergeordnet, vielleicht eher kulturalistisch zu verstehen. Die

‚Lebenswelt‘ ist jedoch eher ein Begriff des subjektiven oder intersubjektiven Erlebens,

bezeichnet einen Phänomenbereich. Zweitens könnte man daher beide Begriffe auch intern

verbinden, etwa indem man sagt: eine gemeinsame Lebenswelt wird konstituiert durch eine

gemeinsame Lebensform.

Die gewisse Partikularität, die in diesen Kernbegriffen mitschwingt, scheint Habermas

vormals von einer Klassifizierung ethischer Fragen als diskursfähig abgehalten zu haben. In

der Konzeption von 1981 findet sich die evaluative Angemessenheit als nicht in Diskursen

einlösbarer Geltungsanspruch: In evaluativen Äußerungen erhebt man, so Habermas (1981:

66ff.) den „Anspruch auf Angemessenheit der Anwendung von Wertstandards“. Eine

eventuelle Unangemessenheit ist in „ästhetischer Kritik“ zu beheben. Von »Kritik« (und nicht

von »Diskurs«) ist hier deshalb zu sprechen, weil keine universellen Geltungsansprüche zur

Diskussion stehen:

„Kulturelle Werte gelten nicht als universal; sie sind, wie der Name sagt, auf den Horizont derLebenswelt einer bestimmten Kultur eingegrenzt. Werte können auch nur im Kontext einerbesonderen Lebensform plausibel gemacht werden. Daher setzt die Kritik von Wertstandards eingemeinsames Vorverständnis der Argumentationsteilnehmer voraus, das nicht zur Dispositionsteht, sondern den Bereich der thematisierten Geltungsansprüche zugleich konstituiert undbegrenzt.” (1981: 71)

Was diese Kritik zu einer „ästhetischen“ machen soll, wird im Text nicht weiter erläutert.

Vielleicht, daß sie die Dimension der Angemessenheit betrifft. Ich will diese Art der Kritik im

Folgenden als „ethische Kritik” bezeichnen. Diese Form der Kritik muß von der

„therapeutischen Kritik” an mangelnder Wahrhaftigkeit unterschieden werden.

Therapeutische Kritik war vor 1988 kein Diskurs, da die Rolle der Teilnehmenden nicht mehr

symmetrisch ist. Nun umfassen ethische Diskurse sowohl ethische Kritik als auch (dort

nämlich, wo es hartnäckige Selbsttäuschungen zu beheben gilt) therapeutische Kritik –

entsprechend der „katalysatorischen Rolle des unbeteiligten Kritikers“ bzw. der

„therapeutischen Rolle des Analytikers“.

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- 205 - -

Wenn dies damals so war, was hat sich dann in Habermas‘ Einschätzung verändert? Wird der

Diskursbegriff abgeschwächt, oder wird der ethische Phänomenbereich anders beschrieben

und so „diskursfähig“?

Beginnen wir mit der Suche nach Veränderungen in der Phänomenbeschreibung. Ethische

Kritik war vor 1988 kein Diskurs, da die fraglichen Geltungsansprüche nicht gegenüber jedem

verständlich gemacht werden können. Veränderungen könnten das gemeinsame

Vorverständnis betreffen, das nun auf eine andere Weise in ethische Diskurse eingeht: Als

lebensgeschichtlicher Zusammenhang des Betroffenen zwar, aber nicht notwendigerweise als

lebensgeschichtlicher Zusammenhang auch aller anderer Diskursteilnehmenden. Die

Reflexion desselben geschieht im Horizont von mit anderen geteilten Lebensformen, aber

nicht ausschließlich gegenüber denjenigen anderen, die die eigene Lebensform teilen. Einzig

in der Dimension der Lebenswelt klingt eine gewisse Partikularität an: Die Aussage, die

potentiellen Diskursteilnehmer müßten eine gemeinsame Lebenswelt teilen, liest sich

allerdings so, als könnte sie eine Beschränkung auf diejenigen erforderlich machen, die „ein

gemeinsames Vorverständnis“ teilen. Bereits im 1981er Zitat ist vom „Horizont der

Lebenswelt einer bestimmten Kultur“ die Rede, offenbar in einschränkender Absicht.

Damit ist zwar nicht so deutlich wie in der 1981er Passage, aber doch deutlich genug eine

Relativierung ethischer Geltungsansprüche auf gemeinsame Lebenswelten hin vorgenommen.

Hier gibt es m.E. keine wirkliche Differenz, der Phänomenbereich des Ethischen wird in

dieser Hinsicht ähnlich beschrieben. Die Konsequenzen dieser Partikularität sind aber nicht

offenkundig: Ethische Ratschläge mögen zwar nicht universal gelten, dennoch können sie

aber von anderen als den unmittelbaren Adressaten als richtig für diese Adressaten eingesehen

werden. Gewiß, auch hierfür ist ein gemeinsames Vorverständnis erforderlich, dieses ist aber

nicht zwingend an die Annahme der ethischen Empfehlung für sich gebunden, sondern stellt

im Kern die Überwindung einer kognitiven Fremdverstehensbarriere dar. Eine gewisse

Gemeinsamkeit der Lebensformen muß wahrscheinlich existieren, um diese Barriere

überwinden zu können, jedoch keine vollständige Identifikation mit dem Fremden. An der

möglichen Einsicht in die Angemessenheit ethischer Ratschläge hängt aber auch die Frage

nach der potentiellen Teilnehmerschaft ethischer Diskurse. Ist jene weiter zu fassen, dann

auch diese.

Wechselseitig opake Lebenswelten stellen ohnehin eine höchstens vordergründig plausible

Option dar, denn der ethische Diskurs wird nun anders gefaßt: Weil nun nämlich die

Teilnehmenden ethischer Diskurse „die Rolle unbeteiligter Kritiker“ spielen können sollen,

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aber auch weil sich „verallgemeinerbares klinisches Wissen“ gerade in ethischen Diskursen

bilden können soll, dürfen ethische Geltungsansprüche nicht an eine unüberwindliche

partikulare Perspektive gebunden sein. Damit sind jedoch erhebliche Folgeprobleme

impliziert: Denn es gab ja gute Gründe, weder die therapeutische Kritik noch die klinische

Analyse als Diskurs zu bezeichnen: Erstere zielt ja auf Wahrhaftigkeit, die sich im Diskurs

gerade nicht feststellen läßt, sondern nur durch den Vergleich der Handlungen von Individuen

mit ihren Aussagen. Im Diskurs läßt sich also für die Wahrhaftigkeit einer Äußerung nicht

zwingend argumentieren. Letztere ist schon deshab kein Diskurs, weil sie asymmetrische

Sprecherpositionen im Zuge einer (wenn auch im besten Sinne, so aber doch) strategischen,

und nicht rein verständigungsorientierten Kommunikation notwendig mit sich bringt.

Die vorstehende Überlegung legt natürlich nahe, weiterzufragen: Wenn nur in therapeutischer

Kritik verallgemeinerbares klinisches Wissen eingebracht wird, welche Art von Wissen denn

ansonsten im Spiel ist. Was ist überhaupt nichtverallgemeinerbares Wissen? Ein Wissen, das

nur auf bestimmte Fälle anwendbar ist, kann man nicht verallgemeinern – es ist also nicht

verallgemeinerbar. Formal kann man ein derartiges spezielles Wissen zwar (durch eine

entsprechende Angabe des Bezugsbereichs) in allgemeingültiges Wissen verwandeln, doch

läuft dies dem (landläufigen) Sprachgebrauch doch deutlich entgegen. Das Habermas diese

Spezifität, dieses Passen in den ethischen Geltungsanspruch hineinziehen möchte, läßt sich

auch dort ablesen, wo er über den „eigentümlichen semantischen Status“ der kritisch

rekonstruierten ethischen Einsichten schreibt:

„Hier lassen sich Genesis und Geltung nicht mehr wie bei technischen und strategischenEmpfehlungen voneinander trennen. Indem ich einsehe, was gut für mich ist, mache ich mir denRatschlag in gewisser Weise auch schon zu eigen – das ist der Sinn einer bewußten Entscheidung.Indem ich mich von der Richtigkeit eines klinischen Ratschlages überzeuge, entschließe ich michauch schon zu der angeratenen Umorientierung meines Lebens.“ (112)

Habermas möchte nicht, wie es doch auch möglich wäre, innerhalb des ethischen Diskurses

die Richtigkeit des Ratschlags unabhängig von der Akzeptanz durch den jeweils Betroffenen

bestimmen, etwa als hypothetischen Imperativ: Wer der-und-der sein ist bzw. sein will, der

sollte dies-und-das tun (oder lassen). Dadurch würden ethische Fragen allerdings in die Nähe

von technisch-strategischen Überlegungen rücken. Nun kann ein (ethischer) Ratschlag auch

deshalb falsch sein, weil er an den falschen Adressaten gerichtet ist. Sollten daher ethische

Empfehlungen die Form haben: Du solltest dies-und-das tun, da Du der-und-der bist bzw.

sein willst? Die einschränkende, hypothetisierende Klausel müßte dabei nicht explizit

ausgesprochen werden; wichtig ist allein die Adressierung der Empfehlung.

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Ich denke nicht, daß es einer expliziten Adressierung bedarf, denn eine Adressierung ist in

einem ethischen Diskurs ja immer schon vorhanden – es geht um ein bestimmtes Individuum.

Deshalb dürfte auch ein unpersönlich formulierter Satz (Wer …, der sollte …), der den

Adressaten nicht trifft, mit Unverständnis aufgenommen werden, oder bestenfalls als negative

Abgrenzung verstanden werden (Nur wer – anders als Du – …, der sollte …).

Schwerwiegender scheint mir Folgendes: Laut Habermas soll die Frage danach, wer jemand

ist und sein will, sich im ethischen Diskurs für den Betroffenen auch wirklich beantworten.142

Nicht nur die Beratung über, sagen wir: Voraussetzungen und Konsequenzen bestimmter

Identitäts-Entwürfe, letztlich also hypothetische Sätze, sondern die existentielle Entscheidung

der Identitätsfrage selbst soll der ethische Diskurs evozieren. Gegenstand und Ziel eines

ethischen Diskurses ist die „bewußte Entscheidung“, und dies ist eine Entscheidung. Das

kognitive Moment ist daher im ethischen Diskurs weniger stark als in Diskursen über

moralische, pragmatische oder empirische Fragen. Notwendig wäre dies jedoch nur dann,

wenn sich Beratung und Entscheidung im Fall ethischer Diskurse methodisch nicht trennen

lassen – ein Schein, dem die verdeckte Adressatenspezifität der Argumente in ethischen

Diskursen immerhin einigen Vorschub leistet.

Rekapitulieren wir jedoch, warum es sich hier aus Habermas‘ Sicht um einen Diskurs handelt:

die einzelnen Schritte der Argumentation müssen intersubjektiv nachvollziehbar bleiben. Da

liegt es doch nahe, rückzuschließen: die Richtigkeit der Prämissen ist für einen ethischen

Diskurs kontingent. Dann wäre aber der Kern der Frage, wer jemand sein will, dem Diskurs

entzogen – und gar nicht zu sehen, wie im Diskurs eine existentielle Entscheidung als solche

begründet werden könnte. Gesteht man im Diskurs dem existentiell Betroffenen eine

besondere Rolle zu, etwa dadurch, daß er exklusiv über die Richtigkeit von ethischen

Geltungsansprüchen befinden kann, gerät (neben dem Kognitivismus) die für Diskurse

zwingende Symmetrie der Beteiligten ins Wanken. Bestenfalls für kollektive ethische

Entscheidungen (Wer wollen wir sein?) läßt sich eine solche – innerhalb des Kollektivs –

aufrechterhalten.

142 Natürlich auch hier nicht endgültig, sondern immer nur vorläufig.

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Anwendungsdiskurse

Auch die Anwendungsproblematik erfährt in diesem Text eine entscheidende Wendung: Da

sich moralische Begründungen auf ein Prinzip der Verallgemeinerbarkeit143 stützen, sind die

Diskursteilnehmer genötigt, Normvorschläge nicht nur „ohne Rücksicht auf vorhandene

Motive oder bestehende Institutionen“, sondern auch „losgelöst von Situationen“ zu prüfen

(Habermas 1991d: 114). Neben dem Plädoyer für einen neuen, eigenständigen Diskurstyp

(den Anwendungsdiskurs), der diesen Situationsbezug leisten soll, tritt bei der

Dekontextualisierung die Problematik der Geltungsabstraktion nun vollends zurück hinter die

Problematik des Situationsbezugs von Normen. Unter Verweis auf seinen Schüler K. Günther

werden diese „Anwendungsdiskurse“ nun den bisher bekannten „Begründungsdiskursen“ zur

Seite gestellt:

„Gultige Normen verdanken ihre Allgemeinheit dem Umstand, daß sie den Test derVerallgemeinerung nur in dekontextualisierter Gestalt bestehen. In dieser abstrakten Fassungkönnen sie aber umstandslos nur auf jene Standardsituationen Anwendung finden, derenMerkmale als Anwendungsbedingungen in der Wenn-Komponente der Regel von vornhereinberücksichtigt worden sind. Nun muß jede Normbegründung unter den normalen Beschränkungeneines endlichen, d. h. geschichtlich situierten und gegenüber der Zukunft provinziellen Geistesoperieren. Sie kann deshalb nicht a fortiori schon alle jene Merkmale explizit in Betracht ziehen,die in Zukunft einmal die Konstellationen unvorhergesehener Einzelfälle kennzeichnen werden.Aus diesem Grunde erfordert die Normanwendung eine argumentative Klärung eigenen Rechts.Dabei kann die Unparteilichkeit des Urteils nicht wiederum durch einenUniversalisierungsgrundsatz gesichert werden; bei Fragen der kontextsensiblen Anwendung mußvielmehr die praktische Vernunft mit einem Prinzip der Angemessenheit zur Geltung gebrachtwerden. Hier muß nämlich gezeigt werden, welche der als gültig bereits vorausgesetzten Normeneinem gegebenen Fall im Lichte aller relevanten und möglichst vollständig erfaßtenSituationsmerkmale angemessen ist.“ (114)

Diesem Problemaufriß ist zu entnehmen, daß die situative Dekontextualisierung nicht

vollständig ist, sondern „Standardsituationen“ offenbar auch in Begründungsdiskursen präsent

sind. Wäre die Unvorhersehbarkeit der Zukunft das einzige Endlichkeits-Problem, könnten

aber immerhin alle bisher aufgetretenen Situationen berücksichtigt werden bzw. angesichts

einer konkreten Situation eine ihre Merkmale exakt treffende, also „bessere“

Normenbegründung vorgenommen werden. In einem 1990 erschienenen Interview wird diese

Möglichkeit explizit ausgeschlossen:

„Die einmalige Konstellation eines entscheidungsbedürftigen Falls, die konkreten Züge derbeteiligten Personen kommen erst ins Spiel, nachdem die Begründungsprobleme gelöst sind.Allein, sobald geklärt werden muß, welche der prima facie gültigen Normen der gegebenenSituation und dem anhängigen Konflikt am angemessensten ist, muß eine mög1ichst vollständigeBeschreibung aller relevanten Merkmale des jeweiligen Kontextes gegeben werden.“ (1990b: 121)

143 Ich benutze diesen Begriff als Oberbegriff zu Universalisierung und Generalisierung (s.o.). DieDoppeldeutigkeit ist an dieser Stelle bewußt provoziert.

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So formuliert klingt die Argumentation für die Aufspaltung von Begründung und Anwendung

aber erst recht nicht überzeugend: Nun haben die Begründungsprobleme bereits gelöst zu sein

und sind nicht mehr nur je als gelöst zu unterstellen. Die vielleicht plausible Interpretation,

daß für die Anwendung die Normen als gültig (also eine gelingende Begründung) unterstellt

werden muß, aber andersherum genauso für die Begründung aber auch die Beziehung von

Normen auf Situationen als transparent (also eine gelingende Anwendung) unterstellt werden

muß, wird damit unmöglich. Betrachten wir nun noch eine weitere Formulierung, wiederum

aus einem Interview, diesmal von 1989 (nachgedruckt in „Die nachholende Revolution“,

1990a). Dort spitzt Habermas die Anwendungsproblematik der Diskursethik auf genau zwei

Punkte zu. Kantische Moraltheorien werden „in einem schlechten Sinne abstrakt …, wenn

man zwei Dinge vergißt“ (1990a: 112):

„Erstens erfordert die Anwendung von gültigen Normen auf einzelne Situationen eine andere Artvon Diskursen und Gesichtspunkten als die Begründung dieser Normen. Während diese unter demGesichtspunkt, was alle wollen könnten, vorgenommen wird, verlangt die konkreteAnwendungssituation etwas anderes als eine solche Universalisierung. Anwendungsdiskurseverlangen die Überlegung, welche der prima facie in Frage kommenden und schon als gültigunterstellten Normen der gegebenen Situation angemessen ist, wenn diese in allen ihren normativrelevanten Zügen möglichst vollständig beschrieben wird. Angemessenheit, nichtVerallgemeinerung, ist hier der maßgebende Gesichtspunkt, durch den sich die praktischeVernunft zur Geltung bringt.“ (112)

Auch hier ist die Intention klar: „Einzelne“ oder „konkrete“, jedenfalls aber „gegebene“

Situationen dürfen und sollen offensichtlich in der Begründung von Normen ignoriert werden.

Doch schon formal bleibt unklar, warum eine unparteiliche und angemessene Anwendung

etwas ist, daß nicht „alle wollen könnten“ – sei es nun allgemein oder im einzelnen Fall.

Habermas führt diesen Punkt nicht weiter aus, so daß wir (weiter unten) den im Kern

identischen Behauptungen von Günther zu folgen haben, auf die sich Habermas ja explizit

bezieht. Ein Unterschied zu Günther sei jedoch hier schon erwähnt: Habermas spricht, anders

als Günther, von allen relevanten Merkmalen – dies wird er auch durchhalten.

Was in einem Anwendungsdiskurs also geschehen soll, das wird nicht anders beschrieben als

weiter oben, wo Habermas von der „klugen Applikation“ sprach – im Verweis nämlich auf

die „Beachtung aller relevanten Aspekte eines Falles“ in der juristischen Topik. Klarer noch

als im Falle ethischer Diskurse wird die Beschreibung des entsprechenden

Argumentationsprozesses beibehalten, dieser jedoch nun als Diskurs bezeichnet.

Zumutbarkeit

Die zweite „schlechte Abstraktheit“ betrifft die notwendige Ergänzung der Moral durch das

Recht:

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„Wichtiger ist aber, zweitens, der Vorbehalt, der sich aus dem Universalisierungsgrundsatz einerPrämisse ergibt, unter der Normen allein als gültig akzeptiert werden: eine gültige, demVerallgemeinerungstest standhaltende moralische Norm ist nur den Personen zuzumuten, dieerwarten dürfen, daß diese auch von allen anderen Personen tatsächlich befolgt wird. In der Welt,wie wir sie kennen, ist das nun oft nicht der Fall. Deshalb sind Rechtsnormen nötig und derEinsatz politischer Macht, die ein für legitim gehaltenes Handeln erzwingen. Freilich ist dasrechtlich oder politisch durchgesetzte Verhalten nur dann legitim, wenn das Recht und diepolitischen Institutionen selber ihren Anspruch auf Legitimität erfüllen. Das ist nun, weiß Gott,noch viel seltener der Fall.“ (112)

In dieser Formulierung findet eine Problematik exakt die Zuspitzung, in der sie von M. Niquet

dann weiterverfolgt wird: Die genau auf eine Norm eingeschränkte

Zumutbarkeitserwägung.144 Frühere Formulierungen waren hier weniger bestimmt: Ein

(salopp formuliert) unmoralischer Wille sei nur dann zu tadeln, „wenn die moralischen

Forderungen, gegen die er verstößt, tatsächlich legitim und unter den gegebenen Bedingungen

zumutbar sind“ (Habermas 1991d: 115). Wann diese zumutbar sind, wird von Habermas hier

offengelassen; seine Überlegungen mögen aber in dieselbe Richtung gegangen sein, denn:

„Das Problem der Zumutbarkeit motiviert den Übergang zum Recht.“ (Habermas 1991d: 117.

Ähnlich auch 1991a: 198) Vor 1988 wurde diese Problematik hingegen grundlegend anders

beschrieben: Noch 1983 sollte auf sie, „im Grundsätzlichen trivial“, innerhalb moralischer

Diskurse geantwortet werden (s.o.: Problem 4c).

Nicht nur das Recht, sondern (quasi als Moralstrategie) auch politische Macht helfen der

allgemeinen Befolgung von moralischen Normen auf die Sprünge; erst im Erfolgsfall kann

ihre Befolgung auch moralisch, d.h. ohne Sanktionierung erwartet werden. Ganz ähnliche

Formulierungen finden sich auch in dem oben bereits erwähnten, etwas später geführten

Interview:

„Eine Norm, die den Verallgemeinerungstest besteht, verdient allgemeine Anerkennung nur unterder Voraussetzung, daß sie auch faktisch von jedermann befolgt wird. Eben diese Bedingung kanneine Reflexionsmoral, die mit den Selbstverständlichkeiten der konkreten Sittlichkeit bricht, vonsich aus nicht garantieren. So erzeugen die Prämissen eines anspruchsvollen postkonventionellenBegründungsmodus selbst ein Problem der Zumutbarkeit: die Befolgung einer gültigen Normkann nur von jemandem erwartet werden, der sicher sein kann, daß auch alle anderen der NormFolge leisten.“ (1990b: 122).

Auch in einer zweiten Hinsicht, nicht nur im Bezug auf verschiedene Anwendungsfälle,

scheint dem universellen Moralprinzip eine generalisierende Komponente innezuwohnen

(hier: die allgemeine Befolgung). Die Rechtsordnung und die politische Ordnung sind somit

zwar moralisch begründet, aber dennoch nicht ausschließlich moralischer Natur, da in ihr

auch pragmatische und ethische Aspekte berücksichtigt werden müssen (123).

144 Niquet wird allerdings eine andere Lösung vorschlagen; s.u.

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Im Text von 1991 wird die Zumutbarkeitserwägung, die auf die allgemeine Befolgung von

Normen abestellt, derart formuliert, daß möglicherweise nicht mehr nur die einzelne Norm

gemeint ist (1991a: 199):

„Im Lichte des Moralprinzips werden Normen nur unter der (in 'U' explizit genannten) Vorausset-zung einer Praxis allgemeiner Normbefolgung als gültig ausgezeichnet. Wenn diese Bedingungnicht erfüllt ist, sind Normen unbesehen ihrer Gültigkeit nicht zumutbar.“

Hier könnte man Habermas so verstehen, daß das Kriterium für die Zumutbarkeit aller

Normen (oder zumindest doch: mehrerer von ihnen) die Praxis der Befolgung aller Normen

(oder zumindest doch: einiger von ihnen) ist.

Gefühle

In diesem Interview werden zur Lösung von Anwendungsproblemen nun

überraschenderweise auch moralische Gefühle bemüht:

„Erstens spielen moralische Gefühle eine wichtige Rolle für die Konstituierung moralischerPhänomene. Wir werden bestimmte Handlungskonflikte überhaupt nicht als moralisch relevantewahrnehmen, wenn wir nicht empfinden, daß die Integrität einer Person bedroht oder verletzt wird.Gefühle bilden die Basis unserer Wahrnehmung von etwas als etwas Moralischem.“ (142)

Auf der „Eingabeseite“ von Diskursen muß das Problem gelöst werden, daß Normen erst

einmal problematisch werden müssen, bevor sie im Diskurs geprüft werden. Man könnte sich

dies auch als rein interne Veranstaltung vorstellen: Der Diskurs läuft und zieht (durch

schrittweises Hinterfragen im Diskurs) eine Norm nach der anderen in Zweifel. So

funktioniert der moralische Diskurs aber erstens nicht, und zweitens wurde er von Habermas

auch nicht so beschrieben. Es waren die lebensweltlichen Handlungskonflikte, die

Ausgangspunkt für die diskursive Prüfung von dahinterstehenden Normkandidaten war.

Daher sind Habermas‘ Bemerkungen auch als Beitrag zu einem Anwendungsproblem

aufzufassen: Nämlich der Themensetzung bzw. des Diskurs-Inputs.

„Zweitens und vor allem geben uns moralische Gefühle (…) eine Orientierung für die Beurteilungdes moralisch relevanten Einzelfalls. Gefühle bilden die Erfahrungsbasis für unsere erstenintuitiven Urteile: Scham- und Schuldgefühle sind die Basis für Selbstvorwürfe, Schmerz und dasGefühl der Kränkung für den Vorwurf gegenüber einer zweiten Person, die mich verletzt,Empörung und Wut für die Verurteilung einer dritten Person, die eine andere verletzt. MoralischeGefühle reagieren auf Störungen intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse oder interpersonalerBeziehungen, an denen die Aktoren in der Einstellung einer ersten, zweiten oder dritten Personbeteiligt sind. Deshalb sind moralische Gefühle so strukturiert, daß ihnen das System derPersonalpronomina spiegelt.“ (143)

Diese unsere ersten intuitiven Urteile sind „nicht letzte Instanz“, sie haben – neben der

Anfangssensibilisierung – „eine unschätzbare heuristische Funktion“ (144).

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Schon durch diese beiden Funktionen rücken moralische Gefühle an eine prominente Stelle.

Doch auch für ein drittes Anwendungsproblem, das der Durchführung von Diskursen

nämlich, sind moralische Gefühle wichtig:

„Mindestens Empathie, also die Fähigkeit, sich über kulturelle Distanzen hinweg in fremde undprima facie unverständliche Lebensumstände, Reaktionsbereitschaften und Deutungsperspektiveneinzufühlen, ist eine emotionale Voraussetzung für eine ideale Rollenübernahme, die von jedemverlangt, die Perspektive aller anderen einzunehmen. Etwas unter dem moralischen Gesichtspunktzu betrachten, heißt ja, daß wir nicht unser eigenes Welt- und Selbstverständnis zum Maßstab derUniversalisierung einer Handlungsweise erheben, sondern deren Verallgemeinerbarkeit auch ausden Perspektiven aller anderen prüfen. Diese anspruchsvolle kognitive Leistung wird kaum ohnejenes generalisierte Mitgefühl möglich sein, das sich zur Einfühlungsfähigkeit sublimiert und überdie Gefühlsbindungen an die nächsten Bezugspersonen hinausweist, uns die Augen öffnet für die»Differenz«, d. h. für die Eigenart und das Eigengewicht des in seiner Andersheit verharrendenAnderen.“ (143)

An dieser Stelle werden von Habermas deutlich bestimmte emotive Kompetenzen gefordert,

über die Diskursteilnehmende verfügen müssen, wenn ein Diskurs nicht von vornherein

sinnlos sein soll. Neben emotiven Komponenten weist Habermas auch auf kognitive

Voraussetzungen hin, die in der „von Anthropologen ausgelösten Rationalitätsdebatte“

aufgezeigt wurden:

„Für den entscheidenden Punkt dieser Kontroverse halte ich die Frage, ob wir einer AsymmetrieRechnung tragen müssen, die zwischen den Interpretationskapazitäten verschiedener Kulturendadurch entsteht, daß einige sogenannte second-order concepts eingeführt haben, andere nicht.Diese Begriffe zweiter Ordnung erfüllen notwendige kognitive Bedingungen für dasReflexivwerden einer Kultur, also dafür, daß deren Mitglieder zu ihren eigenen Überlieferungeneine hypothetische Einstellung einnehmen und auf dieser Grundlage kulturelleSelbstrelativierungen vornehmen können. Ein solches dezentriertes Weltverständnis kennzeichnetmoderne Gesellschaften.“ (125)

Wenn, wie in dieser Textstelle vertreten, wirklich die Kultur selbst reflexiv werden muß, kann

eine adäquate kulturelle Identität nicht mehr in einem traditionalen Selbstverständnis erfolgen

– ein weiteres Indiz auf dem Weg zu einem Verständnis ethischer Diskurse in der Moderne.

Dennoch schreibt Habermas der ethischen Selbstverständigung einen gegebenen Kontext zu:

„ethische Fragen, Fragen der Selbstverständigung orienteren sich am Ziel je meines oder unseresguten, sagen wir lieber: nicht-verfehlten Lebens. Wir schauen auf unsere Lebensgeschichte oderunsere Traditionen zurück und fragen uns mit jener für starke Präferenzen kennzeichnendenZweideutigkeit, wer wir sind und sein möchten. Die Antworten müssen sich deshalb auf denKontext einer besonderen, für bestimmte Personen oder bestimmte Kollektive als verbindlichunterstellten Lebensperspektive beziehen. Solche Antworten können nicht beanspruchen, eineexemparische, für alle verbindliche Lebensform auszuzeichnen – so wie Aristoteles die Polisausgezeichnet hat. Aber relativ auf den gegebenen Kontext können ethische Fragen rational, d. h.so beantwortet werden, daß sie jedermann einleuchten – keineswegs nur den unmittelbarBetroffenen, aus dessen Perspektive die Frage gestellt wird.“ (141)

Es dürfte sich um denselben Kontext handeln, von dem moralische Fragen abstrahieren. Diese

Stelle läßt zwei Lesarten zu: Zuerst die starke, traditionale Lesart: Der je eigene kulturelle

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Kontext ist unhinterfragt als gültig vorauszusetzen. Dann die schwächere Lesart: Der je

gegebene Kontext, die jeweilige Lebensperspektive, gibt bestimmte Hinsichten der

Auseinandersetzung vor, ist aber selbst nicht fraglos gültig. Dazwischen schillert Habermas‘

Formulierung, die jeweilige Lebensperspektive sei als verbindlich zu unterstellen: Ob diese

Unterstellung nur in moralischen Überlegungen aufgegeben werden kann, oder auch in der

Absicht ethischer Selbstvergewisserung in Frage gestellt werden kann, entscheidet zwischen

den oben angebotenen Lesarten.

Daß Habermas der zweiten Lesart zuzuneigen scheint, offenbart sich erst ganz am Schluß des

Interviews:

Ich halte es für die Aufgabe der Philosophie, die Bedingungen zu klären, unter denen sowohlmoralische wie ethische Fragen von den Beteiligten selbst rational beantwortet werden können.Dem moralischen Gesichtspunkt, der uns gemeinsam die verallgemeinerungsfähigen Interessensehen läßt, entspricht ein ethischer Entschluß zur bewußten Lebensführung, der eine Person odereine Gruppe erst die rechte Einstellung gibt, um sich die eigene Lebensgeschichte oder dieidentitätsbildenden Traditionen im Lichte eines authentischen Lebensentwurfes kritischanzueignen.“ (144)

In welcher Form der Kontext auch immer gegeben sein mag, die kritische Aneignung von

Traditionen erfordert zumindest die Möglichkeit der Distanzierung der Geltung des

Kontextes.

Diskussion der Habermasschen Sicht auf diskursethischeAnwendungsprobleme

Ich möchte noch einmal betonen, daß eine Auseinandersetzung mit „Anwendungsproblemen“

bei Habermas nicht explizit zu finden ist. An verschiedenen Stellen, insbesondere in der

Auseinandersetzung mit Hegels Kantkritik, lassen sich dennoch Bemerkungen zu

Anwendungsproblemen finden, wie wir sie eingangs analytisch unterschieden haben. Sie

wurden am Ende des vorletzten Abschnitts tabellarisch zusammengefaßt (s. Tabelle 5 und

Tabelle 6).

Welche Anwendungsprobleme liegen in den von Habermas bereits angesprochenen Punkten

noch verborgen? Zwei gravierende Probleme, die mit der Eingabe vorgefundener Inhalte in

den Diskurs (Punkt 1 der Tabellen) zusammenhängen, schien Habermas zu übersehen: Es

müßten strittige moralische Fragen nach diesem Konzept ohne Inhaltsverlust in strittige

Normen sich übersetzen lassen, wenn sie mittels »D« oder »U« vollständig lösbar sein sollen.

Dies stellt ein Unterproblem von Anwendungsproblem A1a dar, nämlich das der Darstellung

eines jeden Handlungskonflikts in Begriffen des „normativen Einheitsfokus“ (Kettner) des

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- 214 - -

jeweils angelegten Moralprinzips, hier: in Begriffen von Normen und Normenkonflikten.

Weiterhin kann eine solche Konfliktbewältigungsethik, die auf die Eingabe von Inhalten

angewiesen ist, nur auf bereits offenbaren Konflikten aufsitzen. Wo etwas nicht bereits

problematisch geworden ist, wo nicht bereits die richtigen Fragen gestellt werden und

moralisch problematische Vorgänge nicht als solche bemerkt werden, kann sie nicht greifen.

Erst mit der Diskussion moralischer Gefühle wird auf die Notwendigkeit der Sensibilisierung

für solche Konflikte eingegangen. Gefühle bekommen zweitens eine Rolle im Normen-

Anwendungsdiskurs (auch hier indizieren sie ein mögliches Problem). Drittens werden einige

der individuellen und kulturellen Voraussetzungen damit näher beschrieben, unter denen die

unter der Überschrift des „Terrorismus der reinen Gesinnung“ benannten Probleme zu

entschärfen sind.

Insgesamt wird die Problematik der Trennung von moralischen und ethischen

Geltungsansprüchen zwar deutlich herausgestellt, das Folgeproblem der Vereinbarkeit der

Antworten auf diese Fragen aber weniger stark betont. Es bleibt in der allgemeinen

Problematik der (Wieder-)Ankoppelung moralischer Antworten an Motive und Institutionen

verborgen. Das Hauptproblem scheint mir hier zu sein, daß zu unklar ist, wie ethische

Geltungsansprüche zu verstehen sind, um über das Verhältnis moralischer und ethischer

Geltungsansprüche zu befriedigenden Ausssagen kommen zu können.

Dem Problem, wie wir von einem ideal-prozeduralen Moralprinzip zu gültigen Normen

kommen, also dem Anwendungsproblem A1a, wird kaum Beachtung geschenkt. Das ist

insofern verblüffend, als eine Verwurzelung der Diskursethik in einer Gesellschaftstheorie

durchaus behauptet werden kann. Zwar gibt es Hinweise auf die gesellschaftsweiten

Kommunikationsmedien, die evtl. einen diskursiven Gesamtzusammenhang herstellen

können. Ansonsten scheint Habermas aber auf die spontane Öffentlichkeit der vielen direkten

Kommunikationen zu vertrauen. Die Frage, ob und wie sich Diskurse ansonsten organisieren

lassen, stellt sich für Habermas scheinbar einfach nicht. Eine Stellungnahme zu

entsprechenden Versuchen, die immerhin teilweise im Namen der Habermasschen

Diskurstheorie geschahen, gibt es einfach nicht.

Das Problem A1b, die Anwendung von Normen auf Fälle, erfährt eine Wandlung hin zu den

„Anwendungsdiskursen“, die K. Günther näher untersucht hat. Ich werde dieses Problem nach

der Vorstellung von Günthers Vorschlag diskutieren.

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- 215 - -

Das Problem A3, der fehlenden objektiven und subjektiven Voraussetzungen für Diskurse, ist

vom Problem A4 der mangelnden Bereitschaft, diskursiv einsehbare Normen auch zu

befolgen, obwohl diese Voraussetzungen gegeben wären, klar zu unterscheiden. Mit

fehlenden objektiven Voraussetzungen soll gemeint sein, daß keine Handlungsoptionen

bestehen, die Begründungsbasis zu verbessern (durch wirkliche oder – im Extremfall – auch

nur durch längeres Nachdenken). Mit fehlenden subjektiven Voraussetzungen meine ich, daß

(z.B. sozialisationsbedingt) notwendige Kompetenzen fehlen, Argumente entwickeln oder

auch nur verstehen zu können. So gesehen sind subjektive Voraussetzungen erforderlich,

damit objektive Voraussetzungen überhaupt wirksam werden können.

Das Problem der Habermaschen Formulierung der „Unzumutbarkeit von Moralität“ liegt

darin, daß der Eindruck entstehen könnte, ein Handelnder bräuchte sich regelmäßig garnicht

mehr an den besten ihm zugänglichen Gründen orientieren, oder doch zumindest nicht mehr

an solchen, die allgemeine Zustimmung finden könnten. Nur weil aber – wie so häufig – gute

Gründe, z.T. auch moralische Gründe, dagegen sprechen, durch wirklich durchgeführte

Diskurse die Begründungsbasis moralischer Normen zu verbessern, wird die Orientierung an

moralischen Normen nicht obsolet. Das merkt man schon daran, daß wir das Handeln unter

sochen Bedingungen dann, wenn es sich noch als ein Handeln und nicht als ein bloßes

Verhalten verstehen läßt, durchaus unter moralischen Kategorien beurteilen. Schon daß die

objektiven und subjektiven Voraussetzungen fehlen, ist häufig die Folge eines unmoralisches

Handelns anderer Personen. Das Brechtsche Diktum „Erst kommt das Fressen, dann kommt

die Moral“ transportiert doch gegenüber denen, die mehr als genug zu fressen haben, einen

moralischen Anspruch, obwohl es propositional einem damit unverträglichen Moralbegriff

verhaftet bleibt. Nicht zufällig wird daher von Brecht fortgesetzt: „Erst kommt das Fressen,

das ist die Moral“! Selbst wenn es – anders als bei Brecht – nicht genug zu fressen für alle

gäbe, wäre dies noch kein Freibrief zur beliebigen Behandlung der anderen Personen. Selbst

wenn meine Selbsterhaltung auf dem Spiel steht, gilt es die Angemessenheit der Mittel zu

wahren – auch dann, wenn die Situation durch einen Angreifer allererst herbeigeführt wurde

(vgl. die Rechtsprechung zu Notwehrsituationen). Auch in einem unaufgelösten

Handlungskonflikt bleiben die konfligierenden normativen Ansprüche erhalten (und die nicht

strittigen normativen Ansprüche erst recht) – sie etwa alle schlicht zu ignorieren, was die

Verabschiedung von Moralität ja zulassen würde, ist keine moralisch legitime Lösung.

Verschärft wird dieses Problem noch dadurch, daß häufig nicht einmal die Voraussetzungen

dafür, Diskurse führen zu können, zu Voraussetzungen für moralisches Verhalten erklärt

werden, sondern – im Verhältnis zum Moralprinzip – noch viel beliebigere Dinge. Moralität,

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- 216 - -

und das heißt: Gerechtigkeit, wird so etwas für paradiesische Idyllen, zumutbar bei einem

rechten Überschuß z.B. an Ressourcen.

Der methodische Kern dieser mißlichen Moral-Konzeption liegt, was die Diskursethik angeht,

in der Fixierung auf reale Diskurse. Die Einbettung derselben in ein weiteres Konzept von

mehr oder weniger voraussetzungsvollen Handlungsbeurteilungen (s.o. meine Unterscheidung

verschiedener Diskursebenen D0, D1 usw.) hilft, eine binäre Opposition zu vermeiden:

Entweder wir können mit allen Betroffenen Diskurse führen (und sei es advokatorisch), oder

moralische Pflichten entfallen komplett. Die Habermassche Moralkonzeption stellt auf

Situationen von Handlungskonflikten ab, in denen unterschiedliche normative Ansprüche

bestehen. Daß dieser Konflikt nicht in einem realen Diskurs ausgetragen werden soll, läßt sich

u.U. moralisch sehr gut rechtfertigen, d.h. unter für jeden zustimmungsfähige

Interaktionsnormen bringen. Nur weil Habermas es mit Moralität gleichsetzt, einem

Moralprinzip zu folgen, das reale Diskurse erfordert, entsteht der Eindruck, Moralität entfalle

dann ganz, wenn diese nicht geführt werden können.

Doch schon Habermas‘ Konzeption ist nicht so simpel, schließlich wird die Zustimmung auch

im Potentialis formuliert: Dort, wo man sich des realen Konsens nicht versichern kann, sind

solche Normen zugrundezulegen, von denen man denkt, daß sie Konsens finden würden. Von

daher vermute ich, daß die Vorbehalte gegen eine Integration von Überlegungen zum

richtigen Handeln in solchen Situationen, wo keine realen Diskurse geführt werden können,

tiefer liegen. Interessanterweise scheinen dann ja für Habermas zwar moralische, nicht aber

jegliche normative Überlegungen fehl am Platze. Denn was sonst wollte Habermas mit der

„Verantwortungsethik“ bzw. der „politischen Ethik“ ausdrücken, die dort griffe, wo die

Voraussetzungen für diskursive Konfliktlösung fehlen, eine solche aber sinnvoll wäre –

ansonsten blieben deren normative Grundlagen ja wiederum unausgewiesen. Der zweite

mutmaßliche Vorbehalt, Diskurse politischer Ethik nicht als moralische Diskurse zu

bezeichnen, ist (s.o.): In ihnen werden nicht allen gemeinsame Normen, sondern werden

Strategien gegenüber einem Teil der Diskursunwilligen oder Diskursunfähigen beschlossen.

Der Bereich diskursiv einlösbarer praktischer Gelungsansprüche zerfällt also bei Habermas

nicht nur in Bereiche des »Guten Lebens« und der »Moral«, sondern es gibt noch einen

dritten Bereich »politischer Ethik«. Sein Geltungsanspruch ist im Kern ein pragmatischer,

unter dem Ziel der Herstellung menschenwürdiger Bedingungen und der Ermöglichung von

realen Diskursen.

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Das Problem A4, der fehlenden faktischen Anerkennung, die als Prämissen ins Moralprinzip

eingeht, läuft ebenfalls unter der Überschrift der „Zumutbarkeit“. Habermas fokussiert hier

seit den 90er Jahren auf die Konsequenzen für die Gültigkeit einer einzelnen Norm daraus,

daß diese selbst nicht befolgt wird; ein entsprechender Lösungsvorschlag wurde von M.

Niquet vorgetragen. Ich will die Diskussion dieses Anwendungsproblems erst nach

Durchsicht seines Vorschlags vornehmen.

Probleme in der Transzendentalpragmatik

Bezüglich des Anwendungsproblems verweist die Transzendentalpragmatik regelmäßig auf

das Problem der fehlenden Anwendungsbedingungen, reale Diskurse führen zu können. In

einem Teil B der Diskursethik, der auf die Herstellung dieser Anwendungsbedingungen zielt,

wird dieses Problem auf unterschiedliche Arten ausgeführt.

Anwendungsprobleme aus Sicht von K.-O. Apel

Anwendungsprobleme finden sich auch bei Apel verstreut in den diversen Aussätzen zum

Thema. Eine Ausnahme bildet „das geschichtsbezogene Anwendungsproblem der

Diskursethik" (Apel 1988; Hervorh. NG) der fehlenden Anwendungsbedingungen realer

Diskurse. In abgrenzender Absicht wird aber dennoch auf verschiedene andere

Anwendungsprobleme aufmerksam gemacht – wohl, um Verwechslungen zu vermeiden. In

einem Aufsatz zu Kohlberg wird vom philosophischen Problem der Letztbegründung (das wir

oben erläutert haben) dasjenige der existentiellen Motivation abgespalten:

„Man muß zugeben, daß man durch rationale Argumentation einen existentiellen Skeptiker nicht»widerlegen« kann. Das besagt aber nur: Man kann ihn allein durch rationale Argumente nichtdaran hindern, z.B. die rationale Diskussion zu verweigern und eventuell aus SinnverzweiflungSelbstmord zu begehen. (Aus letztlich denselben Gründen ist es auch nicht möglich, einemMenschen durch rationale Argumente den »guten Willen« anzudemonstrieren, d.h. ihngewissermaßen definitiv dazu zu zwingen, die kognitive Einsicht in die moralische Pflicht in einenentsprechenden Willensentschluß zum Handeln umzusetzen.)“ (Apel 1988: 348)

Diese existentielle Frage verweise, Apel zeigt sich hier inspiriert durch Kohlbergs

Spekulationen über eine religiös-metaphysische Stufe sieben der Moralentwicklung, auf eine

„Harmonie-Vision“, die „einerseits existentiell befriedigt“ und andererseits „mit der formal-

strukturellen Entwicklung des logischen und des moralischen Denkens kompatibel“ ist (ebd.:

349), eine „Vollendung der integralen Ich-Entwicklung“ — aber nicht mehr auf ein

moralphilosophisches Begründungsproblem. Mit der Einsicht in die transzendentale

Letztbegründung (und dies sei die eigentliche Stufe sieben der Moralentwicklung) sei

kognitiv schließlich alles erreicht. Apel wird in diesem Zusammenhang denkbar deutlich:

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„Vor der Umsetzung der Einsichten der moralischen Urteilskompetenz in Handlungsentschlüssebedarf es auf allen Stufen der Moral noch einer willentlichen Bekräftigung der Einsicht im Sinneeiner Entscheidung fürs Moralischsein.“ (ebd.: 357)

Diese Bekräftigung sei eine „philosophisch begründete postkonventionelle

Gewissensentscheidung angesichts der fundamentalen moralisch-strategischen Ambiguität der

Rationalität menschlicher Interaktion“ (ebd.).

Im eingangs zitierten Text zum geschichtsbezogenen Anwendungsproblem der Diskursethik

werden einige weitere Probleme abgespalten. Auf der konventionellen Stufe der

Moralentwicklung (etwa der relativistischen Üblichkeitsethiken) fallen

Anwendungsprobleme, so Apel (1988: 133), ausschließlich in die Domäne der Urteilskraft:

Angewendet werden hier Normen auf Fälle (s. auch 1988: 295). Postkonventionelle Moralen

hingegen müssen sich neben diesem weiterhin bestehenden ersten Anwendungsproblem

zusätzlichen Herausforderungen stellen: Zweitens nämlich erfordere die Trennung

moralischer von Fragen des Guten Lebens eine (andauernde) Unterscheidung und

Vermittlung von Perspektiven (133). So zeige bereits diese – von Habermas übernommene –

Unterscheidung, daß es keineswegs Ziel der Diskursethik sei, alle Institutionen und

Konventionen durch den argumentativen Diskurs zu ersetzen, sondern diese lediglich so

umzubauen, daß sie dem Universalisierungsprinzip »U« nicht widersprechen (148).145

Weiterhin müsse, drittens, ein Teil der üblicherweise an die Klugheit überwiesenen Probleme

der Folgenberücksichtigung bereits auf Ebene der Normbegründung berücksichtigt werden.

Diese Ebene gab es auf konventioneller Stufe ja nicht. Habermas habe diesem Problem durch

die Einarbeitung der Folgenberücksichtigung in »U« Rechnung getragen – jedoch nicht

umfassend genug. Es stellt sich nämlich daneben noch ein viertes Anwendungsproblem

(„Verantwortungethik“), das der Berücksichtigung der Folgen der vorschnellen Anwendung

der Diskursethik unter (derzeit) nichtgegebenen Anwendungsbedingungen. Wahrscheinlich da

Apel glaubt, ein Diskursprinzip letztbegründet zu haben, das einen teleologischen Gehalt

besitzt,146 besteht sein Vorschlag in der Einführung eines Teils B, darin zentral ist das

145 Allerdings räumt auch Apel ein, in früheren Formulierungen den Anschein einer „substantiell utopischenProgrammatik im Geiste von Ernst Bloch“ nicht klar genug ausgeschlossen zu haben (1988: 142). Daß sich dieideale Kommunikationsgemeinschaft nämlich in der realen irgendwann einmal abschließend verwirklicht habenkönne. Ähnlich Habermas‘ Abrücken vom antizipatorischen „Vorgriff auf eine zukünftige Lebensform“ imDiskurs u.ä. Die Ersatzformulierung des idealen Diskurses als „regulativer Idee“ soll – bei aller sonstigenUnschärfe – wenigstens dieses Mißverständnis vermeiden helfen.146 In seinen Überlegungen zur Realisierung der Voraussetzungen der Moralität als moralischer Pflicht kann sichApel im Ansatz auf Kant beziehen: Dieser fordert in der „Einleitung zur Tugendlehre“ der „Metaphysik derSitten“ die (strategisch-teleologische) Beförderung auch der eigenen Glückseligkeit, da dies die Pflichterfüllung

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berüchtigte Ergänzungsprinzip (E), das strategisches Handeln mit dem Ziel der „Herstellung

der Anwendungsbedingungen der Diskursethik“ legitimiert (und somit die deontologische

Verständigungsorientierung zugunsten einer teleologischen Erfolgsorientierung aufweicht,

146).

Worum es im Teil B gehen soll, zeigt die in (Apel / Kettner 1992) vorgenommene weitere

Differenzierung in die Teile B1 (Recht) und B2 (Politik). Eine Verantwortungsethik „erweist

sich schon bei der normativen Rechtfertigung der Zwangsgeltung rechtlicher Normen als

notwendig“ (57). Denn das Gewaltmonopol des Rechtsstaats „macht es ja erst möglich, daß

die einzelnen Bürger es sich weitgehend ohne Risiko leisten können, moralisch zu handeln“

(58). Doch darin erschöpft sich Teil B nicht (denn nicht die gesamte Lebenswelt kann oder

soll verrechtlicht werden).

Auf Ebene der Politik, aber auch dort, wo die Verrechtlichung noch nicht ausreichend weit

fortgeschritten ist, ist die „Vermittlung von Moralität im engeren Sinne (im Sinne von Teil A)

mit strategischem Handeln“ (61), hier also greift nun (E). Bezeichnenderweise findet sich in

Apel 1988, obwohl im ganzen Buch die Problematik des moralstrategischen Handelns

thematisch ist, keine explizite Formulierung dieses Prinzips. Apel ist sich auch unsicher

hinsichtlich des Status von (E):

„Hat es z.B. selbst noch den Charakter einer universalisierbaren Regel der Maximenwahl oder istes letztlich doch nichts anderes als ein Appell an die Urteilskraft bzw. Phronesis, welche eben stetsin der Situation an die Stelle der fehlenden Regel der Regelanwendung treten muß? Hier beginnenin der Tat die Schwierigkeiten von Teil B der Ethik, die ich für größer halte als die derLetztbegründung in Teil A der Ethik“ (145).

Zumindest im globalen Kontext, etwa der Außenpolitik (Apel bezog sich damals auf die Ost-

West-Blockkonfrontation), träte dieses Anwendungsproblem in den Vordergrund, da die

Anwendungsbedingungen von »U« hier ohnehin nicht gegeben seien, ja, gravierender noch:

dies gelte „für alle im weitesten Sinn politisch relevanten Handlungsentscheidungen“ (144).

Apels Hoffnung ist. daß sich (E) genauso wie »U« bzw. Uh über den PS-Test philosophisch

letztbegründen läßt (142 u. 150).

Seine Problembeschreibung, die auf die Notwendigkeit der Reflexion auf die

Anwendungsbedingungen von »U« führte, teilt Apel mit vielen anderen Autoren; seine

Position ist ähnlich der, die auch Habermas streckenweise vertreten hat (bevor er sich auf den

psychologisch wahrscheinlich macht: „Widerwärtigkeiten, Schmerz und Mangel sind große Versuchungen zuÜbertretung seiner Pflicht.“ (Kant 1968: A 17).

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Irrweg der auf genau eine Norm eingeschränkten Zumutbarkeitserwägungen begeben hat).147

So spricht Apel an mehreren Stellen von dem Problem der „Zumutbarkeit“ der Moral, welche

abhänge vom „Bestehen von Rechtszuständen überhaupt“, dem „Stand der sozialen

Realisierung [...] des Habermasschen Prinzips »U« als Prinzip der Begründung bzw.

Legitimation von Rechtsnormen“, sowie von der Existenz einer „»räsonierenden

Öffentlichkeit«“. Er glaubt, ein Handeln gemäß U-gültigen Normen sei ohne weiteres

verantwortbar,

„wenn wir (schon) in einer Welt lebten, in der damit gerechnet werden könnte, daß (1.) allefaktisch befolgten Normen gemäß dem angegebenen Verfahrensprinzip »U« begründet werdenkönnten, und daß (2.) alle Menschen (zumindest) bereit wären, die im Sinne von »U« begründetenNormen im allgemeinen weiter zu befolgen; kurz: die vorgeschlagene Formel »U« wäre alshinreichendes Verfahrensprinzip für die Lösung aller Probleme der Normbegründung bzw.Normenlegitimation akzeptierbar, wenn wir (schon) unter den Bedingungen der im argumentativenDiskurs faktisch antizipierten idealen Kommunikationsgemeinschaft lebten; oder: wenn dasAnwendungsproblem der Diskursethik kein geschichtbezogenes wäre, sondern ein Problem desgeschichtlich voraussetzungslosen Anfangs am Punkt O“. (128)

Auch im Einzelnen mag diese Formulierung seltsam wirken;148 sie scheint jedoch die

Möglichkeit zu unterstellen, man könne überhaupt die ideale Kommunikationsgemeinschaft

in der realen restlos verwirklicht haben – eine „konkrete Utopie“, wie sie Apel in kritischer

Distanz zu früheren Äußerungen doch eigentlich ablehnt (1988: 142, 468 u.ö.). Er hätte die

Idealisierungen im Begriff der „idealen Kommunikationsgemeinschaft“ gerne verstanden als

„regulative Idee“ in Anlehnung an Kant.149 Von daher kann man auch sagen, je

offensichtlicher die reale von der idealen Kommunikationsgemeinschaft entfernt ist, desto

weniger sind moralische Normen zumutbar und desto eher soll man sich an (E) orientieren als

an »U«.

Das Problem dieser Konzeption ist offensichtlich: (E) als Moralprinzip zu bezeichnen (148),

das »U« ablöst, solange dessen Voraussetzungen nicht geschaffen seien, bedeutet eine

Heiligung der Mittel durch den (letztbegründeten) Zweck, die Absurdität moralisch

gerechtfertigter Normen, nach denen aber dennoch nicht zu handeln sei, etc. (vgl. die

147 In seinen jüngsten Veröffentlichungen scheint Apel allerdings die Niquetsche Konzeption zu übernehmen(Apel 1996: 8, 74 f., 118 (Anm. 34)). Diesen Hinweis verdanke ich Micha H. Werner.148 So erschöpfen die von Apel genannten Bedingungen (1.) und (2.) nicht die Bedingungen der idealenKommunikationsgemeinschaft: Denn es reicht ja nicht, nur im allgemeinen diese Normen zu befolgen, sonderndies muß in jedem Fall geschehen. Und in der idealen Kommunikationssituation können nicht nur praktische,sondern auch theoretische Fragen behandelt werden.149 Nur, daß von ihnen nun nicht die Einheit der Erfahrung gestiftet wird (wie bei Kant). Der Sinn soll wohl darinliegen, daß regulative Ideen in der Realität nie vollständig erreicht werden können, jedoch als das eigeneHandeln orientierend, d.h. ihm eine Richtung weisend, vorausgesetzt werden müssen. Somit lassen sich auch

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eingehende Kritik von Schönrich 1994). Apels Vorschlag, »U« ein zweites Prinzip (E)

vorzuordnen, wird denn auch seitens der Community einhellig abgelehnt. Einige der

Probleme dieses „quasi-paradoxen“ (1988: 467) Lösungsversuchs sah Apel auch selbst und

versuchte, sie zu vermeiden: Etwa seien nicht beliebige Mittel erlaubt, sondern nur solche, die

nicht hinter den Stand der bereits gelebten vernünftigen Sittlichkeit zurückfallen. Doch gibt es

im Rahmen der Konkurrenz von (E) und »U« keinen methodischen Rückhalt mehr für diese

Forderung. Zwar sieht Apel deutlich, daß es sich beim (E) zugrundeliegenden Problem nicht

darum handelt, Normen auf Fälle anzuwenden (dies war die klassische Domäne der Klugheit

im Rahmen einer konventionellen Moral) oder das Moralprinzip anzuwenden und Normen zu

begründen. Eine bloße Regression auf irgendwelche Üblichkeiten, die als Üblichkeiten in

Geltung zu setzen wären, läßt er zurecht nicht zu (denn diese dienen ja i.A. nicht der

Verwirklichung der idealen Kommunikationsgemeinschaft). Doch reicht die Orientierung auf

ein Ziel nicht, die Mittel als legitim (und nicht nur als geeignet) zu qualifizieren – von daher

steht gegenüber einem an (E) orientierten Moralstrategen in dieser Hinsicht alles zu erwarten.

Der gute Wille, nicht den Zweck die Mittel heiligen zu lassen, ist bei Apel natürlich

vorhanden. Doch auch die von Apel an einer Stelle vorgeschlagene Vermittlungsregel, das

„Prinzip der Verhältnismäßigkeit“ (V) hilft hier nicht weiter: „Soviel diskursive

Konsensbildung […] wie möglich, soviel strategische Selbstbehauptung […] wie nötig.“

(1988: 268) Es suggeriert vielmehr, daß die Wahl der Mittel sich irgendeiner objektiven

Notwendigkeit verdankt und nicht normativen Überlegungen. Auch durch (V) bleibt die

Frage, welche Strategie zu ergreifen sei, ja offen. Ott schlägt hierzu die Formulierung einer

„unvollkommenen Pflicht“ vor (1997: 310):

„Wir sollen uns zwar für die Realisierung von »D« engagieren, so gut wir es (aufgrund unsererLebenssituation) vermögen, dies aber unter der Beachtung der Normen (Gert) und der Rechteanderer und immer auf eine Weise, durch die die Idee, die sich in »D« ausspricht, niemalsdiskreditiert, sondern immer zugleich auch aktuiert wird es sei denn, das Verhalten der anderenzwingt uns eine Strategie reiner Selbstbehauptung auf. [Fußnote: »Wann der Augenblickgekommen ist, wo auch für Diskursethiker das Reden keinen Sinn mehr macht und man sich zurWehr setzen muß, läßt sich nicht mittels irgendwelcher Ergänzungsprinzipien ausmachen.«; NG]So etwa lautet die Meta-Maxime für eine angewandte Diskursethik.“

Vielleicht kann man wenigstens von der Pflicht sprechen, inkrementell den je ersten Schritt zu

einer diskursiven Verständigung zu machen (solange das Gegenüber mitgeht). Die

Perspektive auf Blockkonfrontation legt eine (untypische und wohl selbst dort falsche)

Situation nahe, wo das geringste Kooperationsangebot dem anderen gleich die Gelegenheit

Entfernungen von diesem Ideal bestimmen – eine Richtung weisen zu können setzt ja voraus, an zweiverschiedenen Orten wenigstens relativ den größeren Abstand zum „Ideal“ bestimmen zu können.

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zur totalen Vernichtung gibt. Die Möglichkeit offen strategischen Handelns wird von Apel in

diesem Zusammenhang nicht einmal erwähnt, stattdessen geht es um verdeckte

Langzeitstrategien. Ein Ausschnitt im Spektrum von Möglichkeiten, mehr oder weniger

diskursive Konfliktregelungsverfahren in Kontexten vorwiegend strategischen Handelns

durchzuführen, wird u.a. im letzten Teil dieser Arbeit vorgeführt (vgl. auch die vielfältigen

anderen Bemühungen zur Zivilisierung des Konfliktaustrags, etwa im Rahmen der UN, die

Methoden der alternative dispute resolution wie auf diversen Tagungen der ev. Akademie

Loccum dokumentiert, usw. usw.).

Apel fordert durch (E) ein Handeln, daß sich nicht mehr nur an idealmoralischen Normen,

sondern anscheinend an gar keinen Normen mehr orientieren braucht. (E) qualifiziert

entweder Maximen (so Apel 1988: 145) oder direkt Handlungen und nicht mehr Normen; eine

Begründung dieser Maximen bzw. Handlungen ist zwar noch zu leisten (zur Not allein vor

sich selbst), aber nicht mehr qua verallgemeinerbarer Normen. Doch warum sollte die

Begründung sich nicht mehr an Normen orientieren – weil moralische Idealnormen gemäß

»U« nicht zu gewinnen sind (wie Apel unterstellt)? Dann könnte man wohl immer noch den

falschen Normbegriff haben und eine Argumentationsregel wählen, in der nicht die

allgemeine Befolgung vorausgesetzt wird. Oder weil reale Diskurse nicht durchführbar sind

(wie Ott unterstellt)? Dann verbleiben immer noch advokatorische oder vollends fiktive

Diskurse (s.u. zu Niquet und Ulrich), und damit moralische Begründungspflichten.

Der Sinn moralischer Normbegründung wird bei Apel (wie auch bei Habermas) verlagert:

weg von der Formulierung universalisierbarer Regeln für das Verhalten in unserer Welt, hin

zu Regeln für das Verhalten in einer Idealwelt. Ihn trifft die Bemerkung Wellmers, es würde

ein »Reich der Zwecke« konstruiert, das man nun aber (ander als noch bei Kant) im Handeln

gleich wieder verabschieden muß. Inwieweit dies ein hebbarer Konstruktionsfehler

bestimmter Varianten der Diskursethik ist, wird im folgenden zu prüfen sein.

Ausdifferenzierung des Anwendungsteils B durch D. Böhler

Ähnlich wie Apel ist Böhler von der Letztbegründung der Diskursethik überzeugt. Diese

versieht das Diskursprinzip »D« mit „absoluter Geltung“:

»Als Argumentierender erhebe ich Ansprüche auf Geltung in einem unbegrenztenDiskursuniversum und bin daher zur Bemühung um den argumentativen Konsens verpflichtet, dersich auch und zumal unter den idealen Bedingungen eines Diskursuniversums mit gänzlicherdialogischer Reziprozität einstellen würde.« (203)

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Als Moralprinzip sieht Böhler anscheinend »U« an, dessen (anders als für Habermas)

teleologischer Geltungssinn jedoch qua »Ureg-tel« und »U-strat« erläuterungsbedürftig sei:

»Ureg-tel« steht für die Pflicht, „sich im realen Universum um die Annäherung an Bedingungen

eines dialogischen Diskursuniversums (bzw. einer idealen Kommunikationsgemeinschaft) zu

bemühen und dabei jene Strukturen zu erhalten und Traditionen auszuschöpfen, die eine

solche Annäherung ermöglichen“ (205). Böhler bezeichnet »Ureg-tel« auch als „Explikation der

Bedingungen, unter denen »U« in der geschichtlichen Realität angewandt werden kann“

(218); dies ist etwas schief: gemeint ist wohl, es sei die Explikation des Geltungssinns von

»U«, nach dem nicht direkt zu handeln sei. Doch »Ureg-tel« ist u.U. noch nicht direkt

handlungsleitend, man muß es nämlich so befolgen, daß man nicht „am strategischen

Durchsetzungsverhalten realer Systeme und Personen scheitert“ (206). Daher müsse man sich

an »U-strat« orientieren, welches fordert, daß die Praktizierung von »Ureg-tel« „in dem Maße

strategisch erfolgen [soll], als solche Strategien – gemäß D und U – gerechtfertig sind, um

unmoralische Gegenstrategien zu neutralisieren“ (ebd.). Dieses Prinzip hat also denselben

Status wie Apels (E), sieht aber eine Rechtfertigung der Strategien gemäß »U« und »D« vor.

Böhler unterscheidet, analog zu Apel, die Stufen A und B, sodann im „idealisierenden

Legitimationsteil der Ethik (A)“ die „Stufen: reflexiver Aufweis von Letztgültigem, das

unbedingt verpflichtenden Anspruch hat (A1), und praktische Diskurse über das, was (im

idealisierenden Diskurs-) Blick auf Handlungssituationen als moralisch verpflichtend bzw.

normativ richtig gelten kann (A2)“150. (Böhler 1992: 203f.) In A1 können nach Meinung von

Böhler der Menschenwürdegrundsatz (des Grundgesetzes) sowie grundlegende

kommunikative Rechte gewonnen werden, und zwar über die Prinzipien »U« und »Ureg-tel«.

Auf der „geschichtlichen Beurteilungsebene A2“ gelte es sodann, sowohl die pragmatisch-

hermeneutische „Situationsangemessenheit (A2.1)“ als auch die legitimatorische [A1-

]„Normgemäßheit“ bzw. „moralische Richtigkeit (A2.2)“ konkreter Normvorschläge

sicherzustellen (210f.). Da wir immer schon in Situationen seien, es einen „sinnkonstitutiven

Prius der Situation“ gebe, die Antwort auf die Frage nach der angemessen „Anwendung einer

Norm auf eine bestimmte Situation“ aber wiederum wahr oder falsch sei, bestünde ein

„pragmatisches Prius der Situationsangemessenheit“ (211). Dem stünde aber das

„geltungslogische Primat der Richtigkeit und der Wahrheit gegenüber der Angemessenheit

gegenüber“ (213). Böhler möchte, mit Verweis auf Günther, von einem

150 Diese Bezeichnungen für Begründungsstufen haben mit den von mir eingeführten Bezeichnungen fürAnwendungsprobleme (A1 – A4) nichts gemein.

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- 224 - -

„Angemessenheitsdiskurs“ sprechen, der „seinerseits unter den Richtigkeits- und den

Wahrheitsansprüchen stehen müßte“ (213; FN 6). Zum Verhältnis von Begründung und

Anwendung komme ich weiter unten noch (im Zuge der Diskussion des Vorschlags von

Günther), deshalb lasse ich das hier unkommentiert.

Von Stufe (bzw. Teil) A unterscheidet Böhler nun einen „verantwortungsethischen Teil B der

Ethik, der Kriterien für die Anwendung moralischer (A2)-Normen in realen

Handlungssituationen sucht“, die ebenfalls dem Diskursprinzip »D« genügen sollen.151 Was

der erneute Situationsbezug meint, ist kurz zu klären; die Spezifizierung moralischer Normen

geschah ja schon auf Ebene von A2. Hier soll es dagegen gerade um diejenigen Situationen

gehen, in denen die allgemeine Normbefolgung nicht vorausgesetzt werden könne und »U«

daher nicht anwendbar sei.

Böhler versteht den Teil B allerdings explizit als „Konsequenz“ von Teil A und nicht – wie

Apel – als dessen Ergänzung (204). Teil B zerfällt dann in die Teile der (B1) „staatlich-

rechtlichen“ und der (B2) „individuellen Folgenverantwortung“ – wobei jene dieser

„subsidiär vorgeordnet wird“ (220f.). Unter derartigen kollektiven oder individuellen

„Zumutbarkeitserwägungen“ wären u.U. Handlungen zu billigen, die „strenggenommen

moralisch illegitim sind“ (220)! Eine entsprechende Rechtfertigung der „Einschränkung der

Geltung moralischer Prinzipien“ ziele auf „intersubjektiv geltungsfähige Kriterien“. Sie

gehören daher, wie Böhler Apel zustimmend zitiert (220), zum Begründungsteil. Nun jedoch,

und dies ist ein Fortschritt gegenüber der Position von Apel, sind die Strategien „ihrerseits an

dem kritischen und kommunikativen Maßstab der argumentativen Konsensfähigkeit zu

messen“, und zwar im Rahmen von »D« (221; 224). Geltungslogisch wird »D« damit »U«

vorgeordnet. Doch folgende Formulierung stellt das Erreichte wieder in Frage:

„Das schließt einerseits eine Freigabe der Realisierungsstrategien (im Sinne von »der Zweckheiligt die Mittel«) aus; andererseits ist neben in der anerkannten Pflicht II [gemeint ist: Ureg-tel;NG] die Folgeverpflichtung impliziert, in dem Maße telosstrategisch zu verfahren (Pflicht III bzw.Pflicht U-strat, als sich in theoretischen Diskursen (über die Verhältnisse der sozialen Welt) dieNotwendigkeit herausstellt, amoralischen Durchsetzungs-, Profil- oder Machtstrategien zu kontern,um diese zu neutralisieren (moralische Strategie kontra amoralische Strategien).“ (219f.)

151 Böhlers Kritik an Habermas, mit der u.a. die Notwendigkeit des Teils B plausibilisiert werden soll, gehtallerdings von der Unterstellung eines „konkretistischen“ (Ulrich) Verständnisses der Diskursethik aus. Böhlertut so, als würde Habermas „stillschweigend eine idealisierte Lebenswelt bzw. eine idealisierte Gesellschaft“voraussetzen (222; vgl. dazu auch Apel 1988; s.o.). Doch auch Habermas‘ „Community- und Diskursidealismus“(Böhler 224) hat Grenzen; Habermas benennt diese Voraussetzung ganz explizit, nur zieht er unterZumutbarkeitserwägungen eine andere Konsequenz als Böhler und Apel.

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- 225 - -

Denn, ähnlich wie Apel (s.o.), zieht sich Böhler hier nun auf per theoretischen Diskursen, also

als nicht-normative Frage zu behandelnde, Notwendigkeiten zurück. Auch hier gilt: Wann

welche Strategie angemessen ist, ist keine theoretische Wahrheitsfrage.

Um den „begründeten Einschränkungen der Anwendung des Diskursprinzips“ eine

Perspektive zu bieten, formuliert Böhler (im Blick auf das sensible Problem der Tötung

schwerstbehinderter Neugeborener) zwei Kriterien, die sich als „diskussions- und

interpretationsbedürftige philosophische Instrumente einer Alltagssokratik“ verstünden:

„Das Kriterium (Z) der Zumutbarkeit (einer moralischen Verpflichtung) für Betroffene, und dasKriterium (V) ihrer Vereinbarkeit mit der Verantwortung stellvertretend Handelnder, die dieInteressen Dritter zu vertreten haben – etwa Eltern, Ärzte und Pfleger, Politiker).“ (226)

Z-Pflichten besteht dabei für Handelnde auch gegen sich selbst, wo sie nämlich „die

Sicherung eines für sie erträglichen, für sie selbst akzeptablen Lebens betreffen“ (226).

So sei, um bei Böhlers Beispiel zu bleiben, die Tötung schwerstbehinderter Neugeborener im

Prinzip verboten (Teil A), aber unter einer gesetzlichen Regelung, die die intensive

individuelle Auseinandersetzung mit der Problematik wahrscheinlich macht, als individuelle

Gewissensentscheidung zu gestatten (Teil B), wenn nämlich ein rechtliches Verbot die

ansonsten entstehende Situation unzumutbar für das Neugeborene (weil nichts als Leid

bedeutend), unverantwortbar für die Eltern (weil diese die Entscheidung für das Leben

zwingend treffen in einem solchen Elend durchhalten müßten) und schließlich auch

unzumutbar für die Eltern (weil für ihr Familienleben ein solches Elend katastrophal) machen

würde. Es sei die „ethische Praxisorientierung“ in Teil B, die das gemäß Teil A „eigentlich als

moralisch illegitim“ anzusehende verantwortungsethisch in Ausnahmefällen erlaubt.

Unter Teil B gelingt es also – nach Böhler –, Raum für individuelle Gewissensentscheidungen

schaffen, die angesichts einer nicht abzubauenden Unsicherheit u.U. unausweichlich sind. Die

Situationsspezifik macht jedoch nicht den Übergang zu einem Teil B erforderlich, und soweit

sich die Gewissensentscheidung auf Z- und V-geleitete Gründe stützen kann, können und

müssen diese auch als (situationsspezifische) Normen reformuliert werden. Daß man dem

Einzelnen gerade in gravierenden Fällen nicht rechtlich zwingen sollte, gegen sein Gewissen

oder seine Überzeugungen agieren zu müssen, ist geschenkt. Dies ist unmoralisch. Doch die

äquivalente Gefahr eines moralischen Zwangs besteht im Rahmen der Diskursethik nicht:

Denn dieser würde ja nur durch gute Gründe ausgeübt werden können. Wo gute Gründe noch

hinreichen, überzeugen sie zwanglos. Wo aber gute Gründe nicht mehr hinreichen, zwingen

sie nicht – auch nicht das Gewissen.

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- 226 - -

Wichtig scheint mir aber die Reflexion auf institutionelle (B1) und individuelle (B2)

Entscheidungen, die zusammen zu einem verantwortlichen Handeln führen; was hier noch als

Teil der Begründung der Diskursethik bezeichnet wird, ist eigentlich seine Anwendung (und

wird weiter unten zu diskutieren sein).

Böhler scheint jedoch zwei Probleme zu vermischen und beide auf der Ebene B ansiedeln und

lösen zu wollen, nämlich das der Normenkollisionen (da durch die Z- und V-Kriterien ja

moralische Pflichten bezeichnet werden) mit dem Problem der Herstellung der

Anwendungsbedingungen von »U«. Denn wo sind in seinem Beispiel die Idealisierungen in

»U« nicht gegeben? Für den von Böhler beschriebenen Konflikt ist es schlicht irrelevant, ob

Normen allgemein befolgt werden. Der im folgenden dargestellte Ansatz nimmt dieses letzte

Problem nun unter eher Habermasschen Prämissen wieder auf.

Ausarbeitung des Problems der Zumutbarkeit durchM. Niquet (1992)

M. Niquets Anwendungskonzeption schließt an die von Habermas angestellten

Zumutbarkeitsüberlegungen an, allerdings betrachtet er allein die mangelnde Akzeptanz der

Normadressaten (Problem A4). Er versucht, eine Definition „befolgungsgültiger“ Normen zu

leisten, die auch für die Situation, daß die Befolgung einer an sich gültigen Norm unzumutbar

ist, noch Aussagen darüber zu treffen gestattet, was zu tun sei. Die Idee ist also, die

Befolgungsgültigkeit zu unterscheiden von der Gültigkeit qua Moralprinzip (M-Gültigkeit, in

Niquets Worten – orientiert an Habermas‘ Verallgemeinerungsprinzip »U« – U-Gültigkeit).

U-gültige Normen seien dann nicht befolgungsgültig, wenn ihre „Anwendungsbedingungen“

nicht erfüllt seien. Zu den Anwendungsbedingungen wird von Niquet ausschließlich die (in

der Formulierung von U unterstellte) „allgemeine Befolgung“ der zu prüfenden Norm gezählt.

Sei diese Anwendungsbedingung nicht gegeben, könne aber eine „Folgenorm“ generiert

werden. Diese Folgenorm sei dann befolgungsgültig, aber selbst nicht U-gültig.

Der Kern von Niquets Überlegungen besteht in einem Verallgemeinerungsprinzip für

Folgenormen. Ich will zunächst Niquets Weg zu diesem Prinzip, zugleich letztes Kriterium

der Befolgungsgültigkeit, hin nachzeichnen und erst dann eine allgemeinere Kritik an seinem

Vorschlag üben.

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- 227 - -

Der Weg zur Befolgungsgültigkeit

Ausgangspunkt der Überlegung ist die Beobachtung, daß gültige Normen unter der Prämisse

der allgemeinen Befolgung gerechtfertigt werden. Rekapitulieren wir noch einmal Habermas‘

Fomulierung von »U«:

„»U« Jede gültige Norm muß der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenfolgen, diesich aus der allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen einesjeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können.“ (1983a,103)

Nun werden Normen aber selten allgemein befolgt – was u.U. Probleme mit sich bringt:

Einerseits können dadurch einige Menschen moralisch nicht mehr ausreichend berücksichtigt

bzw. geschützt werden (etwa bei unvollständig befolgten Hilfepflichten), andererseits kann

aber auch das bisher moralisch Gebotene zu moralisch inakzeptablen Konsequenzen führen

(man denke z.B. an eine ansonsten gebotene strikte Gewaltfreiheit). Moral wird dann, so

könnte man versucht sein zu sagen, unzumutbar entweder für die Adressaten oder die

Betroffenen. Niquets Idee ist nun, in dieser Situation moralische „Folgenormen“ zu

postulieren, die die durch die Nichtbefolgung der ursprünglichen Normen entstandenen

Probleme korrigieren. Dabei muß vorausgesetzt werden, daß einige eben die ursprünglichen

Normen nicht befolgen – eine moralische Pflicht, auf die allgemeine Befolgung dieser

ursprünglichen Normen hinzuwirken, bleibt dennoch bestehen.

Niquet nennt die Normen, deren Befolgung geboten ist, „befolgungsgültig“. Im Laufe der

Argumentation werden dabei verschiedene Bedeutungen dieses Begriffs unterschieden, die

nun nachgezeichnet werden. Wirklich unübersichtlich wird die Diskussion erst dann, wenn im

Sinne der Diskurstheorie unterschieden werden muß, wer denn nun von der wie gerateten

Befolgung der ursprünglichen bzw. der Folgenormen betroffen ist und was daraus für eine

Teilnahme am Diskurs über die genannten Normen zu folgen hat. Doch beginnen wir mit

einer kurzen Darstellung des Niquetschen Konzepts!

Zunächst stellt Niquet klar, daß »U« im Sinne eines kontrafaktischen Konditionalsatzes zu

lesen ist:152 „»U‘«: Eine Moralnorm N ist gültig, wenn die Folgen und Nebenfolgen, die sich

für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben würden,

wenn N allgemein befolgt würde, von allen zwanglos akzeptiert werden können.“ (Niquet

1996: 46). In der „faktischen Handlungswelt“ sei die „allgemeine Befolgung“ aber häufig

152 Diese Stelle ist nicht klar als Kritik an Habermas formuliert, suggeriert aber (zu unrecht), Habermas wäre hierunentschieden oder schwankend.

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- 228 - -

nicht gegeben; Viele Normen seien daher zwar U-gültig (d.h. erfüllten »U« bzw. genauer

»U‘«), aber nicht befolgungsgültig. Dies (genauer: B1-gültig) sei eine Norm vielmehr nur

dann, wenn auch ihre allgemeine Befolgung gegeben sei. Es müsse jedoch, genauer gesagt,

die allgemeine Befolgung als Unterstellung gegenüber den Normadressaten verantwortet

werden können: Eine Norm ist B2-gültig, wenn sie U-gültig ist und die unterstellte allgemeine

Befolgung als Unterstellung gegenüber allen Betroffenen verantwortet werden kann. Da es

laut Niquet (54) Situationen geben soll, wo die allg. Befolgung nicht gegeben, aber ihre

Unterstellung als gegeben dennoch verantwortbar ist, sind B1- und B2-Gültigkeit nicht

koinzident. Insbesondere können in „Lebens- und Handlungszusammenhängen hinreichend

gut eingespielten Rechts, Zusammenhängen,die sich zudem auf eine zumindest in den

Binnenverhältnissen des Alltags weitgehend funktionierende Moral stützen können, (...) U-

gültige Normen [trotz B1-Ungültigkeit, bei B2-Gültigkeit] „ihre eigenen Folgenormen sein“

(54).

Nun ist häufig genug auch eine B2-Gültigkeit nicht gegeben – „zugleich aber soll ja moralisch

gehandelt werden, etwa gemäß einer doch befolgungsgültigen Norm N‘, die sich entsprechend

diskursiv muß ausweisen lassen. Ich möchte eine derartige Norm N‘ als Folgenorm zu der

entsprechenden befolgungsungültigen Norm N bezeichnen.“ (50f.)

Die Befolgungsgültigkeit (B3) einer Folgenorm ist dabei bei nicht-allgemeiner Befolgung

festzustellen:153

„Eine Folgenorm N‘ (zu einer U-gültigen Moralnorm N) heißt befolgungsgültig, wenn dievoraussichtlichen Konsequenzen und Nebenwirkungen einer nicht-allgemeinen Befolgung von N‘für die Befriedigung der Interessen und Präferenzen jedes einzelnen von allen faktischen N-Befolgern, von allen faktisch von der nicht-allgemeinen Befolgung von N Betroffenen und vonallen advokatorisch vertretenen Betroffenen der Befolgung von N‘ rational akzeptiert werdenkönnen.“ (52f.)

Machen wir uns die Gesamtkonzeption einmal in einem Flußdiagramm klar:

153 Aus Konsistenzgründen muß diese Definition auch gelten, wenn N‘=N, und dann B2-Gültigkeit erläutern:Dies gelingt unter der Prämisse, daß es keine N-Befolger gibt, die nicht von N oder N‘ betroffen sind.

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- 229 - -

Abbildung 1

Entscheidungsdiagramm für die Gewinnung von zu befolgenden Normen aus einem Normvorschlag N anhandvon U- und Bx-Gültigkeit einer Norm N bzw. ihrer Folgenorm N‘ (s. Text).

Niquet nimmt hier einige Änderungen an »U« vor, die nicht spezifisch für seine Fragestellung

sind: Er ergänzt die Interessen um Präferenzen und er ersetzt „zwanglos“ durch „rational“; auf

diese Änderungen möchte ich nicht weiter eingehen.154 Das Spezifikum der Definition B3

besteht in den differenzierten Beteiligungsklauseln am, so möchte ich ihn nennen,

Folgediskurs. Um seinen Vorschlag genauer zu verstehen, werden diese jetzt genauer

besprochen, erst im Anschluß soll dann das Gesamtprojekt beurteilt werden.

Wir unterstellen also im folgenden eine Modellwelt mit nur einer U-gültigen Norm N, in der

es wirklich so ist, daß diese Norm als nicht befolgungsgültig erwiesen wird dadurch, daß sie

nicht allgemein befolgt wird, und daher eine Folgenorm N‘ an ihre Stelle treten muß, die auch

bei nichtallgemeiner Befolgung noch befolgungsgültig ist. Blenden wir außerdem die

154 Wahrscheinlich geht Niquet davon aus, daß eine zwanglose Akzeptanz seitens derjenigen N-Nichtbefolger,die aufgrund von N‘ Sanktionen oder Zwangshandlungen zu befürchten haben, nicht unterstellt werden kann.

N U-gültig?

Normvorschlag

NeinJakeine resultierende Pflicht

N B1-gültig?NeinJa

Befolge N!

N B2-gültig?NeinJa

Befolge N‘!

Betrachte N als ihreeigene Folgenorm N‘

Suche andereFolgenorm N‘

N‘ B3-gültig?NeinJa

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- 230 - -

Problematik der Advokation vorerst ab. Alle diese Unterstellungen werden erst im

übernächsten Abschnitt problematisiert.

Betroffenheit und Beteiligung an Folgediskursen

Niquets Intuition in den ‚Beteiligungsklauseln‘ ist vielleicht folgende: Zu beteiligen sind (I)

alle faktischen N-Befolger (die nicht eingesehen haben, daß N nicht B1- und auch nicht B2-

gültig ist), (II) alle faktisch von der nicht-allgemeinen Befolgung von N Betroffenen (die über

die Legitimität der Folgenorm sicher mitbestimmen sollten, denn ihretwegen wird diese ja

erforderlich), sowie (III), advokatorisch, alle von N‘ Betroffenen (um die

„Verhältnismäßigkeit“ der Folgenorm zu wahren gegenüber denen, die durch ihre

Nichtbefolgung von N die Folgenorm N‘ überhaupt erst erforderlich machen). 155

Die Situation wird kompliziert dadurch, daß Niquet davon ausgeht, daß N, obwohl nicht

befolgungsgültig, doch von einigen Menschen (den „naiven Guten“) befolgt wird. Dies

könnte daran liegen, daß N‘ ja noch nicht gefunden ist, und es daher besser erscheint, N zu

befolgen als gar keine Norm. Doch spätestens mit der Beteiligung am Folgediskurs dürften

auch die „naiven Guten“ N als nicht befolgungsgültig einsehen und zugunsten der gültigen

Folgenorm N‘ verabschieden, so daß es danach keine N-Befolger mehr gibt! Die erste Klausel

aus B3 läuft dann leer, die Allgemeinheit dieser Formulierung ist dadurch aber nicht bedroht.

Außer den „naiven Guten“ gibt es die Gruppen derer, die N nicht befolgen; die einen, weil sie

es nicht wollen (die „Bösen“), die anderen, weil sie wissen, daß N dann nicht mehr

befolgungsgültig ist, wenn es „Böse“ gibt (die „reflektierten Guten“). Welche der Menschen

aus allen diesen Gruppen dann N‘ befolgen, ist zunächst einmal offen. Eine Möglichkeit wäre

aber, daß jeder von ihnen N‘ befolgt. Die „nicht-allgemeine Befolgung von N‘“ aus B3 wäre

somit nur dann notwendig nicht-allgemein, wenn es N-Befolger gäbe und wenn N zu befolgen

heißt, N‘ nicht befolgen zu können. Somit müssen wir B3 allgemeiner schreiben (B4):

Eine Folgenorm N‘ (zu einer U-gültigen Moralnorm N) heißt befolgungsgültig, wenn dievoraussichtlichen Konsequenzen und Nebenwirkungen der Befolgung von N‘ für die Befriedigungder Interessen und Präferenzen jedes einzelnen von allen faktischen N-Befolgern, von allenfaktisch von der nicht-allgemeinen Befolgung von N Betroffenen und von allen advokatorischvertretenen Betroffenen der Befolgung von N‘ rational akzeptiert werden können.

An einem einfachen Beispiel läßt sich vielleicht klären, was diese Klauseln sollen (zu Niquets

eigenen Beispielen komme ich noch): Mit N = „Sei gewaltfrei“ und N‘ = „Sei gewaltfrei,

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außer Dir wird versucht, Gewalt anzutun“ würde eine Person A (also eine N-Nichtbefolgerin)

zwei andere Personen angreifen, nämlich Person B (eine „Gewaltfreie“, d.h. eine N-

Befolgerin) und Person C (die sich nach N‘ richten will, da sie sieht, daß N nicht allgemein

befolgt wird); Person D (eine N-Befolgerin) und Person E (eine N‘-Befolgerin) stünden

daneben. Dann soll wohl die erste Klausel die Legitimität von N‘ gegenüber Person B und D

betreffen, die zweite Klausel die gegenüber den Personen C und E und die dritte Klausel die

gegenüber Person A.

Ohne daß der Begriff der Betroffenheit von einer Norm geklärt wird, genauer: der

Betroffenheit von der allgemeinen oder nicht-allgemeinen Befolgung einer Norm, läßt sich

hier kaum weiterkommen. Ich möchte daher folgende Sprachregelung vorschlagen:

Betroffene einer Norm sind einerseits die Normadressaten, diese sind aktiv betroffen, und

andererseits die Handlungsgegenüber der Normadressaten sowie alle sonstigen Menschen, für

die die fragliche Handlung der Normadressaten einen moralischen Unterschied macht, diese

sind direkt bzw. indirekt passiv betroffen.156 Die Rede von Betroffenheit ist mehrdeutig, es

können einerseits alle diese, sich möglicherweise überschneidenden, Betroffenengruppen

gemeint sein, andererseits aber auch nur die direkt passiv Betroffenen. Ich will im folgenden

den weiten Betroffenenbegriff verwenden. Diejenigen, die von der allgemeinen Befolgung

einer Norm betroffen sind (weil ihre Interessen betroffen sind), sind identisch mit denjenigen,

die von einer Norm betroffen sind. Diejenigen, die von der nichtallgemeinen Befolgung einer

Norm N betroffen sind, sind hingegen eine i.A. größere Gruppe: Denn dann wird (so die

Annahme in unserer Modellwelt) eine Folgenorm N‘ erforderlich, und alle von dieser

Betroffenen sind nicht unbedingt auch von N betroffen. Es gibt nämlich die Möglichkeiten

des Pflichtenerlasses (wenn fast keiner sich an xy beteiligt, braucht man es auch nicht zu tun)

oder der Pflichten-Ausweitung (weil yz seiner Pflicht nicht nachkommt, muß man selber

einspringen).

155 Die Unterstellung ist hier offensichtlich, daß ein Mensch, der eine beliebige moralische Norm verletzt, nichtzum Diskurs über die entsprechende Folgenorm zugelassen ist, gleichzeitig aber seine Interessen nicht völligaußen vor bleiben dürfen. Wann eine Advokation nötig ist, werde ich erst im nächsten Abschnitt thematisieren.156 Der naheliegende Einwand wäre: Eine (universalistische) Norm richtet sich doch immer an jede und jeden.Und doch sind immer nur einige in den Situationen, in denen diese Norm Anwendung finden kann: Wer etwanicht die Mittel zur Verfügung hat, eine normativ verbotene Handlung zu vollführen, ist durch diese (zumindestderzeit) nicht aktiv betroffen. So, wie Niquet in der Def. B3 der Befolgungsgültigkeit von den Personengruppender Klauseln (I) bis (III) spricht, muß er diesen Zeitindex mitführen: Könnten doch die Extensionen der„faktischen N-Befolger“, der „faktisch von der nichtallgemeinen Befolgung von N Betroffenen“ und die „N‘-Betroffenen“ mit der Zeit variieren, und somit auch die Beteiligung am Folgediskurs. Ich halte es daher fürlegitim, den Zeitindex einzuführen und damit die jeweiligen Gruppen der aktiv und passiv Betroffenen wieangegeben einzugrenzen.

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Im von Niquet anvisierten Fall gibt es zwei Normen, N und N‘, so daß hier 3 x 3 = 9

Personengruppen zu unterscheiden sind. Dies ist zu multiplizieren mit den insgesamt vier

Möglichkeiten, N oder N‘ zu befolgen oder nicht zu befolgen. Logisch ergeben sich somit 9 x

4 = 36 Möglichkeiten.

Ich will hier nicht auf logischen Möglichkeiten herumreiten wie denen, daß es N‘-Befolger

gibt, die keine N‘-Adressaten sind (sondern die irrtümlich die Folgenorm befolgen), oder daß

die Norm N‘ auch noch aus anderen Gründen geboten sein kann, außer deshalb, weil sie die

Folgenorm zu N ist (dann gäbe es N‘-Adressaten, die nicht am Folgenorm-Diskurs zu

beteiligen wären). Aber es ist doch schon auffällig, daß die N‘-Adressaten in keiner Klausel

vorzukommen scheinen. Niquet nimmt vielleicht an, daß für die Adressierung der Folgenorm

alle faktischen N-Befolger heranzuziehen sind – Pflichten-Ausweitungen wären dann nicht

vorgesehen.

Offensichtlich fehlerhaft angegeben ist die Gruppe der „von der Befolgung von N‘

Betroffenen“ aus Klausel (III): Diese umfaßt ja nach meiner Lesart sowohl die N‘-Adressaten

als auch alle passiv N‘-Betroffenen (und das heißt auch diejenigen, deren Schutz durch die

mangelnde allgemeine Befolgung von N die Folgenorm erforderlich macht). Doch diese sind

ja nach Niquet nur advokatorisch zu beteiligen, so daß ich denke, er meint eigentlich nur

einen Teil der direkt passiv von N‘ Betroffenen, nämlich diejenigen, die N nicht befolgen,

obwohl sie dies sollten.

Welche Personen umfaßt aber die Klausel (II), die Gruppe der „von der nichtallgemeinen

Befolgung von N Betroffenen“? Niquet scheint hier, anders als gerade ausgeführt wurde, nur

auf die Handlungsgegenüber derjenigen N-Adressaten abzuzielen, die keine N-Befolger sind.

Meinte er nämlich auch die N‘-Adressaten, hätte er nicht die faktischen N-Befolger in Klausel

(I) extra aufgeführt. Die N‘-Adressaten drohen also durch Niquets Raster zu fallen, genau wie

die N-Adressaten, die keine N‘-Adressaten sind, und wie die rein passiv von N‘ Betroffenen,

die nicht passiv N-betroffen sind (dann griffe Klausel II) und die nicht N-Nichtbefolger sind,

aber N-Adressaten (dann griffe Klausel III).

Eigentlich gehören zu den von der nichtallgemeinen Befolgung von N Betroffenen sowohl die

N-Betroffenen sämtlich dazu, wie auch die N‘-Adressaten und die N‘-Betroffenen – da es N‘

ohne die nichtallgemeine Befolgung von N nicht geben müßte und die Einführung von N‘ alle

N-Betroffenen betrifft. Diejenigen, die an dem ganzen Schlamassel Schuld sind, die N-

Nichtbefolger, sind aus dieser Gruppe m.E. nicht auszuklammern, denn es ist semantisch

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einwandfrei, diese als von ihrer eigenen N-Nichtbefolgung Betroffene zu bezeichnen (denn

die von ihnen provozierten Folgenormen betreffen sie ja dann). Jedenfalls aber wäre Klausel

(I) überflüssig und Klausel (II) sollte präzisiert werden.

Unter den Annahmen, daß für Niquet Pflichten nicht erlassen oder ausgeweitet werden, und

daß „betroffen“ bei Niquet nur heißt: direkt passiv betroffen, läßt sich in seinem Sinne

formulieren (B5):

Eine Folgenorm N‘ (zu einer U-gültigen Moralnorm N) heißt befolgungsgültig, wenn dievoraussichtlichen Konsequenzen und Nebenwirkungen der Befolgung von N‘ für die Befriedigungder Interessen und Präferenzen jedes einzelnen von allen faktischen N-Befolgern (d.h., den N‘-Adressaten), von allen Handlungsgegenübern derjenigen N-Adressaten, die N nicht befolgen undvon allen advokatorisch vertretenen, von der Befolgung von N‘ betroffenen N-Nichtbefolgernrational akzeptiert werden können.

Lassen wir diese Annahmen fallen, gebrauchen also den weiten Betroffenenbegriff, könnte

man sagen (B6):

Eine Folgenorm N‘ (zu einer U-gültigen Moralnorm N) heißt befolgungsgültig, wenn dievoraussichtlichen Konsequenzen und Nebenwirkungen der Befolgung von N‘ für die Befriedigungder Interessen und Präferenzen jedes einzelnen von allen von N oder von N‘ Betroffenen rationalakzeptiert werden können, wobei die Interessen und Präferenzen der passiv N‘-betroffenen N-Nichtbefolger nur advokatorisch zu berücksichtigen sind.

So werden die in Niquets Formulierung enthaltenen Doppelungen vermieden.

Allgemeinere Aspekte der Kritik

Es verbleiben aber immer noch so große Probleme, daß diese Konzeption als vollends

untauglich angesehen werden muß. Das sieht man, wenn man die bei Niquet nirgends

kenntlich gemachten Annahmen der Modellwelt (mit nur einer U-gültigen Norm N, in der es

wirklich so ist, daß diese Norm als nicht befolgungsgültig erwiesen wird dadurch, daß sie

nicht allgemein befolgt wird, und daher eine Folgenorm N‘ an ihre Stelle treten muß, die auch

bei nichtallgemeiner Befolgung noch befolgungsgültig ist – s.o.) hinterfragt.

Gehen wir die Argumentationsschritte nocheinmal durch, beginnen die Unstimmigkeiten

schon ganz am Anfang (bei B1): Eine Norm ist nämlich keineswegs befolgungsgültig, wenn

sie allgemein befolgt wird! Das hätte auch Niquet merken müssen, denn er bemüht (zur

Illustration der Befolgungsungültigkeit des Lügenverbots) das Kantsche Beispiel der Notlüge

gegenüber einem den Aufenthaltsort seines Opfers erfragenden Mörder. Legt der Mörder

seine Absicht offen, dann lügt niemand, und doch wäre die wahrheitsgemäße Auskunft nicht

verantwortbar. Daß der Mörder u.U. lügt, ist hier gar nicht das Problem. Genauso ist eine

Norm nicht schon dann befolgungsungültig, wenn sie nicht allgemein befolgt wird: Dies hätte

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Niquet etwa an seinem zweiten Beispiel sehen können, der gewaltsamen Befreiung von

Folterlager-Insassen: Denn daß die Lager-Aufseher ihre Hilfepflicht verletzen, verstärkt diese

Pflicht doch eher seitens der potentiellen Befreier!

Niquet scheint an einfache Kooperationssituationen zu denken: Dort, wo Kooperation

unabdingbar ist zur Erreichung eines moralisch gebotenen Ziels, kann die eigene Pflicht

entfallen, wenn man schon weiß, die anderen kooperieren nicht (bzw. sie besteht nur dann,

wenn die anderen auch kooperieren) – jedenfalls als direkte Pflicht, denn zu

Überzeugungsarbeit, Mobilisierung alternativer Mittel etc. bleibt man natürlich weiterhin

aufgefordert. Doch die wenigsten moralischen Probleme (und nicht einmal Niquets eigene

Beispiele) haben diese Struktur.

Im Kantschen Notlügebeispiel, das Niquet ja selber bemüht, geht es um eine

Pflichtenkollision; diese adäquat zu diskutieren, und sie etwa vom gerade benannten

Kooperationsproblem abzugrenzen, fehlt Niquet jedoch das Vokabular. Daß es „umzumutbar“

werden kann, einer Pflicht nachzukommen, wenn dadurch eine höherstehende Pflicht verletzt

werden würde, ist ja bei Niquet durch die Beschränkung auf die Betrachtung genau einer

Norm nicht vorgesehen. „Unzumutbar“ scheint mir hier auch kein besonders treffendes Wort:

„Moralisch falsch“ wäre wahrscheinlich besser.

Zurecht weist Niquet auf die durch die U-Gültigkeit einer Norm implizierte Teleologie hin:

Auf die B1-allgemeine Befolgung der bloß suspendierten Norm ist hinzuarbeiten. Seine

Folgenorm drückt das aber garnicht mehr aus. Nimmt man diese Forderung jedoch ernst, stellt

sich sofort die Frage nach den zugelassenen Mitteln sowie der Behandlung dieser

„Ergänzungsnorm“ im Falle von Konflikten mit moralischen Normen.

Doch das fundamentalste Problem liegt m.E. darin, wie Niquet begründet, daß die Folgenorm

nicht U-gültig ist (53): Für ihn sieht es nämlich, wieder am Beispiel des Lagers, so aus (51):

„Klar ist: Eine ‚Norm‘ der ‚punktuellen‘ Gewaltanwendung ist keine U-gültige Norm, da,abgekürzt formuliert, ein allgemeiner Zustand der Gewaltanwendung nicht rational gewollt werdenkann.“

Wo genau liegt jedoch das Problem der „Allgemeinheit“ der Gewaltanwendung? Keinesfalls

darin, daß dann alle auf einmal die Lagerinsassen befreien müßten – auch dies hieße, eine

Universalisierung mit einer Generalisierung zu verwechseln (vgl. Hare in Grewendorf /

Meggle 1974). Auch nicht darin, daß auch Insassen anderer Lager befreit würden. Höchstens

könnte man sagen: Sosehr wir uns doch die Befreiung der Lagerinsassen wünschen, noch

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- 235 - -

lieber würden wir in einer gewaltfreien Welt (d.h. ohne Lager) leben. Aber was spricht

dagegen, in dieser Welt die Norm, Lagerinsassen durch punktuelle Gewaltanwendung (so

Niquet ja selbst in obigem Zitat) zu befreien, als für jeden verbindlich zu erklären? Noch

deutlicher wird die Angelegenheit im Falle von Notwehr: Was hätte Niquet gegen eine Norm,

die Gewaltanwendung außer in Notwehr verbietet? Zumal in einer hypothetischen Welt, wo

einem niemand oder fast niemand Anlaß zu derselben gibt – denn in einer solchen scheint

Niquets Lager-Beispiel zu spielen? Welchen Sinn hätte denn überhaupt die Formulierung von

Normen, die nicht auch von allen befolgt werden könnten? Hier ist doch schlicht nach einer

universalistischen Formulierung der Norm selbst zu suchen, z.B. durch Spezifizierung auf

bestimmte (Ausnahme-)Situationen.

Nicht minder große Probleme offenbart die bisher aufgeschobene Diskussion des Niquetschen

Kriteriums der Advokation: Betroffene, die Normen verletzen, sind doch dann vom Diskurs

auszuschließen, wenn diese Normen die Voraussetzung dafür sind, reale Diskurse mit ihnen

führen zu können (und keinesfalls schon dann, wenn sie sich Normen verweigern, die Resultat

von idealen Diskursen wären – so aber Niquet 51).157 Nur dann, wenn N oder N‘ solche

Voraussetzungen betreffen, können ihre Nichtbefolger deshalb nicht direkt zugelassen

werden. Da wir dies nicht wissen, ohne zu wissen, um welche Normen es geht, können wir

hier keine allgemeinen Aussagen machen. Diese Voraussetzungen betreffen etwa den

Umgang mit dem diskursiven Gegenüber, aber auch die Einhaltung von Normen, deren

Nichtbefolgung „Strategiekonterstrategien“ (Kettner) erforderlich machen – also verdeckt

strategische Reaktionen (wobei auch hier weiter zu differenzieren wäre: Eigene Inputs z.B.

wären dadurch ja nicht ausgeschlossen). Daneben ist zu bedenken, daß es neben der

Nichtbefolgung von Normen auch noch weitere Gründe für eine advokatorische Beteiligung

gibt, die Niquet nicht anspricht, etwa mangelnde Kompetenz, fehlende Zeit u.Ä.

Die Unterstellung der „allgemeinen Befolgung“ im Moralprinzip

Niquets Überlegungen schließen an Habermas‘Ausführungen zur Zumutbarkeit an, gehen

jedoch im Versuch der Gewinnung von „Folgenormen“ über diese hinaus. Niquet verengt den

157 Niquet führt an, daß die Interessen der Lager-Bewacher deshalb nur advokatorisch zu berücksichtigen seien,weil es „nicht sinvoll, ja möglicherweise absurd“ sei, „in Fällen wie der Beispielsituation von unmittelbarBetroffenen ‚moralischer‘ Gewaltanwendung rationale Zustimmung zu einer Handlungsweise zu erhoffen, diemöglicherweise deren eigenes Leben beendet.“ (52) Meines Erachtens führt dieses Argument in die Irre, dennwenn sich die Bewacher wirklich auf einen Diskurs einlassen würden, könnte man sie gleich davon überzeugen,moralische Normen nicht weiter zu verletzen, was besagte Schritte gegen sie überflüssig macht. Insofern istderen rationale Zustimmung nicht das eigentliche Problem. Niquet läuft so Gefahr, die Interessen der Täter zuverabsolutieren und das Problem unlösbar zu machen.

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- 236 - -

Blick dabei auf eine einzelne Norm und konstruiert eine Folgenorm aufgrund der nicht-

allgemeinen Befolgung genau dieser einen Norm hin. Doch weder die Nichtbefolgung dieser

Norm noch die Nichtbefolgung genau dieser Norm stellt in der Regel das

verantwortungsethische Problem dar (wie seine eigenen Beispiele belegen). Seine Position zur

Beteiligung an Folgediskursen konnte insgesamt konsistent rekonstruiert werden, seine

Ausführungen zur advokatorischen Beteiligung einiger der Folgenorm-Betroffenen sind

jedoch im Kern verfehlt, diejenigen zur Nicht-Universalisierbarkeit der Folgenorm sind

ebenfalls nicht plausibel.

Habermas wollte dieses Anwendungsproblem durch den Übergang zum Recht lösen:

Aufgrund der Sanktionierung der Befolgungsverweigerung dürfen wir die allgemeine

Befolgung erwarten, so daß die Befolgung moralischer Normen zumutbar wird. Das Recht

bekommt so eine glasklare moralische Funktion, da der Rechtszustand moralisch gefordert

werden kann (s.o. unter „Zumutbarkeit“). Die seit 1992 vorgebrachten Aussagen von

Habermas‘, Recht und Moral verdankten sich der Ausdifferenzierung eines diesen Sphären

gegenüber noch neutralen Diskursprinzips (s.o., Kap. eins) lassen jedoch den Schluß zu, das

Recht hätte mit der Moral wenig zu tun. Fundamentale Rechte könnten zwar zugleich als

moralische wie als juridische Rechte interpretiert werden, es sei jedoch nicht so, daß die

Moral den Kerngehalt des Rechts festlege. Sicher ist es so, daß die juridische Rechtsform

einen Unterschied macht: Juridische Rechte müssen von einer anerkannten Instanz explizit

gesetzt werden, nachweisbare Rechtsverletzungen ziehen äußere Sanktionen nach sich, diese

Sanktionen sind von einer rechtshermeneutischen Instanz zu bestimmen und von einer

Exekutive durchzusetzen; juridische Rechte sind einklagbar. All das ist bei moralischen

Rechten anders. Juridische Rechte sind letztlich als Antworten auf die Frage zu verstehen:

Welches nachweisliche Verhalten wollen wir mit welcher äußeren Sanktion belegen?

Moralische Rechte antworten auf die Frage: Welche Handlungen glauben wir, voneinander

fordern zu dürfen? Einige dieser Handlungen können wir gar nicht, einige wollen wir

vielleicht garnicht erzwingen. Man denke an die Wahrhaftigkeit: Jemanden zu belügen, ist ja

an sich nicht rechtswidrig. Und eine wirklich allgemeine Befolgung kann auch durch den

Rechtszwang nicht sichergestellt werden, da dieses ja nur Sanktionen bereithält, das Einhalten

des Gesetzes aber nicht im wörtlichen Sinne erzwingen kann.

Sicher, einige moralische Prisoners-Dilemma-Situationen lassen sich durch die Absicherung

von Pflichten qua Recht überwinden: Wo es etwa klar geboten wäre, zu helfen, ich aber

alleine mich nur selbst gefährden würde. Viele sind sicher auch dann erst motivational bereit,

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- 237 - -

etwas zu tun, was sie an sich für sinnvoll halten, wenn sie wissen, daß andere sich ebenfalls

dieser Pflicht nicht entziehen. Das Recht ist dabei aber nur eine Möglichkeit der

organisationellen und institutionellen Überwindung solcher individueller Dilemmata. Sowohl

gibt es andere Organisationsmöglichkeiten für positive Pflichten (z.B. die staatliche

Verwaltung oder NGOs), als auch gibt es andere Saktionsmöglichkeiten als die des Rechts

(z.B. sozialer Druck).

Doch der Kern dessen, warum es nicht plausibel ist, daß die Befolgung moralischer Normen

erst durch den Rechtszwang zumutbar wird, sehe ich in Folgendem: Mit der moralischen

Anerkennung eines Gegenüber geht eine bestimmte Form der Achtung einher, die durch ein

bloß aufgrund von Furcht vor Sanktionen bewirktes regelkonformes Verhalten prinzipiell

nicht beigebracht werden kann. Wo Menschen also erst durch den Rechtszwang Normen

befolgen, liegt gerade keine moralische Achtung des Gegenübers vor. Es geht mir dann

nämlich bei der Normbefolgung nicht um den Anderen, sondern um mich. Wo Menschen

allerdings erst aufgrund der Rechtform (verstanden als explizite Kodifizierung) bereit sind,

Normen befolgen, wird das Gegenüber allerdings immerhin als ein solches geachtet, daß ein

Recht auf eine rechtsförmige Behandlung hat, dem also nicht mit bloßer Willkür begegnet

werden darf – mehr aber auch nicht.

Es ist schlicht falsch zu sagen, erst durch das Recht würde die Befolgung moralischer Normen

zumutbar. Ob beliebige andere Normen befolgt werden, ist für die Verbindlichkeit einer

Norm regelmäßig irrelevant (Denn nur ausnahmsweise führt dies zu Pflichtenkollisionen wie

in Kants Lügnerbeispiel). Der Grad der allgemeinen Normenbefolgung ist in der Regel

genauso unerheblich: Was hat es in einer Situation zu sagen, daß beliebig viele unbeteiligte

Menschen die Norm nicht befolgen, die mich verpflichtet, wenn von deren Nichtbefolgung

mein Handlungserfolg nicht abhängt? Und dann gibt es – wie in der Diskussion der

Hilfepflicht bei Niquet bemerkt – reichlich Situationen, wo selbst oder gerade wenn alle

anderen, auch die Beteiligten, eine moralische Norm nicht befolgen, diese Befolgung von mir

erwartet werden kann (sie also durchaus zumutbar ist).

Für den Habermasschen Lösungsvorschlag des Zumutbarkeitsproblems gilt Ähnliches wie für

Niquets Lösungsvorschlag: Weder wird generell durch das Recht die Befolgung moralischer

Normen zumutbar, noch wird erst durch das Recht die Befolgung zumutbar. Denn es gibt

Situationen, wo auch durch eine Verrechtlichung die Befolgung moralischer Normen nicht

erreicht werden kann (und ihre Befolgung dadurch also nicht zumutbar wird), und es gibt

Situationen, wo trotz fehlender allgemeiner Befolgung die Normbefolgung bereits zumutbar

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ist (und eine Verrechtlichung also garnicht erforderlich ist, selbst wenn sie die allgemeine

Befolgung sicherstellen könnte).

Warum überhaupt die Klausel in »U«, daß eine Norm unter Annahme ihrer „allgemeinen

Befolgung“ zu prüfen ist? Erstens: Eine Norm muß immer auch allgemein befolgt werden

können. Sie ist so zu formulieren, daß sie formalsemantisch an jeden adressiert ist

(Universalismus á la Hare), allerdings an jeden, der in bestimmten Situationen sich befindet,

der über bestimmte Fähigkeiten verfügt usw. Zu festen Zeiten ist dadurch immer nur ein Teil

der potentiellen Adressaten wirklich aktiv oder passiv betroffen (s.o., Fußnote 156). Auch

völlig willkürliche Kennzeichnungen (z.B. die Augenfarbe) lassen sich vorstellen, etwa wenn

Hilfepflichten aufgeteilt werden müssen, solange jeder eine etwa gleichgroße Last

aufgebürdet bekommt (jeder, der x, soll X tun; jeder, der y, soll Y tun; usw.). Der Witz

dessen, daß die Norm nun auch allgemein befolgt werden kann, ist, daß ihre generelle

Befolgung durch alle jeweilig aktiv oder passiv Betroffenen möglich sein muß, ohne daß eine

problematische Situation entsteht. Die Norm ist also so intelligent zu formulieren, daß nicht

z.B. ein Hilfegebot, würde es wirklich allgemein befolgt, zu derart chaotischen Verhältnissen

führt, daß schließlich keine der Hilfeleistungen ihr Ziel erreicht. Oder das hierdurch andere

gültige Normen verletzt werden.

Die Überlegung hingegen, daß moralische Normen unter der Prämisse geprüft werden, daß sie

auch allgemein befolgt werden würden, klingt zunächst einmal plausibel wegen der

umfassenden Beratungssituation des Diskurses. Hier ist ja schon vorausgesetzt, daß alle nach

einer richtigen Lösung suchen – aber doch nicht notwendigerweise, daß sich auch alle an

diese Lösung halten werden! Unsere alltäglichen moralischen Handlungsrechtfertigungen

beziehen sich doch auf Situationen, in denen gerade nicht alle moralisch einwandfrei handeln.

Die Gründe, die wir uns dabei geben, sind (u.A.) die Normen, die die Diskursethik prüfen

will. Wenn sie dabei intrinsisch eine andere Handlungssituation annehmen würde, als wir sie

dann real vorfinden, gäbe es tatsächlich ein Problem. Wir könnten also fordern, daß unsere

Normen so intelligent zu formulieren sind, daß wenigstens nicht schon eine einzelne

Normverletzung die Befolgung dieser Norm falsch werden läßt.

Kurz gesagt: Intelligente Normen sind anscheinend einigermaßen robust, d.h. solche, die zwar

auch allgemein befolgt werden können, jedoch gültig bleiben, auch wenn sie nicht allgemein

befolgt werden.

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- 239 - -

Bleiben wir bei der Standardkonzeption von allgemeinen und abstrakten Normen. Nun ist es

nämlich auch in einer Situation, wo alle solche moralischen Normen allgemein befolgt

werden, u.U. moralisch erforderlich, eine Normverletzung zu begehen: Dann nämlich, wenn

eine Normverletzung seitens einer Person unmittelbar bevorsteht, und durch die

Normverletzung eine (ansonsten unmoralische) Handlung gegenüber dieser Person

abgewendet werden kann (z.B.: Notwehr). Diese Problematik läßt sich wiederum durch

intelligente Normen abfangen: Wir regeln einfach auch die Situationen des „unmittelbaren

Bevorstehens“. Allgemeine und abstrakte Normen, wie z.B. „Du sollst nicht töten“, sind da

denkbar ungeeignet: Diese werden nämlich regelmäßig dann ungültig, wenn auch nur eine

einzige Normverletzung unmittelbar bevorsteht: Dann nämlich darf man nach landläufigem

Verständnis mindestens die Normverletzung, die diese Person selber im Begriff ist zu

vollziehen, ebenfalls in Anspruch nehmen, um diese Person daran zu hindern (Also:

Jemanden anlügen, um dessen Lüge zu verhindern; jemanden verletzen, um Verletzungen

durch ihn zu verhindern). Das ist natürlich eine fragile Konstruktion, an der es im Detail viel

zu kritisieren gibt (etwa: das u.U. weniger gravierende Verstöße gegen andere Normen den

fraglichen Normverstoß ebenfalls verhindern können), aber doch im Kern nicht falsch: Sind

die Moralnormen simpel genug konstruiert, wird eine von ihnen im Falle einer

bevorstehenden Normen-Nichtbefolgung ungültig werden.

Normen, die diesen Überlegungen standhielten, wären ziemlich speziell. Im Prinzip lassen

sich Normen dieses Spezifitätsgrades natürlich entwickeln, vielleicht auch anhand neuer

Problemlagen immer weiter fortentwickeln. Eine Konzeption allgemeiner und abstrakter

Normen müßte in der Formulierung triviale Generalklauseln wie „solange Du dadurch nicht

mehr Schaden als Nutzen anrichtest!“ o.Ä., was auch die Berücksichtigung dieser

Normenkonflikte umfassen soll, sinngemäß an jede normative Handlungsaufforderung

anhängen. Allgemeine und abstrakte Normen sind daher immer nur Prima-facie-Normen und

das Problem ihrer Anwendung in bestimmten Situationen bleibt offen.

Das Problem A4, von dem dieser Abschnitt handelte, ist nicht das einzige Problem, das

allgemeine und abstrakte Normen mit sich bringen. Das wird uns K. Günthers Konzeption der

„Anwendungsdiskurse“ zeigen, die nun diskutiert werden soll. Im Anschluß an die

Darstellung seiner Konzeption wird die Position von R. Alexy vorgestellt und die Frage der

Allgemeinheit und Abstraktheit von Normen noch einmal aufgenommen werden.

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- 240 - -

Ausarbeitung des Problems derAnwendungsdiskurse durch K. Günther (1988)

Eine scheinbar geschickte diskurstheoretische Reaktion auf das Problem A1b (in Verbindung

mit A1a und A2) besteht im Konzept des „Anwendungsdiskurses“ (Günther 1988). Nach dem

Modell der politischen Gewaltenteilung in Legislative und Judikative sei nämlich

Normenbegründung von Normenanwendung zu unterscheiden.158

Bevor dieses Konzept näher untersucht wird, soll die grundlegende Idee sowie die sie

stützende Argumentationsstrategie kurz skizziert werden. Günther betont die Relevanz seiner

Untersuchung für alle „kognitivistischen“ Theorien, also für solche, die die Richtigkeit

moralischer Urteile an allgemein zustimmungsfähige Gründe binden (1988: 11). Diese

Gründe, so Günthers These, umfassen nämlich „nicht nur eine Geltungs-, sondern auch eine

Anwendungsdimension“ (12). Schließlich könne „keine Norm alle Fälle ihrer Anwendung“

regeln, wie Günther den bekannten Wittgensteinschen Topos variiert. „Diese Gründe [der

Anwendungsdimension; N.G.] betreffen den Akt der Auswahl relevanter Situationsmerkmale

in einer Handlungssituation“ (12). Es sei daher nicht damit getan, „die in Betracht gezogenen

Tatsachen auf ihre Wahrheit und die vorgeschlagene Norm auf ihre Richtigkeit hin“ zu

überprüfen (12).

Doch schon an dieser Stelle ist eine kritische Bemerkung nötig: Höchst irritierend an

Günthers Argumentation ist, daß er im folgenden garnicht mehr von relevanten

Situationsmerkmalen spricht, sondern nur noch von Situationsmerkmalen. So ist häufig von

„allen Merkmalen“ die Rede, und man fragt sich, ob dann alle moralisch bzw. normativ

relevanten Merkmale gemeint sind, oder tatsächlich alle beliebigen Merkmale.

Günther möchte also zeigen, daß das Problem der angemessenen Anwendung von Normen ein

Problem ist, das nicht nur die Habermassche Diskursethik betrifft, sondern alle

kognitivistischen Ethiken. Dazu bemüht er zunächst das Universalisierungskonzept von R.

Hare, um einige grundlegende Punkte semantisch universeller Normen klarzumachen. Dann

stützt er sich auf das Toulmin-Habermassche Argumentationsmodell (s. erstes Kapitel dieser

Arbeit), das zeigen soll, daß solche Normen in Begründungen regelmäßig involviert sind.

158 Im folgenden ist dafür auch (in Übereinstimmung mit Günthers Diktion) kurz von »Begründung« und»Anwendung« die Rede, obwohl nach obiger analytischer Einteilung beide als Anwendungsprobleme anzusehensind.

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- 241 - -

In der Diskursethik kommen nun aber noch einige problemverschärfende Dinge hinzu: Das

Moralprinzip verlangt ja nicht nur eine semantische Universalisierung, sondern eine

moralische. Bei der Begründung von moralischen Normen müssen noch einige weitere Dinge

berücksichtigt werden als bloß die Eventualitäten, die eine semantische Universalisierung zur

Folge hat. Diese führen auf in der Begründungssituation kaum überwindliche epistemische

Probleme. Zwei verschiedene Strategien werden diskutiert, mit diesen Problemen (und denen

der semantischen Universalisierung) umzugehen: Man könnte dem Habermasschen

Universalisierungsprinzip »U« diese Probleme einfach aufbürden, oder man könnte gegen

solch eine starke Lesart von »U« eine schwächere Lesart verteidigen, die die Ergänzung von

»U« durch ein Angemessenheitsprinzip (A) erforderlich macht (Günther favorisiert die zweite

Option). Schließlich wird eine historisch-genealogische Betrachtung angestellt, die die

gemeinsame Ausdifferenzierung der Anwendungsdimension und der Begründungsdimension

der schließlich postkonventionellen Moral plausibel machen soll.

Betrachten wir zunächst also diejenigen Argumente, die auf der Ebene einer jeden

Normenethik für eine eigenständige Anwendungsproblematik sprechen, und dann diejenigen

Argumente, die insbesondere unter Voraussetzung von »U« als Moralprinzip für

eigenständige Normenanwendungsdiskurse sprechen. Schließlich will ich auf einige

Eigenheiten der Güntherschen Problemwahrnehmung eingehen, die tieferliegende

Anwendungsfragen verdecken, wodurch bestimmte Herausforderungen unkenntlich werden,

denen Anwendungsdiskurse ausgesetzt sind.

Anwendungsprobleme von Normen

Im ersten Schritt erläutert Günther am Beispiel der Hareschen semantischen

Universalisierung, daß moralische Normen immer auf Situationen (im Plural) bezogen sind.

Hare fordert für universalisierbare Normen ja bekanntlich, daß an den Personenstellen keine

Konstanten vorkommen dürfen. Von daher gibt es für eine Norm immer verschiedene

Anwendungssituationen, die sich durch die Belegung dieser Personenvariablen unterscheiden.

Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß es zwei verschiedene Verwendungen des Wortes

„Situation“ gibt: Einerseits können wir sagen, ein Individuum ist in einer bestimmten

Situation (und in genau dieser Situation kann auch ein anderes Individuum sein). Dieser

Begriffsverwendung folge ich nicht, dafür werde ich (wenn Verwechslungen möglich sind)

das Wort „Lage“ verwenden. Andererseits spricht man nämlich davon, daß sich eine Situation

von einer anderen auch dadurch unterscheidem kann, welches Individuum ein einer

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- 242 - -

bestimmten Lage ist. Ich möchte diesem allgemeinsten Situationsbegriff folgen. Günther

scheint mir den Begriff schwankend zu verwenden: In der Hare-Diskussion verwendet er den

letzteren Situationsbegriff, an anderen Stellen seiner Argumentation kann dies nicht mehr so

sein – ich komme darauf zurück.

Günther rekonstruiert (analog zu Habermas 1973, s.o.) die Rechtfertigung einer Handlung

mittels des Toulmin-Schemas (Data und Warrant ergeben zusammen die Conclusion), das

sich (analog zu Alexy 1991) auch analytisch darstellen lasse (41):

(1) (x) (Fx Æ Gx) (W)

(2) Fa (D)

(3) Ga (C) (1), (2)

Der Warrant, also die Regel, weise dabei die universelle Form auf, die Hare analysiert habe:

(x) sei die uneingeschränkte Personenvariable, die den Universalismus garantiert. Das

Schema soll wohl, wenn ich Günther richtig verstehe, so verbalisiert werden: Für alle

Individuen gilt: Wer in der Lage F ist, soll G tun.159 Eine Situation Fa besteht dann also darin,

daß ein Individuum a in der bestimmten Lage F ist. Verschiedene, allerdings moralisch

irrelevant verschiedene, Situationen der Anwendbarkeit der Regel (1) entstehen in dieser

Darstellung allein dadurch, daß verschiedene Individuen in derselben Lage F sind. Jede noch

so ähnliche, aber doch andere Lage, in die ein Individuum a kommen kann, erfordert eine

neue Regel (1). Um sie noch weiter zu spezifizieren, müßte die den Universalismus

garantierende Unspezifität der Belegung der Personenstellen aufgehoben werden; eine wie in

(1) schematisierte Norm ist für eine Moralnorm maximal speziell.

Um die Norm (1) anzuwenden, muß die Lage einer Person a ganz genau bestimmt werden

(Frage: Liegt die Situation Fa vor, d.h. ist Individuum a in der Lage F). Ein irrelevantes

Merkmale einer Situation ist, welches Individuum (a oder b oder …) in dieser Situation ist.

Alle anderen Merkmale sind aber normativ relevant, da für jedes Set von Merkmalen genau

eine Norm zuständig sein muß – die Regel hat ja keine weiteren Variablen als die Individuen.

Handlungsregeln umfassen natürlich gewöhnlich eine größere Varianz der zu regelnden

Situationen: Hare ging es ja darum, welche Unterschiede irrelevant sein müssen. Das auch

andere Unterschiede irrelevant sein können (und regelmäßig sind), ist dadurch ja nicht

ausgeschlossen. Die Regel (Warrant) braucht daher nicht in der Wenn- und in der Dann-

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- 243 - -

Klausel dieselbe (und nur diese eine) Variable stehen haben, und die Definitionsbereiche der

Variablen in Regel und Fall sind keineswegs nur Individuen: Hier sind auch Eigenschaften,

Gegenstände, Ereignisse, Handlungen uvm. zugelassen. Da es also eine ganze Reihe von

Merkmalen gibt, in denen sich Situationen neben der Permutation der betroffenen Individuen

sonst noch unterscheiden, ohne daß diese Merkmale moralisch relevant wären, bedürfen diese

Situationen auch nicht je einer eigenen Regel.160

Günther stellt noch einmal allgemein fest: „Wer von einer Norm als einer Regel spricht,

verbindet damit die Vorstellung einiger untereinander in der für die Regel relevanten

Hinsichten gleicher Fälle, auf die sich die Norm deswegen anwenden läßt.“ (45) Daß es mehr

als eine Anwendungssituation wenigstens virtuell geben müsse, zeige bereits Wittgensteins

Analyse der Verwobenheit der Worte „Regel“ und „gleich“ (PU §225). Von daher ließe sich

natürlich fragen, ob es nicht ungrammatisch wäre, eine so spezielle Regel wie in (1) als Regel

zu bezeichnen. Doch schon das von Hare übernommene semantische Merkmal einer Norm,

keine Personen-Konstanten zu enthalten, bedeutet ja die moralisch irrelevante Gleichheit von

Situationen, die eine Regel regelt. Gegen maximal spezielle Regeln spricht, daß sich die

Varianz der Anwendungssituationen der vorfindlichen moralischen Normen nicht auf einen

bloßen Rollentausch á la Hare beschränkt.

Die moralische Norm gilt daher, allgemein gesagt, in „alle[n] Situationen, in denen die Norm

anwendbar ist“ (46), d.h. genau in den Situationen, die je alle Merkmale besitzen, die „vom

semantischen Gehalt der Norm vorausgesetzt werden“ (ebd.). Darüber hinaus gibt es noch

viele andere Merkmale, die sich idealiter in zwei Gruppen einteilen lassen: Zuerst die Reihe

von anderen Merkmalen, die für andere Normen wesentlich sind. Sodann eine noch viel

größere Reihe von (bei Günther nicht erwähnten) moralisch irrelevanten Merkmalen, die für

keine moralische Norm relevant sind.

159 Allgemeiner: Wer in einer Lage F ist, für den gilt G; wobei G die Erlaubnis, die Forderung oder das Geboteiner bestimmten Handlungsweise ist.160 Um das Toulmin-Schema auch für ein solches Normenverständnis noch beibehalten zu können, muß man esneu interpretieren: Entweder wird die Variable (x) als Variablenvektor verstanden, so daß die Regel (1) auchandere Varianzen zuläßt (durch die Definitionsbereiche der Komponenten dieses Vektors festgelegt). Oder eswerden F und G, also die Lage und was man darin tun soll, als mit einem verdeckten Variablenvektor verseheninterpretiert: Ein F ist dann ebenfalls für verschiedene Lagen von Individuen gültig. Der Unterschied bestehtdann darin, daß im ersten Falle a nicht mehr als Individuum, sondern als genau ein Individuum in genau einerLage interpretiert werden muß, im zweiten Fall a aber weiterhin ein Individuum darstellt, dessen genaue Lagedurch weitere Variablenbindungen (der verdeckten Komponenten des Variablenvektors) bestimmt werdenkönnte.

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Die Anwendung einer Norm erfordert also dreierlei (vgl. 34): Erstens ist in einer fraglichen

Situation zu prüfen, ob eine Norm überhaupt anwendbar ist. Zweitens kann es sein, daß es

neben der einen Begründung für eine fragliche Handlung durch die eine Norm auch noch

andere Begründungen (und damit auch: andere Normen) gibt, die für oder gegen die fragliche

Handlung sprechen. Gewendet auf die Problematik der Regelanwendung bedeutet das, daß es

möglicherweise „auch andere Schlußregeln gibt, die sich auf andere Situationsmerkmale (oder

auf dieselben in einer anderen Weise) anwenden lassen und daher in dieser Situation zu einer

anderen Schlußfolgerung führen, die der ursprünglichen möglicherweise vorgezogen werden

sollte“ (42).161 Drittens kann es passieren, daß wir in der Anwendungssituation

Situationsmerkmale entdecken, für die es keine passende Regel gibt: Nicht nur aufgrund von

Normenkonflikten, sondern auch aufgrund dieser neuen Merkmale müssen die

Anwendungsbereiche unserer Regeln u.U. neu bestimmt oder die Regeln verändert werden.

Insgesamt wissen wir bei der Anwendung einer als gültig unterstellten Norm also nicht, „ob

die vorgeschlagene Norm auch in dieser Situation die richtige oder angemessene ist, ob nicht

bei Berücksichtigung aller Situationsmerkmale eine andere Norm vorzuziehen gewesen wäre

oder ob der ursprüngliche Normvorschlag in dieser Situation zu modifizieren wäre“ (1988:

34). Bereits an einer Regel, die dem – als Moralprinzip natürlich auch für Günther

unzureichenden, da keine ausreichende Reziprozität sicherstellenden162 – semantischen

Universalisierungsprinzip von Hare genügt, lassen sich somit drei Problemtypen erkennen.

Formale Rekonstruktion der Anwendbarkeit von Normen

Ich will zunächst kurz plausibel machen, warum m.E. alle Normen, auch die scheinbar

situationsunspezifischen, „dekalogischen“ Normen wie „Du sollst nicht lügen“, zwar

Anwendungsbedingungen besitzen, dies aber nicht falsch verstanden werden sollte: Auch bei

diesen ist eine Situation gefordert, in der eine entsprechende Handlung auch möglich ist, also

eine Kommunikationssituation. Dies ist nur bereits in der Semantik von „lügen“ bzw. der je

anderen zentralen normativen Begriffe versteckt. Man kann dies explizit machen: „Du sollst

in einer Kommunikationssituation nicht wider besseren Wissens etwas so äußern, daß es von

anderen als aufrichtige Mitteilung angesehen wird“ o.Ä. Die „von der Norm geforderten

Merkmale“ lassen sich per Spezifizierung einer Norm einengen. Allgemein ist es damit so,

161 Natürlich muß eine „auf dieselben [Situationsmerkmale] in einer anderen Weise“ anwendbare Regel genaugenommen eine andere Regel sein.

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daß jede Norm (mehr oder weniger) generell bzw. speziell ist in dem Sinne, daß sie nicht alle

möglichen Situationen regelt, weil ihre Anwendung in vielen Situationen keinen Unterschied

macht. Sagt man dazu, »in mehr oder weniger vielen Situationen anwendbar«, so leistet das

erstens dem Mißverständnis Vorschub, sie könnten in bestimmten Situationen nicht

angewendet werden können, wo sie doch nur nicht sinnvoll angewendet werden können (d.h.

so, daß es dort einen Unterschied für die Beurteilung möglicher Handlungen macht), und

zweitens droht eine Vermengung mit dem Problem, daß möglicherweise die Anwendung auch

anderer Normen einen Unterschied macht und sich vielleicht besser an denen zu orientieren

wäre. Hier geht es aber darum, daß nicht jede mögliche sinnvolle Anwendung auch die

richtige Anwendung ist (was nicht von einer Norm allein abhängt). Jede Norm tritt damit qua

Norm mit dem Anspruch auf Gültigkeit in allen Situationen auf, ist aber nicht in allen

Situationen sinnvoll anzuwenden (das meint Günther mit »Gültigkeit«) oder bevorzugt

anzuwenden (das meint Günther mit »Angemessenheit«).

Günthers Idee des Verhältnisses von Normensystem und Anwendungsfällen läßt sich bis

hierher folgendermaßen darstellen:

Jede Situation besteht aus einer Menge von Merkmalen Si ⊆ S mit S = {s1, s2, … sn} (n∈ N)

der Menge aller möglichen Situationsmerkmale. Davon, und dies scheint Günther (vgl. das

letzte Zitat) anders als Habermas (s.o.) zu vernachlässigen, sind nur einige moralisch relevant

– z.B. ist mit Hare eine bloße Permutation der betroffenen Individuen als solche nie relevant.

Nennen wir M ⊆ S die Menge aller moralisch relevanten Merkmale, dann bezeichnet

Mi = Si ∩ M die Menge der moralisch relevanten Merkmale Mi einer jeweiligen Situation Si.

M läßt sich über die gültigen moralischen Normen gewinnen: Die Normanwendung einer

bestimmten Norm erfordert die Berücksichtigung „aller Merkmale, die vom semantischen

Gehalt einer Norm vorausgesetzt werden“, also der Menge Nj ⊆ M aller hinsichtlich dieser

Norm moralisch relevanter Merkmale. Eine Norm Nj ist schließlich anwendbar auf eine

Situation Si, wenn Nj ⊆ Si (und damit immer auch: Nj ⊆ Mi).

Die Rede von „allen Merkmalen“, die der Konstruktion der Menge S (bzw. der Menge M)

zugrundeliegt, ist freilich eine Fiktion: Weder kennen wir alle Situationen, noch kennen wir

alle Merkmale (aller Situationen). Wir werden dies hier erst einmal voraussetzen (wie auch

Günther in seiner Argumentation) und erst weiter unten problematisieren.

162 Der Perspektivenwechsel bei Hare beschränkt sich auf die Belegung der Variablen innerhalb von jeindividuell für richtig gehaltenen Normvorschlägen. In der Diskursethik ist dagegen jeder gehalten, auch die

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Mögliche Merkmale: s1 s2 s3 s4 s5 s6 s7 s8 …

Situation Sx weist auf: - - s3 s4 s5 - s7 - …

Norm Ny erfordert: - - s3 s4 - - - - -

Norm Nz erfordert: - - - s4 - s6 - - -

Tabelle 7

Grafische Darstellung der sich entsprechenden Merkmale einer beliebigen Situation und einer anwendbarensowie einer nichtanwendbaren Norm.

Moralische Beispielsituationen, so würde ich sagen, sind nun darauf ausgelegt, typische

Situationen als typische Situationen vorzuführen – Philosophen konstruieren daher

Situationen mit einer möglichst geringen Anzahl moralisch relevanter Merkmale, die

möglichst viele wirkliche Situationen aufweisen, welche überhaupt moralisch relevante

Merkmale aufweisen. Nur wenige dieser Beispielsituationen sind allerdings so gewählt, daß

sich die (geringe) Anzahl relevanter Merkmale genau einer Norm zuordnen läßt – häufig

sollen nämlich gerade Normenkollisionen aufgewiesen werden (wie in Kants, oder besser:

Constants Lügnerbeispiel).163

Würde Günther – wie es doch viel einleuchtender wäre – über die moralisch relevanten

Merkmale sprechen, würde man sofort sehen können, welche Anfangshypothese zur

Bestimmung der Menge M angesetzt werden kann: Moralisch relevant sind die Merkmale,

welche normativ relevant sind, und das ist alle diejenigen, die von mindestens einer

moralischen Norm vorausgesetzt werden. M kann nach dieser Überlegung angegeben werden

als Vereinigung aller vorausgesetzten Merkmale aller Normen: M = N1 ∪ N2 ∪ …

Freundlich interpretiert könnte man sagen, daß Günther in seiner weiteren Argumentation die

moralisch irrelevanten Eigenschaften vernachlässigt, ohne dies kenntlich zu machen. Man

könnte aber auch der Meinung sein, Günther unterschlägt die Relevanzproblematik, da in

ihrem Lichte die These vom Primat und der Eigenständigkeit des Anwendungsdiskurses von

vornherein überzogen aussieht. Jedenfalls ist im folgenden immer zu berücksichtigen, daß da,

Normvorschläge selbst auf die Akzeptabilität für jeden anderen zu überprüfen (vgl. Habermas 1983b: 97).163 Eine Normenkollision liegt selbstverständlich nicht schon dann vor, wenn zwei (oder mehr) Normen inderselben Situation anwendbar sind (wie Günther streckenweise suggeriert), sondern nur dann, wenn diesebeiden Normen nicht gleichzeitig befolgt werden können, also durch sie sich wechselseitig ausschließendeHandlungen gefordert werden.

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wo Günther von „allen Merkmalen“ spricht, eigentlich alle moralisch relevanten Merkmale

gemeint sein müssen. Und mit einer Situation ist dann eigentlich immer eine Menge von

Situationen gemeint, die sich in allen moralisch relevanten Merkmalen gleichen.

Versuchen wir nun, das Problem der Normenkollision in semantischen Termini zu

formulieren: Wer die Situationsspezifik einer Norm in der Formulierung der Norm selbst

verankern möchte, muß (soll kein Gültigkeitskonflikt entstehen können) bereits auf Ebene der

je vorauszusetzenden Merkmale konkurrierende Normen diskriminieren oder präferieren.

Zunächst ist das Normensystem selbst von offenkundigen Widersprüchen zu befreien: Gültige

Normen, die nicht gleichzeitig befolgt werden können, müssen je paarweise mindestens ein

Merkmal erfordern, das die andere Norm nicht erfordert.

Mögliche Merkmale: s1 s2 s3 s4 s5 s6 s7 s8 …

Norm Nx erfordert: - s2 s3 s4 - - - - -

Norm Ny erfordert: - - s3 s4 - - - - -

Norm Nz erfordert: - - - s4 - s6 - - -

Tabelle 8

Grafische Darstellung der vorausgesetzten Merkmale dreier Normen. Wenn die durch sie gefordertenHandlungen je miteinander unvereinbar sind, sind die Nomen Nx und Ny widersprüchlich, Nx und Nz hingegennicht widersprüchlich.

Diese Forderung ist jedoch noch zu schwach; im folgenden müssen die möglichen Situationen

mitberücksichtigt werden. Denn es kann immer noch Situationen geben, in denen ausreichend

viele Merkmale vorhanden sind so, daß zwei oder mehr Normen anwendbar wären, die nicht

gleichzeitig befolgt werden können. Zu fordern ist daher, daß es keine Normen geben darf,

die nicht gleichzeitig befolgt werden können, für die es Situationen gibt, wo beide zugleich

anwendbar wären.164

Klar ist: Käme man dieser Forderung nach, wäre über Priorisierungen faktisch entschieden.

Günther verweist also zurecht darauf, daß die Anwendung von Normen auf Situationen mit

dem Problem der Normenkollision verknüpft ist: Wenn bereits die Normenbegründung

164 Dieser Schritt läßt sich auch durch eine entprechende Forderung an die Situationen angeben (die ja andersbeschrieben werden könnten) – was jedoch in Günthers Konzept nicht explizit vorgesehen ist.

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idealiter alle Anwendungssituationen berücksichtigen soll, und idealiter auch keine

widersprüchlichen Handlungsanweisungen resultieren dürfen, muß damit auch das Problem

von Normenkollisionen gelöst sein.

Anwendungsprobleme des Moralprinzips

In einem zweiten Schritt erläutert Günther die zusätzlichen Probleme angesichts von

Habermas‘ Universalisierungsprinzip »U«: Dieses Moralprinzip bedient sich zwar des gerade

genannten Hareschen Universalisierungsprinzip, allerdings nur als einer Argumentationsregel

neben anderen, da es alleine zu schwach ist, wirkliche Reziprozität herzustellen. Unter den

vielen möglichen Normen, die dem semantischen Universalisierungsprinzip genügen, sollen

ja vermittels »U« diejenigen gefunden werden, die auch in einem anspruchsvolleren Sinne

gerechtfertigt sind.

Günther hat bisher über das Anwendungsproblem A1a gesprochen, also darüber, wie wir

Situationen und Handlungsregeln bzw. Normen verknüpfen (nämlich durch Eruierung und

Vergleich der Situationsmerkmale mit denjenigen der Norm). Zu unterscheiden ist ja

zweierlei: Erstens die Argumentation für die Richtigkeit einer Handlung (qua

Normgemäßheit) und zweitens die Argumentation für die Richtigkeit dieser Norm selbst (qua

Moralprinzip). Günther wird nun auf A1a näher eingehen, um dann den Schnitt zwischen A1a

und A1b und ihr Verhältnis zueinander genauer zu bestimmen.

Für Günther stellt sich das Anwendungsproblem A1a so dar: »U« fordert bekanntlich die

Berücksichtigung der Folgen und Nebenfolgen einer allgemeinen Befolgung einer Norm für

die Befriedigung der Interessen jedes einzelnen. Stellen wir die „allgemeine Befolgung“

zunächst zurück: Normativ relevant verschiedene Situationen unterscheiden sich also darin,

daß andere Folgen und Nebenfolgen zu erwarten sind oder/und die Interessenlage eine andere

ist. Die Folgen und die Interessen müßte man also kennen, wollte man Normen abschließend

begründen – Günther wird in der Folge versuchen, aus dieser epistemischen Problematik ein

Argument für die Notwendigkeit eigenständiger Anwendungsdiskurse zu gewinnen: Schon

Habermas konnte schließlich nur die „voraussichtlichen“ Folgen zur Berücksichtigung

vorsehen.

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Zweitens sollen wir uns aber klarmachen, was mit „allgemeiner Befolgung“ gemeint ist:

Günther unterscheidet hier zweierlei: Einerseits eine Befolgung durch alle, die als Adressaten

potentiell in Frage kommen, andererseits eine Anwendung in allen Situationen.165

Die erste Hinsicht ist eindeutig: Es wäre schlicht „falsch, den hypothetisch zur

Normenbefolgung befugten Personenkreis einzuschränken“, da sich sonst nicht ermitteln

ließe, was „wirklich im gemeinsamen Interesse aller Betroffenen liegt“ (45). Damit hat

Günther sicher recht: Gültige Normen sollten immer auch von allen befolgt werden können,

aber die ganze Niquetsche Problematik – daß sie in den seltensten Fällen faktisch von allen

befolgt werden – blendet Günther aus.

Die zweite Hinsicht kann unterschiedlich verstanden werden: Entweder wird hiermit die

Berücksichtigung aller Anwendungssituationen gemeint, oder aber nur eine Anzahl von

typischen Situationen und hypothetischen Fällen (Beispielen). Die beiden Möglichkeiten, die

Normenbegründung zu verstehen, werden von Günther als zwei Lesarten des Moralprinzips

»U« hypothetisch ausformuliert.

Antizipation der Anwendung in der Begründung: Starkes »U«

Günther übernimmt also erst einmal hypothetisch die Position einer maximalen Ausweitung

des Begründungsanspruchs; dies führt zu einer „starken Fassung“ von »U«:

„Eine Norm ist gültig und in jedem Falle angemessen, wenn die Folgen und Nebenwirkungeneiner allgemeinen Normbefolgung in jeder besonderen Situation für die Interessen eines jedeneinzelnen von allen akzeptiert werden können.“ (50, Hervorh. NG)

Die darauf folgenden Überlegungen von Günther erscheinen mir unverständlich. Er schreibt:

„Unter dieser Voraussetzung könnte ein singulärer Normsatz auch ohne Verweis auf eineSchlußregel begründet werden. Der Variablenbereich von Fx wäre auf das einzelne Individuum»a« beschränkt, und die zur Begründung der Normgeltung verwendeten Evidenzen würden auchGa stützen. Dann müßte aber Fx entweder so generell sein, daß dieses Prädikat auf jede beliebigeSituation angewendet werden könnte – womit die Norm sinnlos wäre –, oder so spezifisch, daß esnur auf eine einzige Situation angewendet werden könnte, in der alle Situationsmerkmaleoffenkundig wären und die Interessen aller Betroffenen klar zutage lägen.“ (50f.)

Der erste Satz leuchtet ein: Die Schlußregel scheint deshalb überflüssig, weil alle

interessanten Situationen schon in der Begründung der Norm zugrundegelegt wurden und

daher jede zu beurteilende Situation bereits unter der Menge der die Norm stützenden

Situationen (d.h., in ihrem backing) zu finden ist – auf die Norm selbst kann man daher

165 Günther zitiert zum Beleg dieser Behauptung zwei Stellen Habermas 1973; Habermas 1983a, die nur amRande von einer unparteilichen Anwendung reden.

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verzichten. Allerdings besteht ja eine Situation nicht nur aus normativ relevanten Merkmalen

– vielmehr leistet die Norm allererst eine Zusammenfassung verschiedener Situationen mit

den gleichen normativ relevanten Merkmalen. Günther muß davon absehen, wenn er im

letzten Satz von der Normanwendbarkeit auf genau eine Situation spricht. Die

dazwischenstehenden Sätze sollen nun so etwas wie eine reductio ad absurdum angesichts

zweier vollständiger Alternativen leisten – sie erschließen sich jedoch nicht sofort. Was ist

mit dem Individuum »a« gemeint? Eine moralisch relevante Situation (von vielen), oder die

(moralisch irrelevante) Belegung einer Variablen mit einer Konstanten aus dem

Definitionsbereich? Meint Günther letzteres, wird in einem speziellen, singulären Normsatz

die Verletzung der Hareschen Universalisierungsregel zugelassen – oder warum sonst

existieren Variablen, deren Bereich auf ein Individuum beschränkt ist? Meint Günther

ersteres, ist eigentlich eine Spezifizierung der Situation gemeint, in die selbstverständlich

auch andere (etwa: zukünftige) Personen kommen könnten, die jedoch soweit vorangetrieben

ist, daß alle moralisch relevanten Unterschiede (zu denen die bloße Tatsache, daß andere

Personen die Leerstellen der Situationsbeschreibung ausfüllen, gerade nicht gehören darf)

berücksichtigt sind. Wenn jedoch genau eine (moralisch relevante) Situation zum

Definitionsbereich von Fx gehört, ist überhaupt nicht klar, warum dieses Prädikat „so

generell“ wie von Günther beschrieben zutreffen sollte. Vielmehr ist es eher generell, wenn

viele andere (speziellere) Situationen ebenfalls vorliegen können, wenn die Situation Fa

vorliegt, und eher speziell, wenn dies wenige oder keine Situationen können. In der Tat

könnte unsere Norm auch völlig generell gelten, nämlich dann, wenn keine anderen

möglicherweise geforderten Handlungen mit ihr unvereinbar sind (etwa: „Handle

moralisch!“). Die Norm ist deshalb aber noch nicht sinnlos, denn es mag zwar keine

widersprechenden moralischen Normen geben, wohl aber lassen sich andere Handlungen

vorstellen, und diese soll die Norm negativ auszeichnen.

Insgesamt kann dieses (normensemantische) Argument, wenn es gegen die starke Lesart von

»U« gerichtet sein soll, also nicht überzeugen.

Günther scheint eine Eins-zu-eins-Relation zwischen Situation und Norm im Auge zu haben.

Diese ergibt sich zwingend nur, wenn wir fordern, daß wir alle möglichen Situationen

zerlegen können in logische Elementarsituationen, die sich wechselseitig ausschließen. Jede

Situation ist dann durch genau einen Merkmalssatz eindeutig identifizierbar derart, daß kein

Merkmalssatz einer Situation eine Teilmenge des Merkmalssatzes einer beliebigen anderen

Situation ist. Auf der anderen Seite sind die Normen nun so weit spezifiziert, daß zu jeder

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Situation genau eine Norm paßt. Unter dieser Bedingung würde es tatsächlich genau eine

Situation geben, auf die das Prädikat Fx zutrifft. Wir hätten eine maximal spezielle Norm vor

uns.

Dennoch sollte man bedenken, daß sich, wie oben bemerkt, innerhalb dieser Situation nun

noch verschiedene moralisch irrelevante Situationsvarianten unterscheiden lassen, und diese

faßt die maximal spezielle Norm zusammen. Nur wenn wir nun auch allen diesen

Situationsvarianten eigene singuläre, gleichzeitig nicht mehr universelle aber dennoch

moralische Normen zuzuordnen versuchten (was aber sinnlos wäre, da sich diese Situationen

nicht mehr in moralisch relevanten Hinsichten unterscheiden), stünden wir vor der Situation,

auf die Günther (wahrscheinlich) hinweisen will.

Eine überzeugende Argumentation für die zweite Alternative bleibt also erst noch zu leisten.

Was Günther am starken »U« problematisch findet, ist die von ihm hineingetragene

Notwendigkeit, in der Begründungssituation schon alle Anwendungsfälle komplett zu

überblicken – und hiergegen wird erst nach Einführung der von ihm präferierten Alternative

argumentiert.

Eigenständigkeit der Anwendung: Schwaches »U«

Günther nimmt nun die idealisierende Unterstellung zurück, unter der die starke Fassung von

»U« allein vertreten werden konnte, nämlich:

„daß wir alle Situationen voraussehen können, in denen eine Norm anwendbar ist. Nur wenn unserWissen alle Anwendungsfälle einer Norm umfaßte, könnten wir das Urteil über die Gültigkeit derNorm mit dem Urteil über die Angemessenheit zusammenschließen. Es ist aber offensichtlich derFall, daß wir niemals über ein solches Wissen verfügen. Damit bricht die Funktion desUniversalisierungsgrundsatzes als eines Unparteilichkeitsprinzips, das sich auf die Anwendungeiner Norm in jeder einzelnen Situation bezieht, zusammen.“ (51)

Wenn wir die möglichen Anwendungssituationen (wie ich es oben verstärkt betrieben habe)

objektivieren, unterstellen wir damit natürlich, wir würden diese alle schon kennen. Und diese

Unterstellung ist nach Günther das Problem:

„Nach der objektiven Seite der möglichen Anwendungssituationen einer Norm hin ist »U« also einoffenes Prinzip. Die Beschränkung, nach der wir suchen, liegt auf der subjektiven Seite. Sie hängtvom historischen Stand unserer Erfahrungen und unseres Wissens ab. Wir können nur solcheAnwendungssituationen voraussetzen, die wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufgrund unsererErfahrungen mit uns selbst sowie der objektiven und sozialen Welt vorstellen können. Habermashat in seiner Formulierung von »U« daher schon selbst den Hinweis auf eine schwächere Fassunggegeben: Nur diejenigen Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinenNormbefolgung voraussichtlich ergeben, können berücksichtigt werden. Dadurch ist »U« miteinem Index versehen, der seine Anwendung an den Stand des Wissens zum gegenwärtigenZeitpunkt bindet.“ (51f.)

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Epistemische Probleme, wie Günther nun ausführt, stellen sich einerseits, da wir nicht alle

Folgen der Normbefolgung kennen (denn dies erforderte ein unendliches Wissen über die

soziale und die objektive Welt). Andererseits kennen wir aber auch unsere zukünftigen

Interessen nicht genau (denn ansonsten wären wir uns völlig transparent): „Auch der

Umstand, daß sich unsere Interessen in unvorstellbarer Weise ändern können, gehört zum

Zeit- und Wissensindex von »U«.“ (52) An späteren Stellen wird Günther noch deutlicher:

Dort wird anstelle des Wissensindexes ein ‚Lebensformenindex‘ oder auch ein

‚Gemeinschaftsindex‘ eingeführt: Der Index von »U« betreffe nämlich „zum Zeitpunkt t und

in Lebensform x vorstellbare“ Situationen (305), weil „die vorgegebenen Normen nur

innerhalb einer bestehenden Gemeinschaft auf ihre Legitimität hin geprüft werden können“

(205). Damit wird der partikularistische Kontext des Wissens hervorgehoben, unter dem

dieses steht. Keine Probleme sieht Günther im Gegensatz dazu hinsichtlich der Einbeziehung

der Betroffenen selbst: „Keine Einschränkung besteht allerdings hinsichtlich der zugelassenen

Personen: jeder, dessen Interessen von einer Normanwendung voraussichtlich berührt sind,

muß an dem Verfahren teilnehmen dürfen.“ (52).

Das Geltungskriterium »U« beziehe sich daher „auf die zum gegenwärtigen Zeitpunkt

vorhersehbaren Folgen und Nebenwirkungen, soweit sie für die gegenwärtigen Interessen

eines jeden einzelnen relevant sind und von allen gemeinsam akzeptiert werden können“ (53).

Im folgenden Vorschlag einer „schwächeren Fassung“ von »U« ist dies nicht mehr so recht

sichtbar, aber mitzudenken:

„Eine Norm ist gültig, wenn die Folgen und Nebenwirkungen einer allgemeinen Normbefolgungunter gleichbleibenden Umständen für die Interessen eines jeden einzelnen von allen akzeptiertwerden können.“ (53, Hervorh. NG)

In dieser Formulierung von »U« soll der Anspruch auf Angemessenheit jedenfalls

abgespalten sein. Günther schreibt:

„Das Urteil über die Angemessenheit einer Norm bezieht sich nicht auf alleAnwendungssituationen, sondern stets nur auf eine einzelne. Angemessenheit bedeutet dahernichts anderes als die Einschränkung der starken Fassung von »U« auf eine einzelne Situation. Dieabsolute Forderung, zu einem Zeitpunkt alle Situationen zu berücksichtigen, wird gleichsamprozeduralisiert zu der Forderung, in einer einzelnen Situation alle Merkmale zu berücksichtigen.“(56)

Zwei Aspekte der Unparteilichkeit seien so gesichert: »U«schwach operationalisiere den

universell-reziproken Sinn der Unparteilichkeit, und (A) – d.h. die Forderung, in einer

einzelnen Anwendungssituation alle Merkmale zu berücksichtigen – operationalisiere

komplementär dazu den applikativen Sinn der Unparteilichkeit.

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Situationen

NormenS1 S2 S3 …

N1

N2

N3

...

Tabelle 9

Darstellung von gültigen Normen und von Situationen, in denen diese Normen eventuell anwendbar sind: Dasschwache Prinzip »U« betrifft einzelne Zeilen, (A) hingegen einzelne Spalten dieser Matrix.

Die Begründung einer Norm durch das schwache »U« betrachtet je eine Norm (also nur eine

Zeile der Tabelle 9) und dabei auch nicht alle möglichen, sondern nur alle bekannten oder

voraussehbaren Situationen. Die Feststellung der Angemessenheit (A) einer Norm erfordert

die Betrachtung genau einer Situation (also nur einer Spalte der Tabelle 9) und dabei aller

gültigen Normen. Das starke »U« würde pro Norm die Betrachtung einer Zeile sowie (wegen

der Angemessenheit in jedem Fall) die Betrachtung aller Spalten erfordern.

Die Angemessenheit erfordert nach Günther – und dies ist eine starke Forderung – die

Berücksichtigung aller Merkmale einer Situation. Deshalb ist mit dem Verweis auf

Anwendungsdiskurse die epistemische Problematik noch nicht aus der Welt:

„Freilich ist jetzt noch der skeptische Einwand zu bedenken, daß wir ja auch in der einzelnenSituation niemals alle besonderen Umstände berücksichtigen können. Der Mikrokosmos einerjeden einzelnen Situation ist ebenso unendlich wie der Makrokosmos aller Situationen, auf dieeine Norm anwendbar ist.“ (58)

Doch, so Günther weiter, der Anspruch auf umfassende Berücksichtigung bleibt als Anspruch

bestehen, ja, ohne ihn hätten wir gar keinen Anlaß zur Fortbildung von Normen (59). Der

scheinbar ermäßigte, aber dennoch unerfüllbare Anspruch steht Günthers Wunsch nach einer

Operationalisierung der Unparteilichkeit weiter im Wege; hierbei darf man das Günthersche

„ebenso unendlich“ ruhig wörtlich nehmen: Denn da eine Situation von einer anderen gerade

durch ihre Merkmale unterschieden ist, muß man alle Situationen kennen, um alle Merkmale

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einer Situation kennen zu können!166 Gegen die starke Version von »U« wird von Günther

immer wieder vorgebracht: Faktisch können wir nicht alle Aspekte einer Situation

berücksichtigen (etwa: S. 145). Und nun soll in (A) genau dies gelingen?

Immerhin muß man diese Situationen nicht auch schon insoweit kennen, daß Klarheit über

alle nötigen Norm-Priorisierungen in allen Situationen bestünde. Doch schon bei der

angemessenen Anwendung einer Norm in einer Situation muß ich ja alle Normen kennen. Ich

muß also alle Normen und alle Situationen kennen, um auch nur eine Norm in einer Situation

angemessen anwenden zu können! Insoweit ist also kein Vorteil gegenüber dem starken »U«

zu sehen. Doch immerhin muß ich nun nur in der betrachteten Situation meine Norm gegen

die anderen dort anwendbaren Normen abwägen können. Wie diese Abwägung geschehen

soll, dazu liefert aber die „Beachtung aller relevanten Merkmale“, also die unparteiliche

Anwendung selbst, keinerlei Hilfe – dadurch lassen sich Normenkonflikte nämlich nur

feststellen, aber nicht lösen. Und betrachten wir noch einmal die Formulierung des schwachen

»U«, so kann die Fixierung auf „gleichbleibende Umstände“ die Ausklammerung der

Reflexion von Normenkonflikten auf der Begründungsebene überhaupt nicht sicherstellen.

Somit ist der Vorteil der besseren Operationalisierbarkeit qua Zweiteilung des Anspruchs auf

Unparteilichkeit recht bescheiden, insbesondere liegt er nicht da, wo Günther ihn gerne sähe:

Daß nämlich nicht alle möglichen Anwendungssituationen bekannt sein bräuchten. Das

schwache »U« ist hier in der Tat recht anspruchslos; es ist die Angemessenheit (A), die zur

Folge hat, daß alle Anwendungssituationen aller Normen bekannt sein müssen (und auch alle

diese Normen). Immerhin können wir einige Normenkonflikte nun durch die Zweiteilung im

konkreten Fall ausblenden, allerdings nicht schon aus »U«.

Der Situationsbezug in Begründungsdiskursen

Was wir bisher ausgespart haben, ist die Frage, auf welche Situationen sich denn das

schwache »U« überhaupt bezieht, wenn Normen begründet werden. Konkrete Situationen

sollen ja erst in der Normenanwendung Berücksichtigung finden. Und gleichzeitig soll auch

das Problem der Normenkollision erst auf Ebene der Normanwendung erscheinen. Günthers

Lösung: Eine Norm wäre in Begründungsdiskursen auf „hypothetische Situationen“ (51)

bezogen, die dort als Beispiele für eine Norm angeführt werden und die einzig der Bedingung

166 Bereits in der oben versuchten formalen Rekonstruktion fehlte ja ersichtlich eine Möglichkeit der Angabe derElemente der Menge S aller möglichen Situationsmerkmale.

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zu genügen hätten, daß die Norm auf sie anwendbar wäre, also alle je normativ relevanten

Merkmale aufweist.

Nach Günther zeige bereits das Kantsche Lügnerbeispiel: Die Anwendbarkeit des

Lügenverbots liegt genau dann vor, wenn die Situation das Merkmal aufweist, „daß ich die

Absicht habe zu lügen“. In der Begründung dieser Norm werde bei Kant davon abgesehen,

„daß ein unschuldig Verfolgter davon betroffen ist“ (46).

Zweierlei ist also zu prüfen: Erstens ob es wirklich notwendig so ist, daß bei einer

Normenbegründung nur hypothetische Situationen berücksichtigt werden (können), und

zweitens, ob Normenkonflikte wirklich nie bei der Normenbegründung Berücksichtigung

finden.

Erstens fällt doch sofort auf, daß die bereits bekannten Situationen, anhand derer eine Norm

sich herausgebildet hat, natürlich nicht vergessen sind: Wir kennen also nicht nur

hypothetische, sondern ganz reale Anwendungssituationen einer Norm. Bereits Constant und

Kant stritten ja bekanntlich über eine Situation, der eine reale Begebenheit zugrundegelegen

haben soll. Zudem wird im Habermasschen Konzept ein Begründungsdiskurs genau dann

fällig, wenn eine bis dahin fraglos gültige Norm brüchig wird: Es gibt also in einer

Begründungssituation immer eine privilegierte reale Situation (nämlich die, in der man gerade

ist).

Warum also sind die möglichen Anwendungssituationen bei einer Normenbegründung alle

hypothetisch? Vielleicht deshalb, weil sie als Beispiele für eine Norm hergenommen werden?

Dadurch werden ja immer Merkmale abgeschnitten – freilich ist dieses Abschneiden doch

unproblematisch.167

Zweitens könnte es aber sein, daß dabei auch solche Merkmale komplett abgeschnitten

werden, die für die Anwendbarkeit anderer Normen relevant sind, Normenkonflikte also

ausgeblendet bleiben. Doch was Günther unterschlägt: Davon wurde doch bei Kant gerade

nicht bei der Begründung abgesehen: Er hat sich doch explizit die Frage vorgelegt, was in

einer Konfliktsituation geschehen solle! Zudem habe ich oben bereits darauf hingewiesen, daß

Beispiele häufig gerade diese Konflikte vorführen sollen, so daß hieraus sicher kein

Argument für eine Ausklammerung des Normenkollisionsproblems aus

167 Selbstverständlich gibt es auch Beispiele in der philosophischen Ethik, die lächerlich simpel sind undbestenfalls didaktischen, normalerweise aber nur unterhaltenden Wert besitzen. Doch derNormenbegründungsdiskurs, auf den Habermas und Günther abstellen, ist nicht der in philosophischen Texten.

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Begründungsdiskursen zu gewinnen wäre – hypothetische Situationen können nicht weniger

als reale Situationen zu Normenkollisionen führen.168 Warum versteigt sich Günther zu der

augenscheinlich absurden Aussage, daß wir Norm-Kollisionen überhaupt nicht in

hypothetischer Weise, abstrakt und im voraus, diskutieren könnten (300)?

Ein Vorteil seiner Konzeption sieht Günther jedenfalls in der nun gelingenden Zurückweisung

des Rigorismus-Vorwurfs (und, daran anschließend, des Herrschaftsverdachts) gegenüber dem

Universalismus: Konnte gegen eine Kantsche Konzeption noch eingewendet werden, daß eine

gültige Norm dort immer zu befolgen sei (auch wenn eine andere, u.U. vorrangige Norm

ebenfalls anwendbar wäre), kann nach der Güntherschen Zweiteilung durch den Verweis auf

eine „sensible“ Anwendung von Normen eine solche rigoristische Forderung abgewiesen

werden (208). Ebenso übrigens, wie die Forderung nach einer Normen-Gültigkeit für alle,

auch die vormodernen und die zukünftigen, Lebensformen; auch hier solle die

Kontextsensibilität in der Anwendung Abhilfe schaffen. Bei der Anwendung des

Moralprinzips auf Normen (A1a) sieht Günther hier wesentlich drei Probleme: Erstens die

Bereitschaft zur Differenz zwischen Moral und Gutem Leben überhaupt, zweitens die

Bestimmung des genauen Verhältnisses zwischen denselben, und drittens das Einfordern der

Gültigkeit des Moralprinzips gegenüber Fremden. Mit seinem dritten Punkt droht er nicht nur

die Gültigkeit von Normen, sondern auch die Gültigkeit des Moralprinzips von dem Kontext

einer bestimmten Gemeinschaft abhängig zu machen. Da möchte man doch zurückfragen,

inwiefern die Einforderung des Angemessenheitsprinzip (oder der Sensitivität in der

Anwendung) weniger problematisch sei.

Kurzum, Günther vertritt das Konzept von Prima-facie-Normen (304): Je nach Problematik

sind Ausnahmen und Priorisierungen zu spezifizieren – aber immer gilt, daß die Befolgung

(nicht: die Gültigkeit) einer moralischen Norm nur zugunsten der Befolgung einer anderen,

somit höherrangigen moralischen Norm zurücktreten muß.

Was Günther aber erst ganz gegen Schluß seiner Abhandlung wirklich ernstnimmt, ist, daß

die Angemessenheit verstanden als unparteiische Anwendung überhaupt keine Anhaltspunkte

bietet, irgendwelche Normenkonflikte aufzulösen. Und so muß er sich schließlich selbst der

wesentlichen Pointe berauben, nämlich der Priorität der Anwendung vor der Begründung

angesichts von Normenkollisionen. Er kommt nämlich zu der Einsicht, daß als formales

168 Auch wenn eine echt dilemmatische Struktur sich häufig nur der Simplizität der Beispiele verdankt (da manin der Realität immer noch viele andere Möglichkeiten findet, das Problem zu umgehen, sei es in der Situationselbst, durch Prävention o.Ä.)

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Kriterium für die Angemessenheit nur die Kohärenz aller anwendbaren Normen dienen kann

(304) und daß ein Kriterium der richtigen Kohärenz sich nur danach bemessen kann, „welche

Norm sich im Verhältnis zu allen anderen in einer Situation anwendbaren Normen sich am

besten rechtfertigen läßt“ (307). Der „interne Rechtfertigungszusammenhang“, d.h. der

Begrüdungszusammenhang von Normen, stellt jedoch dabei das Kriterium für die

angemessene Priorisierung von Normen in einer Situation dar! Aus der Problematik der

Normenkollisionen kann Günther also keinen eigenständigen, gar prioritären

Geltungsanspruch plausibel machen, da die situativ angemessene Anwendung von Normen

letztlich eingestandenermaßen in Normen-Begründungsleistungen verankert ist.

Epistemische Probleme von »U«

Ein wesentliches Argument gegen das starke »U« sah Günther in der mangelnden

Vorhersehbarkeit der Anwendungssituationen, da wir weder Folgen und Nebenfolgen noch

unsere zukünftige Interessen präzise absehen könnten. Keine Probleme sah Günther im

Gegensatz dazu hinsichtlich der Einbeziehung der Betroffenen selbst: „Keine Einschränkung

besteht allerdings hinsichtlich der zugelassenen Personen: jeder, dessen Interessen von einer

Normanwendung voraussichtlich berührt sind, muß an dem Verfahren teilnehmen dürfen.“

(52). Dabei ist das Dürfen doch hier nicht der interessierende Punkt, sondern ob alle

Betroffenen am Diskurs teilnehmen können. Auch unsere zukünftigen Interessen dürfen wir ja

selbstverständlich vorbringen, nur können wir das u.U. nicht. Was ist nun mit zukünftigen

Menschen? Deren Interessen kennen wir ja noch viel weniger als unsere eigenen zukünftigen

Interessen (die sich ja bereits „in unvorstellbarer Weise“ ändern können sollten; s.o.).

Immerhin sind auch diese von einer Normbefolgung betroffen und somit gemäß »U« zu

berücksichtigen. Epistemische Probleme stehen also auch in einem dritten Punkt dem starken

Verständnis von »U« entgegen: Wir können nämlich über die Interessen von jetzt noch nicht

diskursfähigen Betroffenen nur spekulieren. So wirkt Günthers Formulierung um diese

intertemporale Problemdimension verkürzt, wenn er schreibt, das Geltungskriterium beziehe

sich „auf die zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorhersehbaren Folgen und Nebenwirkungen,

soweit sie für die gegenwärtigen Interessen eines jeden einzelnen relevant sind und von allen

gemeinsam akzeptiert werden können“ (53, Hervorh. NG). Im Vorschlag der „schwächeren

Fassung“ von »U« ist diese Verkürzung nicht mehr sichtbar, hier wurde ja nur von

„gleichbleibenden Umständen“ gesprochen.

Freilich taucht dieses Problem nur unter einer bestimmten Prämisse auf: Nämlich daß die

Interessen jetzt nicht diskursfähiger Individuen dennoch für die jetzige Normgeltung zu

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berücksichtigen sind. Wohlgemerkt, das Problem ist nicht, daß in Zukunft andere Normen

gültig sein könnten, weil andere Interessen vorliegen. Sondern es geht darum, daß bereits

durch unsere jetzigen Handlungen zukünftige Menschen betroffen sind (Systemtechnik;

Umweltprobleme; Kriege). Deren Interessen nur deshalb nicht zu berücksichtigen, weil sie

noch nicht diskursfähig sind, ist moralisch absurd. Einfach zu unterstellen, sie werden wohl

schon dieselben Interessen wie wir haben (und sie entsprechend zu berücksichtigen) ist auch

nicht fair. Ihnen die Möglichkeit zu lassen, eigene Interessen ausbilden und befriedigen zu

können, ist schon eher das Gebot der Stunde. So, wie Günther seinen Zeit- und

Lebensformindex einführt, in der expliziten Einschränkung auf die Interessen der jetzt

lebenden Menschen, beschädigt er nicht nur den Kognitivismus seiner Konzeption (denn es

ist ja ein echtes Gegenargument gegen eine Norm, daß sie den Interessen zukünftiger

Menschen zuwiederläuft), sondern auch den Universalismus von »U«.

Schon wegen der Zukünftigkeitsproblematik, und auch deshalb, weil die Bedingungen der

idealen Sprechsituation nie restlos hergestellt werden können, und auch deswegen, weil die

hinter den Interessen stehende wechselseitige Bedürfnisinterpretation keinen natürlichen

Abschluß findet, und insbesondere, weil ein jeder Diskurs in endlicher Zeit unter

Berücksichtigung endlich vieler Argumente immer nur Ergebnisse unter Vorbehalt erbringen

kann, enthält »U« ein unaufhebbares kontrafaktisches Element. Günthers abschwächende

Interpretation von »U« nährt die Illusion, wir könnten uns jetzt zusammensetzen und die

Gültigkeit einer oder mehrerer Normen abschließend feststellen. Wir können

Geltungsansprüche jedoch niemals endgültig, sondern immer nur vorläufig einlösen. Wären

unsere Begründungen für die Gültigkeit einer Norm nicht fallibel gegenüber zukünftigen

Einwänden, wäre ein Kognitivismus nicht zu behaupten. Damit ist aber die mangelnde

abschließende Begründbarkeit einer Norm kein Gegenargument gegen ein starkes »U«.

Für die jeweilige Handlungssitation ist das kein Nachteil: Die jeweils brüchig gewordene

Norm wird ja dadurch wieder in Kraft gesetzt, daß wir die Zweifel, die wir konkret hatten,

ausräumen können (oder die Norm mußte modifiziert bzw. verabschiedet werden) – in einem

Prozeß, der uns ausreichend ideal erschien, um diese Zweifel auszuräumen. Nur ist dies ein

negativer Prozeß des Ausräumens von Einwänden – unsere Normen bewähren sich an ihnen,

für eine irgendwie weitergehende Gültigkeit ist da kein Platz.

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Das Verhältnis von Begründung und Anwendung

Die Lösung von Normenkonflikten ist also ein echtes Normenbegründungsproblem. Die

epistemische Ungewißheit der Begründungssituation ist im schwachen »U« zwar gemildert,

aber dennoch nicht aufhebbar. Die Frage ist also neu aufzuwerfen, was in einer

Anwendungssituation denn anderes geschieht als in einer Begründungssituation.

Mindestens, so könnte man sagen, erfordert die Feststellung der Angemessenheit die

Überprüfung der fraglichen Situation auf diejenigen Merkmale, die von moralischen Normen

gefordert werden. Darin kann sich aber eine Angemessenheitsüberlegung nicht erschöpfen,

wenn sie ihren kritischen Stachel behalten soll. In den nun folgenden Passagen berührt

Günther den m.E. stärksten Punkt einer wenigstens analytischen Unterscheidung von

Anwendungs- und Begründungsproblematik. Zur Verdeutlichung der Konsequenzen von

Günthers Vorschlägen über Merkmale, Situationen und Normen hatten wir ja eine

Formalisierung vorgeschlagen, die mit unterstellten Mengen von Merkmalen von Situationen

operiert. Dabei hatten wir angemerkt, daß es sich dort, wo diese über die Anwendbarkeit von

Normen entscheiden, um moralisch relevante Merkmale handeln muß, Günther diese

Problematik jedoch konzeptuell ignoriert. An einer Stelle kommen Relevanzüberlegungen

nun doch noch zu einem gewissen Recht:

„Merkmale einer Situation sind nicht per se relevant. Diesen Status erhalten sie erst im Lichteverschiedener Deutungen, Wertungen, Interessen, Lebenspläne oder Zwecksetzungen. (…) DieForderung der Unparteilichkeit im applikativen Sinne meint nun nichts anderes, als daß dieseverschiedenen Deutungen einer Situation thematisiert werden müssen (…). Es ist der Prozeß, indem wir uns in einer Situation mit diesen Deutungen auseinandersetzen, konkurrierende undkollisierende Interessen und normative Erwartungen untereinander vergleichen, um diejenigeNorm zu bilden, von der wir beanspruchen können, daß sie angesichts der besonderen Umständedes Einzelfalls die angemessene ist. Erst wenn wir diesen Schritt getan haben, können wir aus demHorizont der besonderen Situation heraustreten und prüfen, ob die angesichts der besonderenUmstände angemessene Norm auch gültig ist, d.h., ob die Folgen und Nebenwirkungen einerallgemeinen Befolgung für die Interessen eines jeden einzelnen von allen akzeptiert werdenkönnen. Beide Schritte lassen sich keineswegs in einen zusammenziehen.“ (57)

In Anwendungssituationen ist eine besondere heuristische Qualität vonnöten: Dort geht es um

die „Entdeckung und Situationsrelevanz“ von Interessen im Zuge der Gewinnung relevanter

Merkmale der fraglichen Situation, und noch nicht um ihre Verallgemeinerungsfähigkeit (57).

Anwendungsdiskursen ist insofern eine ästhetische Komponente (im Sinne der

Wahrnehmung) genuin zu eigen. Sie läßt sich noch radikalisieren, wenn man einmal die

unausgesprochene Prämisse fallenläßt: Günther scheint ein wesentliches Anwendungsproblem

als gelöst zu unterstellen, nämlich die Zerlegung des phänomenalen Kontinuums in

„Situationen“. Bei ihm gibt es diese bereits, und auch ihre Merkmale liegen eigentümlich fest.

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- 260 - -

Die über eine Normenbegründung hinausgehenden Probleme drohen sich für Günther daher

auf die angemessene Anwendung von Normen durch eine „unparteiische Berücksichtigung“

aller Merkmale einer Situation zu reduzieren.

Liest man jedoch die Beschreibung dessen, wie Relevanzen zu bestimmen sind (in einer

gegebenen Situation), dann geht es dort um genau dasjenige, was auch für die

Normenbegründung vonnöten ist: um die wechselseitige Bedürfnisinterpretation und die

entsprechende Legitimität von Interessen. Und diese geschieht natürlich auch im Lichte

anderer gültiger Normen! Wie gewinnt man denn etwa den Normvorschlag des Lügenverbots

ohne Berücksichtigung von Forderungen nach Autonomie oder Achtung gegenüber sich selbst

und gegenüber anderen? Es ist also keineswegs so, daß wir die Berechtigung eines Interesses

unabhängig von der vorausgesetzten Gültigkeit anderer Normen bestimmen könnten. Es wäre

doch absurd, wenn wir hierbei unsere besten Gründe, d.h. auch die hinter moralischen

Normen stehenden Gründe, alle nicht einsetzen dürften.

Die Bedürfnisinterpretation beschränkt sich aber trotzdem nicht darauf, diese an bereits

gültigen Normen zu messen, sondern neue, bisher nicht unter Normen gebrachte Relevanzen

können „spontan“ einleuchten (aber es können auch Situationen als Situationen neu

wahrgenommen werden, etwa durch neu entdeckte Handlungsmöglichkeiten). Wäre das nicht

so, würde die Normenbegründung als abgeschlossener Kohärentismus mißverstanden, wo er

doch aber erfahrungsoffen bleiben muß.

Günther will mit den soeben zitierten Argumenten das Primat von Anwendungs- vor

Begründungssituationen behaupten – eine terminologisch recht merkwürdige Angelegenheit.

Doch welche Art von Primat soll dabei gemeint sein? Ein (normen-)genealogisches oder ein

geltungslogisches?

Günther schlägt die Situation der Normengenerierung der Normenanwendung zu, aufgrund

des Bezugs auf reale, einzelne Situationen.169 Sinn macht dies im Rahmen des von Günther

erwünschten Doppelcharakters der Unparteilichkeit jedoch nur, wenn der Vorgriff

wechselseitig ist: Denn der Schritt von Interessen zu einem Normvorschlag steht ja bereits

unter der Idee einer Bewährung an »U«, das ja den Sinn gültiger Normen formuliert. Genauso

steht die Rechtfertigung von Normen unter der Idee einer Bewährung an (A), da sie zwar u.U.

169 Dafür könnte auch auf Kants Unterscheidung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft verwiesenwerden: Jenseits der Subsumtion leistet letztere den Aufstieg vom Besonderen zum Allgemeinen (Rohbeck1993: 272). Vgl. auch Bayertz‘ Gegenüberstellung von applikativer und normbildender Anwendung (Bayertz1990).

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- 261 - -

nur an hypothetischen Situationen plausibilisiert werden konnte, jedoch mit dem Anspruch

auf Gültigkeit in realen Situationen auftritt. Begründung und Anwendung sind wechselseitig

hermeneutisch aufeinander bezogen: Anwendungsüberlegungen ergeben die relevanten

Hinsichten moralischer Normen, interpretieren diese daher und legen tendenziell die Norm-

Extensionen fest. Begründungsüberlegungen erbringen die Suchmuster für relevante

Merkmale von Situationen, interpretieren moralische Relevanzen und legen tendenziell die

Norm-Intensionen fest.

Was in der von Günther beschriebenen Anwendungssituation geschieht, ist ja folgendes: Die

gültigen Normen werden herangezogen, die dabei unterstellten Bedürfnislagen usw. werden

überprüft, und – wie Günther selber sagt – u.U. wird ein neuer Normvorschlag gemacht.

Jedenfalls ist die ausschlaggebende Komponente der Begründung dessen, was in diesem

Anwendungsfall zu tun ist, wieder unter eine Norm zu bringen. Nun möchte Günther

anscheinend nahelegen, dabei würden wir zunächst nur unsere eigenen Interessen ausdeuten

und die Folgen nur für uns bestimmen – das wäre die angemessene Anwendung. Erst danach

würde die Verallgemeinerung vorgenommen. Doch was Günther dabei übersieht: Bereits bei

der Formulierung des Normvorschlags haben wir hypothetisch die Perspektive der anderen

Betroffenen eingenommen. Wo es auch andere von diesem Normvorschlag Betroffene gibt,

haben wir doch deren Interessen von vornherein ebenfalls zu berücksichtigen. Und wo wir das

im „Anwendungsdiskurs“ nicht können, können wir es auch nicht dadurch, daß wir einen

„Begründungsdiskurs“ ausrufen. In einer Konfliktsituation wird also immer beides, die

Anwendung wie die Begründung von Normen, thematisiert und aktualisiert, wenn man sich

dort ein möglichst korrektes moralisches Urteil über eine Handlung bilden will. Ein

normengenealogisches Primat der Anwendung ist hier aber nicht zu entdecken.

Eine geltungslogisches Primat läßt sich höchstens im Rahmen einer bestimmten Version des

Rawlsschen „moralischen Konstruktivismus“ vertreten: Hier würden die „considered

judgements“ als Einschätzungen von Einzelfällen den Ausschlag geben für die Gültigkeit von

Normen. Günther, der dieses Modell aus anderen Gründen ablehnen muß – die Kohärenzidee

umfaßt nämlich bei Rawls auch das Moralprinzip selbst (wide reflective equilibrium) –,

positioniert seine Vorstellung von Kohärenz jedoch, wie seine Überlegungen zur

Normenkollision zeigen, nicht neutral zwischen Fall und Regelwerk, sondern auf Seiten der

Regeln. Er bemüht zur Erläuterung der praktischen Kohärenz, dem Metier der

Angemessenheit, nämlich schlußendlich die Begründung von Normen selbst (s.o.).

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- 262 - -

In Analogie zu der von Joas dargelegten „Kreativität des Handelns“ (Joas 1992) gibt es m.E.

auch eine grundlegende Kreativität der Anwendung, von der nun geprüft werden soll, ob sie

die These vom Primat der Anwendung stützen helfen kann. Zugleich kann die bei Günther

unhinterfragte Zerlegtheit der Welt des Handelnden in Situationen näher untersucht werden.

Joas kritisiert die Vorstellung der Handlung als mehr oder weniger vollständige Erreichung

handlungsvorgängiger Ziele. An diese Stelle eines teleologischen setzt er ein „selbstreflexives

Verständnis von Intentionalität“ (Joas 1992: 232). Darin wird zunächst die irreführende

Vorstellung korrigiert, daß im Handeln „situative Bedingungen zu berücksichtigen und

situativ verfügbare Mittel zu verwenden“ sind (235). Vielmehr sei, so Joas im Anschluß an J.

Dewey, von einem „Wechselspiel zwischen Mittelwahl und Zielerklärung“ auszugehen:

„Indem wir erkennen, daß uns bestimmte Mittel zur Verfügung stehen, stoßen wir erst auf Ziele,die uns vorher gar nicht zu Bewußtsein kamen. Mittel spezifizieren also nicht nur Ziele, sieerweitern auch den Spielraum möglicher Zielsetzung.“ (227)

Doch Joas will mehr; er will die Verabschiedung des teleologischen Handlungsmodells im

Rahmen einer Leibphilosophie vollziehen:

„Die Setzung von Zwecken geschieht – in dieser alternativen Sichtweise – nicht in einem geistigenAkt vor der eigentlichen Handlung, sondern ist das Resultat einer Reflexion auf die in unseremHandeln immer schon wirksamen, vor-reflexiven Strebungen und Gerichtetheiten. In diesem Aktder Reflexion werden solche Strebungen thematisch, die normalerweise ohne unsere bewußteAufmerksamkeit am Werke sind. Wo aber ist der Ort dieser Strebungen? Ihr Ort ist unser Körper:seine Fertigkeiten, Gewohnheiten und Weisen des Bezugs auf die Umwelt stellen den Hintergrundaller bewußten Zwecksetzung, unserer Intentionalität, dar. Die Intentionalität besteht dann in einerselbstreflexiven Steuerung unseres laufenden Verhaltens.“ (ebd.)

Die Konsequenzen betreffen zunächst die Welt als Ganze:

„Auch wenn wir keine aktuelle Handlungsabsicht verfolgen, ist uns die Welt nicht als äußerlichesGegenüber unserer Innerlichkeit gegeben, sondern im Modus möglicher Handlungen.“ (ebd.: 233)

Wir treffen also nicht mit unseren Intentionen auf eine Welt voller Mittel und Hindernisse,

und wir treffen – möchte ich Joas‘ Überlegungen weiterführen – auch nicht mit unseren

Normen auf Situationen voller Merkmale. Vielmehr bilden wir (pragmatisch) unsere Ziele,

(ethisch) unsere Identitäten und (moralisch) unsere Normen in wirklichen Situationen.

Besonders deutlich wird das am konstitutiven Situationsbezug menschlichen Handelns.

„Um handeln zu können, muß der Handelnde ein Urteil über die Situation fällen. JedeHandlungsgewohnheit und jede Handlungsregel enthält Annahmen über den Typus vonSituationen, in denen es angemessen ist, nach dieser Gewohnheit oder Regel zu verfahren. UnsereWahrnehmungen von Situationen beinhaltet im Regelfall bereits unser Urteil über dieAngemessenheit bestimmter Handlungsweisen. So erklärt es sich, daß Situationen nicht nur dasneutrale Betätigungsfeld für außersituativ konzipierte Intentionen sind, sondern schon in unsererWahrnehmung bestimmte Handlungen hervorzurufen, zu provozieren, scheinen.“ (235)

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- 263 - -

Zustimmend zitiert Joas eine Arbeit von D. Böhler, der das Verhältnis von Handlung und

Situation als »quasi-dialogisch« bezeichnet und ausführt:

„Unter >Situation< verstehen wir – >wir< als handelnde und vom Handeln wissende Menschen –ein Verhältnis von Menschen untereinander, das der jeweils erörterten Handlung schon vorausgehtund von daher von den betroffenen bzw. dem betroffenen Menschen als Herausforderung, etwaszu tun oder aber nicht zu tun, je schon verstanden ist. Umgangssprachlich sagen wir, >man gerate<in eine Situation, sie >widerfahre< uns, sie >stoße uns zu< und wir sähen uns >vor sie gestellt<.Damit drücken wir aus, daß die Situation etwas ist, das unserem Handeln (oder Lassen)vorausgeht, dieses aber auch herausfordert, weil sie uns >angeht<, uns >interessiert< oder>betrifft<.“ (Böhler 1985: 252, zit. nach Joas 1992: 236)

Handlungen können damit gleichsam als „Antworten auf Situationen“ gedacht werden –

dennoch darf man das Handeln nicht als bloßes Reagieren auf Situationsanforderungen

mißverstehen, denn dann verlöre Intentionalität jeglichen Sinn (Joas 1992: 236).

„Aus diesem Dilemma heraus führt nur die Idee des wechselseitigen Voraussetzungsverhältnissesvon teleologischer und quasi-dialogischer Handlungsrelation. »Situationsbezug und Zielbezug sindvon vornherein miteinander verschränkt. Denn ohne, sei es auch vage Zieldispositionen, die inGestalt von Bedürfnissen, Interessen und Normen ante actu gegeben sind, kann uns kein Ereignisals unsere Situation widerfahren, sondern es bliebe für uns bedeutungslos und stumm.«“ (Joas1992: 236, Unterzitat Böhler 1985: 272)

Der Ort dieser „Zieldispositionen“ ist nach Joas‘ Leibphilosophie der menschliche Körper –

eine Böhler-Interpretation, in der das Interpretationsmoment der Interessen (in der Habermas-

Tradition sind dies interpretierte Bedürfnisse) und vollends die Normen als Teil der

Zieldispositionen vernachlässigt werden müssen. Vielmehr scheinen mir pragmatische,

ethische wie normative Anforderungen regelmäßig bereits vorliegen zu müssen, damit eine

Situation vom Handelnden als Situation erfahren wird. Ein Primat der Normenanwendung

kann so nicht behauptet werden. Einmal mehr konnte, nun über den Situationsbegriff,

vielmehr die Untrennbarkeit von Begründung und Anwendung behauptet werden.

Um den guten Sinn der These vom Primat der Anwendung zu sichern, muß die Joassche

Vorstellung einer instantanen handlungsbegleitenden Reflexion weiter abgeschwächt werden.

Er bezieht sich zwar in einer Behandlung des Phänomens der Arbeit und der Entfremdung auf

den frühen Marx, doch wird dort ein Reflexionsmodell zitiert, nach dem man im einzelnen

Produkt seiner Arbeit seine Persönlichkeit selber anschauen, das menschliche Wesen

vergegenständlichen, sich dadurch als Mittler zwischen sich und der Gattung verstehen und

damit sich als Gemeinwesen bestätigen können soll. Wenn man jedoch das Reflexionsmodell

etwas komplexer (und etwas weniger emphatisch) anlegt, würde man auf Hegels

Ausführungen zu »Herrschaft und Knechtschaft« zurückgreifen und die ausschließliche

reflexive Wirksamkeit von negativen Erfahrungen herausstellen: Erst in der Differenz von

vorgestelltem und tatsächlichem Handlungsresultat gelingt dem Handelnden eine Reflexion

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- 264 - -

auf sich, d.h. auf seine Möglichkeiten und Grenzen.170 Dem Handelnden diese Möglichkeit zu

nehmen, führt zur Entfremdung – und genauso auch die Abtrennung der Anwendungsdiskurse

von den Begründungsdiskursen. Gegenüber solchen Erfahrungsmomenten muß sowohl die

Normen-„Begründung“ als auch die Normen-„Anwendung“ offengehalten werden, die nicht

als simple Subsumtion mißverstanden werden darf (vgl. Fußnote 169). Jetzt gibt es ein Primat

der Anwendung, denn zuerst muß (irgendwie) gehandelt werden, bevor Handlungsziele,

Identitäten und normative Überzeugungen sich reflexiv aufbauen können. Entsprechend gibt

es eine »zielbildende Mittelmobilisierung«171, eine »identitätsbildende Zielverwirklichung«

und eben eine »normbildende Fallbeurteilung«.

Ein zweites, eng verwandtes Argument kann die ordinary-language philosophy beisteuern:

Die Referentialität von sprachlichen Ausdrücken ist letztlich praktisch fixiert: Dadurch, daß

wir es eben so machen. Das „so machen“ läßt sich zwar ex post und hypothetisch auch ex-

ante problematisieren, aber gewisser Hinsicht muß die Handlungspraxis der

Argumentationspraxis vorausgehen. Ansonsten wüßten wir nämlich gar nicht, worüber wir

sprechen.

Einen letzten Vorteil seiner Konzeption sieht Günther in der Zwanglosigkeit, mit der sich die

Ausdifferenzierung der Anwendungsproblematik als eine notwendige Ergänzung einer

postkonventionellen Normenmoral auch in der Entwicklungspsychologie plausibel machen

läßt.

Entwicklungspsychologie der Anwendung

Im Rückgriff auf Durkheim, Mead, Piaget und vor allem Kohlberg versucht Günther, seine

These der Trennung von Begründung und Anwendung von Normen aus Perspektive der

Entwicklungspsychologie des moralischen Bewußtseins zu stützen und dabei gleichzeitig auf

die evolutiven Veränderungen nicht nur der Begründungs-, sondern auch der

Anwendungsproblematik auf dem Weg hin zu einer universalistischen Moral aufmerksam

machen. Günther unterscheidet schließlich drei Stufen in der Entwicklung von Typen der

Anwendung (211ff.; vgl. Tabelle 10):

170 Dies ist unabhängig davon, welche Ziele man zu verwirklichen versucht. Daher ist das wahre Bewußtseinzunächst beim Knecht und nicht beim Herrn. Dieser Prozeß der negativen Selbstvergewisserung (anhand deswiederholten partiellen Scheiterns) kann m.E. als Chiffre für die Selbstvergewisserung des Geistes überhauptgelesen werden, welche in der Phänomenologie des Geistes vorgeführt wird.171 Vgl. dazu Rohbeck 1993, der unter der „bestimmenden Reflexion“ versteht, daß die Erfahrungen mitHandlungsmöglichkeiten zur Bestimmung von Zielvorstellungen führt (273).

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- 265 - -

Art moralischer Verpflichtungen Art des Anwendungsproblems

Nur situative, aktuelle und auf den

konkreten anderen gerichtete

Verhaltenserwartungen

Anwendungsproblem stellt sich nicht, weil die

jeweils gemeinsam gefundene Regelung

unmittelbar kontextbezogen,

situationsabhängig und individuell bleibt

Erste Stufe

Schwach generalisierte Rollenmuster, die

auf konkrete Beziehungskontexte

angewiesen bleiben

Routinehafte Aktualisierung des Rollensystems

unter im wesentlichen festgelegten Situationen

Zweite Stufe Gemeinsame Einnahme der Perspektive

einer dritten, neutralen Person; explizit

formulierte Normensysteme; aber nur

innerhalb der Gruppe

Prüfung des Vorliegens der im Rahmen der

Gruppe vorausgesetzten typischen Merkmale

Dritte Stufe Keine Beschränkung mehr auf partikulare

Gruppe

Entschränkung der Perspektiven betrifft auch

die Wahrnehmung der einzelnen Situation.

Tabelle 10

Genealogische Stufen der Moralentwicklung und die je dazugehörigen Arten des Anwendungsproblems

In einer genealogische Betrachtung der Moral läßt sich somit grob unterscheiden „zwischen

kontextgebundener, mit Geltungsfragen assimilierter und freier, unparteilicher, aber

kontextsensitiver Anwendung“ (215). Da auf den Stufen eins und zwei die Begründung

jeweils im Horizont bestimmter Koventionen stattfand, konnte auch die Anwendung unter

diese Konventionen gestellt werden. In einer universalistischen Entschränkung der

Perspektive auf bestimmte Gruppen (oder Lebensformen) können und sollen diese

Konventionen genauso wie bei einer Normenbegründung auch bei einer Normen-Anwendung

nicht mehr zur Verfügung stehen. Günther zeigt, daß Unparteilichkeit in Begründung und

Anwendung einem gemeinsamen Entschränkungsprozeß sich verdanken.

Das eigentliche Argument für die Trennung von Begründung und Anwendung auf Stufe drei

muß jedoch die obige, systematische Argumentation liefern. Ein vom systematischen

Argument unabhängige Unterstützung seiner These kann Günther so also nicht gewinnen, er

kann jedoch zeigen, daß sich die von Kognitivisten, und besonders seitens der Diskurstheorie,

in Anspruch genommene Kohlberg-Genealogie auch auf die Unterschiedung von Begründung

und Anwendung hin konsistent interpretieren läßt. Daraus läßt sich eine

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- 266 - -

Zusammengehörigkeit von Anwendung und Begründung ablesen, die m.E. wenigstens

genausogut eine Position stützt, die engere Verbindungen zwischen Begründung und

Anwendung behauptet, als sie in Günthers Konzeption zum Ausdruck kommen. Eine echte

Eigenständigkeit von Angemessenheitsüberlegungen jedenfalls kann es nicht geben: „Wäre

die Geltung konventioneller Normen nicht mehr (…) ihrerseits noch einmal reflektierbar und

kritisierbar, wäre eine situationsangemessene Anwendung dieser Normen gar nicht möglich.“

(145).

Allgemeine oder spezielle Normen – eine offene Frage

Günther plädiert dafür, keinem umfänglichen Sinn von Normenbegründung zu huldigen – und

so das Anwendungsproblem einem eigenständigen Diskurstyp zu überstellen. Daß er

dasjenige, was in der Anwendungssituation geschieht, letztlich wieder als Normvorschlag

bezeichnet, nimmt seiner Argumentation vollends die Überzeugungskraft. Wenn nämlich

wirklich das Konzept allgemeiner Normen vertreten werden soll, dann muß sich natürlich die

Frage nach dem subnormativen Etwas, das den Brückenschlag zur Handlungsbeurteilung

ermöglicht, anders beantworten lassen, als durch einen Verweis auf die Normenbegründung.

Versteift man sich darauf, daß es nur solche moralische Normen geben darf, müssen

wesentliche Fragen der Priorisierung von Normen, die problemlos als Normen formulierbar

wären, einer adäquaten Begründung entzogen bleiben, die sich ja gerade nicht auf eine

„unparteiliche Anwendung“ der Normen reduzieren läßt. Und dies, obwohl gerade sie auf die

hinter den Normen stehenden Begründungszusammenhänge verweisen – was Günther

schließlich auch selber einräumt.

Das Konzept allgemeiner, unspezifischer Normen ist geltungslogisch nicht zwingend:

Universalität und Spezifität sind ja kein Widerspruch. Nach Darstellung von Günther (und

Habermas) werden Normen tendentiell zu Faustregeln (oder besser: Prima-facie-Normen).

Doch nicht nur dem Normenbegründungs-, auch dem Normenanwendungsproblem, beide

nach der analytischen Unterscheidung am Anfang dieses Kapitels als Anwendungsprobleme

zu bezeichnen, droht in seiner Konzeption die völlige Trivialisierung: Das

Begründungsprinzip »U« wird aller kontrafaktischen Gehalte entkleidet, dem

Anwendungsprinzip (A) kann durch bloßem Vergleichen von Merkmalen genüge getan

werden.

Das Hauptproblem dieser Konzeption des Normen-Anwendungsdikurses liegt jedoch in der

genauen Abgrenzung zum Normen-Begründungsdiskurs: Soll festgestellt werden, ob

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empirische Bedingungen einer Normanwendung gegeben sind, ist dies ein theoretischer

Diskurs. Soll ein echter Normkonflikt gelöst oder sollen durch die bisherigen Normen nicht

abdeckte Situationen bewältigt werden, geschieht de facto eine Normbegründung.

Individuelle Normen und generelle Prinzipien: DieAnwendungskonzeption von R. Alexy (1985/1995)

R. Alexy entwickelt seine radikale Gegenposition zu Günther in einem neueren Text in

direkter Auseinandersetzung mit der Güntherschen Position. Es sei gestattet, diese

Auseinandersetzung zunächst kurz nachzuzeichen, um dann die Eigenheiten des Alexyschen

Anwendungskonzeptes näher auszuführen.

Individuelle Normen statt moralischer Faustregeln: Alexys Kritik anGünther

Die Lektüre des Güntherschen Opus beschere dem Leser im wesentlichen zwei Einsichten

(Alexy 1995c: 59ff.): „Die erste lautet, daß auch die Normanwendung sich als

Normbegründung auffassen läßt.“ Wenn auch nicht von universellen, sondern von

„individuellen Normen“ (Verweis auf Alexy 1985: 73), d.h. von singulären Geboten als

Konklusion von universeller Norm und angemessener Fallbeschreibung.172 Die zweite

Einsicht, „weitaus wichtiger“, lautet, daß das eigentliche Problem nicht in der (gemäß der

ersten Einsicht) je unproblematischen Anwendung einer Norm, sondern im Problem der

(möglichen) Kollision von Normen liegt. Alexy stützt sich (m.E. überzeugend) auf das von

Günther selbst eingeführte, Kantsche Beispiel der Kollision der Pflichten, ein gegebenes

Versprechen zu halten oder Hilfe in Not zu leisten. Hier sind drei Lösungen vorstellbar:

Erstens („tragisches Modell“), beide Forderungen sind legitim und eine wird zwangsläufig

verletzt (wobei es letztlich egal ist, welche). Zweitens, die Kollision erweist beide

Forderungen als illegitim, so daß keinerlei Verpflichtung besteht – zurecht von beiden

Autoren keiner weiteren Erwägung für wert befunden. Drittens, nur eine von beiden

Forderungen ist legitim, und zwar Kraft entweder einer individuellen Norm oder einer

Veränderung der universellen Normen so, daß diese nicht mehr kollidieren. Nur die zweite

Lesart der dritten Lösung, für die sich bei Günther ebenso Belege finden lassen wie für die

erste Lesart, gewährleistet allerdings eine „normative Kohärenz“ ohne „ad-hoc-Charakter“

(61). Daß dieses Problem entsteht, auch wenn Angemessenheitsforderungen nach

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„unparteilicher Berücksichtigung aller Merkmale einer Situation“ genüge getan ist, wurde

oben bereits festgehalten.

Alexy geht jetzt Günthers Argumentationsziel frontal an: Will man diese Problematik nämlich

vermeiden und entscheidet sich für diese zweite Lesart, dann klingen die beiden Argumente

Günthers für die Eigenständigkeit von Anwendungsdiskursen nicht mehr plausibel:

So behauptet Günther nämlich zum ersten, daß der Anwendungsdiskurs nicht auf die isolierte

Veränderung von Normen ziele (wie der Begründungsdiskurs), sondern auf die ideale

Kohärenz des gesamten Systems. Auch wenn dies von Günther für eine einzelne

Angemessenheitsüberlegung noch nicht zugestanden werden müßte, da angesichts einer

Norm nicht alle, sondern nur die diese Norm involvierenden Kollisionen aufgelöst werden

müssen (wie ich oben anhand der Tabelle 9 dargestellt habe), ist diese Beobachtung im

wesentlichen richtig. Damit wäre aber, so Alexys berechtigte Entgegnung, der zusätzliche

normative Gehalt, der zur Modifikation der ursprünglich kollidierenden Normen führte,

unnötigerweise einer adäquaten Rechtfertigung entzogen. Zu diesem formalen

Gegenargument gesellt sich ein inhaltliches: Die Ausklammerung von Kollisionen würde den

Begründungsdiskurs zum „Topoidiskurs“ hin ausdünnen: Nur noch allgemeine „Faustregeln“

könnten diskutiert werden (66).

Zweitens ginge es laut Günther in Anwendungsdiskursen um die richtige Entscheidung in

einer bestimmten Situation. Diesbezüglich konstatiert Alexy zunächst, daß auch in

Begründungsdiskursen immer ein Situationsbezug gegeben sein müsse (sonst könnten

Diskursteilnehmende nicht über Normkonsequenzen sprechen), und daß Günther, der das ja

ebenso sieht, also nur auf eine andere Art der Bezugnahme auf Situationen hinaus wollen

könne:

„An einem Punkt trifft diese These ohne Zweifel zu. Moralische Anwendungsdiskurse haben einunmittelbar situationsbezogenes Thema, Begründungsdiskurse nicht. Für Anwendungsdiskurse istdie Frage konstitutiv, was die richtige Lösung in einer bestimmten Situation ist, fürBegründungsdiskurse, welche universelle Norm richtig ist. Doch daraus, daß diese zwei Fragen zuunterscheiden sind, folgt noch nicht, daß essentiell verschiedene Diskursformen existieren. Eskönnte auch sein, daß diese beiden Fragen nur zwei verschiedene Operationen innerhalb einerDiskursform einleiten und deshalb nur zu zwei Varianten einer Diskursform führen.“ (67)

Dann nämlich, wenn wir bei ihrer Beantwortung schließlich „auf dieselben Fragen stießen

und diese Fragen in denselben Argumentformen und nach denselben Regeln zu beantworten

172 Alexy läuft hierbei Gefahr, daß eine individuelle Norm nicht mehr sinnvoll als Norm bezeichnet werdenkann. Vielleicht sollte man individuelle Normen eher solche nennen, die (wie im letzten Abschnitt) maximalspezielle, aber noch moralisch universelle Normen sind.

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hätten.“ (ebd.). Günther bestreitet dies – zu unrecht allerdings, wie Alexy meint. Denn wenn

man den Begründungsdiskurs nicht zum Topoidiskurs degradiert – und das ist natürlich eine

entscheidende Prämisse in Alexys Argumentation –, verbleiben genau zwei Unterschiede:

„Der erste ist, daß in beiden Diskursen am Anfang eine andere Frage gestellt und am Ende eineandere Antwort gegeben wird. In Begründungsdiskursen geht es um universelle, inAnwendungsdiskursen geht es um individuelle Normen. Der zweite und eigentlich entscheidendePunkt, in dem sich Begründungs- und Anwendungsdiskurs unterscheiden, ist, daß inBegründungsdiskursen auf eine Vielzahl von bereits erlebten und erdachten Situationen Bezuggenommen wird, während es in Anwendungsdiskursen um eine konkrete Situation geht.“ (69)

Die Anwendungssituation erfordert, erstens „alle Merkmale zu berücksichtigen“ (ebd.),

hierein stimmt Alexy schließlich Günther zu. Sie ist insofern auch „eine unverzichtbare

fallibilistische Instanz“ (ebd.), da Normenkollisionen nur so festgestellt werden können.

Zweitens kommt im Anwendungsproblem auch eine „intrinsische Geschichtlichkeit“

(Habermas; Günther) zum Ausdruck, da die Geschichte einen Strom von

Anwendungssituationen generiert; auch hierin stimmt Alexy mit Günther überein. Jedoch gibt

es für Alexy nur einen legitimen Umgang mit solchen u.U. auch unerwarteten Situationen:

Unser Normensystem ist „zu präzisieren oder zu modifizieren“, und es müsse jede veränderte

Norm wieder Begründungsdiskursen ausgesetzt werden. Daß Normen noch an etwas anderem

Scheitern können als an Normen, hält Alexy nicht für möglich.

Alexy hält also an einem umfassenden Begründungsanspruch fest, der auch singuläre Normen

umfaßt. Er trennt das Anwendungsproblem A1b (hier: der Bezug Normen auf Fälle) vom

Problem der Normenkollision. In der ersten Hinsicht stimmt er zwar mit der Güntherschen

Beschreibung überein – geboten sei die Berücksichtigung aller Situationsmerkmale –, würde

dies jedoch einem Begründungsdiskurs zuordnen, der auch sehr spezielle bis hinunter zu

individuellen Normen umfaßt. In der zweiten Hinsicht fordert er energisch eine ebensolche

Zuordnung zum Begründungsdiskurs, vertritt allerdings ein von Günther seiner Meinung nach

abgelehntes Vorgehen: Kollisionen erfordern veränderte, aber gleichwohl begründete

Normen. Daß auch Günther letztlich Kohärenzüberlegungen auf Begründungsebene

verhandelt, könnte Alexy dabei zusätzlich für sich reklamieren.

Anwendungsleitende Prinzipien

Doch mit dem Verweis auf Begründungsdiskurse im Fall von Normenkonflikten kann das

Problem gerade für Alexy nicht erledigt sein. So hält er doch einen Dissens als Ergebnis auch

potentiell unendlicher idealer Diskurse für möglich (1995b: 109ff.). Dadurch wird mit dem

Verweis auf eine erneute Normenbegründung zwar eine Verbesserung der Begründungslage

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einhergehen, doch eine eindeutige Antwort, und das heißt: Eine Auflösung des Konflikt auf

der Begründungsebene, kann er zumindest nicht in jedem Fall erwarten. Es überrascht daher

nicht, daß sich bei Alexy auch weitergehende Überlegungen zur situationsangemessenen

Anwendung von Normen finden, als sie in der direkten Kritik an Günther zum Ausdruck

kommen.

Bei Alexy finden sich nämlich einige interessante Bemerkungen dazu, wie die Anwendung

von Regeln auf Fälle konkret zu geschehen habe. In seiner Konzeption übernehmen nämlich

die „Prinzipien“ einen Teil der Rolle, die in einem herkömmlichen Moralverständnis die

„allgemeinen Normen“ als Prima-facie-Normen spielen. Prinzipien seien, anders als (für

Alexy) Normen, von einem hohen Generalitätsgrad. Sie besäßen „ideale Geltung“, d.h. wären

nur annährend zu erfüllen, und hätten die Möglichkeiten ihrer realen Erfüllung noch nicht

intern reflektiert (1995b: 177ff.). Das heißt, sie müssen im Anwendungsfall nicht

widerspruchsfrei sein oder angesichts von Kollisionen modifiziert werden (wie

Normensysteme). Diese Prinzipien seien ohnehin nur graduell zu erfüllen, und in der

konkreten Anwendungssituation sei nun die Summe ihrer Erfüllungsgrade zu maximieren.

Er erläutert seine Auffassung über Rechtsprinzipien: „Keine Strafe ohne Gesetz“ oder „Im

Zweifel für den Angeklagten“ regeln ohne Zweifel die konkrete rechtliche Urteilsbildung. Sie

sind besonders sinnvoll für ein formelles, ausgearbeitetes Regelsystem wie das rechtliche,

treffen aber sinngemäß wohl auch auf die moralische Urteilsbildung zu. Sie regeln die

Verknüpfung von Situationsdeutung, Norm und Urteil – hier für eine einzelne Norm. Es

lassen sich aber auch Prinzipien finden, die nur beim gleichzeitigen Zutreffen mehrerer

Normen Anwendung finden können: Das Verbot der Mehrfachbestrafung derselben Tat

gehört hierher. Andere Prinzipien wie das der Verhältnismäßigkeit von Strafe und Schuld

betreffen einerseits die Ausfüllung des rechtlichen Ermessensspielraums, könnten andererseits

aber auch Hinweise auf eine angemessene Strategie bei Normenkonflikten bieten. Nicht jeder

Normenkonflikt ist ja so gravierend, daß eine Neubegründung auch wirklich vollzogen wird –

das ist nur bei nicht unter solchen Prinzipien auflösbaren Konflikten der Fall, bei zu starken

Widersprüchen in der Konsequenz der Normenanwendung (etwa, wenn das Straf-Höchstmaß

der einen anwendbaren Norm explizit über dem Straf-Mindestmaß einer anderen

anwendbaren Norm liegt).

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Regeln: Normen, Prinzipien – und Werte?

Es gibt daher auch bei Alexy zwei Formen von Regeln: Einerseits die Normen, die als

kohärentes und konsistentes System auszuarbeiten und zu aktualisieren sind. Andererseits die

Prinzipien, die höherstufig den Umgang mit diesem Normensystem regeln, und die nicht in

derselben Weise kohärent und konsistent gemacht werden sollen (sonst wären sie letztlich

Normen). Wie nun aber, wenn wir nach der Begründung dieser Prinzipien selbst fragen?

Unsere Rechtsnormen können wir hier nicht heranziehen, wohl aber können wir angesichts

der Begründung von Rechtsprinzipien auf die Moral verweisen. Doch das Problem verschärft

sich dann auf der Ebene der Moral: Zur Begründung der Prinzipien kann eine Normenmoral

(mit dem Alexyschen Normbegriff) nicht herhalten, denn die Ergebnisse solcher

Begründungen dürften sich idealiter nicht widersprechen. Sie hätten außerdem nur, wie

Normen, in einer binären Weise zu gelten (richtig oder falsch) und könnten nicht graduell

erfüllt werden. Soweit wir aber am Anwendungsproblem moralischer Normen interessiert

sind, steht uns ein solcher Ausweg ohnehin nicht offen: Denn worauf wollen wir nun

verweisen?

Auf welche Weise die Prinzipien auch immer gerechtfertigt werden könnten, es drängt sich

doch die Frage auf, ob dies – wenn überhaupt im Diskurs – dann anders als als

„Topoidiskurs“ geführt werden könnte, denn Alexy so vehement, aber vielleicht doch etwas

voreilig ablehnt. Die Parallelität dessen, was Habermas und Günther unter Normen verstehen

(Grundnormen), zu Alexys „Prinzipien“ ist doch augenfällig. Wenn aber eine graduelle

Erfüllbarkeit und eine (sei es idealiter anzustrebende) Widerspruchsfreiheit nicht mehr

gefordert werden würde, sollte man diese Grundnormen lieber offen als Grundwerte

bezeichnen. Dieser Wertbegriff betrifft die Geltungsweise, nicht irgendeine notwendige

Partikularität oder Kontextgebundenheit und auch nicht einen teleologischen

Handlungsbezug, den Habermas ihnen beiordnen will. Sie sind schlicht Regeln, die die

Beurteilung von Handlungen leiten, die nicht binär kodiert, kohärent und konsistent sind. Eine

gewisse Kohärenz ist ihnen aber sicher auch zu eigen: Denn als ein Geflecht von Werten

drücken sie dasjenige aus, worauf es in der Moral ankommt, was durch moralische Normen

und die durch sie idealiter eindeutig geregelten Handlungen ebenfalls geschieht.

Die (Nutzen?)-Summenmaximierung der Alexyschen Prinzipien spricht doch die

teleologische Grundintuition klar genug aus. Sogar eine Verrechenbarkeit der einzelnen

Erfüllungsgrade wird hier unterstellt. Diesen Teil des Alexyschen Konzepts braucht man ja

nicht zu übernehmen, es gibt auch subtilere Beschreibungen von Abwägungsprozessen (zumal

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- 272 - -

eine gemeinsame Wertgröße der Verrechnung, die der Utilitarismus wenigstens

terminologisch klar ausspricht, genausowenig zur Verfügung steht wie ein quantitativer

Gradmesser der Erfüllung der einzelnen Prinzipien).

Der Streit um den Charakter moralischer Regeln läßt sich also so zusammenfassen: Die eine

Fraktion vertritt eine Auffassung von Normen als „allgemein und abstrakt“ im Sinne einer

Generalität von Normen. Die andere Fraktion will zur Beurteilung von Handlungen letztlich

sehr spezielle, gleichwohl aber noch semantisch universelle Normen heranziehen. Die

Diskurstheorie selbst, und auch die Diskursethik mit »U« und »D«, bietet hier keine

Entscheidungsbasis an. Dem Geltungsanspruch der moralisch-praktischen Richtigkeit kann

sowohl durch generelle als auch durch spezielle Normen Rechnung getragen werden. Beide

Konzepte sind durch mehr oder weniger umfangreiche Überlegungen zur angemessenen

Anwendung zu ergänzen (vgl. Alexys Prinzipien), so daß auch dies kein Ausschlußkriterium

sein kann.

Grund genug, sich der Frage zu vergewissern, was diese beiden Konzepte von Normativität

eigentlich leisten und was nicht, um so vielleicht ihre Brauchbarkeit in der moralischen

Urteilspraxis einschätzen zu können:

Für wenige, generelle Normen spricht die schnelle Orientierungsleistung einfacher Regeln;

ihre leichte Lehr- und Lernbarkeit; die (u.U. vorliegende) Verknüpfung mit „moralischen

Schutzgütern“ (d.h.: Hinsichten moralischer Verletzlichkeit), Grundwerten o.Ä.; die

eingebaute Sperre gegen eine mechanische Anwendung als Subsumtion und die

Verdeutlichung eines moralischen Konflikte qua Normenkonflikt, was einer Verharmlosung

vorbeugt. Doch jeder dieser Vorteile ist auch ein Nachteil: Wo sie konfligieren, geht die

Orientierung schnell verloren; sie sind weniger schlecht vermittelbar, da Gegenbeispiele

sofort zur Hand sind; moralische Intuitionen sind evtl. vielfältiger, als es einige wenige

„Schutzgüter“ suggerieren; ein weiter Spielraum bei der Anwendung kommt willkürlichen

und unwillkürlichen Verzerrungen dabei entgegen, etwa zugunsten des eigenen Vorteils, und

u.U. eindeutig auflösbare Konflikte werden undifferenziert zu tragischen, unlösbar

dilemmatischen Situationen hochstilisiert.

Die Praktizierung eines sehr speziellen Normensystems ist zudem als informelles System, wie

es die Moral darstellt, nicht ganz einfach. Man braucht sich das formelle Rechtssystem ja nur

anschauen, um zu erkennen, was allein die Voraussetzung der widerspruchsfreien

Systembildung für ein Heer an Rechtspflegern nötig macht, von einer anerkannten

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- 273 - -

Dezisionsinstanz ganz zu schweigen.173 Hier müssen bzw. können (in Habermasscher

Terminologie) pragmatische und ethische Aspekte ebenfalls eingebaut werden, was den

Aufwand beträchtlich erhöht.

Ein Konzept individueller Normen kommt zudem ohne sehr generelle Normen gar nicht aus,

wenn eine Systembildung beibehalten werden soll: denn schließlich sollen dabei ja spezielle

Normen durch Spezifizierung der generelleren Normen sich begründen lassen. Das heißt

nicht, daß es eine oberste Norm geben muß, aber eine hierarchische Binnendifferenzierung

wenigstens von größeren Teilen des Normensystems ist wohl unausweichlich. Wie ist nun das

Verhältnis dieser generellen System-Normen zu den generellen Normen, von denen Habermas

und Günther z.B. sprechen? Letztere wurden ihrer Geltungslogik nach oben als Werte

bezeichnet, so daß sich auch fragen läßt: Wie ist das Verhältnis von Grundnormen und

Grundwerten? Ich denke, daß das Eine das Andere nicht überflüssig macht. Da das

Moralsystem nur ein virtuelles System ist, nicht formell ausdifferenziert, stellt sich die Frage

nach dem „Entweder-Oder“ sowieso nicht ernsthaft. Eher schon kann man sagen, daß beides

idealiter zusammenfallen müßte. Der Geltungssinn könnte dann ganz auf denjenigen

systemischer Normen umgestellt werden. Werte und Normen stehen, so verstanden, in einem

produktiven Spannungsverhältnis, das sich nicht nach einer Seite hin auflösen läßt.

Unter pragmatischen Gesichtspunkten werden in Situationen der moralischen Urteilsbildung

wohl entweder eher allgemeine Überlegungen angestellt, oder sehr detaillierte Beurteilungen

vorgenommen werden. Aus dem Spektrum verschiedener Generalitätsgrade wird jeweils die

geeignete begriffliche Ebene gesucht, wird der Umfang der Folgen-,

Interessenberücksichtigung (und damit die relevanten Merkmale) festgelegt und wird die

geeignete normative Präzision festgelegt werden müssen.

Im Folgenden werden nun Konzeptionen untersucht, die die einseitige Beschränkung auf

einen Typ moralischer Normen aufgeben und je nach Allgemeinheit der fraglichen

Anwendungsebene auch einer entsprechende Allgemeinheit von Normen das Wort reden – bis

hin zur Position, im praktischen Diskurs dürfe auch die Normensemantik selbst nicht

favorisiert werden. Diese Autoren lehnen folgerichtig auch eine extensionale Differenzierung

des praktischen Diskurses in Anwendungs- und Begründungsdiskurse ab (wodurch ihre

173 Durch eine Intensivierung der philosophischen Bemühungen zur angewandten Ethik allein ließe sich hieranwenig ändern.

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Ansätze mit der in dieser Arbeit für sinnvoll gehaltenen analytischen Unterscheidung freilich

kompatibel bleiben). Es folgen nun also denjenigen Ansätze, die im Rahmen einer eigenen

Version der Diskursethik eine originelle Sicht des Anwendungsproblems entwickeln (Kettner,

Ulrich, Ott).

Diskursiv integre Texturübergänge - dieAnwendungkonzeption von Kettner

M. Kettner erörtert im Zuge der Formulierung der Anwendungskonzeption der zunächst noch

transzendentalpragmatisch verstandenen Diskursethik und ihres „letztbegründeten Prinzips

der Diskursivierung“ (Kettner 1992: 343) die Problematik der »bereichspezifischen

Relevanz« von Ethiken und macht sich unter dieser Perspektive auf die Suche nach einer

„konkret-allgemeinen“ Ethik als Rahmenkonzept. Er plausibilisiert zunächst am Beispiel des

Utilitarismus, daß einige moralphilosophische Konzeptionen offenbar nur in einigen

„Praxissektoren“ (320) relevant seien, in anderen Bereichen dagegen ihre Anwendung zu

absurden Ergebnissen führt.174 Er definiert daher einen „moralischen Einheitsfokus“:

„Mit dem »Einheitsfokus« einer Moral war gemeint: eine Manifestationsweise normativerEinheitlichkeit – sei dies im Format von Werten, Geboten, Regeln, Normen, Prinzipien oder:Prozeduren, die eine besondere Moraltheorie bestimmt auszeichnet.“ (329)

Die Beteiligten in einem moralischen Konflikt hätten nämlich prima facie ein Recht auf die

Formulierung ihrer Sicht des Problems in der Sprache des ihnen adäquat erscheinenden

Einheitsfokus‘. Schließlich kann er das Problem formulieren, ob es nur solche

bereichsrelevanten Ethiken gibt oder ob es nicht eine Ethik gibt, die mit einem umfassenderen

Anspruch auftreten kann:

„Eine konkret-allgemeine Ethik muß sich auf die jeweilige Sprache des Falles einlassen können, d.h. sie muß einen Einheitsfokus haben, der ggf. erlaubt, andere, abweichende Einheitsfokusse sozueinander ins Verhältnis zu setzen, daß moralische Kosten unter allen Betroffenen minimiertwerden.“ (342)

Er setzt dann unmittelbar fort:

„Diese Adäquatheitsbedingung wird (nur) von der Diskursethik erfüllt.“ (343)

Denn nur dieser eigne ein „prinzipieller Nichtpaternalismus“; nur diese fordere eine

Diskursivierung, in der die Betroffenen selber ihre Betroffenheit in ihnen adäquat

erscheinenden Termini formulieren sollen. Kettner ist hier anscheinend noch der Meinung,

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- 275 - -

daß die Normen-Semantik der Diskursethik hierbei keine besondere Einschränkung darstellt –

im weiter unten zu besprechenden Neuentwurf wird diese dann aufgegeben, wie es für seine

Anwendungskonzeption auch treffender ist.

Das Konzept der Diskursivierung bedeute nun aber nicht, daß alle Praxisbereiche „auf

ausschließlich konsensuelles Handeln umzustellen“ wären, sondern:

„Diskursethisch begründet läßt sich vielmehr zur folgendes fordern:

In allen Bereichen sozialer Praxis, die hinreichend viele Betroffene hinreichend wichtig finden,sollen strukturelle Äquivalente für diskursive Prozeduren (der vernünftigen Willens- undMeinungsbildung) zumindest erreichbar gemacht oder supervisorisch eingerichtet werden, soferndie betreffenden Bereiche selber sich – sei’s beim gegenwartigen Stand ihrerKonzeptualisierungsgeschichte, sei’s aufgrund unaufhebbarer handlungsstrukturellerEigentümlichkeiten – eigensinnig gegen die praktische Diskursivierung von innen sperren.“ (345)

Die Forderung nach Diskursivierung sei mit der teilweise berechtigten strategischen

Rationalität, nach der diese Bereiche angesichts des strategischen Handelns anderer

organisiert sind, so ins Benehmen zu setzen, daß „moralische Kosten“ zu minimieren seien.

Dies erfordere teilweise eben „Strategiekonterstrategien“ (346). Der Begriff der „moralischen

Kosten“ bleibt hier leider unausgeführt. Als Beispiele für Institutionen, die die

Diskursivierungschancen in herkömmlicherweise eher abgeschotteten Praxisbereichen zu

erhöhen, nennt er: psychosoziale Beratungseinrichtungen, »Ethik-Komitees«, autonome

Öffentlichkeiten, alternative Experteninstitute und »gegenöffentliche Informationsquellen«

sowie Bürgerforen (ebd.).

In seinen jüngeren Texten vertritt Kettner hingegen den metaethisch elaborierten,

eingeschränkten Universalismus, der oben (im Begründungskapitel) bereits vorgestellt wurde.

Dabei entwickelt Kettner den Apelschen Ansatz weiter und revidiert auch das Verhältnis von

Begründung und Anwendung, da nun Anwendungsfragen nicht einfach als Teil B der

Begründung verstanden werden können. Er folgt hier den Habermasschen Überlegungen zur

Zumutbarkeit der Moral, d.h. er hält die Situation für möglich, daß die Moral hinter anderen

Überlegungen legitimerweise zurückstehen muß (dazu später). Die zweite wichtige

Habermassche Modifikation der Diskurstheorie seit Ende der 80er Jahre lehnt er jedoch ab: Er

verwirft die Trennung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen (Kettner 1993), und die

Fixierung auf Normenbegründung in Begründungsdiskursen gleich mit. Stattdessen geht es in

moralischen Diskursen so gut wie nie um einzelne Normen (oder einzelne Gründe), also

174 So führt Kettner an einem Beispiel aus der Sexualmoral aus, in der es um personale Beziehungen geht, daßder Kontraktualismus oder Regelutilitarismus hier absurd wirken müssen, da Tauschbeziehungen bzw.Gesamtnutzenerwägungen als Analysekategorien deplaziert wirken (Kettner 1992: 337).

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weder um ihre Begründung noch um ihre Anwendung, sondern um diskurskontrollierte

Übergänge von einer Textur T1 zu einer Textur T2 von Gründen – Texturen, in denen auch

Moralvorstellungen eingebettet sind (13/14). Geschehen diese Übergänge nämlich gemäß der

– oben bereits dargelegten – „Moral-im-Diskurs“ MID, so werden dadurch die vorfindlichen

Moralen zu „diskursiv integren Moralen“ DIM „umgemodelt“, d.h. wohl: umgestaltet (32).

Im Diskursmodell angewandter Ethik geht es darum, ein Argumentationsmedium mit folgendenEigenschaften zu erzeugen:

1. Das Medium soll - gleichsam als input - auf die Thematisierung moralischer Irritationenspezialisiert sein.

2. Es soll - gleichsam als output - erlauben, Interventionen in die normativen Texturen, die diebetreffenden Irritationen hervorbringen, zu spezifizieren und zu rechtfertigen.

3. Es soll moralreflexive Verantwortung (=Verantwortung, welche den Instanzen, die mitmoralisch-normativen Rechtfertigungen im Rücken in moralisch-normative Texturenintervenieren, um T1-T2-Übergänge zu kontrollieren, unweigerlich zuwächst) wahrnehmen, und

zwar im Sinne der MID.

4. Es soll die normativen Texturen jener Praxisbereiche, von denen her sein input sich autorisiertund an die sein output sich adressiert, in Texturen einer DIM transformieren. (34)

Dieses Argumentationsmedium soll derart allgemein angesetzt werden, daß es Raum läßt

nicht nur für verschiedene „moralische Einheitsfoki“, sondern auch für die dahinterstehenden

moralphilosophischen Konzeptionen – und diese umgreift. Es geht Kettner um eine

Moralkonzeption, die:

„[…] nicht alternativ neben anderen Moralkonzeptionen steht, sondern als deren gemeinsamesMedium (und insofern: als primus inter pares) hervortritt, [ Fußnote: »Präziser gesagt: Alstransversale Praxis moralischer Urteilsbildung über moralische Urteilsbildung. Mit der Metapherdes `Mediums' assoziiert sich oft (fälschlich) Passivität.«] sobald mit Bezug auf konkretemoralisch irritierende Problemlagen die Relevanz (Kettner 1992a), Reichweite, Angemessenheit,Aufschlußkraft und Ausschließlichkeit einer Moralkonzeptionen neben anderen strittig wird.“ (3)

Sie als Anwendungskonzeption näher zu bestimmen, scheint für Kettner die diskursethische

Hauptaufgabe angewandter Ethik darzustellen. Sein Vorschlag soll nun näher vorgestellt

werden, um dann zu diskutieren, welche Anwendungsprobleme Kettner durch seine

Konzeption löst bzw. für lösbar hält.

Intersubjektivität und Universalismus – in der Anwendung?

Eine Besonderheit von Kettners Ausführungen liegt darin, daß er am Ende seine

Anwendungskonzeption in fünf Parametern zusammenfaßt, deren normative Gehalte über die

im Begründungsteil aufgewiesenen hinausgehen – so jedenfalls mein Eindruck. Trotz der in

Kettners Augen legitimen, partikularistischen Beschränkung der einzelnen Begründungen qua

Projektionseigenschaften hält eine Art Universalisierung durch die Hintertür Einzug in die

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MID. Die ursprüngliche Diskursidee scheint sich bei Kettner also erst in der Anwendung so

recht entfalten zu dürfen.

Diese fünf Parameter stellen den Kern von Kettners Anwendungskonzeption dar, sind sie

doch „fünf zum Begriff eines moralischen Diskurses, dem "Anwendungsmodell" der

Diskursethik, gehörige normative Elemente“ (37). Diese Parameter werden nun dargestellt

und es wird zu zeigen sein, wo ihr normativer Gehalt über die im Begründungsteil skizzierten

Gehalte hinausgeht.

Zum genaueren Verständnis dieser These sei noch einmal an die Argumentationsstrategie

Kettners erinnert. Sie nimmt ihren Ausgang von der folgenden Hypothese:

(HDE) Richtig zu wissen, was es heißt, argumentieren zu können, schließt die Kenntnis einer

bestimmten Moralkonzeption ein, und daß man weiß, was es heißt, dieser Konzeption gemäß odervon ihr abweichend zu handeln. (18)

Wohlgemerkt, die Argumentation findet dabei (wie die Projektionseigenschaft ausdrückt),

normalerweise nur innerhalb einer begrenzten Gruppe von rationalen Bewertern statt. Für

diese gibt es nun eine (für alle rationalen Bewerter qua rationale Bewerter) obligatorische,

dem diskursiven Argumentieren interne Moral, eben die Moral-im-Diskurs (MID). Diese

bestimmt ausschließlich darüber, wie diskursiv argumentiert werden soll, ist also eine reine

Kommunikationsethik (genauer: Ein Teil der Argumentations-, und als diese wiederum ein

Teil der Kommunikationsethik). Auf dem Wege der Begründung dieser Hypothese wird die

Verallgemeinerungsregel (V* bzw. V*) bzw. die Projektionseigenschaft P investiert, um ein

Moment dessen auszudrücken, was „gute Gründe“ sind. Dieser Begründungsgang führt

Kettner in einen Partikularismus guter Moralgründe, den er auf dem Weg zu HDE nicht mehr

überzeugend eliminieren kann. Die verschiedenen Versuche einer Ausweitung des

Adressatenkreises auf dem Weg zu HDE (die man HDE selbst jedoch nicht mehr ansieht) habe

ich oben bereits skizziert. In der Entwicklung des „Diskursmodells angewandter Ethik“, die

im Folgenden nachgezeichnet werden soll, wird die MID inhaltlich näher bestimmt. Am Ende

sollen antipartikularistische Resultate stehen, die – da aus HDE nun ganz offenbar nicht zu

gewinnen – deutlicher noch als unterwegs zu HDE sichtbar werden lassen, in welche

Sackgasse sich Kettner durch die Einführung der „Projektionseigenschaften“ manövriert hat.

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Kettner geht zur näheren Charakterisierung der Moral-im-Diskurs von der paradigmatischen

Situation aus, daß an den drei Personenstellen (W, A, O)175 moralischer Urteile nur solche

Personen stehen, die gleichermaßen zur Teilnahme an moralischen Diskursen und zu

moralischem Handeln fähig sind. Die fünf „Parameter“ moralischer Diskurse, die Kettner nun

entwickelt, sind: (1) die vernünftige Bedürfnisartikulation, (2) die Neutralisierung von

Machtdifferenzen, (3) die strategiefreie Aufrichtigkeit, (4) die Horizontverschmelzung und (5)

die Betroffeneninklusion.

Der fünfte Parameter hat ersichtlich einen Sonderstatus, denn er disponiert über die

Teilnahme an Diskursen, während in den anderen vier Parametern Forderungen an die bereits

Beteiligten zum Ausdruck kommen. Diese Forderungen scheinen mir aus dem

Vorangehenden mehr oder weniger plausibel, die Rede von „Beteiligten“ im Kettnerschen

Text ist jedoch mehrdeutig: Sind dies nun nur die (W)-Personen, oder auch (A)- und (O)-

Personen? Kettner wird erst im fünften Parameter für die Beteiligung auch dieser

Personengruppen argumentieren, und setzt diese doch schon im ersten Parameter voraus,

nach dem „alle Beteiligten in der Lage sein sollten, ihre Bedürfnisse soweit vernünftig zu

artikulieren, wie sie sie für moralisch relevant halten“ (38). Kettner bezieht dies explizit (38)

auf die Aktorinstanzen (warum dann nicht auf die Aktorobjekte?), ohne daß dies durch die

Rationalitätsanforderungen an rationale Bewerter (im Kern: V*) gedeckt wäre. Um

verschiedene moralische Ansprüche diskutierbar zu machen, plädiert Kettner jedenfalls im

Einklang mit Habermas (1981; 1983a) – allerdings nun erst im Anwendungsteil – für das

Bedürfnis als Leitbegriff der Diskussion.176 Der Bedürfnisträger selbst ist, wie ebenfalls schon

bei Habermas, je unverzichtbarer Interpret seiner eigenen Bedürfnisse; er behält „sozusagen

das letzte Wort, ist aber gleichwohl durchweg kritisierbar“ (37).

Der zweite Parameter betrifft Machtunterschiede zwischen den Beteiligten. Könnten solche

nicht thematisiert werden, wäre der erste Parameter, die vernünftige Bedürfnisartikulation, in

Gefahr. Daher:

Keiner der zwischen den Beteiligten bestehenden Machtunterschiede irgendwelcher Art sollte einguter Grund sei [recte: sein], aus dem ein Beteiligter selber ein Diskursresultat für richtig hält. (39)

175 Diese Stellen der Urteilenden (W), der Aktorinstanzen (A) und der Aktorobjekte (O) wurden oben, imBegründungsteil, bereits erläutert.176 Konfligierende moralische Ansprüche sollten als (in terms of) eigene oder fremde Bedürfnisse reformuliertwerden, so Habermas‘ und Kettners Vorschlag, um einen gemeinsamen Ausgangspunkt der Diskussion zufinden.

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Diese Forderung geht freilich viel weiter, als nur eine ungestörte Bedürfnisartikulation zu

gewährleisten. Sie hat einen erheblichen eigenen normativen Gehalt.

Der dritte Parameter fordert darüberhinaus, da auch ohne Machtunterschiede noch möglich:

…daß Zumutungen der Aufrichtigkeit nicht strategisch eingeschränkt werden – weder ausGründen, die in den zu artikulierten [recte: artikulierenden] Bedürfnisansprüchen bereitsvorgegeben sind, noch aus Gründen, die sich durch den Gang der Artikulation vonBedürfnisansprüchen allererst einstellen. (40)

Aufrichtigkeitsforderungen wie diese scheinen mir durch die Rationalitätsforderungen an

rationale Bewerter hinreichend abgedeckt.

Der vierte Parameter, dessen normativer Gehalt „unter Stichworten u.a. der

»Perspektivenübernahme«, der »idealen Rollenübernahme«, der »Universalisierbarkeit«

metaethisch entwickelt“ wurde, lautet wie folgt:

Ein Bedürfnisanspruch, den eine (erste) Person im Horizont der von ihr repräsentiertenMoralgemeinschaft artikuliert, soll auch von einer (zweiten) Person im Horizont ihrer eigenen und,wenn nötig, im Horizont einer weiteren (von einer dritten Person) repräsentiertenMoralgemeinschaft nachvollzogen werden können - und dies müssen alle Beteiligten bezüglichaller thematischen Bedürfnisansprüche einander zumuten dürfen. (40)

Betrachten wir seine Begründung genauer:

Es geht den Teilnehmern moralischer Diskurse unter dem Eindruck moralischer Irritationen umgemeinschaftliche Moralurteilsgrundlagen. Daher kann es einem, der hier als ein Wir-Repräsentanteiner Moral M1 auftritt, nie nur um die vernünftige Artikulation seiner eigenen […] M1-Moralgehen. Denn seine eigenen Ansprüche müssen auch von solchen Teilnehmern nachvollzogenwerden können und hinreichend nachvollzogen werden, die ihre eigenen, von M1 vielleicht ganzabweichenden Moralgemeinschaften M2..Mn repräsentieren. Andernfalls können sie die jezumutbar erscheinenden Spielräume von Konsens und Dissens nicht kennenlernen, und wie solltensie bei einem gemeinschaftlichen Urteil über etwas ankommen, das sie gar nicht kennen? (40)

Sicher ist es richtig, daß dann, wenn aus Sicht von M1 die Ansprüche anderer wichtig sind,

die M1-Repräsentanten auch versuchen werden, sich eine Vorstellung von diesen Ansprüchen

zu machen und diese nachzuvollziehen. Aus Sicht von MID scheint es Kettner jedoch darauf

anzukommen, daß M1-Vertreter sich nicht gegenüber den anderen Moralen privilegieren

dürfen. Ihre Ansprüche „müssen […] hinreichend nachvollzogen werden können“177 – auch

von Vertretern anderer Moralen. Was heißt das genau: Muß sich der M1-Vertreter nur um die

177 Der Indikativ des Fortsatzes „und hinreichend nachvollzogen werden“ ist eine zu starke Forderung. Sie wirdin der Formulierung des Parameters Vier von Kettner fallengelassen, dort heißt es ja nur: „soll nachvollzogenwerden können“ (40). Was der Potentialis genau bezeichnen soll, bleibt (wie häufig auch bei der Rede von„Universalisierbarkeit“) offen: Wann kann man zustimmen? Ist damit gemeint: Man wird (normalerweise) unterbestimmten Bedingungen zustimmen oder man wird (bei hinreichend gutem Willen) zustimmen? Oder soll manauch Bedürfnisartikulationen zuzustimmen, die man nicht für optimal („100% richtig“), aber „akzeptabel“ hält?Also einem „Kompromiß“, wie ihn Kettner an anderer Stelle fordert?

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bestmögliche Nachvollziehbarkeit bemühen, oder müssen seine Ansprüche auch wirklich

nachvollziehbar sein? Das Nachvollziehen soll dabei, so Kettner (40), im Horizont der

anderen Moralvorstellungen geschehen, d.h. nicht nur transsubjektiv (jeder Anspruch im

Rahmen der zugehörigen Moralvorstellung). Allerdings: „soll“, nicht „muß“. So kann denn

der von Kettner bemühte Gadamersche Terminus der „Horizontverschmelzung“ hier nur dann

am Platze sein, wenn die Moralvorstellungen sich nicht wechselseitig zu sehr widersprechen:

Denn wenn eine andere Moralvorstellung als solche abgelehnt wird, dürfte bereits die

Reformulierung eigener Ansprüche in deren Terminologie unzumutbar sein. Oder soll ein

Opfer seinem Schlächter wirklich in dessen (menschenverachtender) Moralvorstellung den

eigenen Anspruch auf Achtung der Menschenwürde verständlich machen?

Legen wir uns nun die Frage vor, für welchen Personenkreis dieser Parameter gilt: Unter (W)-

Personen könnten natürlich Moralvorstellungen strittig sein – trotz der Gemeinsamkeit, daß

sie als zu Beteiligende an einem Diskurs angesehen werden. Sie werden letzteres zwar

aufgrund einer gemeinsamen Überzeugung P, die aber durchaus Raum für Dissense über

Moralvorstellungen lassen kann.

Kettner hält diesen Parameter jedoch auch für maßgeblich dafür, daß „in der Struktur der

Moralurteile, die im Diskurs resultieren, Austauschbarkeit der Werte der drei Personenstellen

resultieren“ (40), d.h. der Urteilenden (W), der Aktorinstanzen (A) und der Aktorobjekte (O).

Das ist jedoch sicher nicht der Fall: Geht es bei diesem Parameter doch eingestandenermaßen

um die wechselseitige Perspektivenübernahme unter den Teilnehmern moralischer Diskurse.

Damit die angestrebte Austauschbarkeit erreicht werden kann, benötigen wir ein Argument

für die Notwendigkeit, (A) und (O) an Diskursen teilnehmen zu lassen – und dies liefert erst

der nächste Parameter.

Der fünfte Parameter spiegelt die Tatsache, daß von (W) über (A) und (O) als u.U.

außenstehende „Mitgemeinte“ verfügt wird:

Die Vorgabe übernehmen (annehmen, anerkennen) werden die außenstehenden Mitgemeinten abernur dann müssen, wenn sie ihnen als die Resultante einer für sie selber zwar nur virtuellendiskursiven Argumentation gleichwohl so eingängig ist, wie sie den Teilnehmern als dieResultante ihres für sie selber reellen Argumentierens eingängig ist. (41)

An dieser Stelle will Kettner der von Habermas explizierten vernunftmoralischen Intuition

Rechnung tragen, daß „die Begründung einer Moralforderung es deren Ko-Adressaten

ermöglichen soll, sich im Nachvollzug der Begründung dann auch als virtuelle Ko-Autoren

der Moralforderung zu sehen“ (41). Über die weitergehende Forderung, daß diese

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Antizipation nicht rein kontrafaktisch bleiben kann, über die „Dialektik der idealen und der

realen Kommunikationsgemeinschaft“, wie Apel sie überschrieben hat, hören wir bei Kettner

nichts.

Und wieder gilt, daß nur dann, wenn in einer Moralvorstellung die Zustimmung von Nicht-

Diskursbeteiligten wichtig ist, diese auch (irgendwie) antizipiert werden muß. Daß aber

überhaupt – über die durch P der jeweiligen Begründung oder der jeweiligen

Moralvorstellung bezeichnete Personengruppe der Diskursbeteiligten hinaus – noch eine

weitere Zustimmung irgendwie zu antizipieren sei, liegt nicht in P selbst begründet. Kettner

sagt, die Inklusion der Betroffenen sei geboten „wegen V* und wegen der Justierung

diskursiver Macht in einer Argumentationsgemeinschaft, welche nach außen immer offener

sein muß als ihre Abschließung in sich selbst je sein darf“ (41). Wegen V* alleine ist jedoch

nichts dergleichen geboten. Das fragile Argument der Nichtabschließung konnte, wenn

überhaupt, nur in Bezug auf die Verteilung diskursiver Macht selbst überzeugen. Nur die

moralischen Diskurse, wo es darum geht, wer zu beteiligen ist, dürfen nicht abgeschlossen

werden. Wo es um (beliebige) andere Fragen geht, fehlt Kettner das Argument.

Besonders die letzten beiden Parameter überziehen sichtlich: Nur weil die Kritik an dieser

Verteilung möglich sein soll, muß noch nicht eine Gleichberechtigung von Bedürfnissen oder

Bedürfnisaktikulations-Perspektiven angestrebt werden. Genausowenig muß eine antizipierte

Berücksichtigung der Zustimmung der Betroffenen in beliebigen moralischen Diskursen

erfolgen. Denn Einwände gegen die Verteilung diskursiver Macht im Diskurs über moralische

Ansprüche zu berücksichtigen heißt nicht, Einwände gegen moralische Ansprüche zu

berücksichtigen.

Den Sinn seines diskursethischen „Anwendungsmodells“ faßt er noch einmal zusammen:

Diskursethik ist kein Surrogat oder Substitut vorfindlicher Moral, sondern überformt vorfindlicheBestände. Dabei normiert sie die Verantwortung von Argumentationsgemeinschaften für denGebrauch, den diese von ihrer diskursiven Macht zur Festlegung moralischerRichtigkeitsüberzeugungen machen. (42)

Im Kern besteht Kettners Anwendungskonzept anscheinend in der Formulierung dieser fünf

Parameter. Damit ist natürlich die angewandte Ethik noch nicht erschöpfend betrieben, aber

doch ein wichtiger Beitrag seitens der Diskursethik erfolgt, wie moralische Kontroversen

vernünftig zu führen sind. Daß Kettner an einigen Stellen seine Prämissen überanspruchen

muß, um diese fünf Parameter zu gewinnen, weist m.E. eher auf defizitäre Prämissen hin: Der

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Übergang zum Universalismus aus einem Prima-facie-Partikularismus gelingt ihm auch im

Anwendungsteil nicht.

Weitere Anwendungsprobleme

Neben diesem Kernproblem finden sich, an verschiedenen Stellen im Text verstreut, Hinweise

auf „Anwendungsprobleme“, wie wir sie eingangs analytisch unterschieden haben.

Konstruktion von Projektionseigenschaften

Ein erstes Anwendungsproblem liegt auf einer besonders basalen Ebene vor, es ist außerdem

charakteristisch für Kettners Ansatz, und soll daher zuerst besprochen werden: Wenn nämlich

jemand einen Grund für gut hält, so muß er nach den Verallgemeinerungsregeln V* bzw. V*

empirische Annahmen über die Anerkennungslage von potentiellen Urteilsgrundlagen (P)

bzw. über die Plausibilität von Erklärungen (P) machen:

Wenn ich nicht genug darüber weiß, wie ich und du, er und sie und andere rationale Bewerterwirklich situiert und konstitutiert sind, kann ich V* nicht zum Tragen bringen, nicht "anwenden",denn ich kann dann keine realistische Projektionseigenschaft P gedanklich konstruieren.Außerdem muß in jeder gedanklichen Konstruktion passender Ps der zunächst unbestimmteUnterschied zwischen relevanten und irrelevanten Unterschieden bestimmt werden. Restriktionenbloß logischer Konsistenz sind hierfür aber nicht einschlägig. (24)

Dieses Anwendungsproblem ist ein internes Problem seiner Konzeption, das sich mit jedem

Begründungsversuch von neuem stellen wird. Es muß freilich als regelmäßig lösbar

angesehen werden, sonst wäre Kettners Konzeption nie praktikabel. Probleme dieser Art, der

Auswahl nach Relevanzen, ließen sich noch einige mehr formulieren (s. die Diskussion von

Günthers „Anwendungsdiskursen“), doch Kettner beschränkt sich wohl deshalb auf die

Präsentation dieses einen, weil es besonders charakteristisch ist für seine Konzeption.

Eine Lösung dieses Problems bietet Kettner nicht an. Dabei ist diese doch nicht trivial, tritt

Kettner doch gerade mit der Behauptung an, jede Begründung sei nur unter (hypothetischer?)

Zugrundelegung irgendeiner Projektionseigenschaft zu rechtfertigen. Ich denke, anders als

Kettner, daß a priori eine solche Projektionseigenschaft in der Regel nicht bekannt ist und die

„default option“ eines Rechtfertigungsversuchs immer eine universelle Adressierung ist: Erst

im regelmäßigen Scheitern eines Rechtfertigungsversuchs trotz ansonsten günstiger

Bedingungen kann dann darüber nachgedacht werden, auch den Geltungsanspruch

einzuschränken (was hieße: gegenüber bestimmten rationalen Bewertern auf weitere

Rechtfertigungsversuche zu verzichten, höherstufige Verständigungen – vgl. das erste Kapitel

dieser Arbeit – anzustreben etc). Diese Position möchte ich als tentativen Universalismus

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bezeichnen. Es kann dann also darüber nachgedacht werden, was ja nicht heißt: dazu

übergegangen werden. Denn auch angesichts eines solchen Scheiterns ist noch nicht

ausgemacht, ob wir für unsere moralischen (anders als unsere ethischen) Geltungsansprüche

wirklich auf den Geltungsanspruch verzichten und nicht jedes Scheitern als nur vorläufig

ansehen (genauso übrigens wie jedes Gelingen).

Anwendungsbedingungen und Zumutbarkeit

Auch ein zweites Anwendungsproblem sollte im Rahmen seiner Konzeption überzeugend

behandelbar sein – wäre es das nicht, wäre seine Konzeption ebenfalls nie praktikabel. Er

fordert nämlich nicht nur eine vollständige Beurteilung der fraglichen Handlungen (und nicht

nur einzelner Normen, Werte o.Ä.), sondern auch eine Berücksichtigung des

Befolgungsgrades der Präskriptionen, die diese Beurteilung ermöglichen:

„Zu dieser vollständigen Reflexion gehört auch, daß die angewandte Ethik, anders als derphilosophische Rechtfertigungsdiskurs über normative Grundtheorien, Anwendungsbedingungenreflektieren muß, die durch die tatsächliche Verfassung bestimmter Praxisbereiche vorgegebensind und sich der moralischen Legislation entziehen, jedenfalls dann noch entziehen, wenn dieangewandte Ethik die Bühne des betreffenden Praxisbereiches betritt. Das erfordert dann für dieangewandte Ethik eine Reflexion auf - für die Begründung von normativen Theorien jaunerläßliche - Idealisierungen, besonders auf den Unterschied der hypothetischen Geltung einespräskriptiven Gehalts P (z.B. einer Norm) und dem Befolgtwerden von P unter den bestimmtenPraktizierbarkeitsbedingungen eines bestimmten Praxisbereichs, zu dessen normativer Textur Pgehört.“ (11)

Kettner schließt hiermit (sei es bewußt oder unbewußt) an die oben eingehend kritisierte

Position von M. Niquet zur Zumutbarkeit resp. zur Befolgungsgültigkeit an, nun allerdings

‚verallgemeinert‘ auf eine beliebige Präskription P, aber ebenfalls eingeschränkt auf genau

eine solche Präskription (das dazu oben gesagte gilt also auch hier).

Eine Lösung dieses Problems wird nur allgemein angedeutet: Zu suchen sei nach Verfahren,

„die gültige moralische Sollensforderungen aufweisen können für Adressaten, die als

konkrete Personen Handelnde in ganz bestimmten Praxisbereichen der wirklichen Welt sind

[Verweis auf Apel 1992 und Kettner 1998b, d.h. nicht auf Niquet und seine »Folgenormen«;

NG]“ (12).

Wie diese Verfahren aussehen könnten, läßt Kettner offen. Ich werde im nächsten Kapitel

einige Vorschläge zusammentragen, was als ein solches Verfahren angesehen werden könnte

bzw. wie solche Verfahren aussehen könnten.

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- 284 - -

Prohibitive Bedingungen?

Da Kettner den paradigmatischen Fall auf die Situation fähiger und gutwilliger

Diskursteilnehmer abgestellt hat (12), muß er abschließend eine Frage offen lassen, die die

gerade diskutierten Zumutbarkeitsüberlegungen noch verschärft:

„Bei der Begründung der Diskursparameter, die das Argumentationsmedium für moralischeIrritationen verschiedener, sogar gegenstrebiger Moralen weit öffnen, war vorausgesetzt, daßweder die Irritationen, die den Anlaß, noch die Praktizierbarkeitsbedingungen, die den Kontextsämtlicher jeweils involvierten Moralen bilden, die Diskursivierung selber zu etwas derartigemmachen, was nicht sein kann, weil es nicht sein soll. Doch was ist mit Konfliktlagen mit für die"Anwendung" moralischer Diskurse prohibitiven Bedingungen? [Fußnote: »Das ist dasursprüngliche Problem hinter Apels A/B-Unterscheidung.«]“ (42)

Was soll dort aber der Fall sein – macht dies etwa wenn schon nicht ein Ergänzungsprinzip

‚E‘, so aber doch einen Teil B á la Apel nötig? Durch das Wort „Anwendung“ wird doch nur

verwischt, daß es (bei Apel zumindest) um das Problem der praktischen Realisierung von

(realen) Diskursen geht. P. Ulrich wird dies in seinem Anwendungskonzept klar herausstellen.

Kettner spricht von Irritationen, und es dürften auch hier moralische Irritationen gemeint sein.

Schließt er also nicht nur nicht aus, daß seine diskursethische Konzeption anders als

moralisch überboten werden kann, sondern möchte er darauf hinaus, die Diskursethik sei u.U.

moralisch zu überbieten? „Im Namen welcher Moral?“, läßt sich dann aber zurecht fragen

(uns wird dieses Problem im folgenden Unterpunkt noch einmal begegnen). Apels Lösung der

teleologischen Interpretation der Diskursidee übernimmt Kettner ja nicht, so daß er kein

Argument für die Herstellung von Anwendungsbedingungen beibringen kann. Seine Moral-

im-Diskurs gilt wirklich nur im Diskurs.

Dennoch billigt Kettner der „Diskursivierung“ von Moralfragen einen moralischen Status zu.

Damit gäbe es dann vielleicht doch eine Moral, die nicht nur Pflichten im Diskurs, sondern

auch Pflichten zum Diskurs zu formulieren gestattet – nur welche, denn die MID steht ja

hierfür nicht zur Verfügung.

Moralreflexion

Eine höherstufige Reflexion, nämlich auf die Wirkungen von Interventionen im Namen der

Moral überhaupt, fordert Kettner besonders deshalb, da auch die Moral „diskursive Macht“

ausübt und diese Macht seinerseits moralisch zu normieren sei:

„Die interventionistische Verwendung moralischen Denkens (als einer Form diskursiver Macht) istein praktisches, kein "rein theoretisches" Verhältnis. So bedarf es offenbar seinerseits einermoralischen Normierung, wenn denn angewandte Ethik angewandte Ethik sein soll. Den

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Aktorinstanzen angewandter Ethik fällt daher (ob sie dies wahrhaben oder nicht) eine spezifische,nämlich moralreflexive Verantwortung zu.“ (12)

Sofort drängt sich die Frage auf: Im Namen welcher Moral könnte denn die „moralische

Normierung“ der Moral selbst vorgenommen werden? Wir nehmen diese Frage weiter unten

wieder auf, wenn klarer wird, welche Gefahren durch angewandte Ethik drohen. Im folgenden

wird Kettner nämlich diesbezüglich recht deutlich:

„Es gibt bekanntlich iatrogene Krankheiten. Es gibt auch kontraproduktiv angewandte Ethik. Undes ist Unsinn zu glauben, daß die Moralvorstellung, die besser philosophisch zu begründen ist alseine andere, schon darum auch die in situ, in praxi vernünftigere Moralvorstellung ist [Verweis aufJennings & Gaylin 1996].“ (12)

Bis hierher ist noch völlig unklar, was die Differenz zwischen einer „philosophischen

Begründung“ und einer Vernünftigkeit „in situ, in praxi“ ist: Wahrscheinlich meint Kettner

die adäquate Berücksichtigung der (von ihm bereits diskutierten) zunächst einfach

vorgefundenen „Praktizierbarkeitsbedingungen eines bestimmten Praxisbereichs“ (s.o.), denn

er fährt fort:

„Da angewandte Ethik die normativen Texturen nicht erzeugt, in die sie interveniert, sondern "nur"modifiziert - das Pathos des Aufräumens mit Problemen, die Rhetorik von tabula rasa undeinschneidenden Neuerungen, das sind in diesem Zusammenhang doch bloß unersprießlicheIdeologeme - müssen Anwendungskonzeptionen, die ihre moralreflexive Verantwortung in sichaufnehmen und ihr gerecht werden wollen, vor allem die folgende Herausforderung vernünftigverarbeiten. Die kritische Hauptfrage reflektierter angewandter Ethik ist:

Wie können bestimmte Moralvorstellungen (M1...Mn), die in den normativen Texturen einesPraxisbereichs bereits, wie konfliktiv auch immer, gegeben, bereits in sie eingeschrieben sind, miteiner Moralvorstellung (M*), die aus der Sicht einer Anwendungskonzeption die "richtige" wäre,um die moralischen Verhältnisse in dem betreffenden Praxisbereich zu verbessern, auf eine Weisezusammengebracht werden, daß nicht neue, womöglich moralisch irritierendere Problemlagenentstehen?“ (12)

Diese Kennzeichnung schließt an seinen Begriff von angewandter Ethik als

Irritationsminderungs-, d.h.: Orientierunginstanz an. Doch spätestens hier ist der Kreis wieder

geschlossen: denn wie lassen sich denn moralische Irritationen aufbieten, die darüber

entscheiden, welche Moralvorstellung im konkreten Fall die bessere wäre? Sollen diese

Irritationen unter einer der vorgefundenen (M1…Mn)-Moralen identifiziert werden (und

wenn ja welcher?) – wohl nicht. Sollen sie unter M* identifiziert werden? Dies ginge schon

eher, doch eine wesentliche Pointe der „Moralreflexivität“ ginge dabei verloren: Denn nun ist

dabei ja nur auf die (M1…Mn)-Moralen zu reflektieren in dem Sinne, daß eine (neue) M*-

Moral auf die Existenz der (alten) (M1…Mn)-Moralen zu reflektieren hätte und nicht auf sich

selbst. Damit die Moralreflexion zur Selbstreflexion werden könnte, gäbe es m.E. zwei

Möglichkeiten: Entweder werden hier (zunächst uninterpretierte) moralische Intuitionen

aufgeboten, die unabhängig von einer besonderen Reformulierung und Rekonstruktion durch

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eine „Moral“ (d.h., eine moralphilosophische Konzeption, ein moralisches System o.Ä.) einen

eigenen Bestand haben. Sowenig solche Intuitionen einfach abgeschnitten werden dürfen,

sosehr bedürfen sie auch einer Rekonstruktion und Reformulierung im Rahmen eines explizit

anerkannten Prinzips, wenn man sich ihrer Geltung soll vergewissern können. Weder

Intuitionen noch Prinzip sollten gegeneinander immunisiert werden (vgl. das zu

Anwendungsdiskursen und dem »Überlegungsgleichgewicht« Gesagte). Eine zweite

Möglichkeit – im Rahmen eines strikten Kognitivismus vielleicht attraktiver – besteht darin,

einem Inkrementalismus Raum zu geben, der auf die relativen Vorteile einer bestimmten

Rekonstruktion verweist: Die vorfindlichen Moralen (oder überhaupt: andere Moralen als

M*) sind nämlich nicht einfach alle ungültig schon dadurch, daß eine Moral M* „besser

philosophisch begründet“ (Hervorh. NG) ist; das hat eine Moralkonzeption zu reflektieren.178

Prozesse der allgemeinen oder der fallbezogenen Vermittlung der verschiedenen

Begründungen (und der mit ihnen je verbundenen Evidenzen) können als Varianten der Suche

nach einem höherstufigen Überlegungsgleichgewicht angesehen werden. Wenn allerdings –

wie bei Kettner – eine „Moralvorstellung (M*), die aus der Sicht einer

Anwendungskonzeption die "richtige" wäre, um die moralischen Verhältnisse in dem

betreffenden Praxisbereich zu verbessern“, klar als richtige ausgewiesen ist (und die

Anwendungskonzeption auch die richtige ist), dann sehe ich keinen Grund für Konzessionen

an Vorfindliches. Oder soll ein Ethiker seine guten Gründe und Gegengründe zurückhalten,

wenn sie z.B. motivational weniger eingängig sind als einige zwar weitverbreitete, aber nicht

sinnvoll begründbare Vorstellungen? Geht es hier um eine Ethik der Didaktik, der

wohldosierten Aufklärung, gar um „die Grenzen zuträglicher Kontingenzerfahrung“

(Nennen)? Gerade wenn die Diskursethik nach Kettner eine höherstufige Konzeption

darstellen soll, im Rahmen derer Kontroversen zwischen einzelnen (philosophischen)

Moralkonzeptionen fallbezogen diskutiert werden können sollen, dann kann doch nicht im

Namen dieser Ethik, der Diskursethik, sie selbst reflexiv suspendiert werden, sondern nur

bestimmte der philosophischen Moralkonzeptionen.179

Zusammenfassend nennt Kettner drei Herausforderungen, denen eine Anwendungskonzeption

gewachsen sein müsse:

178 Die Situation einer fehlenden Anerkennungsbasis für M* wird weiter unten diskutiert.179 Wie im Begründungskapitel ausgeführt wurde und im Zuge der Diskussion der Anwendungskonzeption vonP. Ulrich weiter untersucht werden wird, hängt es von der Ebene ab, auf der eine vorliegende Diskursethikformuliert ist, ob diese von einer höheren Ebene aus begründet (d.h.,: diskursethisch) eingeschränkt (nicht:suspendiert!) werden kann.

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„Aus der Tatsache, daß es überhaupt Moral gibt, entstehen der Moral Probleme der moralischrichtigen Abwehr ihrer moralisch falschen Instrumentalisierung (Narveson 1985), ihrerstrategischen Indienstnahme für nicht- oder unmoralische Zwecke. Aus der Tatsache, daß es vieleMoralen gibt (Cooper 1981), entspringen der Moral Probleme des moralisch richtigen Umgangsmit moralischer Differenz. Aus der Tatsache, daß unser Moraldenken ohne den PhänomenenGewalt anzutun nicht so systematisierbar ist wie z.B. unser mathematisches Denken (Griffin1996), erwachsen der Moral Probleme der moralisch richtigen Handhabung moralischerUnbestimmtheit. So lassen sich drei Hauptgruppen von Herausforderungen unterscheiden, auf diedie Anwendungskonzeptionen einer nicht blindlings angewandten Ethik antworten müssen.“ (12)

Er verweist, quasi als Beleg dafür, daß der diskursethischen Anwendungskonzeption hier

keine unüberwindlichen Hindernisse entgegenstehen, zunächst im Stakkato auf einige andere

Arbeiten:

„Auf die Herausforderungen der Instrumentalisierbarkeit antwortet die diskursethische Denkfigurder `Strategie-Konterstrategie', auf die der Hybridisierung des Moralischen die Denkfigur der`Vermeidung von Moralpaternalismus' (Kettner 1992a); auf die Herausforderungen moralischerUnbestimmtheit antwortet ein Diskurs Algorhythmus zur Triangulierung von Tatsachen-, Wert-und Normurteilen (Kettner 1995c, 1995d). Zudem ist der Konsensbegriff neu zu fassen, nämlichso, daß moralische Kompromisse ohne Kompromittierung denkbar werden (Benjamin 1990,Kettner 1999c). Außerdem ist als die vernunftmoralische Basismodalität das Erlaubtsein (nicht dasGesollt- bzw. Gebotensein) anzusetzen, da die fromme Vorstellung von Vernunft als einer Instanz,die irgendwie sagt, wo es lang gehen soll, heute zurecht desavouiert ist (Gert 1998).“ (12; FN 31)

Insbesondere, so fährt er fort, schneide sein Anwendungskonzept auch angesichts dieser drei

Probleme besser ab als vergleichbare andere Konzepte. Dies kann hier nicht geprüft werden,

auch Kettner nimmt keinen Einzelvergleich vor. Den theoretischen Punkt dieser Überlegung

sieht Kettner in der Eigenschaft diskursiv kontrollierter Übergänge, mindestens keine

Verschlechterung (d.h., eine vergrößerte moralische Irritation) der Gründe-Texturen

herbeizuführen: Eine Verbesserung ist möglich, eine Verschlechterung ausgeschlossen.

Dabei, so muß man wohl hinzufügen, sind ja immer die wirklichen Texturen von Gründen

thematisch, eine Vernachlässigung von Anwendungsbedingungen im Namen irgendeiner

Idealisierung kann also garnicht erfolgen. Kettner bezeichnet diese Effekte als ausgezeichnete

Leistungen, „die moralische Diskurse idealiter erbringen würden“ (13). Das verweist wohl

wieder auf die vorherige Anwendungsfrage zurück, welche Verfahren dies auch realiter

gewährleisten oder wenigstens wahrscheinlich machen können.

Dennoch ergeben sich einige Punkte, an denen auch Kettner die Grenzen seiner Konzeption

erkennen läßt; sie wurden in obigem Zitat unter den Stichworten der „Vermeidung von

Moralpaternalismus“ und den „moralischen Kompromissen“ schon angedeutet.

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Kompromißbildung zwischen konfligierenden Moralen ohnePrivilegierung der Moral-im-Diskurs?

Der Sinn der Moral-im-Diskurs besteht darin, ein kontrolliertes „Ummodeln“ vorfindlicher

Moralen zu gestatten. Dabei kann es allerdings zu Konflikten zwischen einzelnen normativen

Gehalten der MID und der vorfindlichen Moralen kommen (etwa darüber, welche Fragen

überhaupt diskutiert werden dürfen). Schließlich kann es zu Konflikten kommen zwischen

dem gesamten Anspruch der MID, eine Moral diskursiv „umzumodeln“, und eventuellen

Diskursivierungsbeschränkungen, die von dieser Moral (u.U. explizit) gefordert werden.

Die drohenden anti-universalistischen Konsequenzen dieser Konstellation sieht Kettner

durchaus: Kettner folgt hier nicht dem Apelschen Weg, auf die Letztbegründetheit von MID

zu verweisen, da er zulassen muß, daß der fraglichen Moral die „Tiefennormen“ gerade

fehlen, die verlangen,

„daß den spezifisch diskursrationalen Qualitäten von Moralnormbegründungen (=Begründungen,warum allgemeinverbindlich ist, daß der so und so ausgedeuteten Moralverantwortung Achtunggezollt werde) ebenfalls Achtung gezollt werde, und zwar mehr Achtung gezollt werde als allemanderen.“ (33)

Sie kann auch nicht anhand der gemeinsamen Kommunikation in anderen als moralischen

Diskursen (mathematischen, naturwissenschaftlichen o.Ä.) ermittelt werden (33) – was man

aus Kettners Perspektive m.E. schon daran sieht, daß hierfür ja i.A. andere

Projektionseigenschaften gelten.

Kettner sieht solche Konflikte nicht als regelmäßig zugunsten der MID zu entscheiden an.

Zugunsten der vorgefundenen Moralen kann ein solcher Konflikt aber auch nicht regelmäßig

entschieden werden – Kettner würde einer solchen Entscheidung auch nicht das Wort reden

wollen, sondern sie eher (vorerst) offenlassen; denn unter explizitem Bezug auf die oben

erwähnten drei Anwendungsprobleme stellt Kettner vorsichtig fest:

„Die hier anstehenden Fragen fordern die Zusammenführung komplexer und grundsätzlicherÜberlegungen zu Inkommensurabilitätsbehauptungen über Geltungsansprüche, zum Widerstreit(sensu Lyotard), zur Differenz von Nachvollziehbarkeit ("Verstehen") und Verbindlichkeit("Beipflichten"), und nicht zuletzt zum leidigen Thema von normativem Universalismus vs.normativem Partikularismus. Außerdem wären jene "Entwicklungstheorien" kritisch zudiskutieren, die aus Beobachtungen über die Möglichkeit gerichteter moralischer Lernprozesse(ontogenetischer oder phylogenetischer Art) zu behaupten versuchen, moralischerweise müßtendiese Lernprozesse auch durchlaufen werden.“ (33; Hervorh. i. Orig.)

Obwohl in einer sich anschließenden Fußnote mit Kohlberg abgerechnet wird, spiegeln diese

Bemerkungen eher eine vorsichtige Skepsis als einen entschlossenen Partikularismus.

Schließlich hält Kettner aber doch eine Lösung vor, als moralische Konflikte nämlich die

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Findung eines (in einem unverächtlichen Sinne) moralischen Kompromisses nötig machen

sollen:

„[…] eines Kompromisses nach Ausschöpfung gemeinschaftlicher Urteilsgrundlagen, einerAusschöpfung, die so weit geht, daß sie noch zumutbar bleibt (um den Abbruch derArgumentationsgemeinschaft möglichst zu vermeiden) und die zugleich weit genug geht, daß einMöglichstes an geteilten guten Gründen freigelegt wird (um den moralischen Kompromißmöglichst vernünftig zu machen). [Fußnote: »Dieser Begriff tritt in der Ethik an die Stelle vonRawls politikphilosophischem Begriff eines überlappenden Konsenses.«]“ (33)

Dieser Begriff wird weder hier noch anderswo von Kettner näher ausgeführt. Worin besteht

genau das Kompromißhafte? Vielleicht ist gemeint, daß die Konfliktparteien jeweils beide

bereit zu sein haben, Abstriche in der Erfüllung ihrer Moralvorstellungen hinzunehmen –

eventuell nach einer Art Fairneßregel (wie sie D. Gauthier für echte Kompromisse vorsieht)?

Und aus einer (a-moralischen?) Meta-Regel der Toleranz heraus? Oder geht es um die

Einsicht in die Fallibilität jeder Begründung einer Moralkonzeption und von daher um eine

Strategie im Umgang mit moralischer Unsicherheit?

Wir werden diese Problematik weiter unten, im Anschluß an die Ausführungen von K. Ott zur

Abwägung, wieder aufnehmen. Die Frage, in welchem Sinne Kettner von ‚moralischen‘

Kompromissen sprechen kann, läßt sich jedoch nicht gut zurückhalten. Vielleicht meint dies

hier tatsächlich nur noch: ‚die Moral betreffend‘?

Kettner legt eine Anwendungskonzeption vor, die ein „gemeinsames Medium“ für

verschiedene philosophische Bemühungen abgeben können soll, Handlungen moralisch zu

beurteilen. Er spricht dabei zwar von „Praxisbereichen“ (11), in seiner früheren Arbeit auch

von „Praxissektoren“ (s.o.), in denen diese Handlungen angetroffen und reflektiert werden

müßten, führt dies aber nicht weiter aus. Auch die angewandte Ethik findet nicht im leeren

Raum statt, sondern kann m.E. als eine Praxis angesehen werden, wofür Kettner selber die

Argumente liefert: „Angewandte Ethik ist keine freistehende Theorie, sondern eine

theorieorientierte, im wesentlichen von professionals getragene soziale Bewegung, die vieles

bewegt (DuBose et al. 1996, Moreno 1995:143-160)“. (12) Die Ansätze, die wir als nächstes

kennenlernen werden, führen genau diesen Praxisbezug näher aus. Die entsprechenden

Autoren sind auf je unterschiedlichen Feldern angewandter Ethik aktiv und augenscheinlich

bemüht, ihre eigene Tätigkeit unter einem tragfähigen Anwendungskonzept der Diskursethik

zu verorten. Beide werden zudem je einer der bisher offengebliebenen Fragen eine

Lösungsperspektive eröffnen: Dem Problem der fehlenden Anwendungsbedingungen (A3

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bzw. A4) und den Problem der Abwägung bei wiederstreitenden Gründen (einem Teilproblem

von A1).

Verschiedene Anwendungsebenen - die Konzeptionvon P. Ulrich

P. Ulrichs Überlegungen zur Diskursethik stehen im Zusammenhang mit der Entwicklung

einer „integrativen Wirtschaftsethik“ (Ulrich 1997). Die bisher in Deutschland

vorherrschenden Ansätze auf diesem Gebiet lassen sich nach Ulrich nämlich zwei Polen

zuordnen: Wirtschaftsethik als Korrektiv des (moralfreien) Marktgeschehens einerseits,

Wirtschaftsethik als Explikation des moralischen Gehalts einer (die optimal effiziente

Präferenzerfüllung sichernden) Marktordnung andererseits. Die Komplementarität dieser

Ansätze ist offensichtlich: Ein idealer Markt ist im Kern moralisch, Marktversagen muß (im

Namen der Moral, und so könnte man sagen: daher) korrigiert werden. Ulrichs Idee ist es,

eine Wirtschaftsethik gerade nicht von außen an das ökonomische System heranzutragen und

dieses weder gegen Kritik zu immunisieren noch es moralisch zu überhöhen. Vielmehr sei

eine Auseinandersetzung mit den (tatsächlich) moralisch gehaltvollen Binnennormen der

Ökonomie (effizienter Präferenzerfüllung nämlich) nötig, die diese mit den weitergehenden

Anforderungen der Diskursethik vermittelt. Denn warum sollten sich moralische Forderungen

auf diese Binnennormen der Ökonomie beschränken?

Diskursethik als Explikation des »moral point of view«

Ulrich führt seine Variante der Diskursethik, nach Erläuterung des performativen

Selbstwiderspruches als grundlegender Begründungsfigur, folgendermaßen ein:

„Die [im Argumentieren] denknotwendige Unterstellung und regulative Idee der idealenKommunikationsgemeinschaft stellt nichts anderes als die diskursethische Interpretation desStandpunkts der Moral dar. Sie tritt systematisch an die Stelle, die bei Kant ein transzendentalesVernunftsubjekt einnahm, das im Gedankenexperiment die Universalisierbarkeit seiner Maximendes Handelns prüft (Grundformel des kategorischen Imperativs), oder bei Smith der unparteiischeZuschauer, der die allgemeine Billigungswürdigkeit reflektierter Affekte beurteilt. Gegenstand desUniversalisierbarkeitstests sind nun moralische Ansprüche im wörtlichen Sinn. DasUniversalisierungsprinzip (die regulative Idee des universellen Rollentausches zur Klärunglegitimer moralischer «Ansprüche») kommt in der Diskursethik in der Weise zur Geltung, dass inder vorgestellten unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft aller mündigen Personen gutenWillens normative Geltungsansprüche gegenüber jedermann argumentativ begründbar undinsofern konsensfähig sein sollen.“ (1997: 80/81)

Die Diskursethik fordere damit den Wechsel vom strategischen zum kommunikativen

Rationalitätstyp, also eine andere Form der sozialen Handlungskoordination.

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„An die Stelle oder zumindest vor die reziproke, aber je individuell erfolgsorientierteEinflussnahme tritt nun die Orientierung am argumentativ zu erzielenden, ethisch rationalenEinverständnis. [Verweis auf Habermas] Entscheidend ist dabei – entgegen einem gängigenMißverständnis – keineswegs das Schliessen von Verständigungsprozessen im Konsens, sondernvielmehr deren Offenhaltung für argumentative Kritik. Diskursethik beschreibt nicht ein Erfolgsicherndes (!) Konsenserzielungsverfahren, sondern reflektiert die normativen Bedingungen derMöglichkeit argumentativer Verständigungsprozesse.“ (1997: 85)

Auf den „gängigen Standardeinwand (...), daß die Diskursethik das ethische (deontologische)

Prinzip der Argumentationsgegenseitigkeit und der verständigungsorientierten Einstellung der

Gesprächspartner, das sie begründen wolle, schon voraussetze“ (Ulrich 1990: 202f.), erwidert

Ulrich: Eine moderne Ethik könne nur „die prinzipiellen Bedingungen der Möglichkeit

vernünftiger Konsensfindung reflektieren. (...) Der Gute Wille, entsprechend zu handeln, also

das Interesse an Vernunft, kann gewiß nicht selbst noch ‚herbeimotiviert‘ werden.“ (1990:

203). Die Diskurstheorie expliziert nur den moral point of view (1997: 81). In die

(möglicherweise) bestehende „Motivationslücke“ (Ulrich) springt die Wirtschaftsethik: Sie

erweist eine „deontologische Minimalethik“ als Voraussetzung (und nicht als nachträgliche,

externe Beschränkung) der legitimen individuellen Interessenverfolgung des Einzelnen

innerhalb einer Marktwirtschaft, fordert allerdings eine „einsichtige Änderung seiner

Präferenzen“, wenn diese jener Minimalmoral zuwiederlaufen. Die regulative Idee der

allgemeinen Zumutbarkeit und Konsensfähigkeit für alle Betroffenen sei allerdings zu wahren

„im Hinblick auf deren allgemeinen, größtmöglichen gleichen Freiheitsanspruch, nicht im

Hinblick auf beliebige ‚gegebene‘ Präferenzen!“ (1990: 204). Zwischen Egoismus und

Altruismus sucht die Diskursethik in Ulrichs Verständnis „den dritten Weg legitimer

Selbstbehauptung“ (1997: 86).

Das von Ulrich gesuchte „Kriterium der Sozial- und Umweltverträglichkeit“ sei dennoch

„nicht als inhaltliches, sondern als formales und prozedurales Kriterium ethisch vernünftigen

Wirtschaftens zu begreifen“ (1990: 205). Viele Kritiker der Diskurstheorie sitzen für Ulrich

(1997: 81) hier einem „konkretistischen Mißverständnis“ (81) auf – dieser Kritik sah sich

übrigens auch Ulrich (1990) durch Apel (1992) ausgesetzt, doch dazu später. „[L]andläufig“

(1997: 81) werde die Diskursethik nämlich mißverstanden als „eine besondere (materielle)

Ethik mit einem speziellen Moralprinzip in Form eines (vermeintlich als gesellschaftliches

Koordinationsprinzip überschätzen) «Konsensprinzips»; vielmehr ist die Diskursethik nur

eine besondere Form der Explikation des allgemeinen moral point of view, eben in der Form

eines idealen Diskurses. [Längere Fußnote mit kritischen Verweisen auf M. Osterloh].“

(1997: 81)

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Es soll also keineswegs das gesamte ökonomische System auf eine diskursgestützte

Kommunikation umgestellt werden. Gemäß dem Stand der innerökonomischen Diskussion

müsse sich auch die Ethik auf die „institutionellen und individuellen Voraussetzungen“ einer

ethisch verantwortbaren Ökonomie einlassen – und so drei Rationalitätsebenen unterscheiden:

Die Verständigungsordnung, das ökonomische System und das personale Handeln gehorchen

je der kommunikativ-ethischen Rationalität, der strategischen Rationalität bzw. der

kalkulatorischen Rationalität. Dabei bildet jeweils das Vorstehende die Basis für das

Nachstehende – auch daher nennt Ulrich sein Konzept „integrativ“ (1990: 212). Auf die

genaueren Vermittlungsvorschläge will ich hier nicht eingehen. Wichtig ist mir, daß Ulrich

eine Ebenenunterscheidung vornimmt, wonach nicht (immer) nur die allgemeinen

moralischen Forderungen den individuellen Handelnden in konkreten Situationen

gegenüberstehen, sondern eine Zwischenebene eingezogen wird. Diese Zwischenebene

ermöglicht es einerseits, die normativen Gehalte bestimmter Praxisfelder aufzunehmen, und

andererseits, über institutionelle Arrangements auf der Ebene der entsprechenden Praxisfelder

nachzudenken. Eine weitere theoretische Behandlung dieses Anwendungskonzepts wird aber

nicht vorgenommen; erst der Ansatz von K. Ott (s.u.) wird hier weiterführen.

Drei Stufen der Zumutbarkeit

An einem Punkt, der oben offenbleiben mußte, behilft sich Ulrich ebenfalls mit einer

dreifachen Unterscheidung. Er positioniert sich mit einem sinnvollen Vorschlag zur

Diskursethik als Verantwortungsethik gegenüber dem Apelschen Ergänzungsprinzip und den

Habermasschen Zumutbarkeitserwägungen:

„Die Diskursethik expliziert in der Form der regulativen Idee der universalen argumentativenReziprozität zwischen Personen, die sich wechselseitig als mündige [und wohlwollende?] Subjekteanerkennen, buchstäblich den normativen (und sprachlichen!) Kern verantwortlichen Handlens,der im Begriff der Ver-antwort-und noch enthalten ist: die Idee, dass Handlungsträger gegenüberden von ihren Handlungen Betroffenen vorbehaltlos Red` und Antwort stehen und auf derenlegitime Ansprüche Rücksicht nehmen sollen.“ (1997: 87)

Eine paternalistische Fassung des Verantwortungsbegriffs könne und müsse hier vermieden

werden. Jedoch:

„Es verbleibt dann aber immer noch eine unerledigte, spezifisch verantwortungsethischeProblematik in Situationen fehlender oder unvollständiger Reziprozität [Verweis auf H. Jonas], indenen die Verständigungsgegenseitigkeit zwischen Handlungsträger und Betroffenen nicht ohneweiteres realisierbar ist, sei das

- aus prinzipiellen Gründen (z.B. gegenüber noch Ungeborenen oder Unmündigen, die jedoch dielangzeitlichen Folgen heutigen Handelns zu tragen haben),

- wegen pragmatischen Schwierigkeiten (z.B. fehlende Abgrenzbarkeit der potentiell Betroffenen;zu große Zahl; räumliche, zeitliche, technische oder finanzielle Hindernisse)

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- oder aus dem motivationalen Grund der fehlenden Verständigungsorienterung anderer Akteure(strategische Gegenspieler!); in diesem Fall darf ein Verantwortungsträger nicht naiv mit demguten Willen anderer, möglicherweise einflußreicher Akteure rechnen, wenn die praktischenFolgen der voraussehbaren Enttäuschung dieser Erwartung ethisch höchst problematischwären.“ (1997: 87f.)

Zum letzten Punkt sagt Ulrich richtig (und im Anschluß an Böhler 1992; s.o.), daß dies keine

Ergänzung des Diskursprinzips nötig mache; auch Überlegungen, was in solchen Situationen

zu tun ist, sind (zumindest als gedanklicher Selbstverständigungsversuch) immer möglich.180

„Zwischen einer dementsprechenden «einsamen» Reflexion in verantwortungsethischer Absichtund dem tatsächlichen Führen eines Legitimationsdiskurses besteht kein prinzipieller Unterschied– beide müssen in der kommunikativ-ethischen Grundhaltung der Argumentationsintegritätgeführt werden und in beiden sind stets auch strategische Aspekte der situationsbezogenenFolgenabschätzung und -beurteilung zu bedenken.“ (1997: 90)

Die Frage, wann welche Strategie zu wählen sei, ist ja eine moralisch relevante Frage, die

unter dem Diskursprinzip entschieden werden müsse; die Diskurstheorie wird nach Ulrichs

Ansicht daher, auch ohne ein Ergänzungsprinzip oder gar die Unzumutbarkeit moralischer

Forderungen überhaupt, am adäquatesten verstanden als dreistufige Konzeption je nachdem,

ob Kommunikationsgegenseitigkeit (a) gegeben, (b) prinzipiell nicht gegeben oder (c)

pragmatisch nicht gegeben sei: Dann seien reale, fiktive bzw. zunächst fiktive

Legitimationsdiskurse zu führen und (im letzten Fall) gleichzeitig die Voraussetzungen für

bestmögliche Kommunikationsgegenseitigkeit zu schaffen (1997: 90):181

„(a) Wo die Voraussetzungen der Verständigungsgegenseitigkeit einigermaßen erfüllt sind,handelt derjenige verantwortlich, der den Legitimationsdiskurs mit den Betroffenen real zu führensich bemüht.

(b) Wo die Voraussetzungen der Verständigungsgegenseitigkeit aus prinzipellen Gründen nichterfüllbar sind, handelt verantwortlich, wer stellvertretend einen fiktiven Diskurs mit denBetroffenen in «einsamer» Reflexion bestmöglich vollzieht, um deren legitime «Ansprüche»gegen seine eigenen Interessen abzuwägen.

(c) Wo die Voraussetzungen der Verständigungsgegenseitigkeit lediglich aus pragmatischenGründen vorläufig nicht erfüllt sind, handelt verantwortlich, wer zunächst stellvertretend in

180 Man könnte ketzerisch weiterfragen: Sind Diskurse ‚einsam im Geiste‘ des Handelnden, obschon zwar„immer möglich“, aber auch immer hilfreich? Kann nicht wenigstens in Einzelfällen die Moralisierung einerKontroverse die Fronten entlang von Freund-Feind-Differenzen verhärten (Schmitt) oder das Funktionierenautonomer Funktionssystemen bedrohen (Luhmann)? Und was wäre z.B., wenn die Reflexion des Handelndenselbst seine Irritation erhöht – anders gefragt: Kann es ähnlich paradoxe Situationen geben wie diejenige, die B.Williams in der „Kritik des Utilitarismus“ gegen den Utilitarismus vorgebracht hat; etwa, daß das Lehren derMoral dem Gesamtnutzen abträglich sein kann und wir dann aus besten utilitaristischen Gründen heraus eineandere Moralphilosophie vertreten müßten? Vielleicht noch radikaler gefragt: Kann es Situationen geben, woGründe als Gründe die moralische Irritation steigern? Also nicht aus pragmatischen Einschränkungen heraus(wie etwa, daß die Reflexionszeit als Aktionszeit verloren geht)? Gehört das Hamlet-Problem, sich quaReflexion derart in eine Problematik zu verstricken, daß am Ende keine der Optionen mehr wählenswert scheint,noch zur Pragmatik, oder kommt hierin eine intrinsische Gefahr des Begründungs-Sprachspiels zum Ausdruck?181 Man kann also (durch interne Differenzierung der Diskursebenen) sinnvoll sagen: „Diskurse zu führen,verbietet sich hier.“ Jedenfalls wenn man damit meint: „… verbietet sich hier aus folgenden Gründen: …“, undin der Lage ist, diese Gründe als moralische Gründe vor sich oder/und vor anderen zu verteidigen.

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Gedanken die einseitige Verantwortung übernimmt, zugleich aber sein Handeln an der regulativenIdee der längerfristig bestmöglichen Verwirklichung entschränkter Kommunikationsverhältnisseorientiert und dementsprechend politische Mitverantwortung übernimmt.“ (1997: 90)

Auf der Stufe (c) sei man so auf eine „politische (Institutionen-)Ethik“ verwiesen, die „zu

klären hat, welche institutionellen Ordnungen grundsätzlich ethisch-politisch erstrebenswert

sind, für deren schrittweise Realisierung die Übernahme von Mitverantwortung gefordert ist“

(1997: 90). Ulrich denkt hier im Rahmen seiner Wirtschaftsethik etwa an die

„ordnungspolitische Mitverantwortung der Unternehmer“ (ebd.), die neben die traditionelle

Geschäftsethik tritt, die die unternehmerischen Aktivitäten im engeren Sinne orientiert.

Institutionalisierung von Diskursen?

Die „unbegrenzte kritische Öffentlichkeit aller mündigen Personen“ selbst ist – als regulative

Idee – nicht Gegenstand dieser politischen Institutionen-Ethik:

„Der ideale Diskurs als solcher entzieht sich einer unmittelbaren Institutionalisierung; er istvielmehr als jene (prinzipiell nicht herstellbare) gedankliche «Meta-Institution» [Verweis aufApel] zu begreifen, die als kritisches Regulativ für praktische Bemühungen zurargumentationsfördernden Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse dient.“ (1997: 91)

Jede Institutionalisierung von Diskursen muß, als Einschränkung des idealen Diskurses, in

dieser Meta-Institution sich rechtfertigen lassen. Direkte materiale Schlüsse vom idealen

Diskurs auf ein konkretes Institutionendesign sind daher nicht möglich. Pointiert faßt Ulrich

seine Position zusammen:

„Die Diskursethik […] kann niemals eine «anwendbare» normative Theorie derInstitutionengestaltung sein.“ (1997: 92)

Die der Idee des „öffentlichen Diskurses“ (Habermas) entsprechende „kritische Öffentlichkeit

aller mündigen Personen“ sei somit als „normativ vorrangig vor allen anderen Institutionen

zu verstehen“ (1997: 92/93), in dem über die Legitimität begrenzter

Verständigungsordnungen gestritten und Gründe für eine Verschiebung oder Beibehaltung

dieser Grenzen geprüft werden können. Diese Sphäre selbst sei nur in einer einzigen Hinsicht

der expliziten institutionellen Regelung fähig und bedürftig: zu ihrer Offenhaltung erfordere

es das „grundlegende Recht aller Personen auf freie Meinungsäußerung“ und dessen

juristischer Schutz (soweit dieses Recht nicht „noch fundamentaleren Rechten auf

Persönlichkeitsschutz nachzuordnen“ sei) hin (1997: 93). Die Anforderungen an eine gemäße

politische Ordnung reichen aber weiter, sie muß an diese Sphäre geeignet ankoppeln:

„Testkriterium für eine «offene Gesellschaft« (Karl Popper) ist, dass solche selbst schon öffentlichbegründeten Kommunikationseinschränkungen politisch rückgängig gemacht werden können,

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wenn im öffentlichen Diskurs gegenläufige, bessere Gründe als gültig einsichtig werden.“ (1997:93)

Auf der Ebene der Ökonomie hinterfragt Ulrich die zu allgemeine Effizienzvorstellung der

Neoklassik, der gleichwohl ein normativer Gehalt innewohne. Es sei aber immer zu fragen:

„effizient für wen konkret?“ (123), und diese Frage sei „unter dem Gesichtspunkt der

Gerechtigkeit“ zu beantworten, „bevor von wohlverstandener ökonomischer Vernunft

(sozialökonomischer Rationalität) die Rede sein kann“. Ulrich entwickelt hieraus seine

sozialökonomisches Legitimitätsidee, den »moral point of view« einer „Vernunftethik des

Wirtschaftens“.

„Als ökonomisch vernünftig sollen also nur die Handlungen gelten dürfen, die nicht nur für dieHandlungsträger selbst effizient, sondern gegenüber allen Betroffenen als legitim vertretbar sind.Es ergibt sich somit folgende diskursethisch fundierte regulative Idee sozialökonomischerRationalität:

Als sozialökonomisch rational kann jede Handlung oder jede Institution gelten, die freie undmündige Bürger in der vernunftgeleiteten Verständigung unter allen Betroffenen als legitime Formder Wertschöpfung bestimmt haben (könnten).“ (1997: 123)

Diese Konzept wird, unter kritischer Bezugnahme auf J. Rawls‘, dann weiter ausgeführt (mit

dem Forderung an Unternehmen, nach Möglichkeit auch reale Diskurse unter Stake-,

Shareholdern und von dem Unternehmensgeschäft sonstwie Betroffenen zu führen bzw. sich

für einen insitutionellen Rahmen einzusetzen, in dem so etwas möglich wird). Dies weiter zu

verfolgen (s. Ulrich 1997, Kap.IV), würde hier den Rahmen sprengen.

Ulrich vertritt eine institutionalistische Stufenkonzeption, in der er zwischen einer stillen

Rechtfertigung im Geiste und einer wirklichen Argumentation mit allen möglicherweise

Betroffenen nach Situationstypen entscheidet und dabei einen teleologischen Impetus zu

realer Verständigung aufrechterhält. Sein Vorschlag wäre im Detail noch zu verfeinern, weist

aber im Prinzip die richtige Richtung angesichts des Problems der „fehlenden

Anwendungsbedingungen“ und der „Zumutbarkeit“. Sein zweiter wichtiger Punkt ist die

Einsicht, daß eine Vermittlung von Diskursidee und Praxisfeldern zu erfolgen hat, denen

normative Gehalte (Effizienz; Wahlfreiheit) bereits zugrundeliegen und die unter

Berücksichtigung der Gründe, die angesichts ihrer »Eigensinnigkeit« für und die gegen eine

Diskursivierung sprechen, fortzuentwickeln sind.

Die bei ihm hierarchische Struktur (allg. Öffentlichkeit – Politik – Ökonomie) wird aber nicht

zu einer allgemeinen Anwendungskonzeption ausgebaut. Die Frage wäre dann nämlich, ob

Anwendungsfelder sich derart hierarchisieren lassen. Im folgenden Ansatz wird die Struktur

angewandter Ethik angesichts von Zwischenebenen und Praxisfeldern hingegen weiter

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ausgearbeitet, die ja auch schon bei Kettner in Form von „Praxissektoren“ sichtbar wurde

(s.o.).

Anwendung als Rationalisierung von Praxisfeldern –die Konzeption von K. Ott (1996)

In einem 1996 in Leipzig als Habilitation vorgelegten Vorschlag zur diskursethischen

Anwendungsproblematik lehnt sich Ott an die strukturalistische Wissenschaftstheorie von

Stegmüller (1980) an und verkoppelt sie mit dem von ihm selbst entwickelten Praxisnorm-

Konzept (Ott 1997; Ott 1998). Sein Ziel ist, eine Anwendungskonzeption zu entwickeln, die

auf die bekannten Felder „angewandter Ethik“ zugeschnitten ist (Wissenschaftsethik,

Wirtschaftsethik, Umweltethik usw.) und die Rolle des (Diskurs-)Ethikers in diesen

Diskussionen bestimmen helfen kann.182 Er knüpft dabei an die Vorstellung von Habermas

und Apel an, die Diskursethik müsse sich die diskursiv zu prüfenden Normen aus der

Lebenswelt geben lassen, zeichnet jedoch bestimmte Normen dabei aus, nämlich diejenigen,

die im Kern bestimmter, den Felder angewandter Ethik korrespondieren Praxen liegen: die

Praxisnormen.

Der Vorteil dieser Konzeption liegt in der Nähe zum tatsächlichen Vorgehen der

akademischen „angewandten Ethik“, die sich analog der entsprechenden Handlungsbereiche

ausdifferenziert hat. In ihr werden typischerweise nicht allgemeine Handlungsnormen direkt

auf Fälle angewandt, sondern sie ist mit der Rechtfertigung von ‚mittleren Prinzipien‘

(Engelhardt) o.Ä. befaßt, die die an den entsprechenden Praxen Beteiligten dann (mit oder

ohne Hilfe eines philosophischen Ethikers) auf Fälle anwenden (z.B. in

‚Ethikkommissionen‘). Die Anwendungsseite wird von Ott somit weitergehend strukturiert,

als in einer typischen Normenethik der Fall.

Aus seiner Kenntnis der Problematiken angewandter Ethik heraus dringt Ott zweitens zu einer

angemessenen Beschreibung der Abwägung im Rahmen einer universalistischen

deontologischen Ethik vor, d.h. jenseits von Phronesis oder Nutzenkalkulation.

Kern und Schalen

Eine Theorie besteht nach dem strukturalistischen Wissenschaftskonzept einerseits aus einem

Kern K sowie andererseits aus einer Menge von „wirklich intendierten Anwendungen“ I,

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kurz: T=<K,I> (305). Der Kern ist dabei intern strukturiert und enthält neben dem

Moralprinzip – bei Ott: »D« – noch einige weitere Regeln, etwa »U« und die drei

Habermasschen Gruppen von Diskursregeln. Die Menge der intendierten Anwendungen ist

dabei eine „pragmatisch vorgebene, jedoch prinzipiell offene Menge die mit dem

Fortschreiten der Theorie variiert“, wie Ott die einschlägige Arbeit von Stegmüller zitiert

(ebd.). Die Angabe eines Moralprinzips reicht also nicht aus, dies die erste Pointe des

strukturalistischen Modell, um über eine moralphilosophische Theorie zu verfügen. Alle

möglichen Anwendungsfälle sind gegeben durch „die ‚Menge‘ (denk)möglicher praktischer

Diskurse“, d.h. „der Menge aller möglichen Dissense in bezug auf die Zuordnung von

Handlungsweisen zu deontischen Operatoren in allen möglichen Welten, in denen es sprach-

und handlungsfähige Wesen gibt“ (306).183 Über manche denkmöglichen Normen braucht

man „in dieser Welt“ keine Diskurse zu führen; nicht alle möglichen Anwendungen sind auch

ernsthaft intendiert.

Von insgesamt drei von Stegmüller angesprochenen Möglichkeiten der Bestimmung der

Elemente von I wählt Ott nicht die Angabe der notwendigen und zureichenden Merkmale

oder gar die explizite Aufzählung der Elemente, sondern die „Angabe paradigmatischer

Beispiele (IP)“ aus der Menge I:

„Zu (IP) zählt zweifellos der Diskurs um universell gültige Handlungsnormen (IP-1) sowie derDiskurs um Menschenrechte (IP-2). (…) Eine dritte paradigmatische Anwendung (IP-3) beziehtsich auf Grundnormen geschichtlich situierter Praxisfelder (Medizin, Wissenschaft, Sport, Recht,Technik usw.).“ (306)

Als aussichtsreiche Kandidaten für Resultate der Diskurse IP-1 und IP-2 sieht Ott den von

Gert (1983) aufgestellten modernen Dekalog bzw. die von Habermas (1992) vorgeschlagenen

Rechtsnormen an.184 In IP-3 stehen „oberste Normen“ wie »salus aegroti suprema lex«

(Medizin), »pacta sunt servanda« (Ökonomie), Fairneß (Sport) und das Wahrheitsethos

(Wissenschaft) im Mittelpunkt (307).

182 Eine erste Durchführung seines Konzepts hinsichtlich der Wissenschaftsethik liegt bereits vor (in Ott 1997;sie wird unten kurz erläutert.)183 Hier wird ein Diskurs – anders als von Habermas – als ein Zusammenhang von Aussagen verstanden (vgl.das erste Kapitel).184 ‚Universelle Gültigkeit‘ versteht Ott (vgl. Kapitel 1) in einem stärkeren als dem Hareschen, „trivialen“ und„ethisch unergiebigen“ Sinne (den Ott als Generalisierung bezeichnet, 262). Im Anschluß an Singer, Kambartel,Gert und Mackie plädiert Ott für ein Verständnis der Universalisierbarkeit über die „vier essentiellenKomponenten (Rational-wollen-können,-daß-ein-jeder; Rechtfertigen-können-gegenüber-jedermann;Perspektivenübernahme; Interessenberücksichtigung)“ (265). Universelle Moralnormen haben für ihn allerdings,wie auch für Habermas, einen generellen Charakter (s.u.) – wahrscheinlich, da seiner Meinung nach nur einigewenige und sehr allgemeine Normen – Ott verweist wiederholt auf den modernen Dekalog von Gert (1983) –diesen rigorosen Test überstehen.

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Das Bild von Kern und Schale wird nun weiter ausgebaut:

„Die Menge I »wächst« Stegmüller zufolge aus IP heraus. IP-1,2,3 lagern sich wie (innere)Schalen um den Kern. Damit erstrecken sich die »intendierten Anwendungen« der Diskursethikauf die »klassischen« Felder angewandter Ethik (AE) als weiteren Schalen. Alle speziellerenDiskurse und Debatten auf diesen Schalen sind sowohl durch K als auch durch die normativenGehalte der ersten drei Schalen (IP-1, 2, 3) partiell mitbestimmt.“ (308, Herv. i. O.)

Die Elemente von IP und AE zu bestimmen sowie die Relationen zwischen ihnen, ist nicht

ganz einfach.

Elemente von Kern und Schale

IP-1, -2 und -3 sind nach Otts Darstellung Elemente einer Menge, nicht selber Mengen. Sie

bezeichnen Diskurse, nicht Mengen von Diskursen. Der Kern bezeichnet hingegen eine

Menge (von Sätzen), keinen Diskurs. Jede Ottsche Schale steht für einen einzelnen Diskurs,

nur AE steht für eine Menge von Diskursen.

Anhand des Zitats und auch des restlichen Textes ist nicht wirklich zu klären, ob AE einige

der IP-Schalen umfaßt oder nicht. Am ehesten dürfte IP-3 zu AE hinzuzählen.185 Bei IP-3

selbst ist die Interpretation unklar: Hier könnten (die AE-Feldern entsprechenden) Mengen

von Diskursen gemeint sein, oder auch ein einziger Diskurs um Praxisnormen. Das von Ott

im Anschluß an Stegmüller bemühte Bild sieht dann wie folgt aus:

Abbildung 2

Darstellung von Kern (grau) und Schalen von Otts strukturalistischem Diskursethik-Modell. Nach außen hindifferenzieren sich die Schalen mehr und mehr in Segmente (radial gestrichelt), etwa die »klassischen« Felderangewandter Ethik. Dargestellt sind die den Diskursen entsprechenden Mengen der je zu rechtfertigendenAussagen.

185 Anders scheinbar Ott (1998: 7), doch ist dort von den »klassischen« Feldern der AE nicht mehr die Rede(stattdessen von „Querschnittsthemen“ der AE wie „Verantwortungszuschreibungen, Abwägungsspielräume,Risikobewertung“ usw.)

Diskurse

angew.Ethik

Diskurs um

Menschen-rechte

Diskurs um

univ. gültigeHandlungs-normen

K KernDiskurs um

Praxis-normen

IP-1IP-2IP-3AE

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Die Menge I, also alle wirklich intendierten Anwendungen, muß wohl die Elemente der

Menge AE und diejenigen aus IP beinhalten. In AE braucht es, wie es scheint, nicht mehr nur

um Normen gehen; Ott spricht nur noch allgemein von „moralischen Fragen“, die sich dort

stellen würden, und läßt damit offen, ob es immer Normen zu sein haben, die diese

beantworten.

Ein Problem dieses Bildes ist, daß es suggeriert, die einzelne Handlungsbeurteilung könne nur

auf der jeweils äußersten Schale geschehen; dies liefe jedoch auf die These hinaus, die

Beurteilung von Handlungen könne ausschließlich über Praxisnormen bzw. auf den Feldern

angewandter Ethik geschehen. Ich denke, dies wird weiter unten klarwerden, daß Ott eine

solche These vertreten muß; ich unterstelle also im folgenden, daß man nicht auf jeder der

Schalen zu einer Handlungsbeurteilung kommen kann, sondern dazu vom Kern aus die

Schalen nach außen verfolgen muß in Richtung des passenden Anwendungsfeldes.

Beziehungen zwischen Kern und Schalen

Im folgenden betrachte ich die Zusammenhänge zwischen dem Kern und Schale (a), zwischen

den IP-Schalen (b) und zwischen IP-Schalen und AE (c) genauer.

a) Das Verhältnis von K zu I wird von Ott nicht weiter ausgeführt. Wahrscheinlich würde Ott

an die Habermassche Bestimmung anschließen, daß die zu prüfenden universellen

Handlungsnormen aus der Lebenswelt stammen und sich an »U« und »D« bewähren können

müssen. Menschenrechte als juridische Rechte haben bei Habermas keinen rein moralischen

Status mehr – insofern weicht Otts „Dependenzkonzeption“ von Habermas‘

Rechtsbegründung ab (auch wenn er seine inhaltlichen Vorschläge übernimmt). Praxisnormen

und Felder angewandter Ethik, soweit die in ihnen relevanten normativen Aussagen sich nicht

auf IP-1 und IP-2 beschränken, sind bei Habermas nicht explizit vorgesehen; hier betritt Ott

also diskurstheoretisches Neuland.

b) Was kann die Metapher vom »Herauswachsen« von I aus IP bzw. von IP-3 aus IP-2 aus

IP-1 nur bedeuten? Soll damit wirklich eine Art organischer Verbindung gemeint sein, die

einen genuinen Zusammenhang und eine Bewegung von inneren zu äußeren Schalen

andeutet, vielleicht sogar nach einem genetischen Strukturbauplan unter bestimmten

Umwelteinflüssen verlaufend? Methodisch zu klären ist diese Metapher kaum. So schreibt Ott

etwa:

„Diese intendierte Anwendung IP-3 wächst insofern aus IP-1 heraus, als Praxisnormen alsRollenpflichten verstanden werden können und, legt man die Position Gerts (1983) zugrunde, sich

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eine allgemeine Moralnorm bereits auf die Erfüllung spezifischer Rollenpflichten bezieht, indemsie fordert, Pflichten zu erfüllen, die (unter Voraussetzungen anderer Moralnormen) vonbestimmten sozialen Rollen »mitgeführt« werden. [Fußnote dort:] Praxisnormen erweisen sichdabei häufig als »Verschärfungen« im Vergleich zu allgemeinen Normen.“ (307)

Praxisnormen können also als Rollenpflichten verstanden werden, Moralnormen nicht.

Jedenfalls nicht unmittelbar, wohl aber „beziehen sie sich“ auf Rollenpflichten; sie fordern

nämlich ihre Erfüllung. Soziale Rollen bringen bestimmte Pflichten mit sich – Ott dürfte sich

hier auf sein Konzept der pragmatischen Implikation zu stützen, also: – qua Erwartungen

anderer Menschen.

Die Interpretation dieser Stelle wird durch die (oben, im Begründungsteil bereits beklagte)

nicht ausreichende Bestimmung des Verhältnissses von Praxisnormen zu allgemeinen

Normen erschwert: Warum gebietet nun eine Moralnorm (und das obige Zitat erlaubt sogar zu

fragen: jede Moralnorm) die Erfüllung dieser Pflichten? Rein formal, weil Pflichten zu

erfüllen sind? Vielleicht, aber nicht jede Moralnorm spricht auch davon (sondern nur das

Lügenverbot bzw. das Aufrichtigkeitsgebot). Oder weil die Pflicht-Inhalte als solche gefordert

sind? Dann wäre die „Rolle“ über die Wenn-Kautele einer moralischen Norm zu explizieren

und eigentlich gar keine besondere soziale Rolle. Oder weil eine soziale Rolle eine bestimmte

Verantwortungsverteilung spiegelt, die bestimmte spezielle Pflichten186 delegiert und andere

dadurch entlastet (Bademeister-Modell)? Wahrscheinlich schon eher, nur sind soziale Praxen

für Ott nicht genuin mit moralischen Fragestellungen verknüpft, sondern nur (per

definitionem) moralkonform. Zwar „verweisen“ die obersten Praxisnormen auf moralische

Grundnormen, „beziehen sich“ jene auf diese, sollen sich gar jene aus diesen „ableiten“ lassen

(307), ihr genaues Verhältnis bleibt jedoch unscharf. Praxisnormen lassen sich jedenfalls, so

Otts Idee, nicht nur auf dem Weg »von oben« aus allgemeinen Moralnormen begründen: auf

einem Weg »von unten« lassen sie sich auch „(implikativ) als konstitutiv in bezug auf den

Sinn bzw. das Gelingen einer Praxis (eupraxia)“ erweisen.187

c) Auch I soll aus IP „herauswachsen“. Doch die Situation ist eine gänzlich andere als

innerhalb von IP. Denn nun „sind allgemeine Moral- und Praxisnormen zu unspezifisch, um

viele der moralischen Fragen eindeutig zu beantworten, die sich auf AE-Feldern stellen“

(308). Es kann somit gerade kein Ableitungsverhältnis angenommen werden – die

Wachstumsmetapher verdeckt diesen wichtigen Unterschied. Was meint Ott jedoch damit,

186 Spezielle Pflichten sind solche, wo es genügt (oder sogar erforderlich ist), daß nur einige ihr nachkommen(wo es z.B. reicht, daß einer hilft; typischerweise: positive Pflichten). Generelle Pflichten sind solche, denenunterschiedslos alle unterliegen (typischerweise: negative Pflichten).

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daß eine Fülle gerade der moralischen Fragen unbeantwortet bleiben müssen? Die

Applikation von Normen auf Fälle geschieht doch nach landläufiger Meinung durch

Hinzufügung theoretischer Sätze. Einerseits könnte gemeint sein, daß universelle Normen in

individuelle Normen zu überführen sind. Andererseits könnte Ott auch eine stärkere

Spezifizierung allgemeiner Normen anvisieren, die nach wie vor universell bleiben. Wie

unterscheiden sich AE-Normen dann von IP-1-Normen? Als IP-1 hat Ott ja gerade den

Diskurs über universelle (und nicht: allgemeine oder generelle) Handlungsnormen bezeichnet.

Wäre das alles, könnte jede AE-Norm auch unter IP-1 eingeordnet werden. Da Ott jedoch die

Gert-Regeln im Auge hat, zielt IP-1 wohl doch auf gleichzeitig universelle wie generelle

Normen ab – auf Prima-facie-Normen/„Faustregeln“ also.

Anwendungsdiskurse – reale Diskurse

Jedenfalls, so Ott, sind die AE-Felder durch IP-Normen moralisch unterbestimmt.

„Aufgrund des dadurch auf den Schalen erneut anfallenden Diskursbedarfs muß »D« auf diesenFeldern wieder »erscheinen«. Der Terminus ist nun ein theoretischer Term (Begriff), der einallgemeines Modell (Idee) für mögliche Verfahren abgibt. Er wird nun in bezug auf I als eineunterbestimmte Variable behandelt, die durch Verfahrensvorschläge näher zu bestimmen ist. Erbezieht sich somit in bezug auf I auf eine Pluralität intern noch uninterpretierter Diskurs-Formenund -Verfahren, die ihrerseits IP-1,2,3 voraussetzen.“ (308)

Die Idee scheint also eine Zweistufigkeit zu sein. Erst auf der zweiten Stufe, derjenigen von

AE (und nicht schon in IP) sind reale Diskurs-Verfahren anzusiedeln, so scheint es. Wie aber

können wir IP-Normen überhaupt prüfen, wenn nicht in realen Diskursen? Ott stand an dieser

Stelle vor zwei Alternativen: entweder, man erlaubt auch beim ersten „Erscheinen“ des

Diskursbegriffs, also in IP, eine Operationalisierungsstrategie, oder man entzieht IP der

direkten Rechtfertigung in Diskursen. Die erste Alternative wurde von Ott offenbar

verworfen. Die letztere Alternative wäre nun aber nur dann gangbar, wenn man sagen könnte:

Sie sind zwar einer direkten, nicht aber einer indirekten Rechtfertigung entzogen. Allgemeine

Normvorschläge auf den IP-Schalen sind im Lichte einer idealen Zustimmungsfähigkeit

vorgebracht, allerdings nur in ihren Konsequenzen auf AE-Feldern überhaupt relevant – und

hier natürlich realen Diskursen ausgesetzt. Vorauszusetzen wäre dann, daß zu allen IP-

Schalen Anwendungsfelder in AE gehören, so daß die entsprechenden IP-Normen nie

unmittelbar relevant sein können. (Leider stellt Ott diesen Punkt nicht explizit heraus, so daß

wir nicht sicher sein können, ob er eine solche interessante Anwendungskonzeption wirklich

vertritt.) Dann wäre IP-3 entweder (oben konnte das nicht abschließend geklärt werden) als

187 Zur Erläuterung dieser Implikationsbeziehung und zum Praxisbegriff allgemein s. o.

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ein Diskurs zu verstehen, in dem Praxisnormen für verschiedene Praxen diskutiert werden, die

je nach Praxis unterschiedlichen Anwendungsfeldern zugehören, oder aber (zwangloser) als

eine Menge von Diskursen (mit einem Diskurs pro Praxis).

Alle diese realen Verfahren unterscheiden sich untereinander in Graden und Hinsichten der

Abweichung vom Ideal:

„Diese Diskurs-Formen können konzeptuell weiter differenziert werden. Durch Konzepte, dieVerfahrensvorschläge enthalten, wird der Begriff des Diskurses, der ein allgemeinesVerfahrensmodell hergibt, zu mehreren partiellen Modellen modifiziert, die sich ähneln, aber sichnicht gleichen. […] Aus der Perspektive von K sind diese konzeptuellen Modifikationen eine Artder bestimmten Negation des Diskursbegriffs […]. In solchen Konzepten kann der Begriff desDiskurses mit den Sachproblemen von Abwägung, Mehrheitsregel, Ermessensspielräumen,Kompromißbildungen, Verhandlung, Beratungsformen, Moderatorenrolle usw. vermittelt werden.“(308)

Die »harte Forderung nach Konsens« könne also konzeptuell modifiziert, der »Umgang mit

Dissensen« könne also betrieben werden, wie Ott zwei Bemerkungen von Hubig (1995a)

aufnimmt, ohne daß diese Forderung komplett aufgeben oder in ihr Gegenteil

(»Dissensethik«) verkehrt werden müsse.

„Je bestimmter die Negation wird, um so mehr werden Diskurse realen Bedingungen angenähert.Dabei nimmt die Menge der Nebenbedingungen an Bedeutung zu. Ich unterscheide dabeizwischen konstitutiven (»KN«) und restriktiven (»RN«) Nebenbedingungen. »KN« bezieht sichauf die Notwendigkeit, diskursive Verfahren in eine Form zu bringen, während sich RN auf all dasbezieht, was der Anwendung der Diskursethik im Wege steht: Konkurrenz vonSelbstbehauptungssystemen, undurchschaute Traditionen, partikulare Loyalitäten, ökonomischeInteressen, Machtstrukturen usw.“ (309)

Die Einführung des Diskursbegriffs aus »D« als Modell ist die zweite Pointe, die Ott aus dem

strukturalistischen Konzept gewinnt. Gemäß dem Stegmüllerschen Ansatz (Stegmüller 1970)

gehören zum Kern bereits alle Modelle, potentiellen Modelle und alle partiellen potentiellen

Modelle hinzu, so daß eine Diskursethik als moralphilosophische Theorie nicht ohne dieses

ganze Bündel von Verfahrens-»Modellen« auskommt. Mir ist nicht ganz klar, was der

Definitionsbereich der Elemente des Kerns und der Modelle bei Ott (1997) ist: »D« ist eine

»Idee«, Diskursverfahren sind Realitäten. Theoretische Termini gehören in Stegmüllers

Ansatz nicht in den Kern, sondern potentielle Modelle (Mp) sind durch Axiome (etwa einer

Meßtheorie), partielle potentielle Modelle (Mpp) zudem noch durch t-theoretische Termini zu

ergänzen, damit aus ihnen Modelle werden. Letztere sind dann die möglichen, aber nur

teilweise intendierten Anwendung. In Ott (1998) wird der Modellbegriff klar als abweichend

von Stegmüllers Vorschlägen verwendet herausgestellt. Nun steht ein „allgemeines Modell

des Diskurses“, das sich aus dem Begriff des Diskurses entwickeln lasse, im Mittelpunkt der

Modell-Diskussion. Es wird auch als „(Grund-)Modell)“ bezeichnet und dürfte mit folgendem

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„Grundmodell“ identisch sein, das Ott im Anschluß an Habermas (1981: Bd. 2, S. 193) so

beschreibt:

„Komponenten dieses Grundmodells sind a) zwei sprachfähige Subjekte, die b) im Vollzugkommunikativen Handelns entdecken, daß sie c) hinsichtlich ciner normativ relevanten Frage d)geteilter Meinung sind (Dissens). Jeder Dissens eröffnet die Möglichkeit, ihn mit Gründenauszutragen, weshalb jederzeit ein Übergang vom kommunikativen Handeln zum Diskurs möglichist [Verweis auf Oefsti; NG]. Beide Sprecher schöpfen, f) aus einem Reservoir lebensweltlichgegebener Moralvorstellungen (Intuitionen, Überzeugungen, „moral sense“), müssen sich auf derDiskursebene g) an den Diskursregeln und „U“ orientieren und beziehen sich h) auf eine formaleWelt legitim geregelter Interaktionen (Normen, Regeln, Institutionen usw.).“ (1998: 12)

Die Frage, was der Definitionsbereich der Menge I ist, wird in (1998) schwankend

beantwortet; man findet: „Fragen“, „Verfahren“, „Debatten“ und „Diskurse“. Oben haben wir

uns für Diskurse entschieden (was allerdings offenläßt, ob hiermit Verfahren,

Ausagezusammenhänge oder noch anderes gemeint ist; vgl. Einleitung). Die Elemente des

Definitionsbereichs von I müssen vom selben Typ sie diejenigen von Mpp sein. Zwischen M

und Mp einerseits sowie Mpp und I andererseits besteht ein Typensprung. Daher ein eigener

Klärungsversuch:

Damit die strukturalistische Wissenschaftstheorie so gut es geht ihren empirischen Sinn

behält, sollten Mpp und I wirkliche Verfahren sein, die (da noch ohne t-theoretische Terme)

noch nicht in Begriffen der Habermasschen Diskurstheorie interpretiert. Also

Kommunikationsverfahren, Gespräche o.ä. unspezifische »Diskurskandidaten«. M umfaßt die

verschiedenen diskursiven Verfahrens-»Modelle« (unter gewöhnlicher Sprachverwendung

von Modellen), die nach bestimmten Kriterien (den Äquivalenten der Axiome) aus der Menge

Mp aller Verfahrens-»Modelle« gewonnen werden müssen.

Wäre die Diskurstheorie eine deskriptive Theorie, könnte man sich damit zufriedengeben.

Doch wie kommt nun der normative Gehalt einer Diskursethik zum Ausdruck? Zunächst sind

zentrale Gehalte des Kerns, nämlich »D« und »U« bei Ott, noch einmal unabhängig von der

Diskurstheorie begründet. Dies ist in der strukturalistischen Konzeption nicht vorgesehen,

hier bewährt sich eine Theorie (und damit auch Teile ihres Kerns) in der Anwendung. Man

könnte vielleicht eine (schwache) Sollgeltung der Transformation von Mpp-Elementen in I-

Elemente ansetzen. Diskurskandidaten sollen damit zu Diskursen werden. Doch ist das schon

alles?

Für die weiteren Probleme, die Ott bespricht, spielt die Stegmüllersche Theorie jedenfalls

keine Rolle mehr; ihre Begrifflichkeiten werden nicht weiter verwendet.

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Die Ableitung von grundlegenden Moral- und Rechtsnormen

In (Ott 1998) wird auf Ebene von Ip1 neben der Auflistung eines „modernen Dekalogs“ im

Anschluß an (Gert 1983) vermeintlich auch ein Argument geliefert dafür, daß alle Akteure die

gerechtfertigten Moralnormen auch befolgen sollen:

„Man kann grundlegende Moralnormen begründen (Ipl), indem man zunächst aus der (idealtypischstilisierten) Perspektive eines rationalen Egoisten ein Set von Normen eingeführt, deren Befolgungdurch alle anderen Akteure für diesen Akteur prima facie günstig ist.“ (1998: 15)

Sodann könne man spieltheoretisch (unter Verweis auf einen Aufsatz von Nida-Rümelin) eine

Hierarchie von individuell präferierten Zuständen ausweisen, die so aussieht:

„1. Alle außer mir sollen Moralnormen befolgen. 2. Alle sollen Moralnormen befolgen. 3. Einigesollen Moralnormen befolgen, einige andere, darunter ich, jedoch nicht. 4. Einige einschließlichmeiner selbst sollen Moralnormen befolgen, einige andere nicht. 5. Keiner soll Moralnormenbefolgen. 6. Keiner außer mir soll Moralnormen befolgen.“ (ebd.)

Die Notwendigkeit, die zweite Option zu wählen, ergäbe sich dann im Zusammenhang mit

den durch »U« und »D« vorgegebenen Randbedingungen:

„Ein rationaler Egoist hat nun folgende Präferenzen: 1 > 2 > 3 > 4 > 5 > 6. Zugunsten von 1 kannman aber gemäß „D“ und „U“ nicht argumentieren. [Fußnote:] Kantisch gesprochen: EineMaxime, die l. ausdrückt, läßt sich sich nicht widerspruchsfrei verallgemeinern: denn dieVerallgemeinerung von l. ergibt 5. und 5. ist jedem deutlich weniger lieb als 2. Wer 2. gegenüber5. präferiert, kann l. nicht als allgemeine Maxime rational wollen.“ (ebd.)

Doch das letztgenannte Argument ist nicht kantisch. Eine generalisierende

Verallgemeinerung lag Kant fern (vgl. Fußnote 75).

Diese Begründungsstruktur entspricht der Idee von J. Rawls, eine „Urwahlsituation“

einzuführen, in der die moralischen Elemente in den Rahmenbedingungen stecken und die

Individuen dann als rationale Eigennutzenmaximierer (rE) sich institutionelle Regeln geben.

Sie teilt aber auch deren Probleme: Denn warum sollte ein rE diese Randbedingungen

akzeptieren und nicht vielmehr die Begründung von »U« und »D« wenig überzeugend

finden? Dem rationalen Nutzenmaximierer, wenn er denn wirklich einer wäre, würde zwar

u.U. ein Lippenbekenntnis zur Allgemeingültigkeit von Normen abgewonnen werden können,

moralische Normen könnten so aber nie in Geltung gehalten werden.188 Und andersherum

188 Der Versuch der Begründung einer deontologischen Moral auf der Basis von rE muß notwendig mißlingen.Das zeigt auch der jüngste, interessante Versuch von E. Tugendhat 1997: Er sieht richtig, daß der große Vorteileiner moralischen Verhaltenssteuerung darin besteht, daß obwohl es individuell vorteilhaft wäre, auch ohneSanktionsdrohung keine Ausnahme gemacht wird. Daher ist es für eine Gemeinschaft von rE auch rational, sichwechselseitig eine solche (deontologische) Moral zu predigen. Doch es ist eben nicht rational, sich auchindividuell an diese Moral zu halten. Eine Moralgeltung wäre faktisch nur dann aufrechtzuerhalten, wennregelmäßig Individuen dumm genug sind, das Gepredigte auch zu glauben. Zudem bleibt fraglich, ob eine solche

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gefragt, warum sollte jemand so eine restringierte Perspektive wie die eines rE überhaupt

einnehmen, und sei es hypothetisch, der (ausgedrückt durch »U« und »D«) die Anerkennung

der legitimen Interessen anderer eingesehen hat? Die Option, Normen als gültig einzusehen

und sie dann (als einziger) nicht befolgen zu wollen, besteht dann nicht. Und wie ließen sich

diese unvereinbaren Perspektiven wieder zusammenschließen? Das von Ott vorgetragene

Argument wird einen rE nicht überzeugen können und einen Moraldiskurs-Teilnehmenden

nicht überzeugen brauchen.

Anders, wenn man die Argumentation als eine solche über Rechtsnormen auffaßt. Die

Hoffnung könnte nun sein, daß „selbst ein Volk von Teufeln“ wenn es denn nur gemäß »U«

und »D« argumentiert, sich für allgemeingültige, zwangsbewehrte Rechtsnormen aussprechen

müßte. Doch würde es sich wohl auch an solche Normen halten? Ohne äußere Sanktion wohl

kaum. Diese Argumentation wäre wohl eher kantisch. Zur Begründung von Rechtsnormen

findet sich bei Ott 1998 jedoch nur der Verweis auf den Habermasschen Katalog (von 1992)

und (zurecht) der Hinweis auf diesbezügliche „ungeklärte Begründungsfragen“.

Die Ottsche Anwendungskonzeption am Beispiel derWissenschaftsethik

Neben den Diskursen um universell gültige Handlungsnormen sowie um Menschenrechte

gehören für Ott auch „Grundnormen geschichtlich situierter Praxisfelder (Medizin,

Wissenschaft, Sport, Recht, Technik usw.)“ zur Menge der „intendierten Anwendungen“ der

Diskursethik (1997: 306). Die Wissenschaft sei dabei genau „diejenige Praxis, die alle

übrigen Praxen (Heilkunst, Pädagogik, Recht usw.) auf Ebene ihrer Wissensbestände

rationalisieren zu können beansprucht“ (115), ist also eigentlich eine Metapraxis. In (1997)

entwickelt er zunächst eine allgemeine Wissenschaftsethik und unterbreitet in den

anschließenden Kapiteln dann Rekonstruktionsvorschläge der normativen Gehalte von

einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen.

Seine allgemeine Wissenschaftsethik beginnt Ott mit einem Exkurs zu Weber, der gerade kein

Werturteilsverbot, sondern eine Pflicht zur Kennzeichnung und zur kategorialen Ordnung von

Werturteilen gefordert habe. Für seine weitere Analyse stützt sich Ott auf die Unterscheidung

der (internen) Ziel- von der (externen) Zweckdimension der Wissenschaft. Das interne Ziel

der Wissenschaft ist, kurz gesagt, die Wahrheitsannäherung (326) unter der „Idee kritischer

Moralbegründung die deontologische Moralgeltung wirklich erreicht, denn man folgt moralischen Normenangesichts eines Handlungs-Gegenübers nurmehr um des eigenen Vorteils willen, und nicht auch umseinetwillen.

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- 306 - -

Prüfung“ (356) im Sinne Böhlers. „Wer anerkennt, daß Wissenschaft auf die Erzeugung,

prüfende Bewährung und Verbesserung gültigen Wissens abzielt, und wer selbst Wissenschaft

betreibt“, so Otts Rekonstruktion der Implikationen dieser Idee, „... [d]er muß ipso facto die

Normen anerkennen, nicht zu lügen, nicht zu betrügen, nicht zu fälschen, nicht zu

manipulieren und keine fremden Ergebnisse als eigene auszugeben“ (346), ferner die von

Merton aufgestellten Normen wie etwa „Wissenskommunismus“ (350), insgesamt also das,

was gewöhnlich als wissenschaftliches Ethos bezeichnet wird. Davon zu unterscheiden sind

die externen Zwecke der Wissenschaft: „Ist die Wissenschaft nun hinsichtlich der

Zieldimension einzig ihren eigenen Standards der Prüfung und Rechtfertigung unterworfen,

so ist sie hinsichtlich der Zweckdimension zu etwas dienlich und bezieht sich dadurch auf

Interessen und Werte.“ (442). Klar ist bereits aufgrund des Ottschen Praxis-Begriffs, „daß

sich die Wissenschaft nicht bewußt Zwecken dienstbar machen darf, die sich moralisch nicht

rechtfertigen lassen“ (ebd.). Zusätzliche Pflichten ergeben sich jedoch hinsichtlich eventueller

Rollen als Gutachter und Berater (auch Philosophen sind ja verstärkt als ethische Berater

gefragt).

In den sich anschließenden drei umfangreichen Fallstudien zu Technologie, Ökologie (vgl.

Ott 1993) und Architektur werden je spezifische Praxisnormen rekonstruiert. Ihr Ertrag

verdankt sich den offensichtlichen externen Zwecken der betrachteten Disziplinen –

grundlagennähere Disziplinen wären hier wahrscheinlich weniger ergiebig. So wird etwa die

Naturschutzforschung als die Zweckdimension der Ökologie präsentiert und eine Reihe von

umweltethischen Forderungen – z.B. nach einer Reduzierung der toxischen Grundbelastung

und einem Ausbau des Umweltrechts, das nur an Grundrechten und „breiten Konsensen“

(699) Schranken finden dürfe – plausibel gemacht, zu deren Verwirklichung Ökologen sich

schließlich „stellungnehmend-engagiert“ (701) in den politischen Prozeß einzubringen hätten.

Insgesamt erscheint die pragmatische Implikation und das Praxisnorm-Konzept als geeignet,

zu einer anwendungsorientierten Ethik beizutragen. Ihre Stärken besitzt sie anscheinend auf

den weiter außen liegenden Schalen.

Zumutbarkeit und Teleologie

Im Anschluß an seine Überlegungen zur „konkreten Negation der Diskursidee“ spricht Ott

interessante „Folgeprobleme“ angewandter Diskursethik an: Sachverstand und Kompetenz der

an Diskursen Teilnehmenden sind in einem nichttrivialen Sinne vorauszusetzen, Teilnahme

kann häufig nur repräsentativ gewährleistet werden und muß »fair« organisiert werden. Ihm

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- 307 - -

reicht in seinem Buch allerdings der Nachweis, daß genug „Diskurspersonal“ zur Verfügung

steht, ohne diese Folgeprobleme weiter zu bearbeiten.

Falls Diskurse (momentan) nicht geführt werden können (Problem A3), plädiert Ott für eine

Mischung aus Apels strikter Moralstrategie und Habermas‘ Zumutbarkeitsüberlegungen. Eine

abstrakte Negation des Diskursprinzips darf zunächst auch nicht geschehen im Namen eines

Ergänzungsprinzips (E), wie Apel es vorgeschlagen hat. Es gilt nämlich als „Meta-Maxime“

der Diskursethik:

„Wir sollen uns zwar für die Realisierung von »D« engagieren, so gut wir es (aufgrund unsererLebenssituation) vermögen, dies aber unter der Beachtung der Normen (Gert) und der Rechteanderer und immer auf eine Weise, durch die die Idee, die sich in »D« ausspricht, niemalsdiskreditiert, sondern immer zugleich auch aktuiert wird, es sei denn, das Verhalten der anderenzwingt uns eine Strategie reiner Selbstbehauptung auf.“ (310)

Mit dem letzten Satz greift Ott bereits die legitimen Aspekte der Habermasschen

Zumutbarkeitserwägung auf; doch auch Ott stellt nicht klar genug heraus, daß der

kontrafaktische Gehalt von »D« durch das Verhalten der anderen nicht hinfällig werden kann:

Auch Strategien reiner Selbstbehauptung sind unter »D« rechtfertigungsfähig, da jeder unter

den gegebenen Umständen einer solchen Strategie zustimmen könnte. Ott geht jedoch in

einem anderen Punkt über Habermas hinaus: Für ihn ist es nicht nur das Verhalten anderer

(wie im gerade beigebrachten Zitat), sondern auch eine existentielle Krise, die u.U.

Ausnahmen rechtfertigt: „Wer zutiefst unglücklich oder vom Leben enttäuscht ist, wer

existenziell verzweifelt oder sterbenskrank ist, dem ist diskursives Engagement nicht

abzuverlangen. Andererseits ist das in dem Ernstnehmen-müssen angelegte Engagement für

die approximative und modifizierte Verwirklichung von »D« auch keine supererogatorische

Handlung. Es ist eine unvollkommene Pflicht, der nachzukommen immer auch Urteilskraft

erfordert.“ (310f.) Einmal abgesehen davon, daß auch einer vollkommenen Pflicht (als Regel)

nicht ohne Urteilskraft nachgekommen werden kann, scheint Ott unter extremen Umständen

der „ethischen“ Selbsterhaltung den Vorrang vor der „moralischen“ Pflicherfüllung geben zu

wollen – auch wenn das in seinen Beispielen nicht unbedingt zu sehen ist, denn wie die

Aufforderung zu diskursivem Engagement das existentielle Elend beeinflußt, ist ja nicht

eindeutig: Vielleicht bekommt dadurch das Leben ja wieder (oder noch einmal) einen Sinn.

Ott beschreibt die Situation nicht ganz eindeutig: geht es nur um die „Lastenverteilung“

angesichts von Pflichten, denen nicht ausnahmslos alle nachkommen müssen (wie

Hilfepflichten), wenn es schon reicht, daß einige das tun? Oder geht es Ott um eine Situation,

wo von dem nach seiner Meinung unzumutbaren individuellen Handeln wirklich etwas

abhängt, da es nicht substitutierbar ist? In letzterem Fall wäre die Situation zu verstehen als

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- 308 - -

Vorliegen einer eingeschränkten Zurechnungsfähigkeit aufgrund massiver psychischer oder

physischer Probleme. Es ist wichtig zu sehen, daß dann nicht das Problem gemeint ist,

welches z.B. B. Williams in vielen Varianten ausgemalt hat: Daß moralische und ethische

Ansprüche widerstreiten. Eine ausführliche Diskussion der Vereinbarkeit von Moral und

Gutem Leben im Rahmen der Diskursethik liegt auch bei Ott nicht vor.

Anwendungsprobleme zwischen Kern, Schalen und Fällen

Nach der prozeduralen Betrachtung im vorletzten Abschnitt und der Reflexion auf dabei

auftretende Hindernisse im letzten Abschnitt wollen wir in diesem Abschnitt noch einmal

unter materialen Gesichtspunkten die Frage aufnehmen, wie die Übergänge zwischen

Prinzipien, Normen, Praxisnormen und Fällen in Otts Konzeption zu verstehen sind.

Ott kommt bezüglich der logischen Struktur moralischer Urteile insgesamt zu folgendem

Resultat:

„Ein angemessenes moralisches Urteil muß also, wenn es vollständig expliziert werden soll, vierEbenen bestimmen: a) normative Ebene, b) Ebene der Deutungsmuster, c) Ebene derSituationsbeschreibung, d) Urteilsebene. (Ein moralisches Urteil ist, logisch betrachtet, immer eineKonklusion.)“ (251)

Die normative Ebene betrifft den Übergang von K zu IP (und u.U. auch zu spezielleren

Normen in AE), also das Problem A1a. Die Ebene der Situationsbeschreibung, also Problem

A2, wird von Ott nicht weiter untersucht; er schreibt (unter expliziter Berücksichtigung von

Relevanz-Überlegungen, ansonsten aber in Übereinstimmung mit Günther 1988 – also

insgesamt genau wie Habermas seit 1988), es sei „das Ideal einer zutreffenden Beschreibung

aller relevanten Umstände vorauszusetzen, an dem man sich vor Gericht orientiert“ (250). Das

Problem kulturspezifischer Deutungsmuster, die etwa „festlegen, was als Grausamkeit,

Bestechlichkeit, Rücksichtslosigkeit, Ausbeutung, Beleidigung, Folter, Feigheit usw. gilt“

(250), stellt sich überall da, wo Normen spezifiziert werden müssen, aber auch dort, wo

relevante Umstände aufgesucht werden müssen – ja allgemein immer dort, wo wesentliche

moralische Begriffe intensional auszudeuten oder extensional bestimmten Entitäten wie

Gegenständen, Personen, Situationen usw. zuzuordnen sind – betrifft also Problem A1b und

A2. Damit sind wir auf der Ebene der Urteile (der Form: A ist B); dies ist wohl die

allgemeinste Formulierung dessen, was durch Deutungsmuster mitbestimmt ist, was den Kern

von Situationsbeschreibungen ausmacht, was auch bei der Interpretation und Spezifikation

von Normen vonnöten ist. Ott scheint aber etwas bestimmtes zu meinen, nämlich das

Ergebnis der Anwendung einer Norm auf einen Fall (s.u.).

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Die Einführung verschiedener Stufen zwischen den Prinzipien des Kerns und angewandter

Ethik vermehrt die Anzahl von Anwendungsproblemen; innerhalb von A1 ergibt sich ein

ganzes Problem-Spektrum. Ott unterscheidet explizit vier Anwendungsarten: Zunächst stellt

er explizit fest, daß es einen Unterschied zwischen den von uns A1a und A1b genannten

Problemen gibt: „Das Anwendungsproblem ist dahingehend zu unterscheiden, ob Prinzipien

zur Prüfung von Normen oder ob Normen zur Entscheidung von Fällen herangezogen

werden.“ (311) Sodann, und erst diese Problematik ist ein spezifisches Folgeproblem seiner

Konzeption, sei zu unterscheiden zwischen dem „Verhältnis von Prinzip und Praxis“ sowie

dem „Verhältnis von allgemeinen Normen und Praxisnormen“. Ott zieht also die IP1- und

IP2-Normen zusammen.

Seine entsprechenden Unterscheidungen von „subsumptiver“, „justifizierender“,

„modifizierender“ bzw. „orientierender“ und „generierender“ Anwendung sollen in einer

Grafik veranschaulicht und dann näher untersucht werden:

orientierend generierend

Prinzip justifizierend allg. Norm j/s Praxisnorm subsumierend Fall

modifizierend

Abbildung 3

Von Ott unterschiedene Typen von Anwendungen (kursiv). Als Verhältnis zwischen allgemeinen undPraxisnormen habe ich ergänzt: gleichzeitig justifizierend wie subsumierend (j/s).

Gehen wir die einzelnen Anwendungsbeziehungen nun genauer durch (ich möchte dabei die

Darstellungsreihenfolge der letzten beiden Beziehungen vertauschen):

1) In der subsumptiven Anwendung von Normen auf Fälle verweist Ott auf Günther (1988) –

das Problem der Normenkollision wird er allerdings anders behandeln, dazu später. Der

Begriff der Subsumption wird also dahingehend erläutert, daß „aus einer Norm und bekannten

Tatsachen ein partikulares Urteil abgeleitet wird“ (311). Diese, anscheinend etwas

mechanische Vorstellung, darf aber nicht irreführen, denn „[d]abei besteht die Gefahr, daß das

Problem der Deutungsmuster unterschlagen wird“ (311). Diese Deutungsmuster legen ja

gerade fest, welche Tatsachen eine Norm anwendbar werden lassen.

Praxis

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- 310 - -

2) Die justifizierende Anwendung vom Prinzip auf zu prüfende Normen wird nicht weiter

erläutert. Ich habe oben bereits einige Hinweise bezüglich der Ottschen Wahrnehmung der

Notwendigkeit gegeben, reale Diskurse zu führen.

3) Die generierende Anwendung „fragt nach dem Verhältnis von allgemeinen Normen und

Praxisnormen“ (312). Ohne Frage, dieses Verhältnis besteht: Letztere (IP-3-)Normen sind für

Ott nicht nur konstitutiv für die jeweiligen Praxen, sondern „zugleich rückgebunden an

allgemeine moralische Normen, die auf höherer Allgemeinheitsstufe angesiedelt sind und sich

im Lichte von »D« überprüfen lassen“ (312). Sollten sich also – im Rückschluß – die

Praxisnormen nicht direkt an »D« überprüfen lassen? Das hängt davon ab, ob IP-3 Teil von

AE ist; jedenfalls müssen sich Praxisnormen aber zumindest indirekt, über Felder der AE,

unter dem „konkret negierten“ Diskursprinzip rechtfertigen lassen. Doch zurück zur

generativen Anwendung: was wird überhaupt wovon generiert? Allgemeine Normen, wäre die

einzig sinnvolle Antwort, denn Praxisnormen liegen ja zusammen mit den jeweiligen Praxen

bereits vor; etwa so: Praxisnormen müssen als Kandidaten für allgemeine Normen herhalten,

die sich ja aus einem Prinzip der Normenprüfung nicht direkt gewinnen lassen. Andererseits,

so ist zu bedenken, geben die allgemeinen Normen doch auch die Suchschemata für

Praxisnormen ab, gerade wenn (wie bei Ott) nur moralisch einwandfreie Normen im Zentrum

echter Praxen stehen können. Es erscheint mir in Otts Sinne, den Übergang von allgemeinen

Normen zu Praxisnormen als gleichzeitig subsummierend und justifizierend zu bezeichnen (s.

Abbildung 3).

Bis hierher lassen sich die Anwendungsbeziehungen noch recht leicht veranschaulichen.

4) Eine letzte Art von Anwendung „fragt nach dem Verhältnis von Prinzip und Praxis“:

„Wenn nun die Diskursethik das Allgemeine ist und der jeweilige Fall das Individuelle darstellt,dann ist das Besondere als jeweilige Praxis (…) das, was zwischen ihnen vermittelt. Diese dritteArt der Anwendung ist in bezug auf das Prinzip modifizierend und in bezug auf die Praxisorientierend. In diesem Sinne ist AE bereichsorientiert.“ (311f.)

Diese Sätze sind sicher interpretationsbedürftig. Obwohl das thematische Verhältnis nur

zwischen zwei Entitäten bestehen soll (Prinzip und Praxis), spricht der erste Satz des Zitats

doch von mindestens drei Entitäten. Offenbar soll „die Diskursethik“ auf den jeweiligen Fall

angewendet werden. Als Theorie im Stegmüllerschen Sinne umfaßt die DE sowohl Prinzip als

auch intendierte Anwendungen, sicher also IP-1 und IP-2. Die in diesem Satz vorgestellte

„Anwendung“ umgreift also das volle Schema der Abbildung 3. Der zweite Satz spricht

jedoch nur noch vom Prinzip, also nur von einem Teil der Theorie, nämlich einem Teil ihres

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- 311 - -

Kerns. Die von Ott beschriebene praxis-vermittelte Anwendung soll genau dreistellig sein:

Das Prinzip wird über Praxisnormen angewendet auf Fälle. Dabei wird das Prinzip modifiziert

und die Praxis orientiert.

Doch soll das Prinzip, also »D«, »U« usw. bereits angesichts der Praxen, also auf der IP-3-

Schale, modifiziert werden, wäre der Diskursbegriff doch sicher betroffen und somit nicht erst

auf der AE-Schale „konkret zu negieren“. Vielleicht ist also IP-3 doch zu AE zu rechnen und

die Modifikation besteht genau in der „konkreten Negation“? Oder soll das Prinzip doch nur

bei der Beurteilung von Fällen im Rahmen von Praxen modifiziert werden?

Ähnlich zweideutig die Orientierungsfunktion: Sollen die Praxen auf das Prinzip oder auf die

Fälle hin orientiert werden? Ersteres könnte meinen, die Praxisnormen sollten auf

Kompatibilität mit moralischen Grundnormen überprüft werden, oder auch, die Praxis solle

auf moralische Grundnormen umgestellt werden. Letzteres könnte meinen, auch der

Übergang von Praxisnormen zur Beurteilung des konkreten Einzelfalls geschehe in

Diskursen, diese enthalten (konkret negiert) z.B. »U« und »D«, und von daher werde die

Praxis über das Diskursprinzip auf Fälle hin orientiert. Diese Orientierung (in

Anwendungsdiskursen, wie man mit Günther sagen könnte, also hin u.A. auf eine

unparteiliche Anwendung der Praxisnormen) könnte eine Praxis ja genauso nötig haben wie

eine Rechtfertigung ihrer Praxisnormen (in Begründungsdiskursen). Doch wie ließe sich diese

Orientierung von der unter a) thematischen Subsumtion unterscheiden? Offenbar dadurch, daß

nun das Problem der Deutungsmuster thematisch werden kann, das in einer bloßen

Subsumtion immer schon als unproblematisch vorausgesetzt werden muß.

Abwägung und Normenanwendung

Ott vertritt, wie oben bereits herausgestellt, keinen umfassenden moralischen

Präskriptivismus: Moralische Normen können verschiedene Handlungsalternativen erlauben.

Ott glaubt, daß gerade dies in die Problematik des Abwägens führt. In einer von drei

Fallstudien, der zur Ökologie nämlich, ist eine ausführliche Diskussion des

Abwägungsproblems in der gesamten angewandten Ethik versteckt. Ott versucht zunächst

einige semantische Abgrenzungen:

„Handelt es sich um einen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, so können wir nicht vonAbwägung sprechen. […] Auch die Handlungsspielräume, die im Bereich des moralischIndifferenten existieren, sollte man nicht mit der Abwägungsproblematik in Verbindung bringen.[…] Fälle, angesichts derer abzuwägen ist, müssen also […] normativ relevant sein.“ (679f.)

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- 312 - -

Andererseits kann in echten Dilemmata oder anderen ausweglosen Situationen von einer

Abwägung ebenfalls nicht (mehr) sinnvoll gesprochen werden:

„Denn Dilemmata sind so definiert, daß sie auch durch eine noch so sorgsame Abwägung nichtbefriedigend gelöst werden können. Bei Abwägungen unterstellt man immer noch die Möglichkeit,die beste von mehreren Handlungsalternativen könne durch Überlegung herausgefunden werden.“(680)

Auch müssen die abzuwägenden Handlungen „in den Bereich des prinzipiell Erlaubten“ fallen

(680).

Von diesen Kennzeichen sticht die normative Relevanz natürlich besonders heraus: Die

Abwägungsalternativen sollen erlaubt, aber dennoch normativ relevant sein – wie geht das

zusammen? Unter Verweis auf Broome, einen Utilitaristen, stellt Ott hierzu

erstaunlicherweise fest:189

„Abwägungsentscheide sind mithin generell solche, in denen normative Relevanz innerhalb desErlaubten bzw. des (etwa aufgrund einer Ausnahmeregelung) Erlaubnisfähigen besteht. Diesenormative Relevanz läßt sich im P-Bereich nicht mehr durch O- oder F-Operatoren ausdrücken,sondern nur durch die graduelle Differenz von »besser« oder »schlechter«. Wir haben es also miteiner »betterness-relation« innerhalb des P-Bereiches zu tun. Während Gebots- oder Verbots-Normen binär codiert sind und einfache Präferenzen ordinal geordnet werden müssen, kombiniertdiese »betterness-relation« die (eigenartige) normativ-moralische Relevanz innerhalb des P-Bereiches mit der für Präferenzordnungen charakteristischen ordinalen Ordnungsstruktur.“ (680)

Der Bereich, in dem abgewogen werden muß, könnte somit eine ‚subnormative‘ Ebene

betreffen – doch diese Abwägungen sollen auch noch ‚normativ-moralisch‘ relevant sein.

Würden wir sagen: „moralisch“ relevant, fügte sich alles zusammen: dies liegt bei einer

Ethikkonzeption nahe, die unter moralischen Normen einige wenige, generelle Sätze versteht,

denn wahrscheinlich schöpfen diese unsere moralischen Intuitionen nicht aus. Wenn durch

entsprechende Normen aber der Bereich des Moralischen komplett umrissen ist, gibt es dann

überhaupt einen Platz für ein „normativ-moralisches“ Abwägungsproblem? Unter ‚normativer

Relevanz‘ einer Entscheidung könnte man z.B. verstehen, daß sie durch Normen geregelt ist,

oder auch, daß sie durch Normen zu regeln ist. Vielleicht auch, daß sie durch Normen

möglicherweise zu regeln ist. Abzuwägen wäre dann in solchen Fällen, wo eine neue Norm

erst noch generiert werden muß.

Wenn eine Entscheidung, ob nun in dem gerade vorgeschlagenen oder in einem anderen

Sinne, normativ relevant sein soll, dann muß sie jedenfalls bezüglich Normen einen

Unterschied machen. Somit können die abzuwägenden Alternativen gar nicht alle

189 Ott verwendet folgende Notation: Der P-Bereich meint das normativ Erlaubte. O- und F-Operator (ought bzw.forbidden) bezeichnen das normativ Gesollte bzw. Verbotene.

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- 313 - -

gleichermaßen moralisch erlaubt sein. Otts Abwägungsdefinition erscheint also, schon bevor

wir uns die weiteren Unterscheidungen vergegenwärtigen, nicht leicht konsistent

interpretierbar und auch kaum brauchbar zur Erläuterung von Abwägungsproblemen; diese

werden entdramatisiert.

Ott begründet die Unverzichtbarkeit der Abwägung zudem epistemisch: Der

Abwägungsspielraum sei nämlich „durch ein Defizit bzw. durch einen Mangel an normativer

Sicherheit bestimmt“ (681). Sechs mögliche Fälle hat er dafür parat: Normenkollisionen,

Risiko-Handlungen, unklare Relationen von moralischen und außermoralischen Gründen,

»status-quo-minus«-Fälle, Unklarheiten über die Erlaubnis des Abwägens und Unklarheiten

über die Erlaubnis von Ausnahmen von Normen. Eine kunterbunte Sammlung. Ich werde

zunächst die einzelnen Fälle durchsprechen und auf die Verträglichkeit mit dem ersten

Merkmal, der Erlaubnis aller abzuwägenden Optionen, prüfen, und dann einen eigenen

Ordungsvorschlag für die Unsicherheitsproblematik machen.

Zunächst zur Normenkollision, Otts erstem Punkt: Sowohl die Handlung als auch die

Unterlassung (Anders-Handlung) verletzt je eine Norm (nur deshalb kollidieren sie angesichts

der Beurteilung einer Handlung).190 Damit sind Handlung und Unterlassung aber gerade

nicht, wie von Ott gefordert, beide moralisch erlaubt, sondern verboten. Hier gibt es also –

Otts Abwägungsbegriff zugrundegelegt – nichts abzuwägen. Je nach Normenkonzept muß

eine Kollision anders verstanden werden: Dürfen Normen auch sehr speziell sein, wäre eher

eine Norm-Fortbildung zu betreiben, da (idealiter) das Normensystem widerspruchsfrei sein

muß. Sollen Normen hingegen ausdrücklich allgemeine Sätze bleiben (nach dem Modell des

Dekalogs), drückt die Kollision von Normen die unvermeidliche Verletzung von per Moral

geschützten Gütern aus. Die Kollision macht diese Situation erkennbar – eine (vorschnelle?)

Normfortbildung würde dies vielleicht verdecken – und ist Ansporn dazu,

Kollisionssituationen zu verhindern bzw. zu vermeiden.

Otts nächste beiden Punkte lassen sich schwer unterscheiden:

„Eine Abwägung kann auch erforderlich werden bei Risikohandlungen oder bei einer unklarenRelation von moralischen und außermoralischen Gründen. Der letztgenannte Fall umfaßt mehrereMöglichkeiten. Eine davon stellt sich so dar, daß keine kategorischen Pro- oder Contra-Argumente, aber etliche pragmatische Pro- oder Contra-Argumente vorgebracht werden können.

190 Es gibt auch Situationen, wo in ein und derselben Situation durch Handlung wie Unterlassung dieselbe Normverletzt wird, z.B. wenn ein Familienvater in einen Verteidigungskrieg ziehen muß: Begibt er sich dochentweder selbst in Todesgefahr (und verletzt seine Hilfepflicht) oder er bleibt daheim, unterstützt nicht dieVerteidigung und setzt dadurch seine Familie dem Angriff aus (und verletzt so ebenfalls seine Hilfepflicht).Dieses Beispiel schulde ich C. Hubig.

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Dann sind (naturschützerische) Bedenken etwa hinsichtlich der steigenden Gefährdung einerSpezies und Nutzenerwartungen gegeneinander abzuwägen, was in probabilistische Fragen führt;denn vielleicht erweist sich eine Art ja als anpassungsfähiger als man glaubt.“ (682).

Hier wird eine Risiko-Handlung als Beispiel für eine unklare Relation von moralischen und

außermoralischen Gründen angeführt, die Struktur dieser Handlung aber nicht weiter

analysiert.

Eine Risiko-Handlung ist eine solche, deren Ergebnis mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit

ein Schaden und anderenfalls ein Nutzen sein wird. Betrachten wir die möglichen Situationen:

Zunächst könnte es sein, daß die Verteilung von Nutzen und Schaden derart ungerecht ist, daß

die Risiko-Handlung als solche zu unterlassen ist. Ist entweder nur der Nutzen-Fall geboten

oder nur der Schadensfall verboten, ist die Risiko-Handlung selbst ebenfalls geboten bzw.

verboten. In allen diesen Situationen ist – nach Otts Definition – nichts abzuwägen. Sodann

könnte die Herbeiführung des Nutzens geboten und gleichzeitig die Herbeiführung des

Schadens verboten sein; die Unterlassung verletzt also sicher eine Norm N1 (Kategorie 1), die

Ausführung nur möglicherweise eine Norm N2 (Kategorie 2). Ist N1 nachrangig gegenüber

N2, nähert sich die Situation einem Dilemma. Dies ist das eigentliche Risikoproblem. Es läßt

sich allgemein so fassen, daß sowohl die Handlung als auch die Unterlassung mit einer je

unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit zwei nicht gleichrangige Normen verletzen, und zwar

die vorrangige Norm mit der geringeren Wahrscheinlichkeit.

Der dritte Fall, d.h. die unklare Relation von moralischen und außermoralischen Gründen,

läßt sich kaum rekonstruieren. Welche Gründe meint Ott genau? Ott gibt als Beispiel eine

Risiko-Handlung. Ich habe versucht zu zeigen, daß dabei notwendig moralische Gründe

konfligieren, nämlich diejenigen, die hinter den beiden Normen N1 und N2 stehen. Die

vorrangige Norm wird jedoch durch die probabilistische Komponente ‚geschwächt‘. Sähe Ott

hierin den „außermoralischen Grund“, würde die Unterscheidung von den Risiko-Fällen

hinfällig, denn diese beinhalten notwendig probabilistische Elemente. Andererseits spricht Ott

von einer Situation der Abwägung pragmatischer Gründe, wo keine kategorischen Gründe

vorliegen (s.o.). Ist dies das „außermoralische“ Element? Daß keine kategorischen Gründe

vorliegen, heißt doch aber nur, daß die Handlungsalternativen weder ge- noch verboten, also

erlaubt sind – nach Otts Definition gerade kein Spezifikum eines „dritten Falles“.

»Status-quo-minus«-Fälle (als Einzelfall unproblematisch, aber wenn es alle tun, ein

Normverstoß) sind mit Normausnahmen verwoben (die ebenfalls – so Otts Erläuterung dieses

Problems – bei massenhafter Inanspruchnahme die Norm desavouieren), sie betreffen nämlich

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beide kumulative Effekte. Solche Effekte lassen sich als normativ relevante Fälle in eine

Normenkollision überführen (die Erlaubnis des Einzelfalls hängt gewöhnlich an bestimmten

Freiheitsrechten). Die Vermeidung solcher Effekte erfordert schlicht „intelligente Normen“,

Zugangsregelungen o.ä., also eine Normfortbildung bzw. eine organisationelle Umsetzung

(„Institutionalisierung“). Ein eigenständiges Abwägungsfeld eröffnet sich hier nicht.

Fünftens gebe es Abwägungs-Nicht-Abwägungs-Fälle, denn:

„Ein letzter Falltyp liegt vor, wenn das Verhältnis von Abwägungsspielraum und normativerSchranke unklar ist, es also »abgewogen« weden muß, ob abgewogen werden darf.“ (682)

Dieser Abwägungstyp ist höherstufig. Unterstellt wird von Ott hierbei, daß die »Abwägung«

im Streitfall auch wirklich eine Abwägung sein kann. Nach Otts Definition geht dies nicht,

denn bei diesem Falltyp ist doch die Erlaubnis mindestens einer der Handlungsoptionen

strittig.

Ein (allerletzter) sechster Fall betrifft die häufig auch explizit anzutreffenden »es-sei-denn«-

Ausnahmeklauseln bei Ge- oder Verboten. An sich unproblematisch, könne jedoch das

entsprechende Schaffen von Präzedenzfällen, auf die andere sich dann massenhaft berufen

können, dazu führen, daß z.B. „eine Naturschutznorm gleichsam den »Tod durch tausend

Ausnahmen« stirbt“ (682). Dies sei bei einer Abwägung zu berücksichtigen. Die Struktur

dieses Problems entspricht, wie oben erwähnt, dem »status-quo-minus«-Falltyp.

Meine Strategie der Sortierung von Otts indistinkter und inhomogener Liste ist von folgender

Überlegung geleitet: Damit eine Abwägung „normativ relevant“ sein kann, müssen im

fraglichen Fall wenigstens potentiell eine oder mehrere Normen verletzt werden. D.h., es muß

die Verletzung einer (möglicherweise) gültigen Norm (mehr oder weniger) sicher sein. Damit

haben wir vier Kategorien: (1) Die sichere Verletzung einer sicher gültigen Norm (direkte

oder indirekte Kollision; s.u.), (2) die unsichere Verletzung einer sicher gültigen Norm

(empirische Unsicherheit), (3) die sichere Verletzung einer möglicherweise gültigen Norm

(normative Unsicherheit), und (4) die unsichere Verletzung einer unsicheren Norm

(empirische und normative Unsicherheit). Auch empirische Unsicherheit, und nicht nur

normative Unsicherheit (wie Ott auf S. 681 behauptet; vgl. obiges Zitat), kann also in

Abwägungsprobleme führen.

Beispiele für Kategorie (1) haben wir bereits weiter oben kennengelernt (Notlüge etc.).

Kategorie (2) tritt regelmäßig bei Unsicherheiten in der Subsumtion unter Regeln auf – wo

also (in der ottschen Konzeption) Normen-Anwendungsdiskurse kein klares Ergebnis bringen

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- 316 - -

(A1b). Kategorie (3) betrifft unklare (oder fehlende) Ergebnisse von Normen-

Begründungsdiskursen (A1a), und Kategorie (4) die Kombination aus (2) und (3).

Offensichtlich läßt sich eine evtl. Unsicherheit darüber, ob eine Abwägung überhaupt erlaubt

ist (Otts vierter Punkt), unter Kategorie (3) oder gar (4) fassen, denn wenn nicht abgewogen

werden darf, ließe sich ja eine entsprechende Norm finden oder formulieren, die genau dies

sagt. Aber auch die Normausnahmen (Otts fünfter Punkt) und die Moral-Außermoral-Fälle

können unter diese Kategorien fallen: Hier ist ja seitens der Norm unklar, ob der Fall wirklich

unter die Norm fallen soll oder nicht.

Ich möchte aber gerade den ersten Punkt doch einmal aufgreifen und näher untersuchen: Was

heißt „die sichere Verletzung einer sicheren Norm“, und ist die Notlüge wirklich ein gutes

Beispiel? Betrachten wir die von Kant bzw. Constant konstruierte Situation, dann zeigt sich

nämlich eine intrinsische Asymmetrie, die möglicherweise ein Grund dafür sein könnte, mit

einer Notlüge vorsichtig zu sein: Denn im Augenblick der Lüge ist klar, daß ein moralisches

Gebot verletzt wurde, ob aber das Hilfegebot überhaupt einschlägig ist, hängt von (nie

hundertprozentig gewissen) empirischen Sachverhalten ab. Ob der Mörder den Unschuldig

verfolgten auch dort findet, wo ich ihn vermute, kann ich ja nie völlig sicher wissen: Sei es,

daß er den Ort von sich aus gewechselt hat, sei es, daß andere ihn warnen, ein Mörder sei an

meiner Haustür und ich würde ja bekanntlich nicht lügen, usw. J. P. Sartre greift in seinen

Erzählungen eine Überlegung auf, die sich bereits bei Kant findet, und führt einen

unglücklichen Menschen vor, der auch unter Todesdrohung seinen Freund nicht verraten

wollte und einen anderen als den ihm bekannten Aufenthaltsort angab. Wie groß war sein

Schreck, als er erfuhr, daß er dadurch sein Leben gerettet hatte, da die Häscher seinen Freund

tatsächlich an dem von ihm angegebenen Ort gefunden hatten!

Vielleicht ist daher eine Situation ein besseres Beispiel, in der man nur die Wahl hat zwischen

einer Lüge „aus Höflichkeit“ und einer Beleidigung: Doch auch hier weiß ich genau, daß ich

lüge (wenn ich lüge), was aber jemand als Beleidigung auffaßt, nicht mit derselben Sicherheit.

Wo unterschiedliche Normen also konfligieren, ist ihre Verletzung also in der Regel

unterschiedlich unsicher (wenn auch häufig sicher genug, daß die geringere

Wahrscheinlichkeit kein gutes Argument für eine Verletzung darstellt).

Kriterien der Abwägung

Natürlich ist durch eine Aufzählung der Fälle, in denen eine Abwägung erforderlich wird, das

eigentliche Problem noch nicht einmal berührt: Nach welchen Kriterien sollte denn nun eine

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Abwägung vorgenommen werden (denn ohne explizite Kriterien wäre ja hier alles möglich,

wie Ott richtig herausstellt)? Ott faßt die Anforderungen in einer Liste zusammen:

Fallspezifisch (aber nicht rein kasuistisch, da „verallgemeinerbare“ Kriterien bzw. Regeln ja

anzugeben sind) muß sie sein, das Problem der (Nicht-)Separabilität (bei kumulativen

Wirkungen von Einzelhandlungen) und das Problem der Inkommensurabilität des

Abzuwägenden („Güter, Interessen, Konsequenzen, Normen, Rechte, Loyalitäten,

Solidaritäten usw.“, 685) beachten, unparteilich natürlich (d.h. „sorgsam“ und „unter

Beachtung aller relevanten Umstände“, d.h. beim Naturschutz etwa unter Berücksichtigung

der Erträge der Ökologischen Ethik und der Naturschutzforschung, 686). Diese

Anforderungen sind zunächst vage gehalten, sie werden im folgenden präzisiert.

Zu unterscheiden seien in der Literatur im wesentlichen zwei Abwägungskonzepte, die Ott

beide für ungeeignet hält: Die „judgement“- und die „calculation“-Konzeption.

»judgment« und »calculation«

Erstere, in der Tradition der aristotelischen Phronesis stehend, hätte „den Nachteil, daß

Willkür und Beliebigkeit, Strategie und Gerissenheit entweder nicht ausgeschlossen oder aber

nicht nachgewiesen werden können“, wodurch der Verdacht erweckt wird, daß „Abwägungen

im judgement-Konzept letztlich ins strategisch ausnutzbare Belieben des Abwägenden gestellt

seien“ (689). Zudem beziehe sich die phronesis „nicht auf Ziele, sondern auf etwas, das zum

Ziele führt (ta pros ta tele). Dabei setzt Aristoteles die Moralität bzw. Tugendhaftigkeit der

Zwecke schon voraus: »Die Tugend sorgt für das richtige Ziel, die Klugheit für die richtigen

Mittel«“ (ebd.; Unterzitat ungekennzeichnet, wahrscheinlich aus der nikomachischen

Ethik).191

„Um diese Bedenken auszuräumen, müssen im judgement-Konzept mindestens a) subjektivePräferenzen von einem transsubjektiven Vorrang unterschieden, b) die phronesis von derGerissenheit abgegrenzt und c) expertokratische Gefahren abgewehrt werden können. Ich weißnicht, ob man mit Hilfe des von Aristoteles entwickelten Begriffs der phronesis diese Bedenkenausräumen kann und welche interpretatorischen Leistungen hierzu vonnöten sind. Dies ist eineFrage an Aristoteles-Experten. Wie immer die Antwort ausfallen mag, in den genannten Bedenkentragen wir implizit unsere Bedingungen an die aristotelische phronesis-Konzeption heran.“ (689f.)

191 Das gewöhnlich gegen Phronesis-Ethiken geltend gemachte Argument ließe sich hier anschließen: Daß diesevorausgesetzten Ziele diejenigen eines konkreten Gemeinwesen, der polis, seien, die die phronesis als gelebteSittlichkeit (und daher notwendig partikular) orienteren und daß sie von daher höchstens für Ethiken der (imKohlberg-Schema) konventionellen Stufe, nicht jedoch für postkonventionelle Ethiken tauge, die nicht mehrfraglos auf ein spezielles Ethos, gelebt und aktualisiert von den alt-erfahrenen Phronimoi, zurückgreifen könnenund wollen, deren Anwendungskunst wir nicht methodisch erfassen, sondern nur bestaunen können.

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Gestützt wird dieses Urteil im wesentlichen durch die Phronesis-Interpretation von Th. Ebert

(Ebert 1995). Doch ohne ein Aristoteles-Experte sein zu müssen, läßt sich bereits bei Ott ein

Zitat finden, das die Überzeugungskraft dieser Aristoteles-Interpretation schwächt, nämlich

auf (Aristoteles 1992: 1140a). Dort heißt es genauer:

„Über die sittliche Einsicht [griech. phronesis; NG] können wir dann einen klaren Begriffgewinnen, wenn wir erwägen, welche Menschen wir als Träger dieser Einsicht bezeichnen. Nun,als Merkmal des Menschen mit sittlicher Einsicht gilt, daß er fähig ist, Wert oder Nutzen für seinePerson richtig abzuwägen, und zwar nicht im speziellen Sinn, z. B. Mittel und Wege zuGesundheit oder zu Kraft, sondern in dem umfassenden Sinn: Mittel und Wege zum guten undglüchlichen Leben. Ein Zeichen dafür ist, daß wir von sittlicher Einsicht auch bei denen sprechen,die sie in bezug auf eine bestimmte Einzelheit bekunden, wenn sie sich also klug abwägendverhalten haben in Hinsicht auf ein wertvolles Endziel, vorausgesetzt, daß dies nicht zu denengehört, die in den Bereich eines praktischen Könnens fallen. Folglich gilt auch in demumfassenden Sinn: sittliche Einsicht hat der, welcher die Fähigkeit zu richtiger Überlegungbesitzt.“

Zum wertvollen Endziel lesen wir wenig später:

„Denn das Hervorbringen [griech. poiesis; NG] hat ein Endziel außerhalb seiner selbst, beimHandeln [griech. praxis; NG] aber kann dies nicht so sein, denn wertvolles Handeln ist selbstEndziel. Aus diesem Grunde glauben wir, daß Perikles und Männer seiner Art sittliche Einsichthaben, weil sie nämlich einen Blick dafür besitzen, was für sie selbst und für den Menschenwertvoll ist. Einen solchen Blick schreibt man denen zu, die in der Verwaltung des Hauses und desGemeinwesens tüchtig sind.“

Aritstoteles bezieht hier also die Klugheit nicht nur auf die kluge Mittelwahl für kontigente

Handlungsziele, sondern auch auf die „Mittel und Wege zum guten und glücklichen Leben“

(dies zitiert Ott selbst), d.h. auf die praxis. Verwalter des Gemeinwesens, Staatsmänner,

Hausverwalter – diese sind doch keine rationalen Egoisten, wie Ott uns glauben machen will.

Das für eine Person gute und das für die Polis gute fiel bei Aristoteles noch zusammen.

Allenfalls kann hier aus Sicht des Deontologen eine Orientierung auf das gute Leben und

nicht auf normative Zusammenhänge bemängelt werden, auf Güter, Tugenden o.Ä. – doch

man beachte: „für sie selbst und für den Menschen“. Damit ist eine universalistische

Aristotelesinterpretation möglich (Höffe; Nußbaum).

Die Abgrenzung zur Gerissenheit, die Ebert und mit ihm Ott nicht erkennen, kommt in

folgender Passage zum Ausdruck:

„Es gibt bekanntlich eine Fähigkeit, die man als »intellektuelle Gewandtheit« bezeichnet. Für sieist es charakteristisch, daß sie das auf ein gegebenes Ziel Hintendierende zu tun und zu treffenvermag. Ist nun das Ziel gut, so verdient solche Gewandtheit unsere Anerkennung, ist es schlecht,so haben wir es mit Gerissenheit zu tun. Daher sagen wir ja auch von einsichtigen Menschen, sieseien »gerissen« oder »gewandt«. Sittliche Einsicht ist mit dieser Fähigkeit nicht identisch, abersie existiert nicht ohne sie.“ (Herv. NG)

Nur das »kluge« Streben nach schlechten Zielen wird hier als Gerissenheit bezeichnet. Selbst

mit der Gewandheit, die ja immerhin nach guten Zielen strebt, ist mit der phronesis nicht

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identisch. Das Problem liegt nämlich darin, daß jener das Ziel vorgegeben ist, während diese

auch die Ziele noch unter Aspekten ihres Beitrags zum guten und glücklichen Leben

insgesamt reflektieren muß (s.o.). Dies führt dann auf die Mesoteslehre.

Ob diese Aristoteles-Interpretation plausibler ist als die von Ebert, kann angesichts der

Ottschen Bedenken dahingestellt bleiben. Wichitg ist, daß nun diesen (richtigen) Bedenken

Rechnung getragen werden kann. Ohne bisher eine ausführliche Aristoteles-Interpretation

vorgelegt zu haben, hat C. Hubig den Aristoteles im oben ausgeführten Sinne verstanden: Er

interpretiert die Überlegungen bei Aristoteles nicht nur als gerissene Mittelwahl, sondern

versucht, die Mesoteslehre auszudeuten und die systematischen Verbindungen der klugen

Mittelwahl auf das Verfolgen-Können von Zielen (Handeln-Können) überhaupt

herauszuarbeiten. So können die Grenzen vernünftigen Handelns im Umriß erkennbar

werden:

„Die lapidare Auskunft des Aristoteles, daß die Grenzen durch die Aufgabe, Mangel und Überflußzu vermeiden, gegeben seien, mag zunächst enttäuschen. Tatsächlich haben wir nämlich kein Maßfür "Übermaß" und "Mangel". Wir erkennen beides - nach Aristoteles - lediglich an seinerEigenschaft, allgemeines Handeln zu verunmöglichen, und zwar durch die Folgelastenentsprechender Zielverfolgung, modern gefaßt z. B. als die Sachzwänge des Amortisationsdrucks,des Krisenmanagements, der Notwendigkeit kurzfristiger Bedarfsdeckung etc..“ (Hubig 1996,Herv. i. Orig.)

Allgemein wird, und diese Kennzeichnung findet sich auch in Otts Praxisbegriff wieder, die

Praxis (im Gegensatz zur Poiesis) als diejenige Handlung verstanden, die ihr Ziel in sich

selbst hat; es ist für Hubig damit gerade die Praxis, welche auf den Erhalt der

Handlungsfähigkeit überhaupt abzielt. Nach Hubigs Auffassung ist die Praxis/Poiesis-

Unterscheidung keine extensionale; Praxis und Poiesis sind Aspekte ein und derselben

Handlung. Nach einem recht einfachen Handlungsmodell (in dem der Handelnde äußere

Optionen ergreift, die im Lichte von Vermächtnissen identifizert und evaluiert werden)

erfordert dies die Wahrung von „Options-“ und vor allem von „Vermächtniswerten“ (ebd.).192

Diese „moderne“ Phronesis-Interpretation erlaubt nun, in Anwägungssituationen zusätzliche

Aspekte zu gewinnen, an denen eine Entscheidung sich orientieren kann. Solche Aspekte

wirken sind in den Rahmen einer deontologischen Moralkonzeption integrierbar bzw. schon

integriert, da doch der Erhalt u.a. der eigenen Handlungsfähigkeit geboten ist, um positiven

moralischen Pflichten auch zukünftig nachkommen zu können (Hilfegebot etc.; dies schon bei

192 Die Begründung des Vorrangs von Vermächtnis- vor Optionserhalt ist handlungstheoretisch durchauseinleuchtend: Optionen können (im Prinzip, z.B. langfristig) geschaffen werden, wenn die Vermächtnisse unddamit die Situationsinterpretationen stimmen, aber nicht umgekehrt. Optionen ergreifen zu können, setzt ihreIdentifikation als Optionen voraus.

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Kant – s.o.). In einigen Fällen werden diese Aspekte eine Entscheidung erleichtern, in anderen

werden sie neue Konflikte erzeugen: Denn wie, wenn meine Handlungsfähigkeit gegen die

Handlungsfähigkeit anderer Personen steht, wenn also Optionen nicht auf allen Feldern (und:

für alle Personen) gleichzeitig offengehalten werden können bzw. wenn eher meine oder eher

die Vermächtnisse der anderen gepflegt werden müssen? In solchen Fällen muß, im Rahmen

einer Moral, darauf bestanden werden, daß nicht der eigene (individuelle oder kollektive)

Vorteil gesucht wird.193 Da Hubig sein Konzept wesentlich als Ethik institutionellen Handelns

versteht, welches Handlungsmöglichkeiten gestaltet, heißt dies: Daß die bereitgestellten,

optioneneröffnenden Mittel und Vermächtnisse einen gleichen (oder wenigstens einen fairen)

Wert194 für all die haben sollen, die von der Gestaltung dieser Spielräume betroffen sind.

Die „calculation“-Konzeption der Abwägung kommt hingegen ohne eine Bindung an ein

Ethos aus und steht auch nicht von vornherein in dem Verdacht, die Suche nach dem eigenen

Vorteil nur notdürftig zu bemänteln. Ott sieht ihr Hauptproblem zurecht in der Konstruktion

eines ethisch relevanten Nutzenbegriffs, d.h. darin, wie verschiedene Nutzendimensionen

identifiziert, intrapersonal kommensurabel gemacht und schließlich interpersonal verglichen

werden sollen. Das utilitaristische Kalkül ist daher „ein Mythos“, wie Ott mit J. Mackie

feststellt (693).

Ott präsentiert also eine immanente Kritik an Klugheits- und Kalkulationsvorstellungen der

Abwägung, ohne von „knock-down arguments“ Gebrauch zu machen, mit denen gerade der

Utilitarismus gerne konfrontiert wird. Wie wir gesehen haben, können die Bedenken gegen

das Klugheitskonzept unter einer alternativen Aristoteles-Interpretation ein Stück weit

entkräftet werden. Das Kalkulationskonzept wird weiter unten in sein partielles Recht gesetzt

werden.

Kriterien juristischer Abwägung

Eine diskursive Lösbarkeit von Abwägungsproblemen im Anschluß an diese Kritik einfach

nur zu postulieren, ist Ott zu wenig. Einfach nur von „Abwägungsdiskursen“ zu sprechen,

ohne methodisch zu klären, was in ihnen vorgehen soll und darf, hieße: „Man beteiligt sich an

193 Wenn hierbei z.B. in der Analyse des Rettungsboot-Dilemmas der kluge Rat gegeben wird, doch einige deranderen Personen über Bord zu werfen, um die eigene Handlungsfähigkeit wiederzugewinnen, ist die Differenzzur Ebertschen Gerissenheit nur noch schwer erkennbar und der Verdacht wohl naheliegend, daß dieunmoralische Realisierung des eigenen Vorteils bloß noch klugkeitsethisch überhöht wird.194 Im Sinne des »fairen Werts der Freiheit«, von dem Rawls, Dworkin und andere amerikanische Autoren derpolitischen Philosophie sprechen.

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der Degeneration des Diskursbegriffes zum Jargon […]“ (694) In einer diskursiven

Abwägungskonzeption müsse „der Abwägungsspielraum durch rational nachvollziehbare

Begründungen geschlossen werden“ (695) – und am ehesten werde man hierzu noch in den

juristischen Abwägungskonzepten fündig. Ott stützt sich explizit insbesondere auf Alexys

Konzeption der graduellen Erfüllung von Prinzipien, welches wir oben bereits kurz

kennengelernt haben. Er betont jedoch nicht die (bei Alexy recht deutliche)

Erfüllungssummenmaximierung, vielleicht wegen der offensichtlichen Nähe zur

„calculation“-Konzeption; ihm geht es ja um Abwägungen im Bereich des normativ

Erlaubten: „Es geht im Recht also nicht darum, einen abstrakt-allgemeinen Rangunterschied

zwischen Grundrechten, Gütern, Belangen oder Interessen zu behaupten, sondern

(gradualistisch) darum, das jeweilige Ausmaß zu berücksichtigen, in dem ein Rechtsgut

berührt ist.“ (695) Und zwar im jeweiligen Entscheidungsfall. Zudem sei eine „praktische

Konkordanz“ gefordert derart, daß nicht immer die gleichen Güter zurücktreten (vgl. die

erwähnten Status-quo-minus-Strukturen im Naturschutz). Besteht ein entsprechender

Verdacht, lassen sich etwa Beweislasten anders verteilen. „Ferner kennt das Recht [das]

»Ausweichprinzip«, [das] »Ausgleichsprinzip«, das »Prinzip des schonendsten Mittels«, das

»Entschädigungsprinzip« sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.“ (697) Erläuterung

erfordern wohl die beiden ersten Prinzipien: Das »Ausweichprinzip« „besagt, daß ein

höherrangiges Interesse, das sich anderweitig befriedigen läßt, »ausweichen« muß, wenn das

entgegenstehende geringwertigere Interesse nicht ausweichen kann.“ (ebd.) Und das

»Ausgleichsprinzip« fordert eine Kompromißbildung: „Jede Konfliktpartei muß sich eine

verhältnismäßige Zurücksetzung oder Einschränkung ihrer Interessen gefallen lassen, damit

beide Rechtsgüter miteinander bestehen können. Konträre Interessen sollen eine mäßigende

Wirkung aufeinander auswirken.“ (ebd.)

Ott könnte mithin stärker herausstellen, daß auch in das juristische Modell

Kalkulationselemente einfließen. Gerade die „Verhältnismäßigkeit“ wird häufig in

ökonomischen Kategorien gemessen. Hier werden Nutzen und Schaden dann genauso

verrechnet, wie es das Kalkulationskonzept vorgibt. Die Formulierung von entsprechenden

Prinzipien, Ott nennt diese als Philosoph lieber „Kriterien“, ist sicher ein wichtiger Schritt auf

dem Wege der „Rationalisierung“ des Abwägungsproblems. Insbesondere trägt diese

Abwägungskonzeption der Tatsache Rechnung, daß die real vorliegenden Problemsituationen

eine unendlich größere Komplexität aufweisen als diejenigen moralisch-didaktischer

Beispielwelten.

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Was Ott jedoch nicht diskutiert, ist die Frage nach der Übertragbarkeit von Prinzipien des

Rechts in die Sphäre der Moral. Wenn im Recht von Interessen die Rede ist, legt dies eine

ganz bestimmte Konfliktsituation nahe, nämlich eine solche, wo sich zwei Parteien

gegenüberstehen und in ihren Interessen (d.h. denen der jeweiligen natürlichen oder

juristischen Person) betroffen sehen. Moralische Ansprüche sind aber nicht notwendigerweise

in den eigenen Interessen begründet (und zwar auch nicht in einem universalistischen Sinne,

also in den eigenen Interessen, die als legitime eigene Interessen allgemein

anerkennungswürdig sind).195 Hier ist also Vorsicht geboten. Doch gehen wir die einzelnen

Kriterien der Reihe nach durch.

1. »Das Ausmaß berücksichtigen, in dem ein Gut berührt ist«: Gewöhnlich werden Normen

als binär kodiert verstanden: Sie treffen im konkreten Fall entweder zu oder nicht (s.o.

Günther u. Alexy). Daß sich dieses Zutreffen manchmal „nur mehr schlecht als recht“

konstruieren läßt, allgemein also: dieses Zutreffen eine Sache des Grades ist, liegt (1.1) daran,

daß die hinter der Norm stehenden Bedürfnisse und Interessen in einem konkreten Streitfall

tatsächlich mehr oder weniger umfänglich berührt werden (etwa die Ausübung von

Freiheitsrechten für die eine Partei nur in bestimmten Situationen nicht mehr so möglich ist

wie vorher). Weiterhin (1.2), und das ist mit dem entsprechenden Rechtsprinzip

wahrscheinlich nicht mehr gemeint, ist jedoch auch auch die Beschreibung der

Konfliktsituation, die eine jeweilige Beurteilungsregel anwendbar erscheinen läßt, mehr oder

weniger „gewollt“. Eine solche Kritik betrifft die „Dehnung“ von Begriffen, die Übertreibung

von subjektiven Wichtigkeiten (bis hin zur Stilisierung von bestimmten Optionen zu

persönlichen Katastrophen), aber auch die Bemühung von weniger gut gesichertem

wissenschaftlichen Wissen oder von sehr weitgespannten und daher fragilen

Kausalzusämmenhängen.

2. »Praktische Konkordanz«: Sie verweist auf die wiederholte Entscheidung ähnlicher Fälle,

und das macht seine besondere Berechtigung aus. Gerade deshalb ist das Verhältnis zu den

anderen Prinzipien zu klären. Nur da, wo im jeweiligen Fall das höherrangige Interesse

ausweichen kann oder im fraglichen Fall kaum berührt ist (1.1), ist es m.E. legitim, auch nur

in einem einzigen Fall ein nachrangiges Interesse zu priorisieren. Da dem Naturschutz, Otts

Beispiel, häufig ökonomische Interessen entgegenstehen, ist ihr Ausweichen normalerweise

möglich, gerade wegen der in dieser Sphäre akzeptierten umfassenden Verrechenbarkeit

(Wege zur Gewinnerzielung gibt es viele). Individuelle Ungerechtigkeiten, wenn es also nicht

195 Ein Verbandsklagerecht etwa für Umweltgruppen wird jedoch seit längerem politisch gefordert.

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in allen Konkordanzfällen dasselbe Interesse derselben Person ist, das nun schon häufig

genug triumphieren durfte, können durch Entschädigungen korrigiert werden. Diese sollten in

erster Linie von denjenigen, deren Rechte priorisiert wurden, gegenüber denjenigen, deren

Rechte das Nachsehen haben mußten, erbracht werden. Hierbei sind die Konfliktparteien aller

bisherigen Fälle zu berücksichtigen: Frühere Priorisierungen waren ja letztlich nur legitim,

weil in diesem oder jenem Falle auch einmal die entgegengesetzte Position zum Zuge kam.

Wenn im konkreten Falle also einmal ein ökonomisches Interesse gegenüber dem Naturschutz

aus Konkordanzgründen das Nachsehen haben sollte, haben die Kompensationen nicht die

Vertreter der Naturschutzposition zu leisten, sondern die Nutznießer der bisherigen

Priorisierungen.

3. »Ausweichprinzip«: Dieses Prinzip kann wohl nur bei positiven Rechten greifen (und führt

dort zu einer echten Konfliktlösung) – doch wenn etwas aus Sicht einer Konfliktpartei

moralisch verboten ist, wie kann dieses Interesse dann »ausweichen«? Möglicherweise gelingt

dies durch die Wahl alternativer Mittel, die nicht mehr das ansonsten bedrohte anderweitige

Gut gefährden. Doch dies ist ja ein eigenes Prinzip (5).

4. »Ausgleichsprinzip«: Steht im Verhältnis zu (3) und (7). Zwischen moralischen

Verletzungen läßt sich i.A. schwerlich »ausgleichen«. Doch wo die gleichzeitige

Berücksichtigung von Interessen nicht möglich ist, kann ein Ausgleich auch in der Moral eine

adäquate Strategie darstellen. Dieses Prinzip muß noch nicht eine ökonomische

Verrechenbarkeit der konfligierenden Interessen unterstellen: Einschränkungen von Interessen

können in jeder „Münze“ oder auch qualititiv bestimmt werden (so die Konfliktparteien eine

gemeinsame Basis finden), oder auch rein formal z.B. als Verzicht auch die je beste und das

Ergreifen der (untereinander kompatiblen) je zweitbesten Optionen.

5. »Prinzip des schonendsten Mittels«: Gilt im Recht wie in der Moral gleichermaßen und

verweist darauf, daß auch der Mitteleinsatz juridisch/moralisch qualifiziert wird, und nicht nur

die Zwecke.

6. »Entschädigungsprinzip«: Folgt der gleichen Logik wie (4), jetzt jedoch unter verschärften

Bedingungen. Denn nun können keine gleichmäßigen Abstriche mehr gemacht werden in den

jeweiligen Kategorien der Konfliktparteien, sondern eine Entschädigung erfordert die

Unterstellung einer ökonomischen Verrechenbarkeit der Interessen untereinander. Im Prinzip

könnte eine solche in jedem Einzelfall stattfinden, in dem ein höherrangiges Interesse ein

anderes, gleichwohl berechtigtes Interesse verdrängt: Doch dies individuell vorzunehmen ist

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einerseits ein vielfach unangemessener Aufwand, und andererseits lassen sich gerade die

Belange der Naturschützer nicht vollständig monetär kompensieren. Im letzten Kapitel

werden im Zuge der Analyse von Mediationsverfahren einige Strategien der Kompensation,

d.h. der Umsetzung der Prinzipien (4) und (6) genauer untersucht.

7. »Grundsatz der Verhältnismäßigkeit«: Bezieht sich einerseits auf die Folgen rechtlicher

Sanktionen und andererseits auf (5), aber auch auf (4) und (6), kann aber auch höherstufig

angesetzt werden, um den Aufwand des Verfahren insgesamt am erwarteten Ertrag zu messen

(»Streitwert zu gering«). Moralische „Sanktionen“ gibt es zwar auch (Mißachtung), doch

diese hat nicht den instrumentellen Charakter, den die moderne Straftheorie den rechtlichen

Sanktionen zuschreibt (vgl. die Kritik von U. Wolf an E. Tugendhats Sanktionstheorie der

Moral in Wolf 1984). Doch der Grad der praktizierten Mißachtung kann neben der

Orientierung an der Schwere der Schuld und dem Verhalten der Schuldigen auch an den

Zielen der Resozialisierung usw. ausgerichtet werden.

Alle diese Prinzipien finden also ihren Platz auch in der Lösung moralischer Konflikte. Es

erscheint daher lohnend, einen Blick auf die Struktur dieses Abwägungs-Regelsystems zu

werfen, soweit es bisher entwickelt worden ist. Betrachten wir dazu einen analysierten

Interessenkonflikt (etwa als Teil eines komplizierteren Konflikts, der u.U. die analytische

Zerlegung in einzelne Interessenkonflikte erfordert hat). Die Regeln (1), (5) und (7) kommen

in jedem Falle zur Anwendung. Sie widerstreiten einander auch nicht, sondern ergänzen sich

in der gleichzeitigen Anwendung. Die Regeln (4) und (6) kommen nicht gleichzeitig zur

Anwendung: Entweder Ausgleich oder Entschädigung (und dabei wahrscheinlich: Ausgleich

vor Entschädigung). Regel (3) wiederum kommt nicht gleichzeitig mit (5) bzw. (6) zur

Anwendung, denn wo ausgewichen werden kann, ist weder Ausgleich noch Entschädigung

nötig. Regel (2) ist eine höherstufige Regel, da sie nicht den Einzelfall betrifft. Sie disponiert

über Regel (0), die ich hinzufügen will, welche eine Priorisierung des höherrangigen Gutes

fordert (derart, daß diese zwar mehrheitlich, aber u.U. nicht immer vorgenomen werden darf;

s.o.). Auch Regel (7) kann wie erwähnt ebenfalls als höherstufige Regel relevant werden.

In der folgenden Abbildung sind diese Verhältnisse graphisch dargestellt.

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Regel (2)

Regel (0)

Regel (3)

Regel (4) Regel (6)

Regel (1) Regel (5) Regel (7)

Abbildung 4

Ein juridisch-moralisches Regelsystem zur Abwägung von Einzelfällen. Die Oppositionen alternativerRegelanwendung sind durch Doppelpfeile markiert: Durchgezogen für Oppositionen in jedem Einzelfall,gestrichelt für Oppositionen nur in einem von mehreren Fällen. Wo die Anwendung einer Regel die eineranderen Regel nach sich ziehen kann, ist dies durch einfache Pfeile ausgedrückt. Die Regeln am unterenRahmenrand kommen immer zur Anwendung.

Dieses Abwägungsmodell kommt mir aus einem bestimmten Grund noch etwas eingeschränkt

vor: Es wird eine Situation unterstellt, wo sich Kläger und Beklagter gegenüberstehen und

dieser Konflikt, nach den geltenden Regeln, entschieden werden muß. Schon die höherstufige

Anwendung des Kriteriums (7) zeigt, daß dies nicht der Fall sein muß. Daneben, das

Verfahren einzustellen (a) hat das Rechtssystem zudem mindestens folgende Möglichkeiten:

(b) per einstweiliger Verfügung eine Situation herstellen, in der später entschieden werden

kann, (c) einen außergerichtlichen Vergleich vorschlagen, (d) die Frage an andere Instanzen

und letztlich den Gesetzgeber weiterreichen oder (e) seine Nichtzuständigkeit erklären, d.h.

die Frage als falsch gestellt zurückweisen; in allen diesen Fällen wird der Konflikt – aus

unterschiedlichen Gründen und bei (b) nur temporär – nicht durch Anwendung der

entsprechenden Normen gelöst.

In dem Schema von Abbildung 4 scheinen mir also die höherstufigen Kriterien zu kurz zu

kommen, nach denen wir über den Umgang mit dem Regelsystem oder mit einzelnen Regeln

disponieren. Ein erster Versuch, solche zu gewinnen, müßte zunächst die allgemeinen

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Strategien benennen, die hinter den oben genannten Möglichkeiten stehen und dann fragen,

ob diese im Bereich der Moral Äquivalente haben.

Allgemeiner sind die dazugehörigen Strategien: (a) (diesmalige) Nichtentscheidung, (b)

Moratorium, (c) informelle Einigung, (d) Umbildung des Regelsystems und (e) die

Nichtannahme zur Entscheidung qua Zurückweisung der Frage. In der Moral kann man sich

alle diese Überlegungen vorstellen: (a) Muß ich / müssen wir (im folgenden ist beides

gemeint) wirklich jetzt oder diesmal den Konflikt durchanalysieren, (b) lassen wir eine Option

lieber solange unergriffen, bis wir genaueres wissen (eine zum Umgang mit empirischer

Unsicherheit besonders geeignete Strategie), (c) können wir uns nicht auch im Ungefähren

treffen, (d) liegt das Problem nicht tiefer, (e) ist die Frage eigentlich eine moralische Frage?

Die Strategie (c) bedeutet im Rahmen einer Diskursethik etwa, nicht per Argumentation einen

Konflikt der Lösung näherzubringen, sondern durch eine alternative Praxis (Schlichtung,

Losverfahren, etc.).

Strategien des Dissensmanagments

In eine solche Richtung führen auch die von C. Hubig versammelten sechs „Strategien des

Dissensmanagments“ (1996; 1997b): Individualisierung; Regionalisierung;

Problemrückverschiebung; Moratorium; Prohibition und Kompromiß. Auf den Kompromiß

sind wir bereits eingegangen. Nicht aber auf die Individualisierung (jeder kann so Handeln,

wie er er für richtig hält); dieser Lösungstyp bedeutet, moralische Ansprüche bezüglich des

Handelns anderer Personen aus übergeordneten Erwägungen heraus (der Anerkennung seiner

Autonomie, seinem Recht darauf, eigene Vorstellungen des Guten zu verfolgen o.Ä.)

aufzugeben. Die Regionalisierung besteht im Kern darin, jeweils für bestimmte („soziale“,

„räumliche“, „kulturelle“, „ökologische“ etc.) Bereiche von Fällen eine andere Lösung

vorzunehmen. Dies ist gewissermaßen die kollektivistische Variante der Individualisierung,

wobei die Handlung jedoch nicht individuell/regional freigestellt werden kann oder soll. Hier

werden nicht primär moralische Ansprüche aus übergeordneten Erwägungen heraus

aufgegeben, sondern moralische Ansprüche auf bestimmte regionale Unterschiede hin

spezifiziert (vgl. das »Ausweichprinzip«).196

196 Hubig betont im Zusammenhang mit dieser Strategie den Übergang von der Inter- zur Transsubjektivität,„was bedeutet, daß eine Bindung für andere anerkannt wird ohne Bindungswirkung für mich“ (Hubig 1997; vgl.auch Fußnote 33). Dies kann ja wohl nie die Konsequenz aus bloßen räumlichen und ökologischen Differenzensein. Eher schon sind soziale und (paradigmatisch wohl) kulturelle Differenzen hier einschlägig.

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Während die Individualisierung als Schutz der Privatsphäre und Regionalisierung als die

Berücksichtigung regionaler Besonderheiten im Rahmen des Rechtssystems auf der Ebene der

Einzelentscheidungen wiederzufinden sind, sind das Moratorium und die

Problemrückverschiebung höherstufige Strategien, denen im Rechtssystem die (einstweilige)

Verfügung (a) und – in Ansätzen – der Weiterverweis an höhere Instanzen (d) entspricht.

Die Prohibition hingegen setzt funktionierende äußere Sanktionen voraus, also gewöhnlich

ein zwangsbewehrtes Recht. Sie markiert den Übergang vom Moral- zum Rechtssystem,

findet aber gleichwohl dort in Regel (0) ihren Niederschlag. Doch ist das Verbot wirklich eine

eigene Strategie zum Dissensmanagment? Entweder nehmen wir doch dieses Verbot nur

vorläufig vor, weil weiterer Klärungsbedarf besteht; dies ist ein Moratorium. Oder wir

nehmen es im Konsens vor, dann bleibt auch kein Dissens mehr zu managen. Ich werde diese

Strategie daher nicht weiter eigens erwähnen. Eine (von der unterlegenen Partei als richtig

eingesehene) Prohibition macht als zwangsbewehrte Entscheidung durchaus Sinn im Blick

auf zukünftige Handlungen oder zeitgleiche, strukturanaloge Konflikte, sie stellt sicher, daß

auch niemand anders diese individuell vorteilhafte Option sanktionsfrei realisieren kann, usw.

Jede diese Regeln und Strategien läßt sich im Konsens der Konfliktparteien verfolgen, wenn

die Urteilsgründe gemeinsam anerkannt werden. Auch ein Kompromiß kann, in einem

unverächtlichen Sinne, derart praktiziert werden, daß beide Seiten die Berechtigung sowohl

ihrer eigenen wie auch der entgegenstehenden Interessen zunächst anerkennen und sich dann

auf beiderseitig akzeptable Abstriche einigen – auf Basis von gemeinsam geteilten Gründen.

Die Strategien (1), (2) und (6) können laut Hubig auch unter nur transsubjektiver Einsicht in

die Berechtigung der entgegenstehenden Interessen bis hin zu deren völliger Opazität sinnvoll

verfolgt werden. Doch auch die anderen Strategien können aus je unterschiedlichen Gründen

für richtig gehalten werden; ich sehe hier keinen prinzipellen Unterschied.

Auch in den letztgenannten Situationen, wo also auf der inhaltlichen Ebene keine

intersubjektive Übereinstimmung erzielt werden kann (und die Kompromißfindung z.B. einer

strategischen Verhandlung gleicht), erfordert das Gelingen der Abwägung bzw. des

„Dissensmanagments“ eine Anerkennung der Anwendung der herangezogenen Regel als

adäquat zur Entscheidung des jeweiligen Falles (was sich wieder in Gründen fassen lassen

muß) und wohl auch der Basis des ganzen Unternehmens der gewaltvermeidenden

Konfliktlösung überhaupt. Deshalb erfordert Hubigs Dissensmanagment auch noch keinen

wirklichen Heroismus des „Aushaltens von Dissensen“, wie Stekeler-Weithofer 1995: 214

feststellt. Erst wenn auch keine partiellen Konsense (über Teilaspekte des Problems) und auch

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keine höherstufigen Konsense (über den Umgang mit dem verbleibenden Dissens, der u.U.

ausgehalten werden muß) mehr erzielbar wird, sollte man von einem echten „Aushalten“

sprechen.

Das Hubigsche Regelsystem des Dissensmanagments funktioniert etwas anders als die Regeln

juristischer Abwägung aus Abbildung 4. Seine Regeln stehen untereinander alle in

Opposition, d.h. man kann keine zwei von ihnen in derselben Hinsicht gleichzeitig

praktizieren, und es findet sich keine höherstufige Regel, die über die Anwendung anderer

Regeln disponiert. Sie sind für eine „Ethik der Beratung“, also im vorjuristischen Raum

entworfen, wodurch sie sich mit den juridischen Abwägungsregeln gut ergänzen; beide

Regelsysteme sollte eine Ethik der Beratung kombinieren können.

Normen- und Prinzipienkollisionen

Die Normenkollision wurde von Ott zwar als Abwägungsfall eingeführt, war aber unter seiner

Definition der Abwägungssituation (beide Optionen sind erlaubt) nicht zu verstehen. Bei einer

echten Normenkollision, so wohl die Idee, wird ein Rückverweis auf die Begründungsbasis

erfolgen müssen, wird also eine erneute Bemühung des Moralprinzips erforderlich. Doch wie,

wenn das Moralprinzip keine Entscheidung ermöglicht? Echte Dilemmata hält Ott zurecht für

unauflösbar; sie sind ja so definiert. Es gibt sie also! Vielleicht sollte man dann ein anderes

Moralprinzip bemühen? Wie aber, wenn moralische Ansprüche im Namen verschiedener

Moralprinzipien verschieden zu gewichten wären (und sich die Konfliktparteien auf diese

unterschiedlichen Moralprinzipien berufen)?

Um der Beantwortung dieser Frage näherzukommen, möchte ich eine Unterschiedung

verschiedener Kollisionstypen versuchen.

Der erste Fall besteht allgemein in einer Kollision von Regeln, für die es zwar eine Metaregel

gibt (das Moralprinzip), aber diese Metaregel die Kollision nicht auflösen kann – für die es

also keine wirksame Metaregel gibt. Ein erster Lösungsversuch besteht in der Suche nach

weiteren Situationsmerkmalen, die eine Entscheidung doch noch zulassen, da nun andere

Regeln zum Zuge kommen und den Konflikt entscheiden helfen können. Ein Beispiel einer

solchen Strategie, die Suche nach einem, je nach zugrundegelegter Regel unterschiedlichen

Erhalt der Handlungsfähigkeit wurde oben bereits gegeben. Ein zweiter Lösungsversuch

besteht in der Heranziehung einer anderen Metaregel, die zwischen den konfligierenden

Regeln entscheiden helfen kann (so könnte es für einen Utilitaristen vielleicht ein Argument

sein, daß ein Kantianer einen aus seiner Perspektive indifferenten Fall klar entscheiden könnte

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- 329 - -

– oder umgekehrt). Gelingt dies nicht, befinden wir uns in einer tragischen Situation, wo

beide Optionen wirklich gleich schlecht sind.197

Der zweite Fall ist eine Kollision von Regeln, für die unter verschiedenen Metaregeln

unterschiedliche Priorisierungen von Regeln vorgenommen werden müßten, d.h. für die es

widersprüchliche Metaregeln gibt (Metaregeln und Regeln kollidieren gewöhnlich nicht

direkt, sondern Metaregeln kollidieren bezüglich der Regelung (Priorisierung) von Regeln

und Regeln kollidieren bezüglich der Regelung (Beurteilung) von Fällen). Eine Lösung kann,

so möchte ich einmal eine Einteilung versuchen, nach dreierlei Strategien versucht werden:

Erstens könnten bereichsspezifische Vorrangregeln aufgestellt werden, zweitens könnten

generelle Vorrangregeln zwischen den Metaregeln entwickelt werden, und drittens könnte

zwischen Metaregeln (ob sie nun kollisieren oder nicht) aufgrund einer »rationalen

Theoriewahl« eine Entscheidung herbeigeführt werden.

1. Es ist offenbar, daß sich verschiedene Moralkonzeptionen auf verschiedene Typen von

Problemfällen spezialisiert haben (Ethiken Kantschen Typs etwa auf Probleme der Autonomie

der Handelnden). Soweit bestimmte Probleme typisch für bestimmte Praxisfelder sind, könne

danach eine Zuweisung der »passenden« Ethiken versucht werden. Ott (Ott 1996a: 74) stellt

hierzu nicht ohne Ironie fest:

„Eine utilitaristische Technik-Ethik könnte dann (möglicherweise) mit einer kontraktualistischenWirtschaftsethik, einer biorelationalen Umweltethik, einer pathozentrischen Tierethik, einerkommunitaristischen Sozialethik, einer interessenbasierten Bioethik usw. koexistieren.“

Seine Sympathie gehört der »rationalen Theoriewahl«. Einen ernster gemeinten Vorschlag

macht Hubig (Hubig 1995b: 30) innerhalb der Wirtschaftsethik, wo eine Kantische

Führungsethik, eine utilitaristische Produkt- und Produktionsethik, eine fernethische

Branchenethik, eine diskursethische Volkswirtschaftsethik und eine gerechtigkeitsethische

Weltethik nebeneinander gestellt werden. Auch die von Kettner (s.o.) angesprochene

fallbezogene Argumentation über die Anwendung verschiedener moralphilosophischer

Konzeptionen macht nur dann Sinn, wenn sich eine fallbezogene Anwendbarkeit behaupten

läßt.

197 Eventuell läßt sich der Erhalt der Handlungsfähigkeit auch als Metaregel auffassen; dann träte dieBerücksichtigung von Praxis-Aspekten nicht zu einer Beurteilung einer Handlungsweise hinzu, sonderndominiert die Abwägung zwischen unterschiedlichen Handlungsalternativen. Dies ist vielleicht weniger absurd,als es scheinen mag: „Handle so, daß Du stets die Handlungsfähigkeit Deiner selbst und aller anderen Personenweitestgehend erhältst und beförderst.“

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- 330 - -

Zur Rechtfertigung eines solchen Vorgehens gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir

überstellen die Zuweisung „passender“ Ethiken in das Belieben der Adressaten, oder wir

orientieren es an Gründen, die für diese (und für uns) einleuchtend sind. Beide

Vorgehensweisen können für sich in Anspruch nehmen, einen moralischen Paternalismus

vermeiden zu wollen, aber letztere ist im Rahmen einer Diskursethik offenbar vorzuziehen.

Wenn letztere zudem nicht auf transsubjektive Argumente (wie etwa, diese Adressatengrupe

ziehe dieses ethische Konzept aufgrund einer jahrhundertealten Tradition – aber auch nur

deshalb – vor, und deshalb sind im Rahmen derselben gewonnene Ergebnisse „richtig für

sie“), sondern auf intersubjektive Gründe aufbaut, läßt sich u.U. eine Typik von

Anwendungsbereichen und je passenden Ethiken entwickeln. (Vorzugsweise, aber nicht nur

gelingt dies, wenn die nachfolgende Strategie erfolgreich ist – vgl. Kettners Beipiel, hier in

Fußnote 174)

2. Eine zweite Möglichkeit wäre die Entwicklung von generellen Vorrangregeln in Reflexion

auf zur Anwendung des Prinzips je vorauszusetzende Anerkennungsakte. So läßt sich zeigen,

daß Präferenzerfüllungsethiken (wie z.B. der Präferenzutilitarismus) die Autonomie der

Konfliktparteien insoweit voraussetzt, als die Befriedigung von Präferenzen ihren Trägern

nicht schadet. Die Unterstellung der Verrechenbarkeit der Präferenzerfüllungen ist zudem nur

da gegeben, wo sowohl ihre Erfüllung als auch ihre Nichterfüllung als prinzipiell moralisch

erlaubt angesehen wird (vgl. Otts obige Bemerkungen), usw. Im Anschluß an P. Werhane und

H. Lenk hat C. Hubig eine Art Voraussetzungspyramide verschiedener Ethiken aufgezeigt,

die solche Voraussetzungsreflexionen spiegelt (Hubig 1993).

Gelingt dies, erhalten wir eine wenigstens teilweise hierarchische Struktur (nicht notwendig

eine Pyramide). Es ist außerdem nicht notwendig, daß sich die Praxisbereiche angewandter

Ethik oder gar die einzelnen Anwendungsfälle so zuordnen lassen, daß immer genau eine

Ethik einschlägig ist.

3. Last but not least bestünde die Möglichkeit zu versuchen, Kriterien einer „rationalen

Theoriewahl“ auch für normative Theorien (Ethiken) zu entwickeln. Ott scheint diesen Weg

zu präferieren – Ziel ist dann der Erwies der relativen Überlegenheit einer Ethik (bei Ott: der

Diskursethik). Er führt folgende acht Kriterien an (Ott 1996a: 76):

(1) Relevanz für möglichst viele Praxisbereiche

(2) Bezug auf eine Meta-Praxis (dies hat (1) zur Folge)

(3) Kompatibilität mit moralischen Grundüberzeugungen

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- 331 - -

(4) Kompatibilität mit wissenschaftlicher Rationalität

(5) interne Widerspruchsfreiheit

(6) interne Ableitungsstärke hinsichtlich des Moralprinzips

(7) wenige oder keine notgedrungenen Anleihen bei konkurrierenden Ethikkonzepten

(8) konsistenter Bezug zu einer metaethischen Theorie

Ott meint, zuerst die »schwachen« Ethiken »ausmustern« zu können: „Situationismus,

Aktutilitarismus, Sozialdarwinismus, ökozentrische Ethiken“. Insbesondere mit (7) ließe sich

dann der Konsequentialismus und der Kommunitarismus ausschalten, so daß nur

universalistische Deontologien übrigbleiben („Kant, G. M. Singer, Rawls, Gewirth,

Habermas“ und „Gert“). Unter Berücksichtigung aller Kriterien sieht er schließlich die

Diskursethik als Sieger hervorgehen. Er glaubt sogar, „daß man kein neues unabhängiges

Kriterium einführen kann, das die Diskursethik aus dem Rennen wirft, ohne daß dadurch

konkurrierende Ethiken mitbetroffen sind“ (ebd.: 79). Da diese Überlegungen aber von ihm

nicht wirklich ausgeführt werden und auch hier schlicht den Rahmen sprengen würden, muß

ich dies als bloße Behauptung ungeprüft stehenlassen. Mit Wingert (s.o.) ließe sich ein

neuntes Kriterium hinzufügen, das jedenfalls eine Stärke der Diskursethik darstellt: Ihre

reflexive Offenheit für Kritik an der jeweiligen Darstellung moralischer Ansprüche (durch

den Ethiker oder die anderen Konflikt-Beteiligten), der angemessenen Anwendung von

Handlungsbeurteilungsregeln und – als rationalistisch-kognitivistisches Rahmenkonzept – der

Kritik an den Voraussetzungen der objektstufigen Diskursethik (s.o. am Ende des

Begründungskapitels):

(9) Reflexivität

Ott glaubt, daß diese Theoriewahl das „Wahrheitsmoment“ aufheben kann, das in der vorher

erwähnten Bereichzuweisung der Ethiken steckt. Doch warum sollte eine solche

Bereichszuweisung, auch wenn sie im Kern eine bloße Negativauswahl darstellt (also zeigt,

welche Konzepte mit einem bestimmten Praxisfeld unverträglich sind), zugunsten einer

einheitlichen Theorie aufgegeben werden? Entweder es kann die Überlegenheit einer Ethik

auf wirklich allen Feldern gezeigt werden, oder eine Bereichszuweisung bleibt eine sinnvolle

Option.

Führt man diese Gedanken weiter, kann vielleicht auch hier ein (nun höherstufiges)

»Dissensmanagment« angesetzt werden. Die erste Strategie zerfiel nämlich in die

Unterstrategien der Individualisierung bzw. der Regionalisierung. Die dritte Strategie liegt

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- 332 - -

nahe bei der Problemrückverschiebung, auch ein Moratorium läßt sich vorstellen (vielleicht

auch ein Verbot, etwa einer nationalsozialistischen Rassen-„Ethik“). Ein Kompromiß könnte

darin bestehen, das sich die je Betroffenen ihre moralphilosophischen Konzepte wechselseitig

zugestehen und im Rahmen je ihrer Konzepte (wozu sie sie im Ansatz verstehen können

müssen) nach den geringsten Abstrichen für beide Parteien suchen.

Den Rahmen für derartige Strategien kann (einmal mehr) eine Diskursethik, verstanden als

rationalistisches Rahmenkonzept, abgeben. Sowohl Kettner als auch Wingert preisen als

Vorteil der Diskursethik gerade, daß in ihrem Rahmen verschiedene moralphilosophische

Theorien versuchsweise zur Beurteilung eines Falles herangezogen werden können. Es

können verschiedene moralische Einheitsfoki (Kettner) bzw. verschiedene moralische

Ordnungsgesichtspunkte (Wingert) angesetzt und auf ihre problemerhellende Kraft hin

getestet werden. Auch bei Ott findet sich dort, wo er Kriterium (2) der oben gegebenen Liste

diskutiert, eine Bemerkung, die sich in diesem Sinne (gegen den Strich) interpretieren läßt:

„Man löst das zentrale Strukturproblem [der Pluralität verschiedener Moralprinzipien, N.G.]mithin, indem man mittels eigens zu legitimierender Kriterien die Wahl zwischenunterschiedlichen Ethiken durchzuführen sucht. Da dies aber nur im Medium rationalerArgumentation möglich ist, setzt man für diese Wahl die Meta-Praxis der Argumentation bereitsvoraus (Apel). Daraus folgt aber nicht per se die Wahl der Diskursethik, da man auch zugunsteneines liberalistischen Kontraktualismus oder eines Regelutilitarismus argumentieren kann. DasArgumentationsprinzip impliziert also nicht die Diskursethik.“ (Ott 1996a: 76)

Ott meint im letzten Satz die Diskursethik im Habermasschen Sinne, die zur Auszeichnung

materialer Inhalte die Durchführung von realen Diskursen unter den Betroffenen fordert (vgl.

Otts Ausführung des Begründungsprogramms). Doch die Meta-Praxis der Argumentation

wird in jedem Falle vorausgesetzt. Ott scheint nun der Meinung, man könne die Wahl als

metaethische Theoriewahl, d.h. im Rahmen eines theoretischen philosophischen Diskurses

führen. Doch gerade sein Kriterium (3) zeigt ja, daß für die Durchführung einer solchen Wahl

die Berücksichtigung der Ergebnisse der Anwendung einer Ethik vonnöten ist, die

Entscheidung also nicht als allein moralphilosophischer oder theoretisch-philosophischer

Diskurs möglich ist.

Eine Diskursethik als Rahmenkonzept würde auch dadurch nicht hinfällig, sondern bleibt eine

adäquate Ethikkonzeption, wo angesichts der Kollision von Metaregeln eine vierte

Möglichkeit ergriffen wird: Auf die Formulierung und die Berücksichtigung von obersten

Moralprinzipien ganz zu verzichten und nur noch anhand von sogenannten „mittleren

Prinzipien“ zu einem Urteil kommen zu wollen, von denen es nun mehrere geben darf – etwa

in der Medizinethik nonmaleficience; beneficience; autonomy; justice (Beauchamp / Childress

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- 333 - -

1983). In Ottscher Terminologie hieße das, mit Praxisnormen zu operieren, ohne darauf zu

bauen, daß Konflikte zwischen ihnen durch eine Bemühung des Moralprinzips abgebaut

werden könnten und sollten. Über den guten Sinn solcher genereller Normen (etwa zur

Markierung moralischer Schutzgüter) habe ich oben bereits gesprochen (im Kapitel zu

Alexy). Die Wingertschen „Ordnungsgesichtspunkte“ bzw. die Kettnerschen „Einheitsfoki“

brauchen ja nicht gleich oberste Moralprinzipien zu sein.

Wenn jedoch von der Heranziehung von Moralprinzipien im Austrag moralischer

Kontroversen deshalb abgeraten wird, weil dies nur den Dissens vergrößere oder allererst

hervorrufe (Birnbacher 1990), bzw. gar ein vollständiger Verzicht auf Regelbildung

zugunsten einer reinen Kasuistik gefordert wird (Jonson / Toulmin 1988), und dies nicht nur

aus pragmatischen Gründen, verrät dies eher die Motivation einer Konsenssuche um des

lieben Friedens willen (bzw. des Nonkognitivisten Sorge um den Erhalt der sittlichen

Substanz). Moralprinzipien verstehen sich ja zurecht als Explikationsversuche des moral

point of view, mit denen sich ein moralisch problematischer Fall (und es gibt ja nicht nur

problematische Fälle, sondern im Normalfall gehen die verschiedenen Ethiken in der

Handlungsbeurteilung schlicht konform) als ein solcher kennzeichnen läßt. Erst recht gilt dies

für Regeln überhaupt. Wie im ersten Kapitel bereits bemerkt, sind alle begründeten

Entscheidungen in einer wenigstens minimalen Weise regelartig. Dies heißt übrigens nicht,

daß nur für Regeln argumentiert werden muß. Man muß nicht so weit gehen wie Ott (Ott

1996a: 72), um zu bemerken, daß die Texturen guter Gründe auch durch exemplarische

Fallstudien oder Narrationen modifizierbar sind:

„Die reine Kasuistik darf nicht einmal zugeben, daß Lösungstypen sich bewähren, und (inAnalogie zum Induktionsprinzip) sich in der Form von Kriterien, Regeln oder Lösungsmodellendarstellen lassen. […] Da sie das Bestehen gültiger Normen nicht zugeben darf, konzipiert sieoberhalb der Einzelfälle exemplarische oder idealtypische Geschichten, gleichsam Fälle derhöheren Art. Diese narrativistische Lösung ist aber ein leicht zu durchschauender Trick, um dieKasuistik zu retten, da man zumeist mühelos zeigen kann, daß solche Geschichten eine Normillustrieren. Exemplarische Geschichten sind daher höchstens ein didaktisches Hilfsmittel bei derAnwendung von Normen auf Fälle.“

Ich glaube nicht, das alle Geschichten eine Norm illustrieren (die Moral von der Geschicht‘?).

Selbst diese Geschichten, Fallstudien etc. können im Rahmen einer weitgefaßten Diskursethik

jedoch noch ihren Platz finden, wenn man den Begründungsbegriff nicht allzu eng faßt. Denn

was genau ein triftiges Argument ist, erweist sich ja erst im Diskurs.

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- 334 - -

Politik, Technik, Partizipation undDiskursZum Abschluß dieser Arbeit will ich einige Überlegungen zu organisierten diskursiven

Verfahren präsentieren. Gegen Ende des ersten Kapitel wurde die prozedurale Lösung von

Konflikten vorgeschlagen – hier nun soll herausgestellt werden, wie dies geschehen könnte

so, daß der Praxis der Argumentation und der Suche nach den je besten Gründen auch in

einem Umfeld strategischen Handelns entgegengekommen werden kann. Damit kann auch die

Idee der »konkreten Negation der Diskursidee« präzisiert werden, d.h. die Realisierung von

Diskursen unter Fixierung ihrer in der Diskursidee idealisierten Parameter beschrieben

werden.

Die in diesem Abschnitt thematisierten Verfahrensmodelle sind solche, in denen wir u.a.

unsere guten Gründe entwickeln, weiterentwickeln und offenlegen. In keinem von ihnen

wurde versucht, Argumente an der Argumentationsregel »U« zu messen, und das, obwohl

moralische Gehalte an vielen Stellen bearbeitet wurden. Gemäß Apel, Böhler und Ulrich hätte

eine solche Forderung die Verkennung des Geltungssinns von »U« bedeutet. Kettner,

Wellmer, Benhabib und Wingert kommen ohnehin ohne »U« aus. Es ging auch nicht um

Normen; eher schon haben sich diese Verfahren auf den Ebenen D0, D1 und D2 bewegt (s.

Ende Begründungskapitel).

Im Sinne des „Zur-Geltung-Bringens“ in einem Praxisfeld, wie sich die

Anwendungskonzeptionen von Ulrich, Kettner und Ott lesen ließen, geht es hier um die

„Anwendung“ der Diskursethik auf dem Gebiet staatlicher Politik, genauer: der Umwelt- und

Technologiepolitik. Die Diskursethik gibt hier eine Idee einer Rechtfertigungsprozedur vor,

deren Einschränkung („Diskursvermeidung“) nun einer Rechtfertigung bedarf. Unter

Berücksichtigung der diskursethischen Begründung sieht ihre vernünftige, d.h. reflexive und

„nicht-konkretistische“ (Ulrich) Anwendung also so aus, daß eine allgemeine Prima-facie-

Pflicht zu Diskursverfahren und zur Herstellung ihrer Anwendungsbedingungen besteht, die

Richtigkeit ihrer konkreten Einrichtung aber wieder nach den guten Gründen zu beurteilen ist,

die in Anbetracht der pragmatischen Knappheitsbedingungen und des je typischen Umfelds

dieser Verfahren für oder gegen sie vorgebracht werden können.

Die Inhalte dieses Abschnitts sind, außer einiger analytischer Unterscheidungen vielleicht,

nicht mehr in einem engeren Sinne philosophischer Natur. Sie reichen in die Sozial- und

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- 335 - -

Politikwissenschaften hinein, teilweise auch in die Politik. Das läßt sich angesichts des

Themas nicht vermeiden.

Institutionen, Partizipation und Diskurs

Das aufklärerische, moralisch wie politisch legitimierende Potential von Diskursen stärker zur

Geltung zu bringen, erscheint gerade auf den Feldern angeraten, auf denen den bisherigen

Vergesellschaftungsformen die Akzeptanzbasis abhanden zu kommen droht. So stellte etwa

ein sozialwissenschaftliches Gutachten für die damalige Bundesregierung angesichts von

Hochtechnologie- und Umweltkonflikten vor einigen Jahren fest, daß sich die öffentliche

Kritik hier regelmäßig nicht mehr auf die Inhalte von politischen Entscheidungen begrenzte,

sondern: „Die existierenden Institutionen und Verfahren, in denen solche

Entscheidungsprozesse stattfinden, sind selber in den Sog der gesellschaftlichen Kontroversen

um Industrialisierung, Technikentwicklung und Umweltschutz geraten. Sie werden von Teilen

der Öffentlichkeit und von Fall zu Fall als illegitim, wissenschaftlich fragwürdig und

interessenselektiv angesehen“ (Bechmann et al. 1993: 106). Auf vielen anderen Feldern, wo

staatliche Planungsaufgaben wahrgenommen werden, steht es kaum besser.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat es nun eine Reihe von Experimenten gegeben, zu

einer stärker diskursiven Entscheidungsfindung zu kommen. Recht unspezifisch könnte man

unter einer diskursiven Konfliktbewältigung die Mobilisierung der je besten Argumente zur

Beurteilung von Handlungsoptionen verstehen. Doch gerade wegen seiner Verkoppelung von

Argumentations- und Partizipationsforderungen erscheint der Rekurs auf Habermas‘

Diskursbegriff hier attraktiv. So motivieren etwa viele diskursiv-partizipative Projekte der

Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg ihr Verfahren durch einen

solchen Verweis (Renn 1996: 58). Doch nicht nur dort (und nicht nur in Deutschland) wird

mit partizipativen Verfahren experimentiert, in denen eine bessere Politik durch direkte,

problembezogene Beteiligung von Wissenschaftlern und betroffenen Bürgern oder

gesellschaftlichen Gruppen am politischen Entscheidungsprozeß erprobt wird.

Habermas‘ Diskurstheorie ist politisch attraktiv durch den Versuch der Kopplung von

Rationalität und Legitimität praktischer Entscheidungen. Seit Anfang der neunziger Jahre

wird dabei ein Anschluß des Diskurses an die Institutionen der parlamentarischen Demokratie

versucht (Habermas 1992). Der Diskurs, vormals aufgrund seines kontrafaktischen Gehaltes

eine „Gegeninstitution schlechthin“ (Habermas 1971: 201), wird somit in diesem seinem

Gehalt zum Geist von legitimen Institutionen. Daher eignet sich dieser Diskurs-Begriff

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- 336 - -

einerseits zur Kritik sowohl gesellschaftsweiter als auch lokalerer Kommunikationsprozesse

und -institutionen, andererseits aber auch (positiv-normativ) zur Explikation der Richtung

einer Fortentwicklung gesellschaftlicher Institutionen. Habermas selbst warnt jedoch vor

einem Modell „reiner kommunikativer Vergesellschaftung“ (1992: 391) – die Forderung nach

diskursiver Vergesellschaftung auf die „Kernstruktur eines ausdifferenzierten, rechtsstaatlich

verfaßten politischen Systems“, diese tauge „aber nicht als Modell für alle gesellschaftlichen

(und nicht einmal für alle staatlichen) Institutionen“ (1992: 370).

Der blinden Anwendung der Diskursidee, vor der Ulrich (s.o.) ja überzeugend gewarnt hat,

steht dabei schon entgegen, daß es gute Gründe gegen eine »reine kommunikative

Vergesellschaftung« gibt. Die Forderung nach Diskurs trifft z.B. auf weitgehend autonome

Funktionsbereiche der Gesellschaft, deren Funktionen moralisch gerechtfertigt sind, so daß

die Umstellung auf diskursive Verfahren eine Bedrohung dieser Funktionen darstellt.

Das prinzipielle Argument, daß Funktionsbereiche der Gesellschaft (»Systeme«) einer

handlungstheoretischen (und damit auch: moralischen) Betrachtung entzogen bleiben sollen,

läßt sich, selbst wenn diese Bereiche so autonom wären wie behauptet, jedoch nicht ohne

Sein-Sollens-Fehlschluß formulieren Ropohl 1996. Die Funktionssysteme verdanken ihr

Entstehen und ihr Weiterbestehen der Akzeptanz der Individuen, die sich ihrer bedienen.198

Es ist also im Einzelfall zu prüfen, ob und wie diskursive Öffnung den legitimen Kern dieser

Funktionen bedroht oder befördert. Ich möchte erst an einem Beispiel, der Technologiepolitik,

dieser Frage nachgehen und rekonstruieren, warum eine diskursive Öffnung in diesem

gesellschaftlichen Bereich produktiv sein könnte. Im nächsten Unterabschnitt sollen die

nötigen Entscheidungen bezüglich organisierter partizipativer Verfahren genauer beleuchtet

198 Luhmann, Habermas oder Beck konstatieren in ihren Gesellschaftsmodellen die Abwesenheit eines Zentrums.Luhmann betont die Eigenlogik der gesellschaftlichen Funktionsbereiche (worauf z.B. die oben beschriebeneÜbersetzung rechtlicher Sanktionen in wirtschaftliche Größen hindeutet: in der Ökonomie zählt nur das Geld),hier gibt es gar keine Steuerung mehr (Luhmann 1986: 167ff.). Er überbetont allerdings die Ausdifferenzierungder Bereiche, so daß ihre Integration, um die es in diesem Abschnitt geht, unsichtbar werden muß. (Wenigereinseitige Systemtheorien kennen durchaus eine Vermittlung gesellschaftlicher Subsysteme – vgl. Zweck 1993:210ff.) Habermas (1992: 434) konstatiert ebenfalls funktionale Teilbereiche, diese sind aber auch funktionalverschränkt und öffnen sich beizeiten schleusenartig gegenüber der Peripherie (Lebenswelt). Er konzentriert sichauf die kommunikative Integration über allgemeine Öffentlichkeiten (Medien etc.). Fokus der in diesem Kapitelangestellten Überlegungen ist eher ein mögliches Netz von organisierten Verfahren unterhalb dieser Ebene, abermit stärkerem Politikbezug. Beck (1986, 313ff.) betont die bloß reaktive Haltung des sichtbaren politischenZentrums (Legislative, Exekutive), das sich gleichzeitig aber aus wahlstrategischen Gründen alsSteuerungszentrum inszenieren muß, während die eigentliche Politik auf der Ebene darunter (Wissenschaft,Verbände etc.), als „Subpolitik“ abläuft. Er fordert die plurale Intensivierung dieser Subpolitik (ebd., 371ff.),was in die Richtung dezentraler Steuerungsansätze geht, die im dritten Teil des folgenden Exkurses besprochenwerden.

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werden und idealtypisch drei Typen von Verfahren vorgestellt werden, Mediationsverfahren,

Dialoge und Diskurse. In einem dritten Schritt sollen dann exemplarisch an einem

Verfahrenstyp und seinem institutionellen Kontext einige der offenen Fragen benannt werden,

die sich aus der Begründungsorientierung der Diskursethik auf den verschiedenen Ebenen,

d.h. im Verfahren, bezüglich seiner Gestaltung und seiner politischen Einbettung, ergeben.

Politische Techniksteuerung

(Dieser Unterkapitel wurde zusammen mit M. Elstner verfaßt.)

Die Technologiepolitik betrifft, wie viele Sparten der Politik, ganz verschiedene Bereiche der

Gesellschaft, so daß besondere Gestaltungsanstrengungen nötig scheinen. Diese Aufgabe wird

dabei häufig „der Politik“ oder „dem Staat“ anzutragen versucht. Wie weit trägt eine solche

Perspektive?

In der Steuerungsdebatte der siebziger Jahre wurde die technische Entwicklung in der Tat als

Problem einer zentralen Instanz verstanden, des Staates, der die Technisierung auf

gesellschaftlich gesetzte Ziele hin steuern soll. Dies impliziert aber dreierlei: Erstens muß ein

solches Steuerungszentrum tatsächlich existieren, zweitens müssen die Steuerungsziele klar

sein und drittens muß sich die Technisierung auch wirklich kausal steuern lassen.

Erscheint der dritte Punkt schon aufgrund des Systemcharakters von Technologien (Hubig

1993) problematisch, also von der Sache selbst her, sind doch besonders die ersten beiden

Punkte fraglich: Es nehmen in der Regel viele unterschiedliche Institutionen und Gruppen

Einfluß auf die technische Entwicklung. Jeder dieser gesellschaftlichen Akteure verfolgt dabei

seine eigenen Ziele, auch der Staat unterliegt einem internen Interessenpluralismus sowie

externen Restriktionen. Wir werden dies in einem ersten Teil näher ausführen.

In den achtziger Jahren avancierte die Deregulierung zur primären politischen Perspektive.

Bei weitgehendem Rückzug des Staates, einem Steuerungsverzicht also, solle den Akteuren

(bzw. dem Markt) das Feld überlassen bleiben. Die ökonomischen Probleme eines solchen

Vorgehens werden unter dem Stichwort des Marktversagens zusammengefaßt (dazu

einführend z.B. Hampicke 1991: 69ff.), die politischen Probleme einer dezentralen Steuerung

in der Kritik der Theorie des ‚Pluralismus‘ klar formuliert. Davon handelt der zweite Teil

dieses Exkurses.

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Die innovativen Steuerungsmodelle der neunziger Jahre beanspruchen, die Vorteile des

Pluralismus einzuholen und seine Nachteile zu vermeiden. Da die Technikentwicklung und -

anwendung das Werk vieler Einzelpersonen und -gruppen ist, sollten diese in den

Steuerungsprozeß einbezogen werden. Soll dies kooperativ erfolgen, sind neue, partizipative

Verfahren erforderlich, wie im dritten Teil belegt werden wird.

In der Steuerungsdebatte geht es letztlich darum, ob und wie die Gesellschaft über den

technischen Fortschritt verfügen kann.

Probleme einer politischen Zentralsteuerung

Staat und Akteure

Der Staat greift sowohl direkt als auch indirekt in die Entwicklung von Technik ein. Direkt

etwa in Form von Fördermaßnahmen (z.B. Forschungsförderung), aber auch dadurch, daß zu

seinem Aufgabenbereich die Aufsicht über und die Genehmigung von Technik gehört. In

einigen Bereichen, z.B. der Militärtechnik und der öffentlichen Infrastruktur, ist der Staat der

primäre Anbieter und/oder Nachfrager. Indirekt beeinflußt der Staat Technisierungsprozesse

durch von ihm gestaltete Rahmenbedingungen, wie etwa Infrastrukturleistungen, steuerliche

Maßnahmen (z.B. die viel diskutierte „Ökosteuer“) oder Umweltstandards (z.B. Grenzwerte).

Dennoch wird die Möglichkeit einer staatlichen Ausrichtung der technischen Entwicklung als

„sehr begrenzt“ beurteilt (Simonis 1993: 51). Auf einige Gründe wird im folgenden näher

eingegangen: (1) Die (regionale und funktionale) Untergliederung des Staates in „staatliche

Akteure“, (2) die Vielzahl der beteiligten nicht-staatlichen Akteure und (3) die (verfassungs-)

rechtlichen Rahmenbedingungen, denen konkretes staatliches Handeln unterliegt.

Untergliederung des Staates

Bereits bei oberflächlicher Betrachtung zerfällt „der“ Staat in seine Gewalten (Legislative,

Exekutive, Judikative), in verschiedene horizontal (Ressorts) und vertikal (Bund, Länder, …)

gegliederte Einheiten. Der Nationalstaat gibt dabei immer mehr Handlungskompetenzen an

die supranationale (EG, internationale Vereinbarungen) und die subnationale (Länder und

Kommunen) Ebene ab. Viele Regelungen werden z.B. im EG-Rahmen getroffen

(Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel, Patentierung, Bioethikkonvention,

Förderung von Forschung und Technik bis hin zur Festlegung von Umwelt und

Gesundheitsstandards), aber auch die Länder, Regionen und Kommunen treffen

technologiepolitische Entscheidungen (Technologieparks etc.). Innerhalb der oben

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angesprochenen politischen Ebenen, etwa der Bundesebene, kann der Staat nicht als

einheitlicher Akteur angesehen werden. Dies gilt auch für die Exekutive: Neben dem

Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF)

beeinflussen etwa die Ressorts, deren Zuständigkeiten die Bereiche Verkehr, Landwirtschaft,

Gesundheit, Verteidigung, Umwelt etc. betreffen, eben falls die technologische Entwicklung.

In bezug auf die Gestaltungsfähigkeit wäre diese Untergliederung allein wohl noch nicht

problematisch. „Die verfolgten Ziele sind jedoch in der Regel nicht eindeutig definiert; die

Präferenzen sind uneinheitlich, zeitlich instabil und opportunistisch gefärbt“ (Simonis 1993:

46). Teilweise verfolgen „staatliche Akteu-re mit dem gleichen Programm unterschiedliche

Ziele“ (ebd.). Die einzelnen Ressorts können aber auch unterschiedliche Programme

verfolgen, die sich im Extremfall in ihren konkreten Wirkungen widersprechen (Mai 1993:

61). Die Probleme dieses ‚Ressortpartikularismus‘ wiederholen sich aber auch noch innerhalb

der einzelnen Ressorts; „Wichtige Programme, die eine Zusammenarbeit

der Referate erfordern, werden ohne nennenswerte Kooperation und Koordination von den

einzelnen Fachreferaten ziemlich isoliert bearbeitet“ (ebd.: 63), so das Ergebnis einer

empirischen Untersuchung des Forschungsinstitutes für öffentliche Verwaltung.

Vielzahl der Akteure

Die technische Entwicklung wird, neben den staatlichen, von vielen weiteren Akteuren und

deren Interessenvertretungen (Verbänden) getragen. Die Entstehung neuer Techniken wird

zunehmend von der Wissenschaft bestimmt (Rammert 1992). Universitäten verwalten sich

weitgehend selbst, auch die Forschungsförderung liegt z.T. in Händen der Wissenschaft

(DFG). Für den Bereich der Medizin sei auf die Standeskodizes und Ethikkommissionen der

Ärzteschaft verwiesen. Hier werden fachintern Regelungen für den Umgang mit

(medizinischer) Technik formuliert (z.B. Poser 1995, kritisch: Spatz 1996). Ein Großteil der

finanziellen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung werden von

Industrieunternehmen aufgebracht. Die dort entwickelten Techniken werden erst kurz vor

ihrer Anwendung der Prüfung und Normung unterzogen. Bei der Normung von Technik hat

der Staat seine Einflußmöglichkeiten beschnitten, in dem er die Normierung Organisationen

und Gremien wie etwa dem VDI oder DIN übergeben hat. Für die Gentechnik ist die Zentrale

Kommission für Biologische Sicherheit (ZKBS) einschlägig. Hier greift der Staat in

Regelungs- und Genehmigungsfragen explizit auf die Kompetenz aus Wissenschaft und

Industrie zurück. Nicht zuletzt sind die Verbraucher und Nutzer zu nennen, die durch ihre

Nachfrage Technik über den Markt selektieren. Hinzu kommen die Kirchen, Gewerkschaften,

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Bür gerinitiativen, Umweltverbände etc. ein, die einen eher indirekten Einfluß auf

Ausgestaltung und Normierung von Technik haben – das Spektrum reicht von formeller

Mitbestimmung über politischen Lobbyismus und Konsumenten- Mobilisierung bis zu

gerichtlichen und außergerichtlichen Blockadeversuchen.

Insgesamt gilt: Alle Akteure, staatliche wie nichtstaatliche, verfolgen verschiedene

Handlungsziele. Die Zielsetzung erfolgt nicht „von oben“, sondern die Akteure bilden

Interaktions- und Kommunikationszusammenhänge (Netzwerke), die u.a. themenspezifisch

variieren und in denen über gemeinsame Ziele und Strategien verhandelt wird (Mayntz 1993).

Ein Konsens über Ziele der Technisierung ist i.a. nicht vorhanden, und auch hinter einem

scheinbar gemeinsamen Ziel können sich eine Vielzahl individueller Einzelinteressen

verbergen; teilweise sind die Ziele der Technikanwendung zu unscharf formuliert, selbst

diskussionsbedürftig oder gar nicht zur Entscheidung zwischen den möglichen

Handlungsoptionen geeignet.

Daneben unterliegt staatliches Handeln ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen

(für eine umfassende Systematik z.B. Böhret et al. 1988: 290). Letztere verdienen besondere

Erwähnung, denn das Recht ist das bevorzugte Steuerungsmedium der Parlamente.

Rechtliche Rahmenbedingungen staatlicher Steuerung

Verfassungsmäßige Grundrechte beschränken politische Regelungen durch die Legislative,

dazu gehören die „Gewerbe- und Berufsfreiheit, Forschungsfreiheit, allgemeine

Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung“ (Daele 1989: 201). Eine Einschränkung dieser

Freiheitsrechte muß als Grundrechtseinschränkung gerechtfertigt werden und ist nur möglich,

wenn individuelle und öffentliche Rechtsgüter von entsprechendem Rang, wie etwa

Gesundheit, Leben und ökologische Lebensgrundlagen, bedroht sind (ebd.: 217).

Die Benennung von Gefahrenpotentialen einer Technik ist zwar besonders durchschlagend, da

eine Einschränkung der entsprechenden Technik unmittelbar legitimierend. Doch kann der

Gefahrenbegriff nicht beliebig ausgeweitet werden. Dies betrifft das „Unbehagen“ an einer

neuen Technik ebenso wie die Gefahr, daß z.B. durch die genetische Diagnostik

möglicherweise moralische Standards verschoben werden. So verweist van den Daele darauf,

daß viele Folgen von Techniken „woanders“ (1989: 202) verarbeitet werden müssen, sie

können nicht mit der rechtlichen Regulierung allein verhindert oder behoben werden.

„Woanders“ verarbeiten heißt am Beispiel der genetischen Diagnostik, die

Unterstützungsleistungen für Behinderte zu garantieren und auszubauen (Wolff 1996). Damit

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- 341 - -

sind viele Politikbereiche mit eigenen Handlungszielen und Präferenzen angesprochen, von

nötigen Infrastrukturleistungen in den Kommunen bis hin zur Sozialpolitik. Dies wird häufig

übersehen, denn Risikoaspekte treten leicht in den Vordergrund politischer Kontroversen und

verdrängen andere Differenzen; Risiken sichern gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Medien

wie der Justiz. Mit Verweis auf die bestehenden ordnungspolitischen Rahmenbedingungen

werden in Studien oder Kommissionen, wie etwa in der Enquete-Kommission zu „Chancen

und Risiken der Gentechnologie“ (so zumindest Ueberhorst 1990), nicht alle einschlägigen

Werte oder Ziele der Technisierung thematisiert, alternative Gestaltungsoptionen bleiben

ausgeblendet, in der Thematisierung der problematischen Aspekte findet eine Beschränkung

auf Risikoaspekte und gefährdete Schutzgüter statt.

Pragmatische Probleme rechtlicher Regulierung

Die die technische Entwicklung betreffenden Regulierungsversuche haben zudem mit einer

Reihe von typischen pragmatischen Problemen zu kämpfen:

In den Gesetzen und Verordnungen wird durch Generalklauseln wie etwa „nach dem Stand

der Technik“ versucht, der raschen Veränderung technischen Wissens Rechnung zu tragen. So

ist die Rechtsprechung auf die Normungsverbände (VDI, DIN o.ä.) angewiesen. Dadurch

reguliert sich die Technik faktisch selbst (Roßnagel 1993: 5). „Und wer die Praxis solcher

Normungsausschüsse kennt, weiß, daß da häufig nicht der „Stand der Technik“, sondern der

Kompromiß zwischen widerstreitenden Interessen festgeschrieben wird; vor allem darum

auch spiegeln die technischen Regeln selten den fortgeschrittensten Stand der Technik wider,

sondern nur den kleinsten gemeinsamen Nenner, den die Mehrzahl der Produzenten glaubt

mit erträglichem Aufwand realisieren zu können“ (Ropohl 1996: 336).

Weiterhin führen Regulierungen teilweise zu ungewollten Umgehungsstategien, z.B. durch

Ausweichen auf nicht weniger schädliche (aber noch nicht verbotene) Ersatzstoffe oder der

Verlagerung der Produktion ins Ausland. Und schließlich werden die Übertretungskosten von

Gesetzen ins Kalkül der Unternehmen miteinbezogen. Strafen oder Entschädigungszahlungen

verteuern aus ökonomischer Sicht bloß das Produkt, sie werden aufgerechnet gegen die

Kosten für entsprechende Veränderungen der Produktion.

Diese Beschränkungen bedeuten nicht die Wirkungslosigkeit staatlicher Regulierung.

Eingriffe führen nur nicht immer zu den gewünschten Wirkungen, denn für eine positive

Steuerung auf bestimmte Ziele hin kann und soll das Recht nicht dienen.

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- 342 - -

Probleme eines Steuerungsverzichts

Dem Appell an „die“ Politik scheint ersichtlich die Adressatin zu fehlen. Aber vielleicht war

damit ja auch kein Steuerungszentrum angesprochen, sondern nur eine Sphäre, in der die

Gesellschaft ihre Interessenkonflikte politisch regelt. Diese Vorstellung kommt in der

politischen Theorie des ‚Pluralismus‘ voll zum Ausdruck (Nuscheler/Stefani 1972). In einer

pluralistischen Theorie geht mit der Einsicht, daß der Staat keine Zentralsteuerung leistet,

auch die Bewertung einher, daß diese Rolle nicht wünschenswert wäre: Denn was das

Gemeinwohl ist, ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel der Akteure und den

Aushandlungsprozessen im staatlichen Raum. Der Staat wird somit eher als ein Ort des

pluralistischen Interessenausgleichs angesehen.

Die Kritik an diesem Politik-Schema betrifft aber gerade Umwelt- und Technologiepolitik.

Zum ersten ist der politische Handlungsspielraum durch die Berücksichtigung der

verschiedenen Interessen extrem eingeschränkt – beide Politikbereiche gelten als

Querschnittsfelder, in denen viele Interessen gleich zeitig betroffen sind. Um überhaupt

durchführbar zu sein, benötigen politische Entscheidungen die Unterstützung der relevanten

Akteure, was Kompromißbildung und taktische Aushandlungsprozesse nötig macht.

Kompromisse gehen häufig zu Lasten der Effektivität und der Problemlösungskapazitäten der

Maßnahmen, die nötig wären, um die durch die Technik entstandenen Probleme zu lösen

(Paschen et al. 1991: 159). Politisches Handeln beschränkt sich dadurch auf kurzfristiges

Lavieren (Inkrementalismus), ohne daß beispielsweise die strukturellen Ursachen der

Probleme angegangen würden (Böhret et al. 1988: 186); die aktive Gestaltung von Zukunft,

die Diskussion von Zielen der Technisierung tritt in den Hintergrund, angemessene

Problemlösungen werden eher verhindert als gefördert.

Unterstützt wird dies zweitens durch die Eigenwilligkeiten der Politik. Das an Wahlperioden

und kurzfristigen Zielsetzungen orientierte politische System läßt „die wirkungsvollste

Lösung eines Sachproblems“ zugunsten anderer Handlungsorientierungen wie etwa der

„Schnelligkeit der Entscheidung, der Schonung knapper Ressourcen wie z.B. Geld oder

Prestige, der Vermeidung unnötiger Konflikte und nicht zuletzt der Möglichkeit politischer

Selbstdarstellung“ (Bechmann 1991: 54) zurücktreten. Ob beispielsweise eine Maßnahme

bezahlbar ist oder nicht, weist zurück auf die entsprechenden Interessenkonstellationen:

„Finanzierbarkeit gründet letztlich im politischen Einfluß der jeweiligen Interessenten und

deren Fähigkeit, die durchzuführenden Maßnahmen als besonders dringlich darzustellen“

(Bechmann/Gloede 1991: 140).

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- 343 - -

Darüber hinaus finden drittens nicht alle Themen und gesellschaftlichen Interessen

gleichberechtigt Eingang in die politischen Entscheidungen. So haben schwache Interessen

(von Kindern und Familien), langfristige Interessen (an der Umwelt), neue und übergreifende

Interessen geringe Durchsetzungschancen (Böhret et al. 1988: 175), Interessen die i.a.

schlecht organisierbar sind und wenig Konfliktfähigkeit (Droh- und Sanktionspotential)

besitzen. Demgegenüber haben es gut abgrenzbare und Spezialinteressen leichter (ebd.),

gerade „Produzenteninteressen“ und Interessen der Verursacher von Problemen sind über

Klientelbeziehungen im politischen System repräsentiert (Bechmann/Gloede 1991: 143).

Technik- und umweltpolitische Entscheidungen betreffen zwar viele Interessen, jedoch sind

Chancen und Risiken häufig individuell oder gruppenspezifisch unterschiedlich verteilt.

Konsequenz ist eine „Lösung“ des Verteilungsproblems zu Lasten der genannten, weniger

durchsetzungsfähigen Interessen.

Viertens schließlich führt das politische Arrangement zu einem selektiven Umgang mit

naturwissenschaftlich-technischem Wissen. Dies verdient eine ausführlichere Darstellung.

Zunächst ist ein Informationsdefizit zu verzeichnen: Abgeordnete der Parlamente erfahren oft

zu spät von technischen Entwicklungen, so daß „ihnen keine Möglichkeit bleibt, gestaltend

einzugreifen“ (Grüber 1993: 39). Mangels Zeit und eigenem „Apparat“ zur Erarbeitung von

inhaltlich begründeten technologiepolitischen Positionen gerät das Parlament in „wachsende

Abhängigkeit vom Sachverstand der Exekutive und der großen Verbände bei der

Politikformulierung“ (Petermann 1991: 215).

Weiterhin wird Wissen im politischen Prozeß zur strategisch genutzten Ressource. Dies

betrifft auch die Akteure, die eigentlich an einem Strang ziehen sollten: Der

„Ressortpartikularismus“ führt beispielsweise zum einen dazu, daß relevante Informationen

über technische Innovationen auf den Aufgabenbereich des Ressorts oder Referats hin

selektiert werden, Informationen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich fallen, werden

vernachlässigt. Zum anderen ergibt sich „das von der wissenschaftlichen Politikberatung her

bekannte Problem, daß über Nutzung und Nicht-Nutzung externen Sachverstands in erster

Linie die Frage entscheidet, inwieweit die eigene Position (die ‚Hausmeinung‘ eines

Regierungsresorts) gestützt oder in Frage gestellt wird“ (Mai 1993: 63). Bei der Nutzung

wissenschaftlicher Expertise werden die Daten, Methoden etc. als weniger glaubwürdig

eingestuft, wird den Schlußfolgerungen weniger Vertrauen entgegengebracht, die als für die

Ressortinteressen schädlich erachtet werden, so nach Paschen u.a. (1991: 168) das Ergebnis

einer Studie zur Nutzung von TA-Analysen (TA: Technikfolgenabschätzung).

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- 344 - -

Zu dem Problem der selektiven Verwendung von Gutachten durch die Auftraggeber bzw.

Nutzer kommt das sog. Gutachterdilemma hinzu, die Situation, daß verschiedene Experten zu

einem Problem divergierende Stellungnahmen abgeben. Das Gutachterdilemma wird nicht

nur bei politischen Entscheidungen akut. Es betrifft alle Institutionen der Gesellschaft, deren

Entscheidungen auf wissenschaftliche Expertise angewiesen sind, also Gerichte,

Grenzwertkommissionen, Normungsverbände, Genehmigungsverfahren,

Sachverständigengremien usw. Die Differenzen in den Gutachten können so weit gehen, daß

gesellschaftliche Gruppen oder Politiker damit rechnen können, zu bestimmten

Fragestellungen das Gutachten zu bekommen, das ihre Position oder Interessen

wissenschaftlich untermauert (Mohr 1996, Wandschneider 1991 usw.). Gründe für

unterschiedliche Gutachten liegen neben der (immer notwendigen) Wahl unterschiedlicher

Annahmen und Methoden in den im ersten Kapitel ausgeführten Abduktionen, sowie leider

auch in bewußter Ausblendung oder Fälschung. Dazu etwa der Parlamentarier Catenhusen

(1995): „Wir haben eine wachsende Zahl von Gutachten, die erkennbar von ihren

Auftraggebern beeinflußt worden sind“. Gelegentlich konnte dies detailliert belegt werden,

z.B. zum Thema ökologischer Auswirkungen der Raumfahrt (Krück/Wengeler 1994: 138ff.).

Es verwundert damit nicht, daß beispielsweise in der Industrie Listen kursieren, auf denen

vermerkt ist, welcher Gutachter im Sinne der eigenen Position/Interessen Stellung nehmen

würde und welcher nicht (Wassermann 1994: 236).

Einer Politik nach dem Modell des Pluralismus scheint insgesamt die Fähigkeit zur

frühzeitigen positiven Kooperation und der Konfliktregelung durch Konsensbildung abhanden

zu kommen (Böhret et al. 1988: 291). Die Suche nach gemeinsamen Zielen unter adäquater

Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse – dies wird zum Problem. Der dem

Pluralismus immanente Zwang zu Konfrontation und Parteilichkeit verhindert die

Konstitution eines bewußten Gemeininteresses. Die „Lösung“ einer zentralen Fixierung

dieses Interesses ist aber noch weniger wünschenswert. Mit diesen Erkenntnissen geht die

Steuerungsdebatte in die dritte Runde.

Kontextsteuerung als Alternative

Wo steht die Steuerungsdiskussion heute? Es wird nicht mehr, wie noch in der

Planungseuphorie der 70er Jahre oder der Planungsverzichtseuphorie der 80er Jahre, der

Vormarsch bzw. Rückzug des Staates für die Lösung aller Probleme gehalten. Gesucht wird

nach einem dritten Weg (Kubicek/Seeger 1993: 14, Martinsen 1992). Auf dem Feld der

Technologiepolitik besteht, angesichts der geschilderten Probleme, auch unter den Akteuren

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- 345 - -

„weitgehend Konsens über die Notwendigkeit für innovative Steuerungsansätze“ (Simonis

1992: 29). Welche Ansätze kommen in Frage? Simonis (1992: 30) unterscheidet

selbstreferentielle von instrumentellen und differentiellen Strategien: Selbstreferentielle

Strategien bestehen in der (altbekannten) Einrichtung von technischen Modellprojekten im

staatlichen Raum, instrumentelle Strategien bedeuten den Einbezug zusätzlichen Wissens in

staatliche Entscheidungen, differentielle Strategien eine zumindest teilweise Abgabe der

Entscheidung an gesellschaftliche Gruppen. Instrumentelle Steuerung wird weiter

unterschieden: monologisch-instrumentelle Strategien bezeichnen die (ebenfalls altbekannte)

wissenschaftliche Beratung der Politik, dialogisch-instrumentelle Strategien haben „z.B.

mittels repräsentativ zusammengesetzter Foren, Kommissionen o.ä.“ den Konsens über

Sachfragen im Auge, integrativ-instrumentelle den Konsens über Ziele (ohne daß der Staat

formell an diesen Konsens gebunden wäre). Bei den differentiellen Strategien verzichtet der

Staat ein Stück weit auf seine Steuerungskompetenz, wacht aber über die Fairneß des

Verfahrens; er „verzichtet auf eigene Ziele oder formuliert sie offen“, sodann „fördert er das

gesellschaftliche Wissen über die (möglichen) Folgen von Technisierungsprozessen und

unterstützt bzw. sichert die Interessenberücksichtigung von Betroffenen“ durch Subventionen

bzw. rechtliche Regelungen (ebd.: 53).

Der Weg der Innovation soll „von der direkten Fremd- zur indirekten Selbststeuerung“ führen

(Martinsen 1995: 26), hin zur „weichen Steuerung“ (Kubicek/ Seeger 1993: 27), zu

„Technikkoordination“ (ebd.: 13) und „Kontextsteuerung“ (Simonis 1992: 20) durch den

„interaktiven Staat“ (Simonis 1994), oder expliziter: „dezentrale Kontextsteuerung“ (Willke

1992: 346), durch den „lernenden Staat“ (Martinsen 1995: 26). Hinter allen diesen

Bezeichnungen verbirgt sich Ähnliches: Über die bisher dominanten Förder- und

Regulierungsaufgaben hinaus soll der Staat demnach „wesentlich die Rolle eines Initiators

und Koordinators im technologiepolitischen Geschehen übernehmen, das unter Einbezug von

gesellschaftlichen Gruppen und Technikbetroffenen zu arrangieren wäre“ (ebd.: 25). Die

bereits schleichend in den vorstaatlichen Raum ausgelagerten technologiepolitischen

Entscheidungsprozesse (Normung, Zulassung, usw.) wären „nach demokratischen Prinzipien

zu reorganisieren“ (Kubicek/Seeger 1993: 29), bestehende Institutionen wären zu erweitern

und neue zu schaffen. Neben solchen Aushandlungsprozessen „werden große Erwartungen in

Leitbilddiskurse gesetzt“ (ebd.: 27), die in der Genesephase einer Technik initiiert werden und

dann die Entwicklungs- und Anwendungsphase hindurch die Handlungen der Akteure

koordinieren und so kumulative ungewollte Effekte vermeiden helfen sollen (zur

Biotechnologie vgl. Barben et al. 1993).

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- 346 - -

Im Zusammenhang mit politischer Techniksteuerung ist auch über die Funktion von

Technikfolgenabschätzung diskutiert worden. Ausgangspunkt war die (technokratische bzw.

monologisch-instrumentelle) Idee, daß man schon durch einen verbesserten

wissenschaftlichen Informationsfluß ins politische System zu einer „besseren“

Technologiepolitik kommen könnte. Diese Möglichkeit wird inzwischen eher skeptisch

beurteilt; es bleibt zwar richtig, daß man die Auswirkungen seiner Entscheidungen kennen

muß, um zielgerichtet agieren zu können, aber die Sachdimension ist häufig nicht die

entscheidende Variable für politisches Handeln (Petermann 1991). Daher sollten die

staatlichen Stellen reformiert werden: Die Rede ist von einer „Öffnung parlamentarischer

Ausschüsse und Fraktionskreise für öffentliche Diskussionen“, der „Stärkung des

plebiszitären Elements“ mit dem Ziel des Parlaments als „Ort des gesamtgesellschaftlichen

Diskurses“ und der Überwindung des Ressortpartikularismus (Mai 1994: 62f.). G. Ropohl

befürwortet eine Ausweitung dieses Diskurses über das Parlament hinaus: Eine innovative

Technikbewertung „beschränkt sich nicht länger auf eine punktuelle Analyse nach

vollzogener Innovation, sondern wird als kontinuierlicher Bewertungs-, Steuerungs- und

Korrekturprozeß angelegt, der die gesamte technische Entwicklung begleitet und gestaltet“

(1994, 19). Die Organisation eines solchen „normativen technopolitischen Diskurses“

erfordert die Erweiterung bestehender bzw. die Schaffung neuer Institutionen, d.h. „neue

Forschungseinrichtungen, Expertenforen, Institutionen der Bürgerpartizipation, neue

Abteilungen in techniknahen Verbänden und Vereinen sowie Technikbewertungsstäbe in der

Industrie bis hin zur technischen Jurisdiktion. Mit einem Wort: Es ist ein ganzes Netzwerk

neuer Institutionen zu schaffen“ (ebd.).

Die Diskussion um eine direktere Beteiligung Betroffener an Entscheidungen besitzt sowohl

eine funktionale wie eine normative Komponente, was durch die Steuerungsterminologie

leicht verdeckt wird. Einerseits sollen Funktionsmängel der Steuerung behoben werden. Der

Einbezug von gesellschaftlichen Gruppen und Technikbetroffenen (Partizipation) dient dann

als Mittel zur Erreichung des Steuerungsziels. Andererseits ist die Mitbestimmung betroffener

Gruppen oder Individuen aber auch ein demokratischer Zweck an sich. Gesellschaftliche

Steuerung ist immer auch eine Selbststeuerung. Form und Umfang, in der diese

Mitbestimmung stattfinden sollte, ist natürlich in der politischen Theorie umstritten. Gerade

in jüngerer Zeit wurden aber verstärkt demokratietheoretische Überlegungen zu einer

kontrollierten Ausweitung direkt-demokratischer Elemente angestellt, um „das Projekt einer

zwischen dem Souveränitätsverlust des Staates, einer weitgehend korporatistisch

aufgenommenen gesellschaftlichen Diffusion von Staatlichkeit, wachsenden

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Teilhabeansprüchen einer breiteren Öffentlichkeit und den sich verschärfenden Ansprüchen

an die moralische Qualität und sachliche Angemessenheit von Politik eingeklemmten

partizipatorischen Demokratie wieder mit plausiblen Perspektiven zu versorgen“ (Schmalz-

Bruns 1995: 213ff.). Diese Überlegungen, z.B. zu reflexiver Demokratie oder deliberativer

Politik können hier nicht weiter ausgebreitet werden (s. dazu ebd.: 125ff. bzw. Habermas

1992: 349ff.).

Im nächsten Abschnitt werden nun die bisher recht allgemeinen Ausführungen konkreter auf

die Gentechnologie und die bereits erprobten, innovativen Koordinations- und

Kommunikationsverfahren bezogen. Der Schwerpunkt unseres Interesses liegt dabei auf klar

eingrenzbaren diskursiven Verfahren, die als modellhaft angesehen werden können.

Organisierte Partizipation und Diskurs

Die gerade beschriebenen Probleme staatlicher Forschungs- und Technologiepolitik in

modernen, repräsentativen Demokratien lassen sich kurz so zusammenfassen :

Es gibt systeminhärente Einseitigkeiten politischer Entscheidungen, die mit einer immer

weniger zureichenden Sach- und Wertkompetenz der Entscheider einhergehen. Dem

korrespondiert ein Legitimitäts- und Vertrauensverlust seitens der Bürger, der auch die

zunehmend als interessengebunden wahrgenommenen Experten umfasst, so daß schon

deshalb eine « Expertokratie » keine Alternative darstellen kann.

Es liegt daher nahe zu versuchen, durch organisierte Beteiligung der verschiedenen Seiten,

der « anderen Seiten », die erwähnten Einseitigkeiten ein Stück weit abzubauen. Dabei wäre

zu denken an :

• Wissenschaft : Diese spricht ja längst nicht mehr mit einer Stimme (Stichwort :

Expertendilemma). Kritiker einzelner Technologien haben sich professionalisiert, ihre

methodischen Standarts entsprechen denen der Befürworter. Umfassende Beteiligung soll

hier die Sachkompetenz der Entscheidung erhöhen.

• Interessengruppen : Das traditionelle Spektrum von Kirchen, Gewerkschaften,

Industrieverbänden etc. hat sich um Umwelt- und Verbraucherverbände, Bürgerinitiativen

usw. erweitert. Umfassende Beteiligung soll hier die Interessen- und Wertkompetenz der

Entscheidung erhöhen.

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- 348 - -

• Normalbürger : Nicht professionell gebunden, traut man ihnen am ehesten die

Entwicklung von Gemeinwohl-Orientierung zu. Sie verfügen über lokales und

lebensweltliches Wissen, das die verschiedenen Positionen von Wissenschaftlern und

Interessengruppen ergänzen und integrieren helfen soll.

Die herkömmlichen Forderungen nach Beteiligung umfassen zunächst einmal die

Offenlegung von Datenbasis, Methoden und Vorgehensweisen der Entscheidungsfindung,

d.h. Transparenz. Die europäischen Länder kommen dem, nach US-amerikanischem Vorbild,

zumindest im Umweltbereich mehr und mehr entgegen. Sodann wollen die verschiedenen

Gruppen vor wesentlichen Entscheidungen ihre Ansichten vortragen – direkt (Anhörungen)

oder indirekt (via Medien) ist dies vielfach institutionalisiert. Die Normalbürgerin, in

Einzelfragen durchaus informiert und mitnichten « politikverdrossen », kann über

Volksabstimmungen je nach Rechtslage in beschränktem Masse auch direkt mitbestimmen.

Im Schatten dieser Forderungen (und der entsprechenden politischen Kontroversen) haben

sich in den letzten Jahren aber auch einige neuartige Verfahrensmodelle herausgebildet, die

die Rolle der Beteiligten nicht auf bloße Informationslieferanten bzw. Dezisionsinstanzen

festlegen.

Diese Modelle bilden ein Kontinuum, das sich durch drei Idealtypen markieren läßt (vgl.

Behrens 1997):

• In Mediationsverfahren zieht sich der Staat aus der inhaltlichen Steuerung eines

Technikfeldes zurück und moderiert als neutrale Instanz nur noch einen nicht-öffentlichen

Verhandlungsprozess der entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen – mit dem Ziel einer

vertraglich abgesicherten Kompromißfindung.

• In Dialogfahren moderiert er ein öffentliches oder nicht-öffentliches Gespräch dieser

Gruppen, das auf ein besseres wechselseitiges Verständnis zielt und Argumente

zusammenträgt, diese aber nebeneinander stehenläßt.

• In Diskursverfahren hingegen moderiert er einen öffentlichen Argumentationsprozess

dieser Gruppen, der auf die rationale Strukturierung einer Kontroverse (und u.U. auch

Empfehlungen konkreter Politik-Optionen) hinausläuft, behält sich jedoch die

abschliessende Entscheidung vor.

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In jedem Falle ist die Bereitschaft zur basalen Verständigung, d.h. zur Artikulation und

Zurkenntnisnahme des eigenen resp. fremden Standpunkts, vorausgesetzt. Außerdem

resultiert eine Stabilisierung von gegenseitigen Verhaltungserwartungen (und zwar in einem

hochgradig interdependenten Handlungsfeld). Während in Mediationen aber auf der Basis von

durch Drohpotentiale (Klagemöglichkeit o.Ä.) festgelegten Machtpositionen ein Kompromiß

ausgehandelt wird, soll in Diskursen nur auf Basis gemeinsam geteilter Gründe, d.h. aus

(machtunabhängiger) Einsicht eine Lösung (oder mehrere Lösungsoptionen) gefunden

werden.

Eine Beteiligung von Normalbürgern (Laien) ist nur bei Diskursverfahren vorgesehen, wenn

auch nicht bei allen. Diese haben dann einen Doppelcharakter; einerseits sind sie Verfahren

der Politikberatung, andererseits zielen sie auf die breite Öffentlichkeit, die sich

(stellvertretend) über ein Technikfeld detailliert informieren und dieses einschätzen kann. Auf

diese Verfahren will ich mich im folgenden konzentrieren.

Formen der Partizipation

Die Diskussion um eine direkte Beteiligung (Partizipation) von Betroffenen an staatlicher

Planung im Umwelt- und Technikbereich hat eine jahrzehntelange, länderspezifische

Tradition (Guild 1979). In Abgrenzung zu dem Einspruchsrecht von Anwohnern nach

getroffener Entscheidung (z.B. in der Stadt- und Regionalplanung) wurde eine Beteiligung

schon im Entscheidungsvorfeld gesucht und an einigen Stellen auch praktiziert. Die Art und

Weise der Partizipation variierte dabei erheblich, auch wurden mit der Zeit Themen in Angriff

genommen, die über reine Standortprobleme weit hinausgehen. Zahlreiche Aspekte dieser

Bemühungen lassen sich in der aktuellen Diskussion um eine verbesserte

Technikfolgenabschätzung und -bewertung wiederfinden (vgl. Bora 1994).

Beteiligung (Partizipation) ist ein komplexer Begriff. Gewöhnlich wird unterschieden in

Teilhabe und Teilnahme an einer Entscheidung, je nachdem, ob ein passiver oder ein aktiver

Bezug zur Entscheidung besteht. Am Beispiel eines Verteilungsproblems: Teilhabe bedeutet,

mehr oder weniger des zu verteilenden Gutes zu bekommen, Teilnahme bedeutet,

mitzuentscheiden, wer wieviel davon bekommen soll.

Der Entscheidungsprozeß selbst kann zudem in die Informationsdimension einerseits, sowie

die eigentliche Entscheidung (in Kenntnis der Informationslage) andererseits, zerlegt werden.

Damit bieten sich bereits vier verschiedene Möglichkeiten der Partizipation.

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- 350 - -

Möglichkeiten der Beteiligung

Teilhaben kann man (a) an dem materialen Ergebnis der Entscheidung (Berücksichtigung in

der eigentlichen Entscheidung) und (b) an der Informationsgrundlage (inhaltlicher Input, z.B.

Datengrundlage, sowie Output, z.B. Handlungsempfehlungen) bzw. an Informationen über

den Entscheidungsprozeß (Modus der Informationsverarbeitung sowie der eigentlichen

Entscheidung). Unter Teilhabe-Aspekten kann eine Entscheidung doppelt unbefriedigend

sein; am Beispiel des Verteilungsproblems: weil man nicht genug bekommt oder nicht weiß,

was die inhaltlichen Gründe dafür waren bzw. welcher Weg zur Entscheidung geführt hat. Im

ersten Fall beklagt man eine Ungerechtigkeit im Ergebnis, im letzten Fall die mangelnde

Transparenz der Entscheidung. Daß eine Entscheidung transparent, besonders aber auch:

gerecht sein soll, sind eher konventionelle Forderungen (deshalb aber nicht weniger wichtige).

Die eigentliche Innovation der angesprochenen Partizipationswünsche liegt hingegen in den

Teilnahme-Aspekten.

Teilnehmen kann man wiederum (a) an der eigentlichen Entscheidung und (b) an der

vorbereitenden Informationsgewinnung.

a) Die eigentliche Entscheidung wird, als politisch-staatliche, in einer repräsentativen

Demokratie i.d.R. den gewählten Vertretern überlassen, als juristische den Gerichten, etc.

Teilnahme an diesen Prozessen kann aber auch direkt geschehen, z.B. in einem

Volksentscheid oder über Schöffen. Eine Ausweitung der Teilnahme von betroffenen Bürgern

an der eigentlichen Ent scheidung würde tendenziell eine direktere Demokratie bedeuten.

Beteiligungsmöglichkeiten für Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen (sog. organisierte

Interessen) oder wissenschaftlichen Experten existieren hingegen an vielen Stellen des

politischen Prozesses, an verschiedenen politischen Institu tionen.

Ein die Gentechnik betreffendes Beispiel ist die „Zentrale Kommission für biologische

Sicherheit“ (ZKBS). In dieser staatlichen Einrichtung sind zwar einige gesellschaftliche

Gruppen (keine Umweltverbände), aber nicht das gesamte Spektrum der wissenschaftlichen

Meinungen vertreten (s. Elstners Einleitung in Elstner 1997). Die ZKBS tagt, wie die oben

erwähnten medizinischen Ethikkommissionen, nichtöffentlich. Zusammen mit den erwähnten

Normungsverbänden (DIN, etc.) sind dies Beispiele für die Auslagerung staatlicher

Entscheidungen.

b) Im Vorfeld politisch-staatlicher Entscheidungen wird normalerweise bestenfalls eine

Teilnahme am Informations-Input erreicht; die betroffenen Gruppen werden dann zwar

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- 351 - -

befragt und können sich zu den Aussagen anderer Gruppen äußern, die eigentliche Integration

der Information obliegt aber vorrangig staatlichen Stellen bzw. „der“ Politik.

In Deutschland gibt es z.B. parlamentarische Instrumente der wissenschaftlichen

Politikberatung, seit 1971 z.B. die Enquête-Kommissionen (1984: Chancen und Risiken der

Gentechnologie) oder das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages

(1994: Stand und Perspektiven der Gen therapie; Biologische Sicherheit bei der Nutzung der

Gentechnik). Diese beschränken sich auf eine Beteiligung von wissenschaftlichen Experten

sowie u.U. auch von organisierten Interessen. Ein Beispiel im Bereich der europäischen

Exekutive ist die GAEIB, die ethische Beratergruppe der Europäischen Kommission (Mieth

in diesem Band, vgl. kritisch Breyer 1996).

Bei komplizierteren Problemen wird die Informationsdimension zunehmend wichtiger, in den

im nächsten Abschnitt vorgestellten Verfahren wird Externen die Informationsverarbeitung

(Integration der Information) gezielt überlassen; sie können damit einen stärkeren Einfluß auf

die Entscheidungsfindung ausüben.

Betrachten wir beispielsweise die britischen Public Inquiries. Hier führt eine vom

entsprechenden Ministerium oder der Krone bestellte Kommission (für ihre Integrität

bekannte Personen des öffentlichen Lebens, oder Experten, oder repräsentative

Interessenvertreter) eine öffentliche Gerichtsverhandlung (Böh ret/Franz 1982: 164). Die

Arbeit umfaßt regelmäßig mehr als 20 Sitzungen, wobei Gutachten vergeben werden und ca.

100–200 Personen befragt werden. Am Ende steht die Formulierung des Wissensstandes

sowie häufig auch von Handlungsempfehlungen, meist für die Exekutive. „Dieses Verfahren

stammt aus dem 19. Jhd. und wurde damals zur ex-post-Analyse z.B. nach schweren Unfällen

mit Personenschaden durchgeführt. Heute werden häufig technologische Fragestellungen mit

zukunftsbezogener Bewertung verhandelt“, so Baron (1995, 98), z.B. Aspekte der

Kernenergie wie die Wiederaufbereitung.

Teilnahme in Verfahren

Die Beispiele zeigen, daß die Frage nach dem ‚woran‘ der Beteiligung nur ein erster Schritt

war, ‚Beteiligung‘ als Relationsbegriff zu erweisen. Entscheidungen fallen in Verfahren, die

bestimmt werden können: formal nach Teilnahme, Teilhabe, Trägerschaft und Zeitrahmen,

material nach Themenfeld, Art der Geltungsansprüche, Reichweite und Art des Ergebnisses:

– Als Teilnehmende kommen neben Wissenschaftlern auch Interessengruppen (Kirchen,

Gewerkschaften, Verbände, Umwelt- und Verbraucherinitiativen etc. – auch diese sind in

einem weiteren Sinne Experten) oder Normalbürger (Laien) in Betracht. Laien steuern z.B. ihr

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lokales Wissen oder eine „Jedermann“-Perspektive in der Bewertung bei. Die teilnehmenden

Korporationen oder Individuen können dann weiter unterschieden werden z.B. nach:

Betroffenheit persönlich / stellvertretend / gar nicht

Auswahl Repräsentativität durch gezielte Wahl oder Los /

Alle Betroffenen / Jeder, der will

Qualifikation Laien / Experten

Rollen Frager / Antwortende

Interaktion face-to-face / schriftlich

– Träger kann jede Betroffenengruppe sein (Verbände, Unternehmen, Bürgerinitiativen

etc.), aber auch staatliche Stellen (in Exekutive, Legislative und Judikative) oder eher als

neutral angesehene Stellen (Stiftungen und wiss. Institute). Der Zeitrahmen (Anzahl, Dauer

und Abstand der Treffen) und der Grad der öffentlichen Teilhabe (uneingeschränktes

Auditorium / keine Medien / keine Privatpersonen; nur Berichte / auch Verfahren öffentlich

usw.).

– Im Themenfeld können eher prinzipelle oder eher angewandte Fragen unterschieden

werden, verschiedene Aussagetypen kontrovers sein, also Geltungsansprüche: Fakten, Werte

und Normen, oder auch Prognosen bzw. Chancen und Risiken einer Technologie. Mögliche

Ergebnistypen des jeweiligen Verfahrens sind: Empfehlung (Einheitsvotum oder

Optionenbildung) oder Selbstbindung (Vertrag, Selbstverpflichtung etc.). Die Reichweite der

Ergebnisse des Verfahrens ist kommunal, regional, national o.ä. festzulegen.

– An möglichen Regeln sind neben denen elementarer Fairneß zu unterscheiden:

Einstimmigkeit oder Mehrheit; Kontrolle des Ablaufs oder auch des Ergebnisses;

Vorgehensweise selbstbestimmt, durch gewähltes Lenkungsgremium bestimmt oder

fremdbestimmt. Eine neutrale Instanz (z.B. eine Jury, ein Vermittler o.ä.) kann, falls

vorhanden, formal (Ablauf) oder auch inhaltlich (Lösungsvorschläge) eingreifen. Auch die

o.g. formalen und materialen Bestimmungen unterliegen Regeln (des Zugangs etc.)

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VERFAHRENformal

material

ZeitrahmenDauerAnzahlAbstand

TeilnahmeöffentlicheTeilhabe

TrägerschaftBetroffeneStaatNeutrale Dritte

Ergebnistyp

AussagenGeltungsansprüchePrognosenChancen / Risiken

Reichweitegeographischsektoralkasuistisch

Regeln

Betroffenheitpersönlichstellvertretend

Wer?JedermannBetroffeneInteressierteExperten

StufeInputVerarbeitungOutput

Interaktionsartface-to-faceschriftlich

Auditorium

frei

keineMedien

keinePrivat-personen

StufeInputVerarbeitungOutput

SelbstbindungVertragErklärung

EmpfehlungEinheitsvotumOptionen

ThemenfeldPrinzipAnwendung

FairneßRedechancenRessourcen

ValidierungKonsensMehrheit

KontrolledirektLenkungsgremiumFremdsteuerung Eingriffe Dritter

AblaufLösungsvorschlagEntscheidung Abbildung 5

Merkmale partizipativ-diskursiver Verfahren

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Natürlich können z.B. Laien und Fachleute gleichzeitig beteiligt sein, oder auch nacheinander

in verschiedenen Verfahrensabschnitten, wichtig ist uns hier nur, die vielfältigen sich

bietenden Möglichkeiten aufzuzeigen. Für eine vollständige Partizipation sollten diese Punkte

(Teilnahme, Inhalte, Regeln, …) im Verfahren thematisierbar und veränderbar sein. Damit

Partizipationsmöglichkeiten auch genutzt werden können, darf die Beteiligung nicht an

mangelnder Ressourcenausstattung der Teilnehmenden scheitern. Im nächsten Abschnitt

werden nun einige modellhafte Verfahren vorgestellt.

Modelle für partizipative Verfahren

Partizipation als Beteiligung am Informationsinput einer Entscheidung anderer („der Politik“)

führt im Idealfall zu einer besseren Berücksichtigung der Werturteile (aber auch der

Positionen, Meinungen, Interessen, Bedürfnisse usw.) der Beteiligten. Hinzu kommt die

Sachkenntnis der Experten sowie das besondere Wissen aus der Lebenswelt der Bürger oder

ihrer Repräsentanten (z.B. des Verwendungszusammenhangs von Technik). Warum aber zur

Erhebung der Information nicht einfach eine Umfrage unter diesen machen? Dies genügt dann

nicht, wenn die Sachaussagen z.B. der Wissenschaftler zu unterschiedlich sind. Zudem:

Meinungen und Positionen lassen sich nur dort erheben, wo sich diese bereits gebildet haben.

Bei komplexeren Fragen, Umweltprobleme und Hochtechnologien gehören typischerweise zu

diesen, ist zunächst einmal eine Menge Information nötig, um sich überhaupt eine Meinung

zu bilden. Einschätzungen über Sinn und Unsinn eines Vorhabens ändern sich durch

Kommunikation, z.B. durch Kenntnis der Auswirkungen auf Andere. Eine qualifizierte

Wertberücksichtigung setzt spezifische Sachkompetenz der Betroffenen voraus, die im

Verfahren hergestellt wird. Je weniger dieser Prozeß noch eine kommunikative Einbahnstraße

ist, je mehr Beteiligung auch an der Informationsverarbeitung zugelassen wird, desto eher

wird er zum Diskurs. Eine Beteiligung kann aber auch an der Entscheidung selbst bestehen,

nicht nur an der sie vorbereitenden Kommunikation. Gerade dies ist der Gedanke von

Mediation: den Staat von Entscheidungen zu entlasten, die die Betroffenen besser selbst fällen

können.

Mediation

Zunächst zur Mediation (EAL 1995). Unter der Vermittlung einer neutralen Dritten, der

Mediatorin, versuchen die Konfliktparteien gemeinsam, eine für sie tragfähige Lösung eines

konkreten Konflikts zu finden. Typisch sind Standortfragen (z.B. einer Mülldeponie) und

andere klar definierte Konflikte, wo sich Interessen bereits organisiert haben und sich mit

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- 355 - -

ausreichendem „Drohpotential“ gegenüberstehen. Herkömmlicherweise würden staatliche

Stellen hier eine Entscheidung treffen müssen – durch die Verwaltung oder das Gericht. Die

Idee von Mediationsverfahren ist nun, die Betroffenen selbst die für sie optimale Lösung

aushandeln zu lassen (soweit staatliche Stellen betroffen sind, nehmen sie ebenfalls an der

Mediation teil). Die Mediatorin leitet dabei nicht nur das Verfahren, sondern greift auch durch

inhaltliche Vorschläge ein. Die Projektinitiatoren lassen sich auf ein Mediationsverfahren ein,

wenn eine zeit- und kostenintensive, juristische oder sonstige Blockade des Vorhabens durch

die Betroffenen vermieden werden kann. Ansonsten würden eher die herkömmlichen

Strategien verfolgt: Formal genehmigen lassen und/oder durchsetzen.

Das Verfahren selbst beruht auf (in der Regel) nichtöffentlichen Verhandlungen zwischen den

Parteien, im Erfolgsfalle wird eine Veränderung des Projekts (Standortveränderung oder

technische Modifikation) bzw. eine Kompensation (z.B. durch ein Schwimmbad in der

Standortgemeinde) vereinbart. Die Nähe des Verfahrens zum außergerichtlichen Vergleich ist

offensichtlich, originäre Felder waren denn auch Ehescheidungen und

Tarifauseinandersetzungen.

Mediation griff erst in den 80er Jahren in Europa um sich; in den USA, Kanada und Japan hat

diese Form der Regelung von Technik- und Umweltkonflikten eine längere Tradition und

gewinnt zunehmend an Bedeutung (Besemer 1995: 48). Einige US-Bundesstaaten haben ein

Mediationsverfahren z.B. bei bestimmten Planungsschritten der Verwaltung inzwischen

gesetzlich vorgeschrieben. Ansonsten wird davon ausgegangen, daß die Konfliktparteien

freiwillig eine neutrale Dritte einschalten und auch selbst bezahlen. Die Dauer des

Verfahrens, bis zu Kompromiß oder Abbruch, liegt zwischen einigen Monaten und einigen

Jahren.

Zur Umweltmediation in Deutschland (APZ 1992; Gans 1994) sind Beispiele aus jüngerer

Zeit: das Abfallwirtschaftskonzept im Kreis Neuss (Sapotnik/Christian 1993;

Pfingsten/Fietkau 1995), das Sanierungskonzept für die Mülldeponie Münchehagen oder die

Standortsuche für den Großflughafen Berlin-Brandenburg (AGU 1995, EAL 1995). Ähnliche

Verfahren mit dem Ziel der repräsentativen Beteiligung aller Interessen sind die

Verkehrsforen in Heidelberg, Tübingen und Salzburg. Dort wurden unter Leitung einer

neutralen Mediatorin die verschiedenen Standpunkte diskutiert mit dem Ziel der Erarbeitung

so weit es geht gemeinsamer Handlungsempfehlungen an die Politik (Sellnow 1995).

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- 356 - -

Die Spannbreite dessen, was unter dem Titel Mediation stattfindet, reicht von einer

Bürgerinformation mit nur marginalem Einfluß auf die politische Entscheidung bis zu einer

ergebnisoffenen, kooperativen Planung.

Diskurs-Modelle

Ein Diskurs kann (1) ohne Beteiligung von Laien unmittelbar zwischen den Konfliktparteien

(Wissenschaftlern, Interessenvertretern) oder (2) von diesen vor einem repräsentativen

Laienpublikum ausgetragen werden, oder aber (3) betroffene Bürger selbst führen in einem

strukturierten Prozeß diese Diskussion unter „Zulieferung“ durch die Konfliktparteien. In den

letzen beiden Fällen wird die abschließende Darstellung der Kontroverse den Konfliktparteien

aus den Händen genommen.

1a) Das erste Verfahren ist der organisierte Repräsentantendiskurs, z.B. zur gentechnologisch

hergestellten Herbizidresistenz (HR-Verfahren, Daele et al. 1996). Bei diesem Verfahren

werden Repräsentanten der gesellschaftlichen Gruppen oder Einzelpersonen, die sich

öffentlich zu dem Thema geäußert hatten, an einem Tisch versammelt und zur Begründung

resp. Ablehnung der jeweiligen Positionen einem "kollektiven Argumentationszwang"

ausgesetzt. Ein solcher Diskurs erfordert neben der formalen Organisation eine von allen

gebilligte Ergebnisrückführung zur Ordnung der vorgebrachten Argumente (Protokolle,

Rekonstruktionen etc.), bis die Diskussion auf eine oder mehrere, differenzierte und vorerst

abschließende Positionen zuläuft.

Die 50-60 HR-Diskurs-Teilnehmenden kamen aus wissenschaftlichen Einrichungen,

Behörden, Umweltgruppen und der Industrie und konnten auf der Suche nach Chancen und

Risiken der HR-Technik auch externe Gutachten einholen. Immer wurden die vorgebrachten

Argumente von den Organisatoren, einem Team um den Berliner Sozialwissenschaftler Prof.

v. d. Daele, in anonymer Form in Argumentationsbäumen einander gegenübergestellt und den

Teilnehmenden zur Überprüfung wieder vorgelegt. Auf diese Weise sollte gemeinsam ein

Fortschritt der Argumentation auf ein einheitliches Ergebnis hin erreicht werden. In der

Schlußphase versuchten die Organisatoren, eine übereinstimmende Einschätzung von

Chancen und Risiken der HR-Technik zu erzwingen, was zum Ausstieg der Umweltgruppen

führte. Inhaltlich strittig war nicht so sehr die (äußerst begrenzte) Nutzerwartung dieser

Technik, sondern ihre möglichen Risiken infolge von Freisetzungen. An Konzeption und

Durchführung dieses Verfahrens ist inzwischen von verschiedenen Seiten Kritik geübt

worden (Neubert 1993; Gill 1994; Gloede 1994; Saretzki 1996), auch die ausgestiegenen

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- 357 - -

Umweltgruppen haben eine Reihe von Mängeln beklagt (s. Dokumentation in Daele et al.

1996).

Der HR-Diskurs wurde ab 1991 über gut zwei Jahre für mindestens 1.000.000 DM abgehalten

(das Geld kam überwiegend vom BMFT).

1b) Mit vermindertem Anspruch, daher vielleicht als Repräsentantendialog zu bezeichnen,

und in anderer Organisationsform verlief das Diskursprojekt "Gentechnologie in

Niedersachsen" (EAL 1996). Hier versuchte auf Initiative der dortigen Landesregierung ein

(an Mediationsverfahren geübtes) Umweltconsulting-Büro zusammen mit

Unternehmerverbänden, Gewerkschaften sowie eines Umwelt- und eines

Verbraucherschutzverbandes in einem guten Dutzend Einzelveranstaltungen - Workshops,

Diskussionsrunden, Gesprächsforen - die möglichst genaue Identifizierung von Konsens- und

Dissensbereichen betreffs "« Chancen und Risiken, Optionen und Restriktionen » der Gen-

und Biotechnologie sowie ihrer Alternativen" (ebd.). Der Anspruch einer weiterreichenden

argumentativen Auseinandersetzung (wie etwa in 1a) bestand von vornherein nicht.

1c) Interessanterweise gehen vereinzelt auch Unternehmen mit ähnlichen Verfahren

(« Dialog », « Runder Tisch ») in die Offensive (Behrens et al. 1995). Immer sind die

Gespräche nichtöffentlich, die Inhalte können aber, soweit nicht explizit vertraulich, von den

Teilnehmenden beliebig genutzt und verbreitet werden.

Zum Thema Gentechnik führt die Umweltabteilung der dänischen Novo Nordisk (Enzyme)

seit 1990 jährlich einen zweitägigen unverbindlichen Dialog ihrer Manager mit einigen

ausgesuchten kritischen Gruppen. Voraus ging in den 70er Jahren ein Verbraucherboykott

gegen Novo Industry wegen möglicher Allergierisiken (50% Umsatzeinbuße) und ein generell

schlechtes Image von Enzymen in der Umweltdiskussion der 80er Jahre. Ende der 80er Jahre

erreichte das Unternehmen durch einen kritischen Dialog mit einer Umweltorganisation, die

aus Umweltgründen von enzymhaltigen Waschmitteln abgeraten hatte, die Streichung einer

entsprechenden Passage aus einem Verbraucherführer. Inzwischen sind die zur

Enzymproduktion eingesetzten Bakterienstämme aus Effizienzgründen genmanipuliert. Um

frühzeitig auf Kritik reagieren zu können, wurde der kritische Dialog seitdem jährlich

wiederholt.

Weiter ging die niederländische Unilever (Nahrungsmittel), die mit

Verbrauchervereinigungen und Umweltgruppen einen halbjährlichen Diskurs führt, der

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- 358 - -

inhaltlich wie personell stärker von den teilnehmenden Gruppen mitbestimmt wird. Unilever

wollte 1991 eine gentechnisch veränderte Lipase zur Fettverarbeitung einsetzen. Die

Markteinführung gentechnisch veränderter Nahrungsmittel stößt, auch in den Niederlanden,

bei der Bevölkerung auf eine geringe Akzeptanz und unterliegt einer rechtlichen Unsicherheit,

insbesondere bzgl. der Kennzeichnungspflicht. Unilever hoffte auf eine Kompromißbildung

mit wichtigen Kritikergruppen, die auf Verbraucher und Regulierungsinstanzen ausstrahlen,

und hat den Beteiligtenkreis schrittweise um andere Unternehmen erweitert, die

gentechnische Methoden in die Nahrungsmittelproduktion einführen wollten. Die Kritiker

wiederum erhoffen sich bessere Informationen und eine Einflußnahme schon bezüglich dem

Entwicklungsprozeß von Produkten, nicht erst der Vermarktung. Aus dem Unilever-Diskurs

erging z.B. ein Konsens-Vorschlag zur Lebensmittel-Kennzeichnung an die niederländische

Regierung, den diese vollständig übernahm (ebd., 71). Seit 1994 experimentiert das

Unternehmen mit einem ähnlichen Verfahren in Deutschland. Einige Kritikergruppen

witterten schon in der ersten Sitzung eine Akzeptanzschaffungsstrategie und verließen das

Verfahren sofort wieder. Ein Jahr später waren immerhin noch der BUND, die Verbraucher-

Initiative, der Deutsche Hausfrauen-Bund, das Katalyse-Umweltinstitut und die Gewerkschaft

NGG mit dabei (ebd., 81). Von ähnlichem Zuschnitt ist laut der TAZ vom 8.6.96 auch der

dritte "Runde Tisch" in Deutschland (neben dem Niedersachsen-Verfahren und dem Unilever-

Diskurs): den Workshops des Industrieverbandes Körperpflege- und Waschmittel, wo seit

Anfang '94 mit Verbraucherzentralen, dem Hausfrauenbund und dem Ökoinstitut Freiburg

über gentechnisch hergestellte Waschmittel-Enzyme gestritten wird.

2) Eine andere Form der Partizipation ermöglicht die Konsensus-Konferenz alias Citizens'

Jury oder Citizen Panel (Crosby et al. 1986). In diesen wie auch den folgenden Verfahren

werden Normalbürgern direkte Partizipationsmöglichkeiten eröffnet. Bei genannten

Konferenzen untersucht eine repräsentativ ausgewählte Gruppe von 10-20 interessierten Laien

ein Problemfeld, z.B. das "transgene Tier". Das Verfahren der Meinungsbildung, in dem

verschiedene Experten gehört werden, ist öffentlich und wird z.T. in Fernsehen oder

Rundfunk direkt übertragen. Es mündet in der Erstellung eines gemeinsamen

Abschlußberichtes, der der Allgemeinheit präsentiert wird und für die Politik zwar

empfehlenden Charakter, aber keinerlei Verbindlichkeit hat. Von diesem Verfahren ist die

Einschätzung der Probleme einer bestimmten Technikanwendung aus Sicht der Bevölkerung

zu erwarten.

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- 359 - -

Konsensus-Konferenzen wurden bisher in verschiedenen europäischen Ländern durchgeführt

(Stewart et al. 1994). In Dänemark geschah dies z.B. zur Gentechnologie in Landwirtschaft

und Industrie (1987), zur zunehmenden Kenntnis des menschlichen Genoms (1989) oder zum

technologischen Tier (1992), in den Niederlanden zu transgenen Tieren (1993), sowie in

Großbritannien zur Pflanzen-Biotechnologie (1994) und zur Biotechnologie in Lebensmitteln

(1996). Inclusive der Vorbereitung dauerte ein solches Verfahren nicht unter einem Jahr und

kostete ca. 500.000 DM. Die in den USA vorwiegend zu medizinischen Fragen

durchgeführten, namensgleichen Consensus Conferences vollzogen sich hingegen

hauptsächlich unter Experten. Nur einige der Teilnehmenden waren keine Wissenschaftler,

und nur einige Abschnitte des Verfahrens waren öffentlich (McGlynn et al. 1990).

3) In Deutschland wurde seit den 70er Jahren ein weiteres Verfahren erprobt, die

Planungszelle (Dienel 1992). Zur Stadtplanung, aber z.B. auch zum "Telefon der Zukunft"

werden dabei von staatlichen Stellen mehrere Gruppen á 25 Personen per Zufallsauswahl aus

dem Melderegister zusammengestellt, wobei die Teilnahme freiwillig ist und ein

Verdienstausfall bezahlt werden soll. Die Gruppen arbeiten parallel, mit den gewünschten

Experten, allerdings ohne öffentliches Auditorium, und ihre Ergebnisse werden von den

Organisatoren in einem Abschlußbericht zusammengefaßt, dem « Bürgergutachten », und der

Politik sowie der Öffentlichkeit vorgestellt. Planungszellen zur Gentechnologie gab es bisher

nur in Kombination mit anderen Diskursmodellen (s.u.).

Dieses Verfahren dauert mehrere Monate (die Gruppenarbeit selbst ca. eine Woche) und

kostet ca. 50.000 DM pro Gruppe.

4) Eine Synthese aus Elementen obenstehender Verfahren versucht das Modell des Drei-

Stufen-Diskurses (auch kooperativer Diskurs genannt) der Akademie für

Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg (Renn / Webler 1996), z.B. zur Gentechnik

in Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion (Garbe 1997). Die Akademie, deren

Neutralität durch die Vertretung gesellschaftlicher Gruppen in Beiräten sichergestellt werden

soll, erarbeitet in der ersten Stufe die Breite möglicher Bewertungskriterien und

Handlungsoptionen unter Teilnahme der wesentlichen Interessengruppen. In einer zweiten

Stufe erstellen WissenschaftlerInnen das Auswirkungsprofil für jede Option und in der dritten

Stufe dann, den Bürgerforen, modifizieren und bewerten zufällig ausgewählte Bürger diese

Optionen (ähnlich wie bei den Planungszellen). Die Bürgerforen erstellen in der Regel je

eigene Werthierarchien (Wertbäume) und übersetzen die Werte in Kriterien. So wird eine

weitgehende Offenlegung der Bewertung erreicht. Abschließend werden die Gruppen

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- 360 - -

zusammengeführt und stellen, gemeinsam mit der Akademie, die Gruppenvoten zu einem

Abschlußbericht zusammen, dem « Bürgergutachten ».

Die Akademie variiert dieses Schema, wenn es der Problemlage angemessen scheint. Im

erwähnten Verfahren zur Gentechnik in Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion wurde

die Reihenfolge der ersten beiden Stufen umgedreht: Zuerst wurde mit Hilfe von

Wissenschaftlerinnen eine Potentialanalyse erstellt (v. Schell/Mohr 1995) und dann in sog.

Werkstattgesprächen gesellschaftliche Gruppen hinzugezogen (Kochte-Clemens/v. Schell

1995; Müller, A. 1995), dritte Stufe blieben die Bürgerforen (Garbe 1997).

Das gesamte Verfahren dauert ca. zwei Jahre und kostet mehrere Millionen DM (inclusive

aller Lohnkosten).

Eine erste Einschätzung

Zu einer angemessenen Würdigung dieser (meines Wissens hinsichtlich der Gentechnologie

in Europa vollständig aufgelisteten) Verfahren müsste eine Auseinandersetzung mit den

inhaltlichen Ergebnissen erfolgen – hierzu gibt es jedoch noch keine vergleichenden Studien.

Eine detaillierte Evaluierung des ”kooperativen Diskurses” ist derzeit in Arbeit (AFTABW

1997). Es gibt aber einige allgemeine Punkte, die für eine Einschätzung dieser Verfahren

beachtet werden sollten:

• « Erfolg » ist keine eindimensionale Größe. Unterschieden werden sollte mindestens ein

interner Erfolg (Formulierung des Verfahrensergebnisses) und ein externer Erfolg

(Umsetzung der Verfahrensergebnisse). Diskursverfahren haben zudem eine Reihe von

Nebeneffekten, die eine Evaluation mitberücksichtigen sollte (vgl. Dienel 1996): Stärkung

des Politikvertrauens und demokratischer Tugenden, Bildung und Aufklärung,

wechselseitiges Verständnis etc.

• Diskursverfahren binden Interessengruppen und ihre (ohnehin knappen) Ressourcen:

Geld, Zeit usw., ohne das die Ergebnisse eines Diskurses notwendig in eine Entscheidung

einfliessen. Die schlechter ausgestatteten Technologie-Kritiker sind dadurch in der Regel

stärker betroffen; dies läßt sich gezielt ausnutzen.

• Derzeit besteht ein beträchtliches Interesse und ein beträchtlicher Vertrauensvorschuss der

Bürger gegenüber derartigen Verfahren (Renn / Webler 1996a: 199). Werden die

Empfehlungen von Diskursverfahren aber konsequent politisch nicht umgesetzt, wird das

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derzeit beträchtliche Interesse an diesen Verfahren schnell erlöschen. Und werden

Diskurse gar zur Bindung von Kritiker-Ressourcen gezielt strategisch eingesetzt, oder

werden diese Verfahren unausgewogen konzipiert (etwa durch einseitige Auswahl der

Teilnehmenden), ist diese Form der Bürgerbeteiligung schnell diskreditiert und das

Vertrauen dahin.

Ungleiche Voraussetzungen und der Verdacht auf Parteilichkeit könnten durch eine

Kompensation gebundener Ressourcen resp. die Einrichtung von unabhängigen Stiftungen als

Trägern der Verfahren, von plural besetzten Beiräten o.Ä. ein Stück weit entschärft werden.

Der möglichen Einflusslosigkeit von Diskursen läßt sich über öffentlichen Druck nur sehr

begrenzt begegnen. Ein Bezug zu anstehenden politischen Entscheidungen steigert ihren

Aufmerksamkeitswert, ebenso wie eine Einbindung in grössere Politikprogramme (wie z.B.

Bürgerforen zum Klimaschutz an die lokale Agenda 21). Durch eine Plazierung von

Diskursverfahren im Vorfeld von Volksentscheiden (beispelsweise der Schweiz), was bisher

allerdings noch nicht der Fall war, würde ihre Sichtbarkeit ebenfalls gesteigert. Der Weg der

europäischen Einigung scheint zunehmend zu einem „Europa der Regierungen“ und einem

Übergewicht der entsprechenden Bürokratien zu führen. Zunehmenden

Partizipationsangeboten « von unten » würden somit in Europa abnehmende

Partizipationsangebote « von oben » korrespondieren. Die für ein demokratisches Europa

wünschenswerte, gemeinsame Öffentlichkeit könnte durch Diskursverfahren wahrscheinlich

befördert, interkulturelle Lernprozesse könnten katalysiert werden – Experimente in diese

Richtung stehen aber bisher noch aus.

Die hier angesprochenen Diskursverfahren bedeuten eine Bürgerbeteiligung, ohne die

Entscheidungsstrukturen selbst wesentlich zu verändern. Sie sind »die sanfte Art, dem Staat

auf die Sprünge zu helfen«. Staatliche Entscheidungen selbst zu öffnen, etwa durch

Volksentscheide, stellt demgegenüber einen schon gravierenderen Eingriff dar; andere

Vorschläge, etwa Wissenschaftlerparlamente oder die Etablierung einer vierten Gewalt, der

"Consultative" (Benking et al. 1994) greifen noch tiefer in das staatliche Institutionengefüge

ein. Die Veränderung nicht des Entscheidungs-, sondern des vorgängigen

Beratungsverfahrens, der « Deliberation » in Diskursen, steht zu diesen Vorschlägen nicht in

einem Konkurrenzverhältnis und führt weniger als jene in demokratietheoretische

Kontroversen um die « Repräsentative Demokratie ».

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• Der Bedarf nach fokussierenden (Modell-) Öffentlicheiten, in denen Teile derselben

stellvertretend fürs Ganze sich eine informierte Meinung bilden können, dürfte aus

strukturellen Gründen weiter steigen: Partizipationsforderungen nehmen zu, die Probleme

werden komplizierter, die Medien sind nur begrenzt transportfähig. Doch auch wer

Diskursverfahren nicht den Eigenwert eines demokratischeren Umgangs mit neuen

Technologien beilegen mag, kann in Situationen geraten, Diskursverfahren zu

befürworten.

Aus welchen Gründen auch immer u.U. individuell erwünscht, sind von heute auf morgen

aber weder eine Diskurs-Kultur noch das für sie notwendige Vertrauen der Konfliktparteien

zu haben. Die Ausgangsbedingungen und Ansatzpunkte sind dabei von Land zu Land

verschieden. In Deutschland wäre insbesondere die (technologiepolitisch zwar einflußreiche,

aber im öffentlichen Bewußtsein kaum präsente) Ebene der Verbände und

Standesorganisationen stärker gefordert.

Realer Diskurs und Begründungspflichten

Legt man Habermas‘ weiten Diskursbegriff der 90er Jahre zugrunde, und das sollte man für

organisierte Diskursverfahren, läßt sich eine einfache Auflösung von Dissensen auch in

idealen Diskursen nicht erwarten. Die hier interessierende Frage ist dann, ob diskursive

Verfahren, d.h. organisierte reale Diskurse, zur Beantwortung praktischer Fragen mit

endlichem Zeit- und Ressourcenhorizont nutzbar gemacht werden können. Solche diskursiven

Verfahren ergeben typischerweise, daß Fakten, Normen und Werte strittig sind (und damit

auch Chancen, Risiken und Gefahren) und diese Strittigkeit im Diskurs nicht vollständig

abgebaut werden kann.��� Allerdings ist gerade wegen der Unerreichbarkeit des Diskurs-

Ideals eine Einigung über die Gestaltung und die Regeln diskursiver Verfahren nötig (s.o.);

deren Gültigkeit läßt sich nicht allgemein diskutieren, aber jeweils fallbezogen kritisieren. In

diesen Punkten schlagen der Diskurstheorie gewöhnlich eine Menge an pauschalen

Vorbehalten entgegen, denen jedoch durch institutionelle Phantasie (und experimentelle

Praxis) begegnet werden kann;��� hier ist nicht eine Verabschiedung des Ideals, sondern eine

pragmatische Relativierung für angebracht: Unter Knappheit müssen sowohl Effizienz- als

��� Die Knappheit von Ressourcen ist nicht nur eine pragmatische Einschränkung, sondern auch konstitutiv fürpraktische Fragen: erstens weil man typischerweise handeln muß und nicht ewig lange warten oder diskutierenkann (vgl. Lübbe 1983), zweitens weil sich das praktische Problem als Entscheidungsproblem häufig erst unterphysisch knappen Ressourcen überhaupt stellt (besonders augenfällig ist dies bei Verteilungskonflikten).

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auch Praktikabilitätsüberlegungen zu einer rechtfertigbaren Einschränkung der Regeln des

idealen Diskurses führen. Die Rechtfertigung des konkreten Procedere richtet sich – wie auch

die inhaltlichen Ergebnisse – gültigkeitslogisch zwar sozusagen an die »ideale

Kommunikationsgemeinschaft« (Apel 1973: 358), faktisch jedoch an reale

Kommunikationsgemeinschaften, und dort zwar immer auch an die allgemeine Öffentlichkeit,

aber doch insbesondere an bestimmte Adressaten: Einerseits nämlich vorrangig an die

unmittelbar Konflikt- bzw. Diskursbeteiligten – von daher hat deren Zustimmung eine

besondere Qualität (Döbert 1996a). Andererseits hat ein organisierter Diskurs in der Regel

auch bestimmte vorrangige politische Adressaten, auf die hin er zugeschnitten sein muß.

Seine politische Legitimität schöpft ein diskursives Verfahren nicht nur aus sich selbst,

sondern auch aus der Akzeptanz seitens der jeweils demokratisch legitimierten

»Entscheiderinnen«.��� Die Rechtfertigung der Einschränkungen, aber auch bereits die

Begründung idealer Diskurse in der Diskurstheorie, dürfte in endlicher Zeit nicht alle

potentiellen Teilnehmer und Adressaten überzeugen können: Wer daher zu einem gegebenen

Problem einen organisierten Diskurs nicht als adäquate Lösung anerkennen mag, artikuliert

seine Kritik (in einem Meta-Diskurs) und/oder bleibt dem Diskurs schlichtweg fern bzw.

ignoriert seine Ergebnisse. Nicht nur die Inhalte, auch das Verfahren selbst dürfte somit, u.U.

prinzipiell, umstritten bleiben.

Einen anderen Kritikpunkt an Habermas‘ Diskursideal möchte ich ebenfalls erst hier, im

Zusammenhang mit pragmatischen Fragen, ansprechen. Dies ist die Forderung nach

größtmöglicher Kompetenz an Diskurse, konkret: „Zugang zu Information und ihrer

Interpretation“ sowie „Einsatz der bestmöglichen Verfahren zur Wissensselektion“ (Webler

1995). Diese Regelerweiterungen sind ambivalent: Soweit sie nur die Geschwindigkeit der

Entscheidungsfindung erhöhen, haben sie einen pragmatischen Sinn, soweit sie jedoch die

richtige Lösung allererst erkennbar machen, auch eine prinzipielle Funktion. Der Idee der

Fallibilität von diskursiven Begründungen kommt m.E. ein Geflecht von Diskursverfahren

(und Metadiskursverfahren, d.h. auch reflexiven Rekursionen und Supervisionen) insgesamt

eher entgegen als der vergebliche Versuch einer Aufblähung eines konkreten Verfahrens zum

»idealen« Diskurs.

��� Wirklich problematisch wird die Betroffenenrepräsentation erst im Hinblick auf zukünftige Generationen, woeventuell veränderte Werte, Wahrnehmungen etc. vorliegen – ohne daß wir dies jetzt schon wissen könnten.201 Diese können in basisdemokratischen Gesellschaften die Bürgerinnen selbst sein, die in Volksabstimmungenüber Sachfragen oder Gesetze direkt entscheiden, bzw. in repräsentativen Demokratien die durch Wahlbestimmten Vertreterinnen.

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Was sind nun die Konsequenzen aus der im ersten Kapitel vorgenommenen Typologisierung

von Dissensen, der Vermutung, daß Diskurse u.U. nur höherstufige Konsense erzeugen

können, sowie den reflexiven Begründungspflichten der Diskursethik für ein organisiertes

diskursives Verfahren, etwa zur Technikbewertung: Erstens muß ein solches Verfahren die

Möglichkeit bieten, Konsens und Dissens adäquat zu bestimmen und auf der materialen und

prozeduralen Ebene nach Lösungen zu suchen. Zweitens muß aber, wenn eine höherstufige

Problemlösung ins Auge gefaßt wird, das Verfahren auch eine Begründung dieses Schritts

leisten können.��� U.U. ist der weitere Ablauf einer Technikbewertung von prozeduralen

Urteilen betroffen (z.B. beim Moratorium oder beim Kompromiß), deshalb muß drittens der

Rahmen dieses Verfahrens flexibel genug sein.

Die Abteilung „Technik, Gesellschaft, Umweltökonomie“ der TA-Akademie in Baden-

Württemberg experimentiert derzeit mit verschiedenen Kombinationen von

Verfahrensschritten, aufbauend auf einer sog. „Three-step procedure“, auch als „kooperativer

Diskurs“ bezeichnet (Renn et al. 1993; Renn 1996a). Der Clou dieses Verfahrens liegt in dem

Versuch, verschiedene Problemdimensionen auf verschiedene Gruppen schwerpunktmäßig zu

verteilen: die Erhebung der Bewertungskriterien und die Suche nach Handlungsoptionen auf

gesellschaftliche Interessengruppen (als Wertexperten), die Folgenabschätzung der Optionen

auf die wissenschaftlichen Experten, die Bewertung der Optionen schließlich auf repräsentativ

ausgewählte Bürger. Eine allzu starre Auftrennung ist wohl unmöglich (und auch nicht

vorgesehen). Die Reihenfolge dieser Schritte und die jeweils eingesetzten Methoden werden

dabei fallbezogen variiert, z.B. wurden einmal die ersten beiden Stufen getauscht. Klar

scheint jedenfalls, daß die Bürgerforen immer am Ende der inhaltlichen Arbeit stehen – dies

ist diskurstheoretisch sinnvoll, da die schlußendliche Anerkennung sowohl der empirischen

als auch der evaluativ-normativen Problemsortierung und -bearbeitung den (im weiteren

Sinne) Betroffenen obliegt. Dennoch ist damit der Diskurs nicht beendet, denn die Akademie

muß die Ergebnisse an die Öffentlichkeit bzw. an die politisch legitimierten Entscheider

vermitteln. Sie muß aber auch Anschlußfragen angehen können und ihre Methoden kritisch

durchleuchten (was derzeit anscheinend geschieht; vgl. Schrimpf 1997). Mit einem konkreten

��� An dieser Stelle gibt es m.E. erheblichen wissenschaftlichen Nachholbedarf. In Europa gibt es inzwischeneine ganze Reihe von Erfahrungen mit diskursiven Verfahrenstypen (s.o.), die in einer aussagekräftigen Weisezusammengeführt werden müßten: Welche Verfahren passen z.B. zu welchen sozialen Konfliktlagen,Zeithorizonten und (besonders) Grad der Allgemeinheit der Fragestellung resp. Grad der Unsicherheit: DieVermutung liegt doch einfach nahe, daß etwa Standortfragen für Mülldeponien besser mit Nutzwertanalysen, dieChancen und Risiken der Humangentechnik jedoch eher mittels argumentativer Verfahren bearbeitet werdenkönnen. Ansätze von Evaluationsversuchen finden sich bereits in in Böhret/Franz (1982) sowie in Webler(1995), entsprechende Aktivitäten dokumentieren Tacke/Tschiedel (1997) und Schrimpf (1997).

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Verfahren wurde der Diskurs aber in der Regel auch nicht begonnen, sondern die

Themenfindung und –auswahl wird über Themenfindungsdiskurse öffentlich sichtbar und

durch die im Kuratorium der Akademie vertretenen Repräsentanten gesellschaftlicher

Gruppen gefiltert. Insgesamt hat eine größere Institution wie die TA-Akademie eine viel

bessere Chance, dem Diskurs-Ideal nahezukommen, als jedes einzelne Verfahren.

Exemplarische Kritik des Drei-Stufen-Diskurses

Dennoch sehe ich auch einige Ansatzpunkte für Kritik: Zunächst scheint mir die Trennung

von gesellschaftlichen Interessengruppen, Experten und Bürgern immer noch zu starr. Will

man etwa, wie für eine probleminduzierte Technikbewertung tendenziell erforderlich, in

Szenario-Form Technikfolgen greifbar machen und einschätzen, ist beides zusammen

vonnöten: Sach- und Wertkompetenz. Dies müßte sich in einer offeneren und stärker

reflexiven Verfahrensstruktur niederschlagen, als es das Drei-Stufen-Schema erlaubt.203

Weiterhin könnten die reflexiven Momente noch erhöht werden und z.B. die Wechselwirkung

der Bewertungsverfahren mit anderen kommunikativen Prozessen in der Gesellschaft, aber

auch die Einbindung der Bewertungsverfahren in den politischen Prozeß analysiert und

modellhaft variiert werden.204 Doch auch im konkreten Verfahren könnten mögliche

Umsetzungsstrategien behandelt werden; dies sollte nicht erst am Ende des Verfahrens

geschehen, da die Schwerpunkte der inhaltlichen Arbeit u.U. davon berührt sein können.205

Getreu dem Fokus dieses Abschnitts wäre aber vordringlich zu fragen, inwieweit der

„kooperative Diskurs“, wie von Renn durch den zustimmenden Verweis auf Habermas‘

Diskursbegriff ja nahegelegt, als ein Diskurs im Habermasschen Sinne angesehen werden

kann. Renn verweist in seinen Ausführungen auf verschiedene Habermas-Stellen aus

203 Einer von zwei Kritikpunkten der Teilnehmer der Bürgerforen zur Standortsuche für eine Mülldeponie imKanton Aargau betraf „die Vorgabe der Folgenanalyse durch die Experten des Gruppen-Delphi“ (Renn 1996a:197).204 Dies erfordert sowohl Forschungsarbeit der Akademie, als auch Expertendiskurse oder Veranstaltungen mitBetroffenen (hier: Politikern). Denkbar wäre auch ein kooperativer Diskurs zum Thema „Der Diskurs und diePolitik“, der die bisherigen Erfahrungen fokussiert und sich an vielleicht besonders an die bisher an Bürgerforenbeteiligten bzw. mit ihren Ergebnissen konfrontierten Personen richtet.205 Ein allzu klares „Mandat“ bzw. Aufgabenzuweisung kann dem natürlich entgegenstehen: Doch einerseitsträgt die Problematisierungsdynamik in Diskursen häufig ohnehin über extern gesetzte Schranken hinaus (unddem seitens der Organisatoren keinen Raum zu geben, wirkt für diese dann tendentiell delegitimierend),andererseits finden Diskursverfahren nicht nur im direkten Vorfeld politischer Entscheidungen, in dem dieEntscheidungsinstanzen einen kooperativen Diskurs vorschalten wollten, statt, so daß die Aufgabenzuweisungflexibler gehandhabt werden kann.

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verschiedenen Dekaden.206 Wie oben ausgeführt, variiert der Umfang der bei Habermas im

Diskurs bearbeitbaren Fragestellungen über die Zeit beträchtlich. Insbesondere die normativ-

evaluative Dimension ist davon betroffen: Nach Renn sollen hier „Werte, Ziele und

Interessen“ auf Kohärenz, Konsistenz, reziproke Verallgemeinerungsfähigkeit und auf

„Kompatibilität mit Gesetzen und anerkannten Normen“ geprüft werden (Renn 1997: Tabelle

1). Normen, und damit den Kern des Habermasschen Diskurses über praktische Richtigeit,

müssen dabei bereits bekannt und anerkannt sein – ein organisierter Diskurs setzt darin den

„großen“ politisch-gesellschaftlichen Diskurs (oder eine andere Validierungsinstanz) bereits

voraus. Die reziproke Verallgemeinerbarkeit kann so material gefüllt werden: „Als oberstes

Prüfkriterium gilt bei normativen Aussagen […] die Universalisierbarkeit, wobei Vorteile für

einzelne dann erlaubt sind, wenn andere dadurch nicht über Gebühr Schaden erleiden müssen

und dem Ergebnis zustimmen können. Bei evaluativen Fragen gilt es, die Legitimität pluraler

Lebensstile zu wahren und die Bedingungen zu thematisieren, die eine wertgerechte

Lebensweise für alle Beteiligten erlauben, ohne daß damit andere in ihren Lebensstilen

beschnitten werden.“ (Renn 1996a: 188). Welche Werte ein jeder und eine jede als für sich

plausibel annimmt, das muß in einem organisierten Technikbewertungsdiskurs im

wesentlichen vorausgesetzt werden. Auch hierin zehrt das Verfahren von anderweitigen

Prozessen (z.B. „ethischen Diskursen“), die eine solche Wertbindung gewährleisten.

In einem diskursiven Technikbewertungsverfahren sind Anwendungsaspekte zentral. Das soll

nun gerade nicht so verstanden werden, als ob keinerlei Problematisierung von Normen,

Werten und Interessen mehr stattfinden darf – in der Tat wird sich durch eine

Verständigungsorientierung der Beteiligten die eigene Position verändern und wird die

Einschätzung der Legitimität von fremden und eigenen Interessen korrigiert. Nur ist das

vorrangige Ziel nicht eine solche Problematisierung, sondern die allgemein einsehbare

Lösung eines Bewertungsproblems. Renns „kooperativer Diskurs“ setzt dabei jedoch auf ein

Verfahren, das Elemente der Kompromißbildung und vielleicht auch der Verhandlung unnötig

fördert. Zur strukturierten Bearbeitung des Bewertungsproblems favorisiert Renn nämlich die

häufig angewendete und aus den Publikationen der „Stiftung Warentest“ allgemein bekannte

Form der Nutzwertanalyse (genauer: die Wertbaumanalyse)207, d.h. genau eine, prozedurale

Strategie. Diese muß aber nicht immer die beste Alternative zum Umgang mit Dissensen

206 Renn (1996) zitiert Habermas (1973); Renn (1997) und Renn (1996a) zitieren Habermas (1981); Renn inRenn / Hampel (1998) zitiert die vierte Auflage von Habermas (1983a) sowie Habermas (1992).

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darstellen. Betrachtet man die Wertbaumanalyse genauer, wird das sofort klar: Die

Summation gelingt nur dann, wenn alle Punkte als mit allen anderen Punkten verrechenbar

angesehen werden. Die Baumstrukturierung gelingt nur dann, wenn sich Werte in eine klare

Hierarchie bringen lassen. Die Bewertung einzelner Optionen gelingt nur dann, wenn das

Abschneiden einzelner Optionen bezüglich der Werte über Indikatoren und Kriterien klar und

unumstritten erfassen läßt. Und der Baum läßt sich, wie andere entscheidungsanalytischen

Hilfsmittel auch, nur dann auf Handlungsoptionen anwenden, wenn diese bereits klar

formuliert und als prinzipiell legitim akzeptiert sind.

Gründe für die Optionenbildung, für die Indikatorenbildung, für die Erfüllungsgrade der

Optionen bzgl. der Indikatoren, für die Wertesortierung und -Hierarchisierung und schließlich

auch für die Gewichtung der Einzelwerte gegeneinander werden methodisch abgeschnitten

und intransparente Kompromißbildungen gefördert, deshalb läuft dieser Teil des

„kooperativen Diskurses“ dem Diskursideal zuwider.��� Wäre die Wertbaumanalyse alleiniges

Bewertungsinstrument, könnte der „kooperative Diskurs“ nur sehr begrenzt als ein Verfahren

der diskursiven Technikbewertung gelten, da das Argumentationselement zwar

möglicherweise im Bewertungsprozeß selbst, nicht aber im Ergebnis und in der Darstellung

dieser Bewertung ausreichend Berücksichtigung findet.209 Daher ist Renn zuzustimmen, wenn

er schreibt, es müsse „in einem diskursiven Verfahren begründet werden, welche Werte in den

gemeinsamen Baum aufgenommen und aus welchen Gründen sie ausgewählt werden sollen“

(Renn 1999: 3). Ziel sei der „diskursive Wertbaum“, der dreierlei verspreche: „erstens eine

faire und vollständige Erfassung aller relevanten Wertvorstellungen einer pluralen

Gesellschaft, zweitens eine intersubjektive Begründung der in den Wertbaum einfließenden

normativen Annahmen und drittens eine nachvollziehbare und transparente Form der

Darstellung von Werten für die am Diskurs nicht beteiligten Außenstehenden.“ (Renn 1999:

3f.)

207 Die Wertbaumanalyse besteht aus drei Schritten (s.o.). Dies ist natürlich recht schematisch. Ich vermute, daßnach der erstmaligen Bewertung wieder mit der Gewichtungs- und evtl. auch in die Strukturierungsdiskussioneingesetzt wird, bis ein einigermaßen stabiles Gleichgewicht erreicht ist.208 Es wird im Ergebnis – den nach dem gewichteten Wertbaum bewerteten Optionen – dadurch methodischunsichtbar, wieviel am Ergebnis pragmatischer Kompromißbildung und wieviel genuiner Konsensbildungzuzurechnen ist. Dieser Punkt bleibt problematisch, auch wenn das Abschneiden der Gründe zeitökonomischerklärt werden sollte.209 Die Folge könnte sein, daß es von Außenstehenden als beliebig angesehen wird, daß eine Nutzwertanalyse,und besonders: daß eine Nutzwertanalyse nach genau diesem Wertbaum unter genau dieser Gewichtungvorgenommen wurde. Die kontrafaktischen Einsichten, die Begründungen u.A. transportieren, gehen verloren.Auch der beschriebene Prozeß der rekursiven Modifikation des Wertbaums angesichts des konkreten

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Der solcherart gewonnene Wertbaum und die mit ihm erhaltene Rangfolge ist nun aber nur

ein Element im schließlichen Abwägungsprozeß in den Bürgerforen: Die Bürger dürfen

nämlich zusätzlich zum Wertbaum verbale Erklärungen und Einschränkungen abgeben, sie

sollen sich z.B. einigen, bis zu welchem Listenplatz sie die Verwirklichung der

entsprechenden Option überhaupt noch empfehlen können. Damit geschieht eine über die

Begründung des Wertbaums selbst hinausreichende Offenlegung von Begründungen (und

teilweise auch eine versteckte Optionenbildung), die prominenter als methodischer Teil der

Bewertung herauszustellen wäre. Grundlegende Normen stecken ja nicht nur den Rahmen des

in der Nutzwertanalyse Zulässigen ab, sondern betreffen auch den richtigen Umgang mit ihren

Resultaten. Forderungen nach individuell gerechter Lastenverteilung kann gerade bei

nutzwertanalytischer Gesamtnutzenmaximierung z.B. häufig nur durch die Erarbeitung von

Kompensationspaketen nachgekommen werden.210

Insgesamt ist die Wertbaumanalyse damit nur ein methodischer Baustein in der „Three-step

procedure“, die von Renn und MitarbeiterInnen konstruiert wurde. Aber er scheint mir, was

Bewertungsfragen angeht, ein zentraler Baustein zu sein. Doch als solcher ist er u.U. gut

verzichtbar. Die flexiblere methodische Alternative zu einer Festlegung auf Nutzwertanalysen

wäre die Formulierung eines Empfehlungstextes zum Umgang mit einem bestimmten

Problem, das in mehreren Diskussionsschleifen unter Anhörung von Fachwissenschaftlern

und organisierten Interessen erarbeitet wird. Eine solche Empfehlung kann sich auf eine

Nutzwertanalyse stützen, muß es aber nicht. Die Beteiligten könnten selber entscheiden, ob

sie eine solche Form oder eine andere Form (die ihnen natürlich in geeigneter Weise

angeboten werden müßte), zur Bearbeitung des ihnen angetragenen Problemfeldes wählen

wollen. Verschiedene Formen der Darstellung eines Bewertungsvorgangs, verschiedene

Strategien auch höherstufiger Konsensbildung könnten so zur Auswahl stehen, also etwa auch

eine Suchraumerweiterung, wenn das eigentliche Problem woanders, als im ursprünglichen

Arbeitsauftrag des Verfahrens festgelegt, vermutet wird. Wenn das ein konkretes Verfahren

zu sehr aufzublähen droht, könnte es auch in einem vorgeschalteten

„Methodenfindungsdiskurs“ geschehen (als Analogie zum Themenfindungsdiskurs).

Bewertungsproblems könnte als Reflexionsprozeß sichtbar gemacht und die zentralen Argumente dokumentiertwerden.210 Vg. hierzu den zweiten Kritikpunkt an der kooperativ-diskursiven Standortsuche für eine Mülldeponie imKanton Aargau: „Die Teilnehmer kritisierten die Zeitnot bei der Erarbeitung von Empfehlungen über möglicheAusgleichsstrategien […]“ (Renn 1996a: 197).

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Wo die argumentative Bewertung verlassen wird, also Mehrheits- und Minderheitsvoten nicht

nur ausformuliert, sondern die Zustimmung zu Optionen schließlich auch in Prozenten

festgehalten wird, wird der Boden des Diskurses jedenfalls verlassen – auch wenn dies im

Konsens der Beteiligten geschieht.��� Das Verfahren bekommt dadurch einen anderen

Charakter, nun wirken seine Ergebnisse nicht mehr allein aufgrund der transparenten

Begründungsbasis überzeugend. Mit der bloßen Quantifizierung von Zustimmung wird auch

nicht mehr einer transparenten Entscheidung zugearbeitet, sondern nun können sowohl

technokratisch orientierte „Macher“ als auch kritisch orientierte „Warner“ den Akzeptanzgrad

möglicher Politiken in Hinblick auf einen zukünftigen öffentlichen Diskussionsstand testen.212

Vielleicht können diese Ausführungen zu konkreten Strategien höherstufiger Konsensfindung

unterstreichen, was oben bereits herausgestellt wurde (vgl. Fußnote 202): Eine zentrale

Forderung der Diskurstheorie ist insgesamt noch zu wenig erfüllt: diejenige nach

problembezogener Rechtfertigung der Einschränkungen der Bedingungen des idealen

Diskurses, der Zweckmäßigkeit der gewählten Verfahrensweisen im Hinblick etwa auf

politische Problemkonstellationen oder auf inhaltliche Aspekte der Technikbewertung

(Langfristigkeit bzw. Kurzfristigkeit der Perspektive; Allgemeinheit der Fragestellung;

Unsicherheitsgrad des Wissens; Technik- oder probleminduzierte Fragestellung;

Standortfindungs- oder Grundsatzdiskussion; etc.).

In Habermas‘ Diskursmodell der Gesellschaft ist ein Ideal (und eine Hoffnung) ausgedrückt

auf eine bewußte und gemeinsame Gestaltung der Zukunft. Die gesellschaftliche Wirkung

dieser Theorie ist beachtlich, vielleicht gerade wegen der Kombination der Forderungen nach

Rationalitätserhöhung durch Argumentation und Legitimitätserhöhung durch Partizipation.

Insbesondere in der Umwelt- und Technologiepolitik setzen auch steuerungstheoretisch (und

nicht nur diskurstheoretisch) orientierte Politik- und Sozialwissenschaftler auf eine verstärkte

kommunikativ-partizipatorische Öffnung (s.o.). Organisierte Diskursverfahren können und

sollen weder die allgemeine Öffentlichkeit, noch die lebensweltliche Kommunikation und

auch nicht Wahlen und Abstimmungen ersetzen, sondern diese ergänzen. Warum also nicht

mit organisierten Verfahren experimentieren, die dem mutmaßlichen Willen (und den

211 So etwa im Bewertungsverfahren zu gentechnisch veränderten „Neuartigen Lebensmitteln“ und zur„Zukünftigen Energieversorgung in Baden-Württemberg“.212 Jedoch ist hier Vorsicht geboten: Keinesfalls können von Zustimmungsgraden zu Optionen, die einzelneMaßnahmen beinhalten, auf die Zustimmungsgrade für diese Maßnahmen auch einzeln geschlossen werden.

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offenkundigen Forderungen) vieler Bürger nach Transparenz und punktgenauer Partizipation

jenseits des passiven Nachrichtenkonsums, der individuell wirkungslosen Stimmangabe an

der Wahlurne oder des oft allzu zähen und zeitraubenden Engagements in Bürgerinitiativen

und politischen Parteien entsprechen?

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