D.I.Y. Widerstand

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240 Zitate über die Taktiken der Situationistischen Internationale DO IT YOURSELF WIDERSTAND.

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240 Zitate über die Taktiken der Situationistischen Internationale

DO IT YOURSELFWIDERSTAND.

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„Wir wissen, dass alle neuen Realitäten selbst provisorisch und für unseren Bedarf zu wenig sind. Wir verteidigen sie, weil uns etwas besseres nicht einfällt und weil darin im Grunde unser Beruf besteht. Doch haben wir nicht das Recht, gleichgültig zu bleiben angesichts der erdrückenden Werte der Gegenwart, werden diese doch garantiert durch eine Ge-

sellschaft der Gefängnisse, auch wenn wir vor den Pforten dieser Gefängnisse leben. Uns liegt nichts daran, möglichst vielen Leuten ähnlich zu sehen

– und sei es auch nur aus Stolz.Rotwein und Kaffeehaus-Negation: Die Binsenwahrheiten der Verzweifl ung werden nicht den Schlusspunkt der Existenz bilden, die so schwer gegen die Fallen des Schweigens, die zahllosen Arten, sich zu etablieren, zu verteidigen sind. Jenseits dieses ständig gefühlten Mankos, jenseits des unvermeidbaren und unentschuldbaren Verlusts dessen, was

wir geliebt haben, geht das Spiel noch weiter; wir existieren. Jede Form von Propaganda ist also recht. Wir müssen einen Aufstand herbeiführen, der uns direkt betrifft und unse-

ren Forderungen angemessen ist.Wir müssen Zeugnis ablegen von einer gewissen Glücksvorstellung,

selbst wenn wir diese besiegt wissen, eine Vor-stellung, der sich jede Propagandaform vorweg

wird anpassen müssen.“

Guy DeBORD Schluss mit der Nihlistischen

Bequemlichkeit

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„Der Rotwein und die Negation in den Cafés, die ersten Wahrheiten der Verzweiflung werden nicht

das letzte Mittel diese Lebens sein, das sich so schwer verteidigen läßt gegen die Fallen des Schwei-

gens, die tausend Arten sich zu arrangieren.“

Gerard Berreby Documents relatifs a la fondation de l‘Internationale Situationniste,nach der

dt. Übersetzung durch R. Ohrt.

„Wir müssen weiter kommen, ohne an irgend einem Aspekt der modernen Kultur oder sogar deren Nega-

tion hängen zu bleiben, nicht auf das Spektakel des Endes der Welt wollen wir hinarbeiten, sondern

auf das Ende der Welt des Spektakels.“

Guy DeBORD

Der Beginn einer epoche

„Die kritische Theorie muß sich in ihrer eigenen Sprache mitteilen. Diese Sprache ist die Sprache des

Widerspruchs, die in ihrer Form dialektisch sein muß, wie sie es in ihrem Inhalt ist. Sie ist Kritik

der Totalität und geschichtliche Kritik. Sie ist kein „Nullpunkt des Schreibens“, sondern seine Umkeh-rung. Sie ist keine Negation des Stils, sondern der

Stil der Negation.“

Guy Debord

Gesellschaft des Spektakels These 204

„Nihilismus bedeutet die Welt in ihrem eigenen selbstverzehrenden Impuls einzuschließen; die Nega-tion als Tat macht jedem klar, daß die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint; doch nur wenn diese Tat derart weitgreifend angelegt ist, daß sie die Möglich-keit offen läßt, die Welt könnte ein Nichts sein, Nihi-lismus wie Schöpfung könnten sich dieses plötzlich leeren Terrains bemächtigen. Nihilisten sind Solip-sisten: keiner existiert außer dem Handelnden, und nur die Motive des Handelnden sind real. Negation

ist immer politisch: sie setzt die Existenz anderer Menschen voraus, ja sie ruft sie erst ins Leben.

Dennoch sind die Werkzeuge, die zu benutzen der

Negationist sich offenbar gezwungen sieht - echte oder symbolische Gewalt, Blasphemie, Ausschwei-

fung, Verächtlichmachung, Verspottung - , auch die des Nihilisten.

Da der Negationist zu beweisen versucht, daß die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint, erkennt er, daß die Welt für andere so ist, wie sie zu sein

scheint.“

Greil Marcus

„Die traditionellen revolu-tionären Gruppen sahen

nur „neue Mittel der Kondi-tionierung. Doch für die SI

entspricht die Ausdruckswei-se der ‚Medien‘ einer Le-

bensweise, die vor hundert Jahren nicht existierte. Das

Fernsehen indoktriniert nicht, sondern steht selbst mit ei-

ner Daseinsweise in Zusam-menhang. Die SI zeigte das

Verhältnis zwischen Form und Grundlage auf, wo der

traditionelle Marxismus le-diglich neue Instrumente im

Dienste der alten Sache sah.“

Gilles Dauvé Kritik der Situationistischen Internationale

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»Ich bin erregt. Lasse ich die Erregung weiter zu, so bekomme ich Angst. Deshalb sage ich mir: ich bin

gar nicht erregt, ich will gar nichts tun. Gleichzeitig spüre ich aber, dass ich dennoch etwas tun will; da ich aber mein ursprüngliches Ziel vergessen habe, weiss ich nicht was. Die Aussenwelt muss etwas

tun, was mich aus meiner Spannung befreit und mir doch nicht Angst macht. Sie muss machen, dass ich handle, dann bin ich der Verantwortung enthoben. Sie muss mich ‚ablenken‘, ‚zerstreuen‘, damit das, was ich tue, von meinem ursprünglichen Ziel weit genug entfernt ist. Sie soll das Unmögliche möglich

machen: mir Entspannung ohne Triebhandlung verschaffen.«

O. Fenichel Aufsätze I,302)

„....Allerdings sollte in revolutionsstrategischer Hinsicht an diese nicht eine allzu übertriebene

Erwartungshaltung angelegt werden, indem sie etwa von vornherein zu Keimzellen einer zukünftigen

Gesellschaft hochstilisiert werden. Im Gegenteil gilt auch hier, dass die verständige Kritik der «Praxis

der Theorie» zu enttäuschen wissen muss; sie muss entstandene utopische Hoffnungen wie sogenannte

«konkrete Utopien» – weil diese sich in der Katastro-phe des spektakulären Kapitalismus glauben ein-

richten zu können – immer wieder desillusionieren. Insofern ist sie bewusst katastrophistisch. Sie muss

das Verständnis dafür bereitstellen, nicht einer revo-lutionären Ungeduld zu verfallen, sondern die Span-nung des Unerträglichen zu ertragen und aushalten

zu helfen, nur um sie bewusst weiter revolutionär aufzuladen. Denn jegliches voluntaristisch-aktionis-tisches Überspringenwollen des Ansichseins sondert sich zwangsläufig von der «wirklichen Bewegung» ab, wird dadurch abstrakt und ist aufgrund dieser

Trennung selbst schon spektakulär.“

Biene Baumeister

Zwi Negator Vortrag

Die situationistische „Praxis der Theorie“ besteht eben nicht darin, in positivistischer Weise eine

Revolutionstheorie zu schreiben, diese der Welt zu präsentieren und die Menschen davon missionarisch

zu überzeugen. Sondern es geht ihr darum, das unbewusste, verdrängte, verloren geglaubte revolu-tionäre Begehren des gesellschaftlichen Individuums mit seinen subversiven Praxen innerhalb der spekta-kulären Warengesellschaft aufzuspüren, es illusions-los zu dechiffrieren und in einer kohärenten Sprache

auszudrücken.

Biene Baumeister Zwi Negator

»Situationistischer Revolutionstheorie«

„Sie (die I.L., Anm.) wollten die erste Revolution in die Wege leiten, die bewußt nicht

aus einer Kritik am Leiden an der herrschenden Ge-sellschaftsordnung hergeleitet wird,

sondern aus einer „totalen Kritik ihres Glücksbegrif-fes“, einer in Taten manifestierten

Kritik, einer neuen Praxis des Alltagslebens.“

Greil Marcus

„Diesem «abstrakte[n] Wille[n] zur sofortigen Wirk-samkeit» entgegengesetzt, muss – wie Debord betont – «die über das Spektakel hinausgehende Kritik […]

vielmehr zu warten verstehen.“

Guy Debord

Gesellschaft des Spektakels These 220

„Das Wissen muss ein Können werden.“

Carl Philipp Gottfried von Clausewitz

Vom Kriege, 2. Buch, 2. Kapitel

„...,dass ihr Wissen eine Macht werden muß.“

Guy Debord

S.I.: Die wirkliche Spaltung in der Internationalen §46

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Die Totalität des Scheines, wie das allgemeine Spektakel sie präsentiert, ist blosser Schein einer

Totalität, die erst nach ihrer Wiederenteignung und Rückführung in die Lebenswirklichkeit des Alltages

sich konkretisiert.

„Wir sollten die moderne Kultur nicht ablehnen, son-

dern in unseren Besitz brin-gen, um sie zu verneinen.“

Debord, Rapport

»Es ist nicht eine Frage des Herausarbeitens eines Spektakels der Ablehnung, sondern einer Ablehnung des Spektakels. Damit ihre Herausarbeitung künst-lerisch sein kann in dem neuen und authentischen Sinne, wie die SI ihn definiert, dürfen die Elemente der Zerstörung des Spektakels nicht länger Kunst-werke sein. Es gibt weder so etwas wie Situationis-

mus oder ein situationistisches Kunstwerk noch gibt es, was das betrifft, einen Situationisten, der Spekta-

kel erschafft.«

raoul vaneigm

(1961) auf der 5. SI-konferenz

«Von der Romantik bis zum Kubismus folgte dem allgemeinen Verlauf des Barocks schliesslich eine

immer stärker individualisierte Kunst der Negation, die sich fortwährend erneuerte, bis zur vollständigen

Zerstückelung und Negation der künstlerischen Sphäre.»

Guy Debord

Gesellschaft des Spektakels These 105

“Dieser Stil,der seine eigene Kritik enthält,muß die Herrschaft der gegenwärtigen Kritik

über ihre ganze Vergangenheit ausdrücken.Durch ihn bezeugt die Darlegungsweise der dia-

lektischen Theorie den negativen Geist,der in ihr steckt.(...) Dieses theoretische Bewußtsein

der Bewegung,in dem die Spur der Bewegung selbst gegenwärtig sein muß,äußert sich durch

die Umkehrung der etablierten Beziehungen zwi-schen den Begriffen und durch die

Entwendung aller Errungenschaften der früheren Kritik.”

Guy Debord Gesellschaft des Spektakels These 47

Debords erkenntniskritisches Diktum, dass die »Wahrheit dieser Gesellschaft nichts anderes ist

als die Negation dieser Gesellschaft«, ist in seiner Allgemeinheit ebenso richtig wie es nach dem Na-tionalsozialismus, der barbarischen Negation der bürgerlichen Gesellschaft, durch eben diese Allge-meinheit falsch wird. Die Negation orientiert sich hier ausschließlich am Marxschen kategorischen

Imperativ aus dem Jahr 1844, nicht aber am Adorno-schen, der in Reflexion auf die Katastrophe fordert, alles Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich

nicht wiederhole. Die Situationistische Internationa-le teilte mit der von ihr so scharf kritisierten Linken die Ignoranz gegenüber dem kapitalentsprungenen Antisemitismus, was ihr auch ein Verständnis des Zionismus, der Notwehrmaßnahme gegen diesen

Antisemitismus, von vornherein unmöglich machte.

Biene Baumeister Zwi Negator, das eine zweibändige »Aneignung« von »Situationistischer

Revolutionstheorie«

„Die Katastrophe ist, dass es ‚so weiter’ geht wie bisher.“

Walter Benjamin

„Die Katastrophe ist, dass es ‚so weiter’ geht wie bisher.“

„Heute scheint es jedenfalls manchmal so, als ob wir nach der Politisierung le-

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ben und von ihr nichts mehr übrig geblieben ist als die Negation - jener ebenso

unzuverlässige wie vielver- sprechende Akt,an den sich

auch Imperien gerne als Geburtsstunde erinnern und den Spielfilme zu verklären

lieben.Zumindest gilt dies für die sichtbarsten Formen von

oppositioneller Politik. Deren letzte Gewißheit scheint das Nein zu sein,

ein Nein, das vom Nein zum Logo bis

zum Nein zu Deutschland reicht und auf Bewegun-

gen verweisen kann, die in erster Linie als Gegner von

etwas definiert werden oder sich selber definieren.Der

Grund, auf dem man steht, die Werte und Ziele, von denen aus man operiert,

scheinen keine Rolle mehr zu spielen, entscheidend ist

nur noch, daß man über-haupt Gegnerschaft artiku-

liert.“ Diedrich Diederichsen

aus dem Programm zu „Die Kraft der Negation“

Der Marxsche Satz, dass das Sein das Bewusst-sein bestimme, wird von den Situationisten streng wörtlich genommen: Die aktionistische Störung,

Radikalisierung, Zweckentfremdung, Umwertung und spielerische

Inszenierung von konkreten alltäglichen Situationen soll das Bewusstsein der beteiligten Personen aus dem saturierten Tiefschlaf des flächendeckenden

Ennui herausreissen und permanent revolutionieren.

Juri Steiner New Babylon. Aufstieg und Fall der Stadt Paris Zwischen Second empire

und 1968

«Die lettristische Provokation bietet immer noch einen Zeitvertreib. Das revolutionäre Denken ist

mit seinen Gedanken nicht woanders. ... Alles, was irgendeine Sache

aufrecht erhält, trägt zur Arbeit der Polizei bei. Denn wir wissen, dass alle Ideen und Verhaltens-weisen, die schon existieren, unbefriedigend sind. Die augenblickliche Gesellschaft teilt sich nur in

Lettristen und Spitzel, ... Es gibt keine Nihilisten, nur Machtlose. Fast alles ist uns

verboten. Die Verführung Minderjähriger und der Genuss von Rauschgiften stehen unter Strafe, wie überhaupt alle unsere Gesten, der Leere zu entkom-

men. Viele unserer Genossen sind wegen Einbruch im Gefängnis. Wir akzeptieren die Strafen

nicht, die man gegen jene verhängt, die sich bewusst geworden sind, unter keinen Umständen zu

arbeiten. Wir verweigern darüber jede Diskussion. Die menschlichen Belange müssen die

Leidenschaft zur Grundlage haben, wenn nicht den Terror.»

Internationale Lettriste

, Nr. 2, Paris 1953 in: Berreby, Documents Relatifs, S. 154ff.

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«Es gibt keine verkannten Genies, keine auf natür-liche Weise wenig bekannten Neuerer. Es gibt nur diejenigen die sich weigern, bekannt und verfälscht zu sein .... diejenigen, die sich nicht manipulieren

lassen wollen, damit sie völlig entstellt und dadurch entfremdet in der Öffentlichkeit auftreten und auf den Zustand

von Werkzeugen reduziert werden, die ihrer eigenen Sache feindlich oder in der grossen menschlichen

Komödie machtlos sind.»

Guy DebordGegen den Film, Hamburg 1978, S. 9.

»Erst später, in den neunziger Jahren, erkannte er, auch wenn er sich von der Vorstellung vom Proleta-riat als Vollender der Emanzipation nicht gänzlich verabschiedete, daß die Klassenherrschaft, wie er in der Vorrede zur dritten französischen Ausgabe der Gesellschaft des Spektakels formulierte, ‚mit einer

Versöhnung geendet hat‘, daß das Proletariat, statt die Feindschaft zu Staat und Kapital zu entwickeln, auf die volle Integration in das fetischistische Wa-renspektakel gesetzt hat, und daß die falsche Totali-tät der Gesellschaft nunmehr ohne Negation, ohne

Einspruch existiert.«

Stefan Grigat Zur Gesellschaftskritik Guy Debord - Der Fetisch im Spektakel

„DIE THESE VoN DER ABSCHAFFUNG DER KUNST MEINT PRIMäR DIE ABSCHAFFUNG

JEDER ART VoN REPRäSENTATIoN, UM DAS IN DER KUNST ENTHALTENE GLÜCKS-

VERSPRECHEN IM REALEN ALLTAGSLEBEN ZU VERWIRKLICHEN.“

Juri Steiner New Babylon. Aufstieg und Fall der Stadt Paris Zwischen Second empire

und 1968

“Ich habe noch kein Kunstwerk gesehen,das man an die Wand hängen kann und das die Welt verändert.Es geht doch vielmehr darum,eine kurze Diagnose zu stellen und dann zu zeigen, wie krank die Welt

im Augenblick ist.”

Christoph Schlingensief

„Es scheint,daß die große Negation heutzutage nur zu haben ist,wenn man sich auf die ganz

andere Seite stellt, jenseits der Binarität, auch der gerade neu wiederaufgebauten zwischen

Abendland und orient,aufdie Seite jenseits des Systems - aber nicht mehr von einem ande-

ren ort aus, nicht mehr von irgendeiner benennba-ren politisch-philosophischen Idee aus ,son-

dern in dem reinen Wünschen,daß es ein Jenseits einer ordnung gibt,die so rigide ist,daß

alle großen Fragen im Sinne eines globalen Kapita-lismus entschieden zu sein scheinen, und

gleichzeitig so dereguliert,daß nichts gesichert und kein Recht garantiert ist, daß es ein solches

Jenseits geben muß.Vielleicht als reines Potenzial.“

Marcus,Greil

Lipstick Traces,Rowohlt,Hamburg,1989

»Die besitzende Klasse und die Klasse des Prole-tariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfrem-dung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiss die

Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in

ihr ihre ohnmacht und die Wirklichkeit einer un-menschlichen Existenz. Sie ist, um einen Ausdruck von Hegel zu gebrauchen, in der Verworfenheit die Empörung über diese Verworfenheit, eine Empö-

rung, zu der sie notwendig durch den Widerspruch ihrer menschlichen Natur mit ihrer Lebenssituation,

welche die offenherzige, entschiedene, umfassende Verneinung dieser Natur ist, getrieben wird.«

Karl Marx

MeW 2,S.37

„Das Spektakel ist passiv gewordene Tätigkeit. Die SI entdeckte neu, was Marx in den Grundrissen

über die Erhebung des menschlichen Daseins (seiner Selbstveränderung, seiner Arbeit) als einer fremden

Macht geschrieben hat, die ihn niederdrückt: ihr gegenüber lebt er nicht mehr, sondern schaut nur

noch zu. Die SI verlieh diesem Thema neuen Nach-druck. Doch das Kapital ist mehr als Befriedung. Es braucht die Intervention des Proletariers, wie „Soci-alisme ou Barbarie“ gesagt hat. Die Überschätzung

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des Spektakels durch die SI ist ein Anzeichen dafür, daß sie auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Vorstellung theoretisiert, die an der Peripherie der Gesellschaft entstanden ist, und die sie für zentral

hielt.“

Gilles Dauvé Kritik der Situationistischen Internationale

DAMIT VERBUNDEN, ENTLEERT SICH AUCH DIE FRAGE NACH EINER GESELLSCHAFTS-VERäNDERNDEN oRGANISIERUNG WAHL-

WEISE IN DER ÜBLICHEN VERNETZUNG „PSEUDoREVoLUTIoNäRER TRÜMMER-

HAUFEN“

Guy Debord

Die Gesellschaft des Spektakels § 220

Bei den üblichen linken Vorstellungen des »Politik-machens« ist der Vermittlungszusammenhang von Theorie und Praxis ein gebrochener, wenn nicht gar

ein zerbrochener.

Biene Baumeister

Zwi Negator, »Aneignung« von »Situationistischer Revolutionstheorie«

«...die Herausbildung der proletarischen Klasse als Subjekt ist die organisation der revolutio-

nären Kämpfe und die organisation der Gesellschaft im revolutionären Augenblick: hier müssen die prak-

tischen Bedingungen des Bewußtseins vorhanden sein, in denen sich die Theorie der Praxis

bestätigt, indem sie zu praktischer Theorie wird»

Guy Debord

„Jede revolutionäre Praxis hat das Bedürfnis nach

einem neuen semantischen Feld und der Bestätigung einer neuen Wahrheit gefühlt.“

Es sollte sich dann zeigen, dass eine »revolutionä-

re Praxis« eben keine sein kann, die unmittelbar mit der

Tat beginnt, sondern eine, die wie die Situationist_innen um Guy Debord herausge-arbeitet haben, sich perma-nent selbstkritisch reflektiert,

das Theoriemoment also das die Praxis übergreifen-

de Allgemeine sein muss. Laut Debord bekämpft eine »revolutionäre Praxis« zwar die Duldsamkeit in allen ih-ren Formen, ist dabei aber nicht ungeduldig, sondern

versteht es zu warten.Biene Baumeister

Zwi Negator, »Aneignung« von »Situationistischer Revo-

lutionstheorie«

„Die situationistische Sprach- und Kunstkritik versucht die Beschränkung auf bloße „Überbauphä-nome-ne“ aufzubrechen und ästhetische wie sprach-liche Vermittlungen aus bloßer Ideologie zur „Waffe

der Kritik“ und zur „Kritik der Waffen“ in der gesellschaftlichen Basis, dem ganzen alltäglichen

Leben zu machen.“

Juri Steiner New Babylon. Aufstieg und Fall der Stadt Paris Zwischen Second empire

und 1968

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Die »falsche Totalität«, die als widerspruchloses Ganzes behauptet wird, ist dem Denken der Frank-

furter Schule entliehen. Die Kritische Theorie, der sich fast alle linken Pu-blizisten, die sich neuerdings mit der SI befassen,

verpflichtet sehen, behauptete eine blind herrschende, negative Totalität. Nichts könne in dieser verding-lichten Gesellschaft überleben, was nicht seinerseits

verdinglicht wäre. Damit wird der Totalitätsgedanke ohne den Praxis-Begriff und ohne den Widerspruchs-Begriff, der für Marx Grundlage der kapitalistischen Totalität ist, gedacht und zu einem geschlossenen System ver-

dinglicht. Das Prozeßhafte und Widersprüchliche in der Ge-

sellschaft wird kassiert. Die Oberfläche - bei der Kri-tischen Theorie die Kulturindustrie, bei Debord »das Spektakel« - beherrscht in diesen Vorstellungen die Gesellschaft total, der fundamentale Widerspruch, der in der Ausbeutung der lebendigen Arbeit liegt,

erscheint als pazifiziert.

H., Freiburg

aus: Wildcat-Zirkular Nr. 62

Das Schicksal des Surrealismus schien gezeigt zu haben, wie schnell die Praxis von „Poesie“, „Revo-

lution“, „Kunst“ und Sprache selbst zu Ideologie er-starren kann, wenn sie als getrennte Domänen nicht

wirklich aufgehoben werden: das surrealistische Programm, Kunst und Alltagsleben „im Dienste

der Revolution“zusammenzuführen, war spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg gescheitert.

Biene Baumeister

Zwi Negator, »Aneignung« von »Situationistischer Revolutionstheorie«

„Die restlich verbliebenen Arbeitssubjekte,die an der Revolution noch hätten interessiert sein

können,irgendwelche so genannten Kreativen beispielsweise,die lieber nach eigenen

Vorstellungen arbeiten wollten und nicht mit einem Reihenhaus zu ködern waren,die hat

man in den letzten Jahren mit flachen Hierarchien,selbst bestimmter Selbstständigkeit von Ich AGs bzw.Tischtennisplatten,obstkörben sowie

Playstations am Arbeitsplatz geködert, zumindest solange sich das der Arbeitsplatz noch

leisten konnte.Von dem Entzug ihres revo- lutionären Subjekts,das keine Revolution mehr

wollte,davon haben sich im Grunde

genommen linke Argumentations-figuren lange nicht erholt.“

Bunz,Mercedesyo entfremdung, De:BuG Nr.69

In der Sprache des Widerspruchs stellt sich die Kritik der Kultur als vereinheitlicht dar: insofern sie das

Ganze der Kultur - ihre Erkenntnis wie ihre Poesie - beherrscht, und insofern sie sich nicht mehr von der Kritik der gesellschaftlichen Totalität trennt. Diese vereinheitlichte theoretische Kritik geht allein der

vereinheitlichten gesellschaftlichen Praxis entgegen.

Guy Debord

Die Gesellschaft des Spektakels § 211

„Die Revolution im Dienste der Poesie.“

«offensichtlich ist das Hauptgebiet, das wir ersetzen und VoLLENDEN werden, die Poe-

sie.»

Internationale Situationniste, Nr 1

Der Beginn einer epoche

„Die Revolution, wie sie der S.I. vorschwebte, ist nichts Geringeres als das Realwerden der Poesie im

Alltag und die Abschaffung der Poesie als Repräsen-tation. „

Juri Steiner New Babylon. Aufstieg und Fall der Stadt Paris Zwischen Second empire

und 1968

„Ich werde ein Arbeiter sein: das ist die Überlegung, die mich hier zurückhält, auch wenn ein furchtba-rer Zorn mich in die Schlacht von Paris treibt wo ja noch immer so viele Arbeiter sterben (…) Jetzt

arbeiten? Niemals, niemals. Ich streike! (…) Ich will ein Poet sein, und ich arbeite an mir, um aus mir

einen Seher zu machen: (…) Es geht darum, durch ein Entgrenzen aller Sinne im Unbekannten anzu-

kommen.“

Jean Nicolas Arthur Rimbaud

(Brief 13.5.1871)

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„Alle Macht den Arbeitern!“

„Nieder mit der Arbeit!“

„Arbeit macht frei!“

„NE TRAVAILLEZ JAMAIS.“ „Arbeitet nie!“

Guy DeBORD 1952 an eine Pariser Hauswand gemalt

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: «Diese Methode praktiziert er nicht nur bei Marx, auch bei Hegel, Freud und anderen. Er begründet dies damit, daß die Entwendung das Gegenteil des Zitats sei. Das Zitat verfälsche als theoretische Autorität bereits deswegen, weil es Zitat geworden sei, weil es Fragment sei, das aus seiner Bewegung, seiner Epoche und seinem Bezugsrahmen gerissen sei. Die Entwendung dagegen sei die flüssige Sprache der Antiideologie, die den früheren Wahrheitskern wiederbringe und bestätige.»

: «Diese Methode praktiziert er

nur bei Marx, sondern

bei Hegel, Freud und anderen. Er begründet dies damit, daß die Entwendung das Gegenteil des Zitats

Zitat verfälsche als theoretische Autorität bereits deswegen,

Zitat geworden sei, weil es Fragment

das aus seiner Bewegung, seiner Epoche und seinem

gerissen sei. Die Entwendung dagegen sei die flüssige Sprache der Antiideologie, die

Wahrheitskern wiederbringe

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: «Diese Methode praktiziert er nicht nur bei Marx, auch bei Hegel, Freud und anderen. Er begründet dies damit, daß die Entwendung das Gegenteil des Zitats sei. Das Zitat verfälsche als theoretische Autorität bereits deswegen, weil es Zitat geworden sei, weil es Fragment sei, das aus seiner Bewegung, seiner Epoche und seinem Bezugsrahmen gerissen sei. Die Entwendung dagegen sei die flüssige Sprache der Antiideologie, die den früheren Wahrheitskern wiederbringe und bestätige.»

: «Diese Methode praktiziert er

nur bei Marx, sondern

bei Hegel, Freud und anderen. Er begründet dies damit, daß die Entwendung das Gegenteil des Zitats

Zitat verfälsche als theoretische Autorität bereits deswegen,

Zitat geworden sei, weil es Fragment

das aus seiner Bewegung, seiner Epoche und seinem

gerissen sei. Die Entwendung dagegen sei die flüssige Sprache der Antiideologie, die

Wahrheitskern wiederbringe

Page 16: D.I.Y. Widerstand

„Die Zweckentfremdung ist ein Spiel, das von der Fähigkeit der Entwertung abhängt, alle Elemente der kulturellen Vergangenheit müssen entweder

reinvestiert werden oder verschwinden.“

Asger Jorn

(Abhandlung über die Zweckentfremdete Malerie, 1959)

„Die Zweckentfremdung zeigt sich also zunächst als Negation des Wertes der vorangegangenen organi-

sation des Ausdrucks.“

Roberto Ohrt

(Der Beginn einer epoche, S.73)

„Es ist eine neue Art sozialer Sprache; eine Kom-munikation, die die Kritik ihrer selbst enthält; eine Technik, die nicht mystifizieren kann, da sie schon

von der Form her Entmystifizierung ist.“

Marcus,Greil

Lipstick Traces,Rowohlt,Hamburg,1989

«Die beiden wichtigsten grundlegensten Gesetze der Zweckentfremdung sind der Verlust der Wichtigkeit,

der bis zum Verlust des ursprünglichen Sinnes gehen kann, und zur gleichen Zeit die orga-nisation einer neuen bedeutungsvollen Totalität.»

Guy Debord

«Diese Methode praktiziert er nicht nur bei Marx, sondern auch bei Hegel, Freud und

anderen. Er begründet dies damit, daß die Entwen-dung das Gegenteil des Zitats sei. Das

Zitat verfälsche als theoretische Autorität bereits deswegen, weil es Zitat geworden sei,

weil es Fragment sei, das aus seiner Bewegung, sei-ner Epoche und seinem Bezugsrahmen

gerissen sei. Die Entwendung dagegen sei die flüssige Sprache der Antiideologie, die den früheren

Wahrheitskern wiederbringe und bestätige.»

„Ist die beste Subversion nicht die, Codes zu entstel-len, statt sie zu zerstören?“

Roland Barthes

“Angeeignet wird dann immer das schon Vorhandene,das sich im Prozess der Aneignung

genauso wenig verändert wie derjenige,der es sich aneignet.oder anders:Aneignung wird

zur Entfaltung von etwas,das es - wie immer ver-puppt - schon gibt.”

“In der Idee der Aneignung liegt also ein interessan-tes Spannungsverhältnis zwischen

Vorgegebenem und Gestaltbarem,zwischen Übernah-me und Schöpfung,zwischen

Souveränität und Abhängigkeit des Subjekts.”

Rahel Jaeggi

Aneignung braucht Fremdheit, Texte zur Kunst Nr.46 / Juni 2002

„Die SI fand in der Collage ein Mittel,nicht nur den Status des künstlerischen Genies zu

hinterfragen,sondern auch die Kunst in ihr Ver-derben zu stürzen,so wie es bereits ihre geistigen Väter,die Dadaisten versucht hatten.Sie eigneten

sich Teile der spektakulären Lebens an und drehten diese per détournement um und produ-

zierten so eine Collage.“

Juri Steiner New Babylon. Aufstieg und Fall der Stadt Paris Zwischen Second empire

und 1968

„Es gab den Vater, den wir hassten, den Surrealis-mus. Und es gab den Vater, den wir liebten: Dada.

Wir waren die Kinder von beiden.“

Michèle Bernstein

„Die einfache surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die

Menge zu schießen.“

André Breton

„Die Manifeste des Surrealismus“ Seite 56

„Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusam-

mentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeig-neten Ebene - und der Funke Poesie, welcher bei der

Annäherung dieser Realitäten überspringt.“

Max ernst

1962

Page 17: D.I.Y. Widerstand

“If you read the copyright laws, there’s only ‘pay for everything you use’ or parody .But surrealism?

Unknown.Collage? Never heard ofit. It’s as ifcollage never happened.”

Negativland

“Kurzum,die Collage ist undenkbar ohne das, was die Situationisten Spektakel nannten. Die Collage ist der ins Spektakel eingebaute Selbstzerstörungs-

mechanismus.Man vergleiche die aus allerlei mecha-nischen Teilen kunstfertig collagierten Maschinen

Tinguelys,die funktionieren,aber nur,um sich selbst zu zerstören. Die Collage neutralisiert das Spektakel

durch willkürliches Nebeneinander und beliebige Reihung;sie entlarvt es der Lüge durch analytischen

Kontrast;sie macht es lächerlich,durch bewußte Kombinatorik oder Zweckentfremdung von Texten

oder objekten.”

Halfbrodt,Michal

Stichworte zu einer subversiven Geschichte der Collage

„Der Schein der Kunst, durch Gestaltung der heterogenen Empirie sei sie mit dieser versöhnt, soll zerbrechen, indem das Werk buchstäbliche, scheinlo-se Trümmer der Empirie in sich einläßt, den Bruch einbekennt und in ästhetische Wirkung umfunktio-

niert.“

Theodor W. Adorno

Ästhetische Theorie. Frankfurt 1972, S.232

“Ihre Wiederholung entspricht damit genau in dem Maße der Logik von Zirkulation und Produktion,auf

der der Kapitalismus sich gründet,wie sie sie auch unterminiert;ebenso stört sie den marxistischen

Trick,der darin besteht zu glauben,die Entfremdung in eine Selbstbestimmung überführen zu können

und dann wäre alles friedlich. Pustekuchen.”

Bunz,Mercedes

yo entfremdung

„...in der wirklich umgekehrten Welt das Wahre ein Moment

des Falschen ist“

Hegel & Debord

„Die Liebe der Wiederholung ist in Wahrheit die einzig glückliche“, schreibt Constantin, „Sie kennt ebensowenig wie die Erinnerung die Unruhe der

Hoffnung, nicht die beängstigende Abenteuerlich-keit der Entdeckung, aber auch nicht die Wehmut

der Erinnerung, sie hat des Augenblicks selige Sicherheit. Die Hoffnung ist ein neues Kleid, steif und stramm und glänzend, man hat es jedoch nie-mals angehabt, und weiß darum nicht, wie es einen kleiden wird oder wie es sitzt. Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleid, welches, so schön es ist, nicht mehr paßt, da man aus ihm herausgewachsen ist. Die Wiederholung ist ein unverschleißbares Kleid

welches fest und zart sich anschmiegt, weder drückt noch schlottert. [...] Die Wiederholung ist ein gelieb-

tes Eheweib, dessen man niemals leid wird.“

Kierkegaard

Die Wiederholung S.4

“Die Ideen verbessern sich. Die Bedeutung der Worte trägt dazu bei. Das Plagi-at ist notwendig. Der Fort-schritt impliziert es. Es hält sich dicht an den Satz ei-

nes Verfassers, bedient sich seiner Ausdrücke, beseitigt

eine falsche Idee, ersetzt sie durch eine richtige.”

Debord GdS S. 140

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„Der Versuch, eine Gegenöffentlichkeit zu bilden, die sich außerhalb des politischen, wirtschaftlichen und informellen System

verorten kann, ist der Überlegung gewichen, das System von innen heraus mit den eige-nen Waffen zu schlagen, die Spielregeln zu

übernehmen, zu übertreiben oder zu brechen. Das setzt auch die Kenntnis der Spielregeln voraus, sowie die Fähigkeit diese parasitär gegen bestehende einzusetzen oder so zu

verbiegen,dass die oft absurde Logik dahinter sichtbar werden kann.“

Juri Steiner New Babylon. Aufstieg und Fall der Stadt Paris Zwischen Second empire

und 1968

„Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dannist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“

Hegel

«Die Grösse der Kunst beginnt erst mit einbrechender Dämmerung des Lebens zu erschei-

nen.»

Guy Debord

Die Gesellschaft des Spektakels S.105

„Die kommenden Revolutionen stehen vor der schweren Aufgabe, sich selbst zu verstehen. Sie

müssen ihre Sprache völlig neu erfinden, und sich gegen alle Rekuperationsversuche verteidigen, die

man für sie vorbereitet.“

Anonymer Situationist

(eventuell Debord, kein Nachweis)

“Die herrschende Ideologie organisiert die Banalisierung der subversiven Entdeckun-

gen und verbreitet sie im Überfluß, nachdem sie sie

sterilisiert hat.”Guy Debord

Rapport

«Die Entwendung ist die flüssige Sprache der Anti-ideologie.»

„Die hier kurz behandel-ten Verfahren werden nicht

als eine eigene Erfindung ausgegeben, sondern im

Gegenteil als eine ziemlich allgemein verbreitete Praxis, dessen Systematisierung wir

beabsichtigen.Die Theorie der Zweckent-

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fremdung an und für sich interessiert uns kaum. Wir

finden sie aber mit fast allen konstruktiven Aspekten der prä-situationistischen Über-gangsperiode verbunden.

Ihre Bereicherung durch die Praxis scheint uns also

notwendig zu sein. Wir ver-schieben die weiterentwick-lung dieser Thesen auf eine

spätere Zeit.“Debord & Gil J. WolmanLes Levres nues, nr.8,1956

„Alle kulturellen Produkte sind Gemeingut (daher hatten ihre Zeitschriften ein Anti- Copyright),eine Trennung zwischen Autor und Leser existiert nicht

und Quellen werden keine angegeben,denn alle Ideen schweben frei im Raum,werden durch die

Geschichte hoch- gespült oder versinken.“

ClabauterReferat über die Geschichte und Theorie der Lettristischen Internationale

und der Situationis-

tischen Internationale

„Das Urheberrecht bildete sich an der Innovation Gutenbergs und entwickelte sich mit jeder neuen

Medientechnologie weiter.Es galt zuallererst dem In-vestitionsschutz der Drucker- Verleger.In der fran-

zösischen Revolution wurden dann auch sogenannte moralische oder urheberpersönlichkeitsrechtliche

Aspekte festgeschrieben,die im kontinentaleuropäi-schen Recht einen stärkeren Schutz genießen als im anglo-amerikanischen Copyright. Der Schutz der

moralischen und materiellen Interessen des Urhe-bers wissenschaftlicher und künstlerischer Werke ist dann sogar in die universelle Menschenrechtserklä-

rung eingegangen. Dort heißt es aber auch,j eder habe das Recht,frei am kulturellen

Leben der Gemeinschaft teilzunehmen, sich der Künste zu erfreuen und an den wissen-

schaftlichen Fortschritten teilzuhaben.“

Volker Grassmuck

„Eigentümer sein, heißt, sich ein Gut anzueignen, von dessen Genuss man andere ausschließt. Indem der Besitzende von dem tatsächlichen Eigentums-recht ausschließt, dehnt er sein Eigentum auf die

Ausgeschlossenen aus [...], ohne die er nichts ist. Als Ausgeschlossene nehmen sie durch die Vermittlung

des Besitzenden teil eine mythische Teilhabe also, denn so organisieren sich am Anfang alle Stammes- und Gesellschaftsbeziehungen, die nach und nach dem Prinzip des Zwangszusammenhangs folgen, wonach jedes Mitglied von der Gruppe abhängt.“

Raoul Vaneigem

Basisbanalitäten

„Das Falsche bildet den Geschmack und stützt das Falsche, indem es vorsätzlich die

Möglichkeit der Bezugnahme auf das Authentische beseitigt. Selbst das Echte wird, sobald

dies möglich ist, imitiert, damit es dem Falschen besser ähnelt.“

Guy Debord

Kommentare XVII

“Man besitzt das nicht,was man selber produziert hat,

ist also ausgebeutet und enteignet; man verfügt und bestimmt nicht über das,was

man tut,ist also machtlos und unfrei; und man ver-

wirklicht sich nicht in seinen eigenen Tätigkeiten,ist also

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sinnlosen,verarmten und instrumentellen Verhältnissen ausgesetzt,Verhältnissen,mit denen man sich nicht iden-

tifizieren kann und in denen man mit sich entzweit ist.”

Aneignung braucht Fremdheit,Rahel

Jaeggi,Texte zur Kunst Nr.46

«Unser Hauptgedanke ist der einer Konstruktion von Situationen – d.h. der konkreten Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umge-staltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft.»

Guy Debord

in Roberto Ohrt, Der Beginn einer epoche, S. 39.

„Die Konstruktion setzt die Destruktion voraus.“

Walter Benjamin

„Das kommende Kunstwerk ist die Konstruktion eines leidenschaftlichen Lebens.“

Guy Debord

«Situation ist für Kirkegaard nicht, wie für Hegel die objektive Geschichte, durch Konstruktion im Begriff fassbar, sondern allein durch die spontane

Entscheidung des autonomen Menschen.»

Th.W. Adorno: Kirkegaard

in: Gesammelte Schriften: Bd. 2, 1974, S. 70.

„Als strategische Momente zur „Konstruktion von Situationen“ sollen diese Techniken allen damit

spielerisch Experimentierenden als kohärente Asso-ziation ermöglichen, „sich erst den revolutionären Ausgangspunkt zu schaffen, die Situation, die Ver-hältnisse, die Bedingungen, unter denen allein die

moderne Revolution ernsthaft wird.“ Mittels solcher entwendenden, experimentellen Wiederaneignung und Herstellung von Kohärenz könnten sich auch

die Proletarisierten selbst als gesellschaftliches Sub-jekt rekonstruieren, d.h. sich aus ihrem objektstatus, der Situation passiver Betrachter_innen spektakulä-rer Vergegenständlichungen (Architektur, Werbeäs-thetik, visuelle Medien etc.) aktiv emanzipieren und

ihre ohnmacht überwinden.“

Biene Baumeister

Zwi Negator, »Aneignung« von »Situationistischer Revolutionstheorie«

„Das gewöhnliche Leben, das bisher vom Versor-gungsproblem bestimmt wurde, kann rationell

beherrscht werden- diese Möglichkeit steht im Mit-telpunkt aller Konflikte unserer Zeit-, und das Spiel muss in das gesamte Leben eindringen, es muss mit seiner räumlichen und zeitlichen Borniertheit radi-kal brechen.......die schön Verwirrung des Lebens bis

zur Vollkommenheit zu treiben.“

R. Ohrt

„Langeweile ist konterrevultionär!“

«Langeweile haben wir, wenn wir nicht wissen, worauf wir warten»

Walter Benjamin

“...wir liegen vor dem Fernseher wie verprügelte Hunde und tragen an unserer Kleidung die

Abzeichen der Unternehmen wie Sklaven.Wir leben in einem Narrenparadies.”

Lasn,KalleCulture Jam- How to reverse america´s suicidal consumer binge- and why

we must,Quill

Press

»Ich bin erregt. Lasse ich die Erregung weiter zu, so bekomme ich Angst. Deshalb sage ich mir: ich bin gar

nicht erregt, ich will gar nichts tun. Gleichzeitig spüre ich aber, dass ich dennoch etwas tun will; da ich aber mein ursprüngliches Ziel vergessen habe, weiss ich nicht was.

Die Aussenwelt muss etwas tun, was mich aus meiner Spannung befreit und mir doch nicht Angst macht. Sie

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muss machen, dass ich handle, dann bin ich der Verant-wortung enthoben. Sie muss mich ‚ablenken‘, ‚zerstreuen‘,

damit das, was ich tue, von meinem ursprünglichen Ziel weit genug entfernt ist. Sie soll das Unmögliche möglich machen: mir Entspannung ohne Triebhandlung verschaf-

fen.« (O. Fenichel: Aufsätze I,302).

„Der Mensch, dieser entschiedene Träumer von Tag zu Tag unzufriedener mit seinem Los, vermag kaum alle die Dinge ganz zu begreifen, die er zu gebrau-

chen gelernt hat und die ihm zu seiner Gleichgültig-keit geführt haben oder zu seiner Anstrengung, denn er hat eingewilligt zu arbeiten zumindest hat er sich

nicht gesträubt, sein Glück zu versuchen.

André Breton

„Die Manifeste des Surrealismus“ erstes Manifest Seite 11

„...eine welt voller genüsse ist zu gewinnen. wir haben dabei nichts zu verlieren, als die langeweile.“

anselm jappe

s. 123 + index

«Angesichts der Notwendigkeit, ganze Städte schnell zu bauen, ist man dabei,

Friedhöfe aus Stahlbeton aufzustellen, in denen sich grosse

Bevölkerungsmassen zu Tode langweilen müssen.»

Asger Jorn

in: L‘Internationale Situationniste, in: Der Beginn einer epoche, S. 84.

„In der Stadt langweilen wir uns, und nur wer sich enorm müde läuft, kann noch Geheimnisse auf den

Straßenschildern entdecken.“

Gilles Ivain

Formular für einen neuen urbanismus

„Das Umherschweifen ist eine Bewegungsart, die sich durch

ihre Ziel- und Planlosigkeit, durch ihre Absage an die Hörigkeit ausgetrete-ner Pfade, ihren Verzicht auf alle bis-

herigen Bewegungs- und Handlungs-motive den

funktionalisierten Zwing-Strukturen der

Stadt entzieht, ja diese zweckent-fremdet....die Auswertung der archi-vierten Protokolle des umherschwei-

fens soll die wahren Stadtpläne ergeben, aus denen sich die Wege

herauslesen lassen, die zu einer Stadt führen, die für den Menschen ge-

baut ist, der sie bewohnt. Das umher-schweifen ist die Zweckentfremdung

der Stadt. “Juri Steiner, New Babylon. Aufstieg

und Fall der Stadt Paris Zwischen Se-cond empire und 1968

„Das Konzept des Umherschweifens ist untrennbar verbunden mit der Erkundung von Wirkungen

psychogeographischer Natur und der Behauptung eines konstruktiven Spielverhaltens, was es

in jeder Hinsicht den klassischen Begriffen der Reise und des Spazierganges

entgegenstellt.“

(S.I. Nr. 2)

«1953-54 haben wir es drei oder vier Monate prak-tiziert: das ist die äusserste Grenze, der kritische

Punkt. Ein Wunder, dass wir daran nicht gestorben sind. Wir hatten eine eisern schlechte Gesundheit.»

Guy Debord

In girum imus nocte et consumimur igni, S. 67f.

“Jeder kann losrasen.Wir klagen ein,dass das mit voller Haftung betrieben wird.”

Christoph Schlingensief

„Die Hauptbeschäftigung der Bewohner wird das ständige Umherschweifen sein. Die Veränderung der Landschaft von einer Stunde zur anderen wird dafür

sorgen, dass man sich vollkommen fremd fühlt.“

Gilles Ivain

Formular für einen neuen urbanismus

Page 24: D.I.Y. Widerstand

Probleme von Alleen, solch rätselhafte Kreuzungspunk-te, solche Sphinxrätsel von Straßen ohne Durchfahr-

ten, daß sie wahrscheinlich selbst den Wagemut eines Gepäckträgers verspottet

oder den Verstand eines Droschkenkutschers verwirrt haben würden. Manchmal

kam es mir so vor, als sei ich der erste Entdecker dieser » Terrae incognitae«, und

es überkam mich ein leiser Zweifel, ob sie je schon in den Stadtplänen von Lon-don verzeichnet worden

seien.“Thomas de Quincey, Be-

kenntnisse eines englischen Opiumessers (1821)

Die Psychogeographie ist dabei „die Erforschung der genauen Gesetze und exakten Wirkungen des geo-graphischen Milieus, das bewußt eingerichtet oder

nicht, direkt auf das emotionale Verhalten des Individuums einwirkt.“

Guy Debord

Rapport

„Deshalb pflegte ich oft Samstagabends, nachdem

ich Opium genommen hatte die Märkte und

Plätze von London zu durch-wandern. Manche dieser

Streifzüge führten mich weit weg, denn ein Opiumes-

ser ist zu glücklich, als daß bei ihm die Zeit eine Rolle

spielte. Und manchmal führ-ten meine Versuche, mich nach nautischen Prinzipi-en heimwärts zu steuern, indem ich mich nach dem

Polarstern richtete und mich nordwestlich halten wollte,

statt alle Kaps und Land-zungen zu umschiffen, an

denen ich auf der Hinreise vorübergekreuzt war, plötz-

lich in solch verschlungene

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„Wir alle sind, ohne uns dessen unbedingt bewußt zu sein, mit der Idee der Psychogeographie vertraut,

denn der anziehende oder abstoßende Charakterbestimmter orte ist jedem bekannt. Hat man bei-spielsweise mehre Möglichkeiten zum Supermarkt zu laufen, wird man je nach Stimmung eineandere

Strecke auswählen. Hat man es eilig, wählt man den kürzeren Weg, der leider an einer lauten, vierspuri-gen Straße entlang führt. Um dem Lärm der Straße

zu entgehen, vertieft man sich vielleicht in seine Gedanken und entfl ieht innerlich der trübsinnigen

Umgebung. Dann wieder macht man extraeinen Abstecher, weil dieser an interessanten orten vorbeiführt, vielleicht einer Straße mit Schaufens-

tern und Cafés oder an einer Parkanlage in Mittender Großstadt.Jeder hat seine alltäglichen Zeremoni-

en, die nicht nur von Funktionalitätbestimmt sind.“

Claudia Basrawi

.ein Vortrag vüber Psychogeographie

„..Dieses Viertel, das ganz aus Flitterkram besteht, wo die Schundwarenverkäufer von der Gefühlsver-irrung einer ganzen Volksschicht profi tieren, dieses

Viertel, das einen fast kochelschwarzen Glanz in den Augen hat – es warzu früh für die Nachtlokale und zu spät fürs Kino - , ließ uns durch seine Maschen

aus Dunkelheit schlüpfen und auf den Platz Saint-Georges entkommen, den die

Rue Laferrière mit ihrem Halbkreis von Küssen für uns vergeblich umgab. Am unteren Ende der Rue

Notre-Dame-de- Lorette, genau in Höhe des Augen-arztes, in dessen kunterbunter Auslage eine kleine

bebrillte Frauenbüste mit einer Frisur à la 1907 steht, die wir unter uns Die künftige Schönheit zu

nennen pfl egten, ..“

louis aragonpariser landleben

„Aragon geht es darum, das „Wunderbare des Alltäglichen“ ebenso einzufangen wie das schwin-delerregende jeweilige „Moderne“ eines in stetigem

Vergehen und Wandel begriffenen Werdens.Das Buch ist gleichzeitig Verteidigung und Illust-ration des Surrealismus, wie Aragon ihn versteht. Kern dieses Surrealimus ist das von der Phantasie produzierte neue Rauschmittel „Bild“ bzw. dessen „zügelloser, leidenschaftlicher Gebrauch“, d.h. des-sen „unkontrollierte Hervorrufung um seiner selbst

willen“ und „um der unvorhersehbaren Störungen und Verwandlungen willen, die es im Bereich der

Vorstellung nach sich zieht“.

Wolfgang Babilas

uni münster

„...Aragon - der Paysan de Paris, von dem ich des Abends im Bett nie mehr als zwei bis drei Seiten

lesen konnte, weil mein Herzklopfen dann so stark wurde, daß ich das Buch aus der Hand legen muß-

te.“

Walter Benjamin

„Die Menschen können nichts um sich herum sehen, was nicht ihr Gesicht ist, alles spricht zu ihnen von

ihnen selbst. Selbst ihre Landschaft ist beseelt.“

Karl Marx

«Wenn du durch die Strassen läufst, fuhr sie fort, musst du jeden einzelnen Schritt sorgfältig beden-ken. Andernfalls ist ein Sturz unausbleiblich. Du musst ständig die Augen offenhalten, nach unten,

nach vorne und nach hinten sehen, stets auf der Hut vor anderen Leuten und auf das Unvorhersehbare gefasst. Ein Zusammenstoss kann tödlich enden.

(...) Man hat sich auf die unsichtbaren Gräben, die jäh auftauchenden Steinhaufen, die fl achen Furchen

einzustellen, damit man nicht stolpert und sich verletzt. (...) Nach und nach nimmt dir die Stadt jegliche Sicherheit. Du kannst dich nie auf einen

Weg festlegen, und überleben kannst du nur, wenn du nichts nötig hast. Du musst auf der Stelle halt-machen, dein Vorhaben fallenlassen und umkehren

können. Schliesslich gibt es nichts, was es nicht gibt. Und darum musst du lernen, die Zeichen zu

deuten. Versagen die Augen, hilft manchmal die Nase weiter. Mein Geruchssinn ist unnatürlich

scharf geworden. Trotz der Begleiterscheinungen – dem plötzlichen Ekel, der Benommenheit, der Angst,

die mit dem Gestank in meinen Körper einzieht – schützt er mich in besonders gefährlichen Situatio-nen, zum Beispiel wenn ich um eine Ecke biege. (...) Entscheidend dabei ist, dass man sich nicht daran gewöhnt. Denn Gewohnheiten sind tödlich. Selbst beim hundertsten Mal muss man allem und jedem

entgegentreten, als ob man es nie zuvor gesehen hät-te. Ganz gleich wie oft, es muss immer das erste Mal sein. Das ist so gut wie unmöglich, ich weiss, aber es

ist eine unumstössliche Regel.

paul auster

„im land der letzten dinge“

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„Der Spielraum des Umherschweifens ist mehr oder weniger genau danach bestimmt, ob diese Tätigkeit die Erforschung eines Geländes oder verwirrende

emotonale Ergebnisse bezweckt. Nicht zu vernach-lässigen ist die Tatsache, dass diese beiden Aspekte

vielfach interferieren, so dass es unmöglich ist, einen im reinen Zustand auszusondern. Schließlich kann aber z.B. der Gebrauch von Taxis eine ziemlich klare Trennungslinie bedeuten: Fährt man während des

Umherschweifexperiments mit einem Taxi zu einem bestimmten ort oder einfach zwanzig Munuten

nach Westen, so sucht man vor allem das persönliche Gefühl des Sich-Fremd-Fühlens. Bleibt man dage-gen bei der direkten Erforschung eines bestimmten

Gebietes, so gibt man der Erforschung eines psycho-geographischen Urbanismus den Vorrang.“

Guy Debord

Theorie des umherschweifens

“It must be considered that there is nothing more difficult to carry out nor more doubtful of success

nor more dangerous to handle than to initiate a new order of things; for the reformer has enemies in all

those who profit by the old order, and only lukewarm defenders in all those who would profit by the new order; this lukewarmness arising partly from the

incredulity of mankind who does not truly believe in anything new until they actually have experience of

it.”

Niccolò Machiavelli

«Die Entwicklung des städtischen Milieus ist die kapitalistische Dressur des Raumes. Sie steht für die

Wahl einer bestimmten Materialisierung des Möglichen und schliesst andere aus.»

«In den neu gebauten Vierteln beherrschen zwei Themen alles: der Autoverkehr und der Komfort

zuhause. Sie sind die erbärmlichen Ausdrucksfor-men des bürgerlichen Glücks, und jedes Interesse am

Spiel fehlt ihnen.»

Constant

in L‘Internationale Situationniste, Nr. 3, in Der Beginn einer epoche, S. 80.

„Über nationale Grenzen hinweg und ungeachtet der uneinheitlichen Benennungen entstand in den letzten Jahren ein Netzwerk kreativer Kritik, bei

deren Interventionen in die kulturelle Grammatik der Dominanzkultur sich politische und künstleri-sche Formen gerne mit Humor und Lust am Spiel

verbinden.“

Sonja Brünzels

Reclaim the Streets: Karneval und Konfrontation, dérive 2.

„Das totale Spiel und die Revulotion des Alltagslebens

sind ein und dasselbe.“ anselm jappe s. 120 + index

„Wir haben schon bemerkt, dass dieser Begriff des

„Nur-Spielens“ keineswegs die Möglichkeit ausschließt,

dieses „Nur-Spielen“ mit äußerstem Ernst durchzufüh-

ren.“Huizinga

«Wir haben schon auf das Bedürfnis, Situationen zu konstruieren, aufmerksam gemacht, eine der grund-legenden Begierden, auf die sich die nächste Zivili-sation gründen muss. Dieses Bedürfnis nach einem

absoluten Schaffen war immer aufs engste mit dem Bedürfnis

verquickt, mit der Architektur, der Zeit und dem Raum zu spielen.»

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„Dieses Projekt kann man mit den nach dem Prinzip der optischen Täuschung angelegten chinesischen und japanischen Gärten vergleichen (mit Unter-

schied jedoch, dass diese Gärten nicht dazu bestimmt sind, dass man ganz in ihnen lebt) oder mit dem lä-

cherlichen Labyrinth im Pariser Botanischen Garten, an dessen Eingang die Dummheit ihren Gipfelpunkt

mit dem Schild erreicht:

Spielen ist im Labyrinth verboten!- o arbeitslose Ariadne!“

Ivan Chtcheglov

„Wir haben einfach Öl hin-gebracht, wo Feuer war.“

Guy Debord

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REVOLUTIONäRE AVANTGARDE

Politische Aspekte der Revolutionären Avantgarde von Alexander Tcherevko

Die Avantgarde fand sehr früh den Einzug in die politische Sprache der revolutionären Partei-en und Bewegungen. Die Fragestellung besteht darin, in wie fern waren die Kunstbewegungen ausschlaggebend für die Bildung der politischen Meinung und wann ging die Avantgarde als Kunstbewegung ins Politische über? Der Pro-fessor für Literatur Peter Bürger behauptet im Buch „Der französische Surrealismus,“ dass erst mit der Studentenbewegung im Jahr 1968 die revolutionäre Kunst politisch wurde. „Mit der französischen Studentenbewegung war der Sur-realismus in die Gegenwart eingebrochen; zu-gleich zwang deren Verlauf zu der Einsicht, dass anarchischer Protest leer laufen konnte.“ (Peter Bürger „Der französische Surrealismus“ Seite 9)

Die Frage ist: „Wo fängt das Politische an?“

Die Avantgarde als die Idee des Fortschritts, muss eine Vorreiterrolle erfühlen und die Ra-dikalität der Umsetzung muss jegliche Zweifel an der Richtigkeit der Bewegung ausmerzen. Die Revolution der Avantgarde (auch als politi-scher Akt) dient zur Auflehnung gegenüber dem Vorbestehenden. Die gesellschaftlichen und in-stitutionellen Werte, werden nicht mehr akzep-tiert und durch das Streben nach neuer Aus-differenzierung, werden diese infrage gestellt. Die Revolution ist in diesem Sinne das Instru-ment mit dem man sich von dem bestehendem befreit und mit dem man zu Freiheit gelangt. Deswegen ist die Aussage vom Herrn Bürger bedenklich, da das Instrument schon mit dem Akt der Kunst sich gegenüber der bestehen-den Kunstideologie stellt. Die Kunst als kultu-relles Medium der Gesellschaft beinhaltet ein Wertesystem, welches in der Avantgardebe-wegung in erster Linie angegriffen wird. Die Werte sind Vorstellungen die dazu beitragen die Gesellschaft zu formen bzw. zu politisieren. Also kann man behaupten, dass schon in der Kunst die ersten politischen Ansätze sichtbar werden. „So wurde Dada geboren aus einem Bedürfnis

nach Unabhängigkeit, nach Misstrauen gegen-über der Gemeinschaft“ (Tristan Tzara „Sieben Dada Manifeste“ S.40) Das Bestreben nach der Unabhängigkeit, folgt aus der Erkenntnis, dass man nicht als Individuum agiert. Das Bestre-ben sich vom bestehenden loszulösen, wird von der Energie der Unzufriedenheit und des Miss-trauens getragen. Diese Kraft ist ungebunden und ungerichtet, weil das neue Erkenntnis noch keine Form hat, sie ist gezwungenermaßen ein „Gegen...“ Für die Dadaisten ebnet diese Ener-gie den Weg für die Vision der gesellschaftlichen Befreiung. Die Kunst und die Literatur als kul-tureller Aspekt der Gesellschaft, bietet ein Me-dium der die Ausdrucksweise der Dadaisten umsetzt und veranschaulicht. Die als Anti-Kunst bekannter Stil, basiert auf der Werteablehnung, Revolution, Anarchie, Zerstörung und bestärkt sich durch die Undefinierbarkeit des Dadais-mus, was zufolge hat, dass man die weit rei-chenden Dimensionen des Dada nicht erfassen kann. (Eine Ebene des Unangreifbaren „Dada ist nichts“ aber auch irgendwie alles.) Ein Auf-stand gegen die Kunst von Seiten der Künstler. Den Kontrast zum Alltäglichen der mit der Bewe-gung erreicht wurde, könnte man als Freiheit für damaligen Avantgardeabschnitt betrachten. Die Erkenntnis der Zwänge des Systems von dem man sich befreien will. Der Akt der Befreiung drückt den Wunsch nach Freiheit aus, Freiheit von: Insti-tutionen, Gesellschaft, Kunst Institutionen. Es ist der Beginn der Freiheit als Autonomie, der sich im Wunsch nach Unabhängigkeit und Eman-zipation äußert. (gesellschaftliche Befreiung)

Die surrealistische Bewegung knüpft an die Auslöser der dadaistischen Bewegung an. „Revolte gegen eine als Zwang empfunde-ne Gesellschaftsordnung, Wille zur totalen Umgestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen und Streben nach einer Verei-nigung von Kunst und Leben.“ (Peter Bür-ger „Der französische Surrealismus“ Seite 12)„Die einfache surrealistische Handlung be-steht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen.“ (André Bre-ton „Die Manifeste des Surrealismus“ Seite 56)Diese überspitzte Aussage macht deutlich wie ernst das Anliegen ist, die gesellschaft-liche, politische und individuelle Befreiung vom System einzuleiten. Der Appell richtet sich auch an die Wahrnehmung/Erkennung

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dessen was uns umgibt, mit „dem Prinzip der Erniedrigung und Verdummung“ (André Bre-ton „Die Manifeste des Surrealismus“ Seite 56) der Massen, deutet Breton an, dass die Einfü-gung in das System reibungslos abläuft, der Mensch aber nicht im Stande ist es zu erkennen. Die Surrealisten glauben an das Unbewusste, was in jedem Menschen verborgen ist. Dieses Unbewusste tritt erst heraus wenn man sich in einem Rausch- oder Traumzustand befindet. Die Freilegung des Unbewussten, wird als die unab-hängige, authentische und leitende Energie ver-standen, die das Individuum als solches definiert und ihn von äußerlichen Zwängen löst. Die Sur-realistische Idee war, durch die Kunst eine Sen-sibilisierung des Menschen zu erreichen, durch die er von sich selbst aus Erkenntnisse gewinnt und nach ihnen handelt. „Gesellschaftliche und geistige Veränderung“(Peter Bürger „Der fran-zösische Surrealismus“ Seite 31) Die Surrealisten wollten dem Menschen die individuelle, politi-sche und die gesellschaftliche Freiheit ermög-lichen, eine globale Freiheit von den Zwängen, zu dem Individuellen/Unbewusstem Leben. Im Vordergrund ist die individuelle Freiheit.Im Jahr 1927 folgt der Beitritt von André Breton in die kommunistische Partei. „Die Kultur inte-ressiert die Surrealisten in ihrem„Werden“ und dieses erfordert erst die Veränderung der Gesell-schaft durch die proletarische Revolution.“ (An-dré Breton „Die Manifeste des Surrealismus“ Seite 103) Die Absicht das Proletariat mit surre-alistischen Mitteln zu erreichen, scheitert an der Wahrnehmung und Bildung der Massen. Die Sur-realisten sprechen nicht die Sprache des Proleta-riats, sondern eher die Bürgerliche und Akade-mische. Der Beitritt zeigt, dass um den Gedanken des Surrealismus zu verbreiten man nach einer Quelle gesucht hat, die das revolutionäre Den-ken und die Masse verbinden konnte. Die Bewe-gung nimmt politische Züge an, sie versucht eine Symbiose mit dem Kommunismus einzugehen. In den Jahren geniest die Kommunistische Par-tei Frankreichs (KPF) eine große Aufmerksam-keit und großen Einfluss in der Arbeiterklasse.In wie fern kann der Mensch selbstständig ohne Input zu einer Erkenntnis kommen (Be-trachtung des Proletariats) und welche Macht übt die Kunst, die Politik und Freiheit aus? In dem Moment, in dem man die Gesellschaft versucht zu verändern und es Idealerwei-se durch die Massen selbst geschieht, hat die Revolution einen politischen Erfolg erzielt.

Der Widerspruch zu den anfänglichen Formu-lierungen der surrealistischen Motivationen, führt darauf hinaus, dass aus der Idee der Frei-heit die Ideologie des Beherrschens entstanden ist. „Wo fängt das Politische an?“ Die Idee, dass der Mensch aus sich selber heraus revolutionär wird, ist sehr utopisch. In dem Fall der Symbi-ose von Surrealismus und Kommunismus wird ein Input von den Führenden, für die Einzelnen ausgegeben um die Massen zu erreichen. Somit entsteht eine Machtposition die mit dem Ge-danken/Denkweise die Massen verführt oder verführen will. Kunst, Politik und Freiheit sind Machtsubstanzen. Die Macht wird dazu benutz um den Massen den Weg zu weisen oder die zu beherrschen. Die Erkenntnis, dass die Macht wie die Freiheit, Politik, Kunst, Leben und das Un-bewusste jedem vorbehalten sind, geht verloren. Der Anfangsgedanke sich von bestehendem zu befreien, in dem man als revolutionärer Mensch, um revolutionär zu bleiben, sich jeden Tag aufs Neue dem vorhandenen gesellschaftlichen Den-ken gegenüber tritt, ist nicht mehr vorhanden.

Das Bestreben der Situationisten folgt den emanzipierenden Veränderungen von der Ge-sellschaft und dem Leben. {Versuch der Lösung von den bestehenden gesellschaftlichen Struktu-ren durch Liebe, Subjektivität, Kunst und Fan-tasie zu einem Ort, an dem Genuss, Zufall und Menschlichkeit entstehen kann.} „Wir meinen zunächst, dass die Welt verändert werden muss. Wir wollen die am weitesten emanzipieren-de Veränderung von der Gesellschaft und den Leben, in die wir eingeschlossen sind“ (Rap-port über die Konstruktion von Situationen)Das Leben zum Kunstwerk als Vision, wird bei den Situationisten mit theoretischen und prak-tischen Herstellungen der Situation zu errei-chen versucht. Das Leben wird als zu gestalten-de Element angesehen, das man mit dem Spiel konzipiert. Die Substanz aus dem Spiel entfes-selt Energie die nicht von äußeren Einflüssen beschränkt wird. Man fühlt sich befreit und versucht die Freiheit in die künstlerischen und politischen Aktionen umzusetzen. Die Freiheit aus Möglichkeiten. {Der Mensch ist unmittel-bar frei, gleichberechtigt, sich selbst verwaltend, kreativ; er kann sich seinen Leidenschaften hin-geben und keinerlei unnötigen Zwänge mehr unterliegen.} Die Aktion führt die Situationisten zu der Freiheit die ihnen ermöglicht dieselbe zu Reproduzieren. Situation = Aktion „Es ist gerade

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unsere Angelegenheit bestimmte Aktionsmittel anzuwenden und neue zu erfinden, die auf dem Gebiet der Kultur und der Lebensweise leichter zu erkennen sind, aber mit der Perspektive einer gegenseitigen Beeinflussung aller revolutionä-ren Veränderungen angewandt werden“ (Rap-port über die Konstruktion von Situationen) Der Guy Debord spricht auch von der Not-wendigkeit der Umwälzung des alltäglichen Lebens und Aufhebung der großen Trennung der Individuen voneinander durch eine re-volutionäre Praxis der Selbstverwaltung. In dem man sich als Frei versteht, kann man die Substanz der Freiheit zu Handlungsfähigkeit und Gestaltung des eigenen Lebens nutzen. Die Re-flexionsebene auf der man den gesellschaftlichen Einfluss/Macht erkennt, erzeugt die Interpreta-tion und den Spielraum für die Situationisten.

Die Ansätze für die revolutionäre Entwicklung der Avantgarde lassen sich bei den Dadaisten klar erkennen. „Der neue Künstler protestiert: er malt nicht mehr (symbolische und illusionis-tische Reproduktion), sondern er schafft direkt Felsen...” (Tristan Tzara „Sieben Dada Mani-feste“ S.42) Die Auswirkungen der Avantgarde werden erst kurz vor ihrem Ausklang deutlich. „Ihr Sieg ist ihre Niederlage“ (Christoph Menke „Ästhetische Souveränität – Nach dem Scheitern der Avantgarde“ Seite 301)„Die avantgardistische Hochschätzung der Kunst erscheint vor allem auch deshalb so ab-wegig, weil sie so erfolgreich war“(Christoph Menke „Ästhetische Souveränität – Nach dem Scheitern der Avantgarde“ Seite 301) Erfolg einer (politischen, künstlerischen) Bewegung beginnt bei der Überzeugung der Massen, dieser Erfolg wird als Massenprodukt an den Mann gebracht und bedient sich der kapitalistischen Ideologie.„Sie erklärt die Kunst zu etwas, das uns vor-macht, wie wir unser Leben einzurichten ha-ben; darin liegt die orientierende, die richtung-weisende Kraft, die die Avantgarde der Kunst (und damit: sich selbst) zu sprach“(Christoph Menke „Ästhetische Souveränität – Nach dem Scheitern der Avantgarde“ Seite 304)„Denn was das avantgardistische Ästhetisie-rung wollte, ist das Gegenteil dessen, zu dem es sich in seiner Verwirklichung verkehrte: Freiheit oder Autonomie.“ (Christoph Menke „Ästhetische Souveränität – Nach dem Schei-tern der Avantgarde“ Seite 301) Nach einem Prinzip zu denken, ist alles andere als Freisein.

Die Überzeugung schränkt dich in deinem au-tonomen Handeln ein, somit ist der Zwang der Bewegung, ein Zwang der Anpassung.„Das, was ein Mittel zum Gewinn von Frei-heit sein sollte, in der Konsequenz seiner ge-genwärtig beobachtbaren Verwirklichung zu einer neuen Qualität im schönen Schein ver-packter Unfreiheit geführt hat.“ (Christoph Menke „Ästhetische Souveränität – Nach dem Scheitern der Avantgarde“ Seite 302)„Logik der Verkehrung der politischen Eman-zipation. Diese Verkehrung besteht darin, dass die politisch-revolutionären Avantgarden als Kampf gegen die traditionelle Herrschaft von Personen antreten und in einer totalen Unter-werfung unter die „Macht der Dinge“ enden.“ (Christoph Menke „Ästhetische Souveränität – Nach dem Scheitern der Avantgarde“ Seite 302)„Das Lehrstück des sowjetischen Kommunis-mus zeigt, dass die politische Emanzipation aus personaler Herrschaft nur herausführt, um nach dem „lächerlichen“ Zwischenspiel der bürgerlichen Gesellschaft und Politik – in ei-ner verwalteten Welt zu enden.“ (Christoph Menke „Ästhetische Souveränität – Nach dem Scheitern der Avantgarde“ Seite 303)„Die Avantgarde überschätzt die Möglich-keit der politischen Emanzipation, indem sie ihr zutraut, verwirklichen zu können, was die Kunst ihr vormacht.“ (Christoph Menke „Ästhetische Souveränität – Nach dem Scheitern der Avantgarde“ Seite 303)

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AVANTGARDISTISCHE KRITIKvon Stefan Staehle

beweglich, schnell, die Frontlinie bildend - so lassen sich die Merkmale beschreiben, die ge-meinhin mit der Avantgarde verbunden wer-den. Doch bilden diese nur die Grundlage für die wesentlich bestimmende Eigenschaft dieses Truppenteils, die sich daraus ergibt, dass sie im Falle einer Verlangsamung ihrer Truppenbewe-gung oder ihres Innehaltens während des Vor-marsches Gefahr läuft ihre exponierte Stellung, durch das sich nähernde Hauptheer, zu verlie-ren. Sie wird sich somit wieder in die Reihen eingliedern müssen. Sollten sich nun zusätz-lich noch das Gros der Armee entschließen, den Rückzug anzutreten läuft sie nun vollends Ge-fahr ins Hintertreffen zu geraten, zur Nachhut, zur Arrieregarde zu werden -abgehängt und mit Rückzugsgefechten beschäftigt (1). Diese hier beschriebenen, rein militärischen Zusammen-hänge beschreiben in ihren Wechselwirkungen und Zusammenhängen die Funktionsweisen aller Avantgarden und avantgardistischen Strö-mungen in ihrem programmatischen Kern. Denn während sie einerseits zur Erkundung beitragen, den Kampfplatz sondieren, das Terrain säubern und den Vormarsch der Truppen sichern und als Erste auf dem Schlachtfeld präsent werden, sind diese Tätigkeiten immer einem höchst flüchtigen Kontext unterworfen, der direkt die Legitimati-on der Vorkämpfer bedroht. Diese Umstände verdammen die Avantgarde ihre Marschrich-tung konsequent fortzusetzen um ihr Wesen zu erhalten. Hieraus ergeben sich die Charakteristi-ka, die vom Auftauchen des Begriffes der Avant-garde außerhalb seiner militärischen Diktion im ausgehenden 19. Jahrhundert, über seine Hoch-phase in den Diensten der Macht, im Russland der Oktoberrevolution und im italienischen Fa-schismus, bis zu seiner Marginalisierung und Entwertung mit der einsetzenden Postmoderne im Europa der Nachkriegszeit, die Handlun-gen der Avantgarden maßgeblich beeinflusst haben. In diesem Zusammenhang wird auch der geschichtliche Rahmen dieser Strömungen erkennbar - die Lebenszeit der Avantgarden ist in großen Teilen kongruent mit dem was ge-meinhin als das Projekt der Moderne verstanden wird (2). Sie sind Begleiterscheinungen dessen

was sich rückblickend als deren prägendste Fak-toren erwiesen hat – erstens der kapitalistisch organisierte Akkumulation von Geld -und Wa-renwerten und zweitens dem Prinzip der taylo-ristischen Arbeitsteilung. Nun wird man natür-lich anführen, dass sich die künstlerische Kritik der Avantgarden vor allem an den verkrusteten Strukturen der Akademien abarbeitet und sich in einer konträren Position gegenüber dem kon-servativen Bürgertum in Stellung brachte - dass es sich also um kulturelle- und ästhetisch kriti-sche Positionen handelte.(3) Diese Haltung al-lerdings kann nicht zu einer konsequent befrie-digenden Erkenntnistiefe führen, da sie zu kurz greift und die herrschenden sozioökonomischen Zusammenhänge größtenteils ausblendet. Nur an diesem Punkt aber kann eine differenzier-te Betrachtung von avantgardistischer Kritik in Kunst und Leben ansetzen. Die erhobenen For-derungen nach neuen künstlerischen Organisa-tionsformen, nach der Internationalisierung der Kunst, der Emanzipation der Frau, die Formu-lierung von theoretischen Grundlagen, nach Ab-straktion, der Ablehnung der Hierarchien und der insgesamt stark zunehmenden Politisierung der Künste (4) kulminieren in dem Ansatz Kunst und Leben zu verschmelzen und ein integrales Gesellschaftsmodell zu entwerfen. Dieser Ent-wurf einer neuen Gesellschaft, die sich aus den Trümmern der vorangegangenen erheben soll-te, wendet sich direkt gegen die fortschreitende Ausdifferenzierung und Trennung der Lebens –und Seinsbereiche, im Sinne der marx’schen Entfremdung. Während sich die sozialistische Kritik, an diesem Zustand der Ausbeutung und Unfreiheit, vor allem gegen die Armut und die Ausbeutung der Arbeiterschaft und die sich ausbreitenden Entsozialisierung der Gesell-schaft wendet, speist sich die Quelle der künst-lerischen Empörung aus der Entzauberung und der fehlenden Authentizität der Dinge und der immer weiter zunehmenden Unterdrückung des Einzelnen durch den Markt(5). Die finalen Forderungen der Avantgarden zielen also dar-auf ab die Aufhebung der Entfremdung des mo-dernen Menschen durch die Anstrengungen der Kunst zu ermöglichen. Die Wiedererlangung der menschlichen Autonomie und das Wiedererken-nen existentieller Werte stehen dabei im Vorder-grund. Mit dieser Um –und Neubewertung der künstlerischen Aktivität im gesellschaftlichen Kontext geht vor allem Positivierung und Stei-gerung des ideellen Wertes des eigenen Schaf-

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fens einher. Aus der abbildenden, bürgerlichen Kunst erwachsen nun Methoden, die zur Seins –und Sinnbestimmung der Rezipienten dienen und ihn zur Authentizität führen sollen. Die Ab-bildung und Hinleitung auf ein neues Menschen –und Gesellschaftsbild bilden in dieser Zeit die neue Triebfeder der Künste, doch dogmatisiert und radikalisiert sie die Kunst und ihre Theorien auch in nie da gewesener Weise. Es ist die Zeit der Kunst-Ismen (6) und Manifeste. Um diesem Kult der Authentizität herum gerieren sich die nun entstehenden avantgardistischen Ismen, egal ob Abstraktivismus, Dadaismus, Futuris-mus, Kompressionsmus, Kubismus, Simultanis-mus, vor allem als kommende Heilsbringer (7) für die an sich selbst krankende Gesellschaft. Um sich in diesem Konkurrenzkampf zu behaupten und sich Gehör zu verschaffen, ist es für sie not-wendig eine klare Trennlinie zwischen sich und dem Gegner zu ziehen. Dies kann in diesem Fall nicht mehr durch die Rückbesinnung und Re-aktivierung vergangener Werte und Traditionen geschehen. Die Brücken zur Vergangenheit hat der fortschreitende Kapitalismus hinter sich ver-brannt und deren Werte vereinnahmt. Hiermit ist die Kritik der künstlerischen Avantgarden zum gleichen Schicksal verdammt wie einst ihre mi-litärischen Vorgänger – dem unbedingten Drang immer weiter in den noch leeren, unbesetzten Raum vorzustoßen und damit den Abstand zwi-schen sich und der nachfolgenden Masse so groß wie möglich zu halten. Um diesem drohenden Verhängnis zu entkommen, entwickelt die Avant-garde Strategien, um ihre Visionen und Szenari-en des Zukünftigen nicht in Gefahr zu bringen, als Ausdruck der herrschenden und ungerech-ten Verhältnisse wahrgenommen zu werden

Das Neue.

Nur durch die Fixierung auf das dato unbekannte und Innovative, kann es der Kunst gelingen sich von der Anschuldigung der Komplizenschaft mit der alten Ordnung frei zu machen und ihren Emanzipationsanspruch bekräftigen. Das Neue ist unschuldig, rein und birgt die Hoffnung auf das Kommen eines neuen Ideals. Des Weiteren artikuliert das Neue den unbedingten Willen zur Innovation und die Progressivität seines Erschaffers. Mit der zunehmenden Dogmatisie-rung dieser Anschauung beginnt ein hektisches Treiben innerhalb des modernen Kunstbetriebes. Um das Neue zu finden, bedarf es zunächst ei-

niger Anstrengungen, die sich vor allem in der aufkommenden Theoriefreudigkeit der Künst-ler niederschlägt. Als besonders ergiebig zur Schaffung des Neuen erwies sich der Mensch an sich, so barg die „Entdeckung“ des Unterbe-wusstseins vor allem einen reichen Schatz neuer Schaffensbereiche. So zerrte die Kunst das De-viante und Abnorme ans Licht um sich darin dem Wesen des menschlichen Seins zu nähern. Die Gültigkeit der drei Dimensionen wird in Frage gestellt – und die Zeit betritt die Bühne der Kunst(8). Und auch die Technik des Inge-nieurs gerät zu einem Idealbild des modernen Kunstschaffenden(9). Von nun an sind die Quel-len, aus denen die Kust schöpft ebenso wie die Ausdrucksformen des etablierten Kunstbetriebs der Dynamik unterworfen, welche die Strategie des „Neuen“ freisetzt. So gerät die Kunst vor al-lem dadurch in Bewegung, dass sich die neuen Strömungen nicht mehr auf eine Ausdrucksform, wie das Bild, allein beschränken lassen wollen – die Schaffung eines Mehrwertes durch das Neue erfordert auch den Abriss der Barrieren zwi-schen den künstlerischen Einzeldisziplinen. Im Bereich der Darstellung entsteht als Antwort auf die immer komplexer werdenden thematischen Zusammenhänge ein sich immer weiter verstär-kender Abstraktionsgrad. Diese Hilfsmittel zur Produktion des Neuen sind die Waffen mit de-nen sich die Avantgarde gegenüber dem Konser-vativismus in Stellung bringt – und gleichzeitig bergen sie ins sich den Kern des ihres Scheiterns.Durch den stetig wachsenden Anspruch an Neuerung und dem sich verschärfenden Inno-vationsdruck erwächst innerhalb der avantgar-distischen Strömungen eine stetig zuspitzende Radikalisierung und Dogmatisierung der propa-gierten Inhalte und ihres Ausdrucks. Doch was, wenn sich die Erforschung des Unterbewuss-ten erschöpft, die Zeit ihren Platz in der Kunst geschaffen hat und sich die Verheißungen des technischen Fortschrittes in ihr Gegenteil ver-kehren? Auch die Frage was nach Malewitschs schwarzem Quadrat noch radikal sein kann, be-droht den Fortschrittsgedanken der Kunst. Hier-in zeigt sich vor allem die Kehrseite der Inno-vationsdynamik avantgardistischer Kritik – den sich schon sehr bald abzeichnenden Endpunk-ten der künstlerischen Radikalität ist sie schutz-los ausgeliefert. Und um aus diesem Vorgang ausbrechen zu können, müsste sie ihre eigent-liche Existenzberechtigung verleugnen, die sie ja direkt aus ihm ableitet. Wie sollte die avant-

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gardistische Kritik aber weiterhin ein Lieferant des Neuen bleiben, wenn sich ihre Innovations-kraft sukzessive zu erschöpfen schien - und wie konnte angesichts dieser Umstände die Kunst weiterhin in der Lage sein, die Vorstellung ei-nes neuen Ideals aufrechterhalten, wie konnte sie weiterhin absolut modern sein (10)? Neben der Zuspitzung des Abstrakten und spektaku-lär Innovativen muss in diesem Zusammenhang ein weiterer ausschlaggebender Sachverhalt ins Feld geführt werden. Die Kritik der Avantgar-de läuft mit ihrer Produktion des Neuen Gefahr sich selbst in Frage zu stellen, da sie einerseits einer Entschleunigung ihrer eigenen Produkti-onsdynamik ausgesetzt ist und andererseits die kritisierten Verhältnisse eine immer größer wer-dende Resistenz gegen die Formen ihrer Kritik entwickeln. Das System des Kapitalismus ist im-mer wieder in der Lage sich mit der erhobenen Kritik zu verschmelzen und sie zu antizipieren – er entwickelt sich ständig weiter und verändert hierbei seine Erscheinungsform – ohne allerdings seine grundlegenden Prinzipien zu verraten.

Die Zweckentfremdung

An diesem Punkt ständiger Mutation, am Pro-zess selbst, muss die Kritik also ansetzen um ihre Aktualität zu wahren. Um den Prozess der Entfremdung, der sich als einzige Konstante in-nerhalb des flüchtigen kapitalistischen Systems erweist, erkennbar zu machen, greifen Teile der Avantgarde als ultima ratio auf die Trennung von Inhalt und Form zurück. (11) Hiermit sollen neue Zusammenhänge und Deutungsebenen sichtbar werden – die Zweckentfremdung als Mittel zur Bekämpfung der Entfremdung. Mit der Neube-setzung des Inhaltes durch die Umdeutung ist ein weiterer Weg gefunden Neues und Inno-vatives zu produzieren, ohne sich der direkten Gefahr der Abwertung und Umdeutung der eigenen Produkte auszusetzen. Sie macht sich eine prinzipielle Logik der Kultur zu Eigen, in der etablierte kulturelle Werte eine Abwertung erfahren, während sich das bis dato profane ei-ner Wertsteigerung unterzieht(12). Kann diese Vorgehensweise zwar auf Dauer der von ihr an-gewendeten Praxis ebenfalls nicht standhalten, so ist sie doch in der Lage die Kritik in einem hohen Maße zu flexibilisieren. Denn während sich Erkenntnisse des wissenschaftlichen und geistigen Fortschritts mit der Zeit abschwächten, an Strahlkraft verloren und sich in das Gesamt-

system einfügten, versetzte die Vorgehensweise der Zweckentfremdung die Künstler in die Lage ihre Kritik direkt an der Dynamik der Bild -und Warenwelten selbst anzusetzen und sich da-mit mit ihr zu entwickeln um somit ihre Rolle als Vorreiter dauerhaft auszuführen. Die Form der Zweckentfremdung setzt den Vorgang der menschlichen Entfremdung unter Druck, da jede ihrer neuartigen Entwicklungen im Augenblick ihres Entstehens Gefahr laufen ihre Bedeutung zu verlieren und sich gegen das System selbst zu wenden. Beispielhaft für diesen Prozess er-scheinen hier die russischen Formalisten um Sklovskij, deren Aktivitäten sich um den Begriff der „ostranenie“ entwickelten. Hierbei sollten die Dinge des Alltags, die in ihrer Erscheinung nur noch automatisiert wahrgenommen werden können zu Gegenständen der Kunst gemacht werden, was ihnen mithilfe ihres innewohnen-den Differenzpotentials ihre wahre Bedeutung zurückgeben würde. (13) Der Vorgang der Zweckentfremdung scheint sich in seiner Be-ständigkeit als deutlich vitaler zu erweisen, als die rein auf Zuspitzung beruhenden Methoden der Kritik. So ist zu erklären, dass er sich auch im Methodenschatz der letzten Avantgardebewe-gung (14), der Situationistischen Internationalen wieder findet. Hier erhält er den Namen Detour-nement – die Zweckentfremdung im Sinne einer Entwertung und Umdrehung (15). Es markiert den Schlusspunkt der immer weiter entwickelten Methoden der avantgardistischen Kritik, kann aber dennoch ihr Scheitern nicht verhindern. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass sich die nun immer deutlicher zu vernehmenden avant-gardekritischen Stimmen durchsetzen, die dem Prinzip der Authentizität und Singularität bzw. dem Prinzip des „alles oder nichts“ ein pluralis-tisches „sowohl als auch“ entgegensetzen. Oder handelt es sich bei der Auflösung der Situatio-nistischen Internationale 1972 um einen künst-lerischen Selbstmord angesichts eines zu mäch-tigen Gegners? Sicherlich spielen diese Faktoren eine Rolle, doch scheinen sie zu kurz zu greifen. So attackieren die Situationisten das Avantgar-dekonzept selbst, indem sie sich in ihrer Selbst-definition nicht etwa als Avantgarde verstehen, sondern als ‚enfants perdus’, als verlorener Haufen im militärischen Sinne bezeichneten(16). Dieses Umgehen der klassischen Avantgarde-defintion und die Ablehnung des Begriffes Situ-ationismus selbst, macht deutlich wie gefährlich der Begriff der Avantgarde für die damaligen

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Künstler schon geworden war – die Methoden und Aussagen der Avantgarden befanden sich schon größtenteils in den Händen ihrer Gegner. So tritt die Situationistische Internationale zwar ebenso wie ihre Vorgänger an, die Differenz zwi-schen Kunst und Alltagsleben zu überwinden und die Totalität des kapitalistischen Arbeitsle-ben zu bekämpfen, doch können in ihrer Denk-weise die Ziele nicht allein mit der Kritik des Künstlers erreicht werden, sondern müssen auf breite Unterstützung bauen, sie müssen die Welt in ihrer Totalität angreifen.(17) So wird in der Auflösung der Situationisten Internationale das Verschmelzen von künstlerischer und sozialer, politischer Kritik ermöglicht, indem künftig, die Situationisten und ihre Aufgabe überall sein sol-len.(18) Diese Verflüchtigung hin zur Nichtloka-lisierbarkeit, die damit verbundene Abkehr von reiner Glaubenslehre und Dogmatismus sind die Antwort auf den neuen Anspruch der Zeit – hierin liegt der Verdienst der Situationisten.

je grandioser ihr Anspruch ist (der Anspruch der Kunst), umso mehr liegt ihre wahre Ver-wirklichung jenseits von ihr. Diese Kunst ist notwendig Avantgarde und diese Kunst exis-tiert nicht. Ihre Avantgarde ist ihr Verschwinden.G. DEBORD

QUELLEN

01. ist die Truppe in Bewegung, so bildet ein mehr oder weniger starker Haufe ihre Vorhut,

nämlich die Avantgarde, welche, im Fall die Bewegung rückwärts geschieht, zur Arrieregarde wird

Clausewitz, Vom Kriege

02.03.04 vgl. Beyne, Theorie der Avantgarde

05. vgl. Boltanski/Chiapello, Der Neue Geist des Kapitalismus

06. Arp/Lissitzky. Kunst-Ismen

07. ein innerweltliches Erlösungspathos ergriff die Avantgarde,

Klaus von Beyne, Theorie der Avantgarde

08. Kubismus, Futurismus (Bocchioni)

09. El Lissitzky, Der Ingenieur

10. il faut être absolument moderneRimbaud

11. vgl. Instant Urbanism xx

12. vgl. Boris Groys, Über das Neue

13. vgl. Frank Kessler, Ostranenie, in new german critique 68

14. vgl. Beyne, Theorie der Avantgarde

15. vgl. Hans Ullrich Reck, Vorlesungen zur Geschichte der Künste im medialen

Kontext, Köln

16. vgl. BBZN, Situationistische Revolutions-theorie

17. Guy Debord, Rapport zur Konstruktion von Situationen

18. vgl. BBZN, Situationistische Revolutions-theorie

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ARCHITEKTUR UND

LEIDENSCHAFTvon Simon Fehrle

„In der Stadt langweilen wir uns und nur wer sich enorm müder läuft kann noch Geheimnisse auf Straßenschildern lesen.“(1) Künstler und Ar-chitekten der Avantgarde sind seit jeher damit befasst, die Welt nach ihren eigenen, oftmals eher kuriosen Maßgaben umzugestalten. So hatten auch die Mitglieder der Situationistischen Inter-nationale ihr eigenes Verständnis von Politik, Gesellschaft und Architektur. Die Situationisten sind radikal antikapitalistischer Gesinnung, aber ihre gleichfalls radikale Ablehnung aller Formen zentraler Regierung hielt sie zugleich davon ab, sich eine politische Revolution zu erträumen, die lediglich eine Machtform durch eine andere er-setzen würde. Stattdessen entwickeln sie das Prinzip des „Einheitlichen Urbanismus“, dem-zufolge Architektur „das einfachste Mittel sei, um die Realität zu formen, um Träume zu erzeu-gen.“ (2) Zusätzlich sollen weitere Kritikpunkte am städtischen Umfeld mit dem so genannten Unitären Urbanismus behoben werden. Diese zielen vor allem auf mangelnde Leidenschaft und Poesie in der Stadtgestaltung ab. Die Situa-tionisten sind überzeugt davon, dass die Städte beherrscht werden von banalen funktionalen Elementen. Die Gesellschaft wird durch Pro-duktion und Komfort beherrscht. Die kalte Ar-chitektur, die nur dazu dient Funktionen zu übernehmen soll nicht länger die Städte bestim-men. Die Vision des Unitären Urbanismus soll den Städtebau in seinen Grundsätzen verändern. Grundlegend soll die Leidenschaft eines Jeden zur Stadtgestaltung geweckt werden. So ist die Idee, die Architektur dem Individuum zu über-lassen und die Stadtgestaltung ebenfalls. Die Stadt ist nicht mehr als reiner Lebensraum zu verstehen. Sie verändert sich zum dynamischen Kunstobjekt und ihre Architektur wird wandel-bar sein. Die Stadt soll sich durch den radikalen Gebrauch bestimmter künstlerischer Techniken und Praktiken nach dem Willen der Bewohner verändern. Durch die Konstruktion neuer Um-

welten in Verbindung mit Verhaltensexperimen-ten wollen die Situationisten das Leben derer neu definieren, die in diesen Strukturen zu leben haben. Wichtig hierbei ist, dass die Architektur als einfachstes Mittel gilt, Raum und Zeit zu ge-stalten. Die Realität wird nicht einfach reprodu-ziert, sondern durch eine spezifisch architektoni-sche Durchdringung von Raum und Zeit derart verändert, dass sie Träume evoziert. Bei der Kon-struktion neuer Umwelten handelt es sich also nicht nur um plastische Gliederung und Umge-staltung urbaner Texturen, sondern um eine Ein-fluss nehmende Modulation, die sich in die ewi-ge Kurve des menschlichen Verlangens einschreibt. Jedes Individuum bringt dabei seine Leidenschaft mit ein und so wird die Gesellschaft von den Sehnsüchten aller getragen. Das Ludi-sche oder Spielerische war den Situationisten dabei von zentraler Wichtigkeit. Damit soll die Freizeit, ihrerseits ermöglicht durch die fortge-schrittene Mechanisierung der Arbeit, produktiv und kreativ umgewertet werden. Zwei wesentli-che Techniken bzw. Spielregeln in dieser Interak-tion zwischen Mensch und Raum sind das Um-herschweifen und die Zweckentfremdung. Das Umherschweifen ist eine Technik des eiligen Durchgangs durch abwechslungsreiche Umge-bungen. Diese experimentelle Verhaltensweise ist geknüpft an die Bedingungen der städtischen Gesellschaft. Der Begriff des Umherschweifens ist untrennbar verbunden mit der Erkundung von Wirkungen psychogeographischer Natur und der Behauptung eines konstruktiven Spiel-verhaltens, was ihn in jeder Hinsicht den klassi-schen Begriffen der Reise und des Spaziergangs entgegenstellt. Eine oder mehrere das Umher-schweifen praktizierende Personen verzichten für eine mehr oder weniger lange Zeit auf die ihnen im allgemeinen bekannten Bewegungs- bzw. Handlungsgründe, auf die ihnen eigenen Beziehungen, Arbeiten und Freizeitbeschäfti-gungen, um sich den Anregungen des Geländes und den ihm entsprechenden Begegnungen hin-zugeben. Die Technik der Zweckentfremdung entnimmt ein ästhetisches vorgefertigtes Ele-ment aus seinem funktionalen Umfeld. Es findet eine Eingliederung jetziger bzw. vergangener Kunstproduktionen in eine höhere Konstruktion der Umwelt statt. Demnach kann es also weder eine situationistische Malerei noch eine situatio-nistische Musik, wohl aber eine situationistische Anwendung dieser Kunstmittel geben. In ihrem ursprünglichen Sinne ist die Zweckentfremdung

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innerhalb der alten Kulturgebiete eine Propa-gandamethode, die deren Abnutzung und den Verlust an Bedeutung zu erkennen gibt. Der Sinn hinter dieser Vision ist also das Erschaffen von konstruierten Situationen. Doch was ist eigent-lich eine Situation? Sie ist die Verwirklichung ei-nes höheren Spiels oder genauer gesagt die Auf-forderung zum Handeln in Leidenschaft. Die revolutionären Spieler aller Länder können sich innerhalb der Situationistischen Internationale vereinigen, um damit anzufangen, aus der Vor-geschichte des alltäglichen Lebens hinauszu-kommen. Und zwar durch die kollektive Orga-nisation von Ereignissen. Auf dieser Grundlage wird die Architektur zu einem mit voller Absicht konstruierten Moment des Lebens. Im Mittel-punkt der Vision der Situationisten steht also das Erschaffen von neuen aufregenden Situatio-nen, das heißt die konkrete Konstruktion kurz-fristiger Lebensumgebungen in eine höhere Qualität der Leidenschaft. in eine höhere Quali-tät der Leidenschaft. Es gibt zwei interessante Beispiele, in denen diese Visionen Form anneh-men. Sie handeln von einem leidenschaftlichen Verlangen, das sich in Architektur ausdrückt. 1. Der niederländische Künstler und Architekt Constant Nieuvenhuys rief in den späten 50iger Jahren, als er Mitglied der Situationistischen In-ternationale war, das Projekt New Babylon ins Leben. Wie seine situationistischen Mitstreiter wandte sich auch Constant gegen die grassieren-de bevorzugte Berücksichtigung automobiler Bedürfnisse bei der Stadtplanung, die das Ende der Straße als sozialem Raum ankündigte. Seine Lösung des Problems ging dahin, die gesamte materielle Struktur von Neu-Babylon oberhalb der Erdoberfläche auf eine Reihe von Pfeilern zu setzen, unter denen dann sämtlicher Verkehr laufen sollte. In den Räumen von Neu-Babylon selbst eröffnete sich so die Möglichkeit des Spiels, das heißt des reinen Handelns. Die großen, offe-nen Innenräume sollen permanent umgestaltet werden. Die Bewohner von Neu-Babylon wür-den ungehindert durch diese Räume wandern, in Herbergen schlafen, und vom Zufall geleitet auf die in die Stadtstruktur eingelassenen Laby-rinthe und Stimmungsräume stoßen: den lauten Raum mit seinen grellen Farben und ohrenbe-täubendem Lärm, den leisen Raum mit seinen schallgeschützten Wänden, den erotischen Spiel-Raum, und so weiter. Der ganze Innenraum soll-te klimatisiert sein, mit absichtlich gesteuerten Schwankungen der Temperatur, Luftfeuchtig-

keit und Lichtmenge. Der Gesamteffekt würde so laut Constant einer „wohltuenden Gehirnwä-sche“ (3) gleichkommen: ihr Design sollte ver-hindern, dass die Einwohner je einer abstump-fenden Routine zum Opfer fallen würden. Den ambitionierten Theoretikern der Situationisti-schen Internationale allerdings war Neu-Baby-lon nicht gut genug. Constants durchaus konkret gemeinte Entwürfe scheinen die Gruppe beun-ruhigt zu haben. Constants Bereitwilligkeit, eine aus durchweg neuen Gebäuden und Strukturen bestehende Stadt zu planen, widersprach Guy Debords Ansicht, dass die Schönheit jeder Stadt gerade im Prozeß der „Sedimentierung“ (4) liegt, dank welchem einzelne Spuren ihrer Vergangen-heit sogar die aggressivsten Formen kapitalisti-scher Neubebauung überleben können. Cons-tants Begeisterung für Technik brachte ihn schließlich in unüberbrückbaren Konflikt mit seinen situationistischen Genossen. 1960 trat er aus der Gruppe aus, und im folgenden Jahr wur-de er in ihrer Zeitschrift als „hinterhältiges Sub-jekt“ (5) verurteilt, „das sich schamlos als Agent einer Integration der Massen in die kapitalisti-sche technische Zivilisation verkauft.“ (6) In New Babylon, gedacht als Modell einer idealen Welt, kann man tatsächlich ein spektakuläres High-Tech-Szenario sehen, in dem das autoritäre Denken im Gewand des „Spielerischen“ durch die Hintertür wieder eintritt. Die ökologischen Implikationen von Constants High-Tech-Vision sind gleichfalls horrend: „In diesen immensen Strukturen sehen wir die Möglichkeit verwirk-licht, die Natur zu unterwerfen und das Klima unserem Willen gemäß zu gestalten“ schrieb Constant im Jahr 1959. (7) Dennoch hat Cons-tants Vorstellung einer auf Wandel, Flexibilität und spielerische Kommunikation ausgerichteten Stadt Architekten wie Rem Kohlhaas beeinflusst. 2. New Babylons hochartifizielle „psychogeo-graphische“ Beschaffenheit erinnert in vieler Hinsicht an Edgar Allan Poes Erzählung „Im Park von Arnheim“. Ein unermesslich reicher Mann widmet sein Leben der Vervollkommnung seiner selbst und der Verschönerung der Welt. Poe beschreibt diesen Mann namens Ellison als einen von überirdischer innerer und äußerer Schönheit, Feinfühligkeit und Kunstsinnigkeit geprägten Charakter. Von seinem Vermögen kauft er ganze Landstriche, die er nach dem Vor-bild einer idealen Naturlandschaft in ein künstli-ches Paradies, das heißt in ein vollkommenes Kunstwerk verwandelt. Nach Ellisons Theorie

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wurde unsere Erde ursprünglich für Erdengel geschaffen, und die Spuren der Zivilisation dar-auf sind Ausdruck für die Zerstörung jenes pa-radiesischen Urzustands der Erde als Ort, wo sich unterschiedliche Seinsbereiche wechselsei-tig durchdringen. In diesem Sinne gelingt es El-lison mit dem Park von Arnheim, einen mythi-schen und poetischen Raum zwischen zwei Welten zu etablieren. Wie in einer umgekehrten Hadeslandschaft ist dem Park jedes Zeichen von Verfall und Sterblichkeit genommen. In ihm drückt sich das Ideal einer auf die Transzendenz von Raum und Zeit angelegten Kunst aus, die sich als Absolutes gegen die Endlichkeit behaup-tet. Man befährt mit einer Barke einen herrlichen Fluss, dessen Ufer perfekt von Menschenhand nachgebildet sind. Nach und nach verlässt der Besucher das irdische Gefielt und findet sich in den Auen des Paradies wieder. Dieses ist geprägt von exotischen Vögeln, betörender Farbenpracht und ätherischen Düften und nichts anderes als eine Architektur aus Sehnsucht und Verlangen.

Quellen:

(1) Gilles Ivan: Formular für einen neuen Urbanismus, Frankreich, 1953(2) Constant Nieuwenhuys: Une autre ville pour une autre vie, Frankreich, 1959(3) Constant Nieuwenhuys: Description de la zone jaune, Frankreich, 1960(4) Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin(5) Tobi Norris: Constant – New Babylon, USA(6) Tobi Norris: Constant – New Babylon, USA(7) Constant Nieuwenhuys: Une autre ville pour une autre vie, Frankreich, 1959

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Das Spiel zwischen Poesie und Spektakel

von Brigitte Leschtar

„Das Spiel steht außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkei-ten und Begierden“ und ist damit losgelöst von den Lebenszwängen des Menschen. Das Spiel ist eine „freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenomme-nen, aber unbedingt bindenden Regeln verrich-tet wird, ihr Ziel in sich selbst hat und beglei-tet wird von einem Gefühl der Spannung, der Freude und einem Bewusstsein des Andersseins als das gewöhnliche Leben.“ (Johan Huizinga)

Johan Huizinga stellte den „Homo ludens“, den spielenden Menschen, im 19. Jahrhundert dem „Homo faber“, dem schaffenden Menschen, der industriellen Produktion des 18. Jahrhunderts gegenüber. Die menschliche Kultur entstand seiner Meinung nach aus einer Weiterentwick-lung einer schon immer vorhandenen Spielt-radition. Die Kultur sei die Folge des Strebens nach einem gesellschaftlichen Ideal. Sie sollte den in ihr lebenden Personen eine Existenz er-möglichen, die über die bloße Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse und das Streben nach Macht hinaus geht. Die daraus entstehende Harmonie hat eine gesellschaftliche Ordnung, ein rhythmisches Leben und eine gekräftigte Gesellschaftsgliederung zu Folge. Das Beherr-schen und Verändern der Natur nach den Wün-schen der Menschen, das Bestreben des „Homo faber“, zählt ebenfalls zu den Merkmalen ei-ner Kultur. Jedoch muss diese Beherrschung durch jeden Einzelnen kontrolliert werden.

Das Spiel war für Huizinga der wesentliche Bestandteil der menschlichen Kultur und be-dingte die Freiheit. Dieser Ansicht war auch Herbert Marcuse: „In einem einzigen Ball-wurf des Spielenden liegt ein unendlich grö-ßerer Triumph der Freiheit des Menschenwe-sens über die Gegenständlichkeit als in der gewaltigsten Leistung technischer Arbeit.“

Laut Definition Huizingas ist das Spiel eine

freie Handlung. „Das befohlene Spiel ist kein Spiel mehr. Es kann höchstens der Eindruck des Spielens erweckt werden.“ Das Spiel stellt keine Verpflichtung dar, und kann somit einfach un-terlassen werden. Es dient zur Erholung vom täglichen Leben, es unterscheidet sich vom All-täglichen durch seinen Platz und seine Dauer und findet außerhalb der Grenzen des Raums und der Zeit statt und kann jeder Zeit als Gan-zes oder in Sequenzen wiederholt werden. Das Spiel ist unabhängig, da es seinen Verlauf und seinen Sinn in sich selbst findet. Innerhalb eines Spiels hat die reale Welt keine Bedeutung. Durch die strenge räumliche Begrenzung des Spiels auf seinen „Spielplatz“, trägt es zur Schaffung einer klaren Ordnung bei. Spielen liegt zwar außerhalb jeder moralischen Wertung wie gut und böse, wahr oder unwahr, es kann jedoch dem ästhetischen Bereich zugeordnet werden durch seinen Rhythmus und seine Harmonie.

Die Elemente des Spiels lassen sich auch in der Po-esie finden. Der Aufbau jeder poetischen Form an sich äußert sich als Spiel. Das symmetrische und rhythmische Einteilen der Sprache, Reim und As-sonanz, das Verhüllen des Sinns und der künst-liche Aufbau einzelner Phasen spiegeln alle die Definition des Spiels wieder. Das Ziel der Dich-tung und des Spiels ist es Spannung zu erzeugen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Spiel eine grundlegende menschliche Aktivität zu sein scheint, die Kreativität, Energie und Kraft freisetzen, verfestigte Strukturen durchbrechen und Innovation hervorbringen kann. Das Spiel könnte das Potential haben die Elemente einer Situation so zu verändern, dass Neues und Un-bekanntes entsteht und Lösungen für scheinbar nicht lösbare Probleme gefunden werden können.

„Das Spiel ist ein Kampf um etwas oder eine Darstellung von etwas.“ (Johan Huizinga).

Dieses Potential wollte sich auch Guy Debord und die Situationistische Internationale zu nut-zen machen. Die „Revolutionierung des Alltags“ zur Rückgewinnung der Selbstbestimmung der Gesellschaft durch eine „Vielfalt der Leiden-schaften und spielerische Betätigung“ war das erklärte Hauptanliegen der Situationisten. Sie waren der Meinung, dass das Gleichgewicht zwischen homo ludens und homo faber zer-stört wurde. Der schaffende Mensch hatte die

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Beherrschung über die von ihm geschaffene Welt der Waren verloren. Die Gesellschaft hat-te sich zu einem Spektakel entwickelt, das die Menschen in einer Bilderwelt gefangen hielt.

„Das Spektakel ist nicht ein Gan-zes von Bildern, sondern ein durch Bil-der vermitteltes gesellschaftlichesVerhältnis zwischen Personen. Das Spekta-kel kann nicht als Übertreibung einer Welt des Schauens, als Produkt der Techniken der Massenverbreitung von Bildern begriffen werden. Es ist vielmehr eine tatsächlich ge-wordene, ins Materielle übertragene Weltan-schauung. Es ist eine Anschauung der Welt, die sich vergegenständlicht hat.“ (Guy Debord).

Die Ansätze zur Veränderung der gesellschaft-lichen Wirklichkeit durch ästhetische Kon-zepte und entsprechender Praxis zeigten sich auch schon bei den Vorgängern der Situatio-nistischen Bewegung. Die Lettristen der fünf-ziger Jahre propagierten das „freie Spiel der Leidenschaft“ und auch die Gruppe Cobra, gegründet von Asger Jorn und Constant, nah-men sich den, nach seinen Wünschen und Be-gierden lebenden Homo ludens zum Vorbild.

Dem Künstlerverein Cobra und den Lettristen um Isidore Isou ging es jedoch zunächst vorran-gig um die Befreiung der Kunst aus ihren elitä-ren Zwängen und um ihre Zugänglichkeit für alle Menschen. Isou strebte eine Dichtung für die Masse an, die ohne Erklärungen von Sachver-ständigen auskam. Die also dem „Intuitiven“ des Spielens wieder näher kam. Seiner Meinung nach hatte die Sprache als kreative Quelle ausgedient. Deshalb bestand die Notwendigkeit ein „reine-res und tiefgründigeres Element des Poesiema-chens“ zu finden, den Buchstaben. In dieser Auf-lösung und Zerstörung der Dichtung erkannten einige Lettristen, unter ihnen auch Guy Debord, den Begin der Revolution des Alltags. Die „lett-ristische Poesie“, die Satz und Worte in willkür-liche Lautverbindungen zerlegt, „schreit nach ei-nem zerschmetterten Universum“ (Guy Debord, in Roberto Orth: Phantom Avantgarde, S.40).

Die Revolution wurde von Guy Debord und Gil Wolman mit der Gründung der “ Lettristischen Internationalen“ vorangetrieben mit dem Ziel eine „Stadt des Spiels“ zu errichten. Zu diesem Zweck erfanden sie die „Wissenschaft“ des „Dé-

rive“, das ziellose „Umherschweifens“ sollte die Entfremdung der Menschen überwinden und ihnen ein Teil ihrer Freiheit zurück geben. Die Lettristen ließen sich durch unbekannte Stadttei-le treiben, von der Architektur leiten und rich-teten sich nur nach ihren momentanen Lüsten.

„…In diesem bewegten Raum des Spiels und der freigewählten Variationen der Spielregeln kann die Autonomie des Ortes wiedergefunden werden, ohne eine neue ausschließende Bin-dung an den Boden einzuführen, und dadurch die Wirklichkeit der Reise und des als Reise ver-standenen Lebens zurückbringen, einer Reise, die in sich selbst all ihren Sinn hat.“ (Guy De-bord, „Die Gesellschaft des Spektakels“ Nr.178)

Die „Situationistische Internationale“ führ-ten diese Spielformen zu Rückgewinnung der Selbstbestimmung fort und bedienten sich zu-sätzlich eines weitern, dem „Détournement“. Die Zweckentfremdung von bereits bestehen-den ästhetischen Elementen, ein Mittel zur Sa-botage des Spektakels, in dem nichts Neues geschaffen wurde, sondern Bestehendes ver-ändert wurde. Das spielerische, freie Umher-schweifen war für sie die Zweckentfremdung der Stadt und sollte sie zum Erfahrungs- und Erlebnisraum, zum Spielplatz, machen. Die Si-tuationistische Internationale verfeinerten das „Dérive“ immer weiter und entwickelte daraus die „Psychogeographie“, bei der ganze Straßen-züge genau darauf untersucht wurden ob und wie ihr Durchschreiten Lust oder Unlust berei-tete. Die festgehaltenen Ergebnisse waren die Grundlage von Kritik an urbanen Strukturen.

Für Debord und die Situationisten waren die Städte von Zeichen des Überflusses übersät, von „Befehle(n) von Coca Cola“, ein (Zeichen-)Sys-tem, das sich provokativ und subversiv durch ein „globales, leidenschaftlich aufregendes Spiel“ verändern lasse. Diese aktuellen Strukturen der Trennung der Einheiten lehnten sie strikt ab. Die-se Trennung, im Marxschen Sinne, war für die S.I. maßgeblich beteiligt am Kapitalismus. Tren-nung erzeuge eine Mangelsituation, die wiede-rum Voraussetzung für die Welt der Waren sei.

Die bestehenden Strukturen ließen sich nach Meinung der S.I. nur aus der Gesellschaft he-raus verändern, von den Mitgliedern, die of-fen für neue Spielregeln seien und bereit ihr

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alltägliches Leben zu überdenken und ihm zu entkommen. Durch spielerische, konstruierte Situationen, die in den Alltag einfließen soll-ten, wollten sie diese Menschen erreichen. Ihre Theorie der „Konstruktion von Situationen“ war sehr stark von der „Theorie der Momen-te“ von Henri Lefebvre geprägt. Auch Lefebvre ging davon aus, dass das Leben nur im Alltag geändert werden könne. Seine Momente, der Versuch zur totalen Verwirklichung einer Mög-lichkeit, seien nur innerhalb der Alltäglichkeit zu finden, „wir können zu den Momenten die Liebe, das Spiel, die Ruhe, die Erkenntnis usw. rechnen. Ihr Aufzählung ist niemals erschöp-fend, denn nichts steht der Erfindung neuer Mo-mente im Wege.“ (Lefebvre 1970, Bd. 3, S.180).Hier zeigen sich deutliche Parallelen zur „Theorie der Situation“, die ebenfalls den Alltag als größ-tes Reservoir zur Bildung von Situationen sah. Diese Situationen sollten ein kurzes Entfremden, ein spontanes Ausleben von Leidenschaft er-möglichen. Ihre Konstruktion sei „die kollektive Organisation einer einheitlichen Umgebung und des Spiels von Ereignissen“ sowie ein „konkret und mit voller Absicht konstruiertes Moment des Lebens.“ (Gallissaires u.a. 1995, S.51) Die S.I. forderte die Überprüfung der „Spielmöglichkei-ten im alltäglichen Leben“, die gesamte Kultur sollte überprüft werden „um schließlich zu einer Theorie des Spiels und zur Praxis der bewuss-ten Umgebungskonstruktion“ zu gelangen. (S.I. Nr. 3/Dezember 1959). Durch das Konstruieren von Situationen, im Rahmen eines kreativen, leidenschaftlichen Spiels, sollten in der vom Ka-pitalismus durchgeplanten Welt kurze Phasen von Selbstbestimmung erzeugt werden. Diese Sequenzen des Spiels sollten zur Enttäuschung dienen. Durch das konstruieren von eigenen Si-tuationen mit selbstbestimmten Handeln würde sich die vermeintliche Naturhaftigkeit des gesell-schaftlichen Seins auflösen. Das Spektakel, das die Realität ersetzt hat, besetzt hat, muss durch die Flucht aus der Wirklichkeit überwunden wer-den um die Realität wieder sichtbar zu machen.

„Das gesamte neue Verhalten wird ein Spiel sein, und jeder lebt sein Leben aus Lust am Spiel, in-dem er sich nur für die Emotionen interessiert, die beim Spiel mit seinen endlich ausführbaren Wün-schen entstehen. Die ersten Elementarwerkzeuge dieser Revolution stellen unseres Erachtens diese entwertenden Mittel der industriellen Kunst dar, gerade deswegen, weil sie zunächst die Werk-

zeuge eines Vergnügens sind.“ (Pinot-Gallizio)

Quellen:

Adamek-Schyma, Bernd„Psychogeografie heute: Kunst, Raum, Revolution?“

Archplus„Situativer Urbanismus“

Böckelmann, Frank„Situationisten, Subversive und ihre Vorgänger“

Debord, Guy„Die Gesellschaft des Spektakels“Berlin 1996

Debord, Guy„Potlatch. Informationsbulletin der Lettristischen Interna-tionale“Berlin 2002

Debord, Guy; Wolman, Gil J.„Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung“

Grasshoff, Richard„Der befreite Buchstabe“2001

Huizinga, Johan„Homo ludens“Hamburg 2004

Ohrt, Roberto„Phantom Avantgarde“Hamburg 1997

Ohrt, Roberto„Das große Spiel.“Hamburg 2000

Schneider, Oliver„Wege aus dem Spektakel?“

Seifert, Anja„Leitmotive im 20 Jahrhundert: Körper, Maschine und Tod.“2002

Zischke, Hoachim„Homo ludens. Oder: das Leben ist Spielen.“2008

http://karaat.com /art.critic

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