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Dlf Fassung Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Ortserkundung Grenzland Pioniere, Zivilisationsflüchtlinge und Beduinen in der israelischen Negev-Wüste Autor: Daniel Cil Brecher Redaktion: Karin Beindorff Produktion: Dlf 2017 Erstsendung: Dienstag, 15.08.2017, 19.15 Uhr Regie: Thomas Wolfertz Autor: Frank Arnold Sprecher 1: Zaid: Volker Risch Sprecherin 1: Henriette: Claudia Mischke Sprecher 2: Dani: Ernst August Schepmann Sprecher 3: Yoram: Daniel Berger Sprecherin 2: Amal: Isis Krüger Sprecher 4: Ran: Thomas Lang Sprecher 5: Atiya: Hüseyin Michael Cirpici Sprecher 6: Suleiman: Hendrik Stickan Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar -

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Dlf Fassung

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Das Feature Ortserkundung

Grenzland Pioniere, Zivilisationsflüchtlinge und Beduinen in der israelischen Negev-Wüste Autor: Daniel Cil Brecher Redaktion: Karin Beindorff Produktion: Dlf 2017 Erstsendung: Dienstag, 15.08.2017, 19.15 Uhr Regie: Thomas Wolfertz Autor: Frank Arnold Sprecher 1: Zaid: Volker Risch Sprecherin 1: Henriette: Claudia Mischke Sprecher 2: Dani: Ernst August Schepmann Sprecher 3: Yoram: Daniel Berger Sprecherin 2: Amal: Isis Krüger Sprecher 4: Ran: Thomas Lang Sprecher 5: Atiya: Hüseyin Michael Cirpici Sprecher 6: Suleiman: Hendrik Stickan

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

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Brecher: Grenzland 2

Atmo Autofahrt 1 Musik: Saad Al-Hussainy „To Kiwan“

Sprecherin 1

Lieber Daniel. Es geht uns sehr gut. Wir haben hier schnell unseren Dreh gefunden

und noch keinen einzigen Moment Heimweh nach den Niederlanden gehabt. Die

Mädchen gehen in die Schule und den Kindergarten. Yoram arbeitet, ich arbeite, es ist

fast wieder so wie früher, nur dass wir jetzt in einer herrlich warmen Wüstenumgebung

wohnen. Es ist sehr angenehm hier.

Autor

Liebe Henriette. Wie schön zu hören, dass alles gut geht bei Euch in Hatzeva. Ich

freue mich darauf, Euch wiederzusehen. Es gibt leider überhaupt keine Hotels in der

Arava. Man kann nur Zimmer mieten, zu verrückt hohen Preisen. Könntest Du mir

etwas auf eurem Moshav empfehlen? Herzliche Grüße, auch an Yoram und die

Kinder.

Sprecherin 1

Das Leben hier ist wirklich anders. Um zwei Uhr mittags kommt alles zum Stillstand.

Das ist einmalig in Israel. Wir genießen die Freiheit und den vielen Platz, den wir

haben. Wir bekommen auch viel Hilfe von verschiedenen Regierungsstellen. Du

kannst gerne bei uns übernachten. Es ist allerdings ziemlich primitiv.

Atmo Autofahrt 1 Musik: Saad Al-Hussainy „To Kiwan“

Sprecher 1

Es war uns ein großes Vergnügen, Sie kennenzulernen. Vielen Dank für die

freundliche Aufnahme in ihrem Haus und ihre Gastfreundschaft. Es wird mir und

meiner Frau Amal ein Vergnügen sein, Sie hier in Beer Sheva zu empfangen. Ich

werde Ihnen das Dorf zeigen, in dem ich geboren bin und in dem meine Mutter noch

lebt. Sie werden mein Gast sein. Mit freundlichen Grüßen, Dr. Zaid Afawi

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Brecher: Grenzland 3

Autor

Lieber Zaid. Ich nehme Ihr Angebot, für mich eine Verabredung mit dem

Bürgermeister der nicht anerkannten Dörfer zu machen, gerne an. Ich würde auch

gerne jemanden treffen, der mir einen Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung

der Beduinen in den letzten zwanzig Jahren geben kann. Vielleicht jemand an der

Universität? Herzliche Grüße und bis bald, Daniel Brecher.

Atmo Autofahrt Musik: Saad Al-Hussainy „To Kiwan“

Ansage

Grenzland.

Pioniere, Zivilisationsflüchtlinge und Beduinen in der israelischen Negev-Wüste.

Ein Feature von Daniel Cil Brecher.

Atmo Besucherzentrum Musik und Stimme aus dem Lautsprecher

O-Ton Henriette Ideale

Als je hier naartoe komt … wat ons hier o.a. heeft gebracht

Sprecherin 1

Nein, du darfst hier nicht mit dem Ideal herkommen, Geld zu verdienen. Wenn es dir

ums Geldverdienen geht, musst du entweder in eine Großstadt ziehen oder gleich in

Europa bleiben, am besten gleich in den Niederlanden. Wir sind mit anderen Idealen

gekommen. Es ist fantastisch, um hier Kinder groß zu ziehen. Sie haben hier viel

Platz, um sich zu bewegen. Und für uns ist es auch ein sehr schönes Leben. Das

Klima, das Lebenstempo ist sehr angenehm. Darum sind wir unter anderem

hierhergezogen.

Autor

Henriette Arnon. Ich kenne Henriette aus Amsterdam, wo sie mit ihrem Mann Yoram

und ihren zwei Töchtern bis vor kurzem gewohnt hat. Henriette war Leiterin der IT-

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Brecher: Grenzland 4

Abteilung einer niederländischen Großbank, Chefin von mehr als dreißig Mitarbeitern.

Jetzt arbeitet sie unter anderem an der Rezeption eines kleinen Besucherzentrums.

Es liegt an einer einsamen Landstraße, die durch die „Arava“ führt, eine Senke, die

sich vom Toten Meer bis nach Elat am Golf von Akaba zieht. Henriette arbeitet jetzt für

einen Stundenlohn von umgerechnet acht Euro, empfängt Touristen, die sich für die

Gegend interessieren oder einfach nur auf die Toilette wollen, und verkauft Kräuter,

Honig und Schokoriegel. Das sind Produkte, die von den kleinen landwirtschaftlichen

Familienbetrieben in dieser entlegensten Gegend Israels hergestellt werden.

O-Ton Henriette Niederländisch

Ik werk hier omdat ik de Arava heel … ik leer iedere dag heel veel.

Sprecherin 1

Ich arbeite hier, weil ich die Arava schön finde und die Besucher alles über die Arava

wissen wollen. Ich kann hier aber auch mein Hebräisch verbessern. Ich lerne hier

jeden Tag sehr viel Neues.

Autor

Ein großer Teil der Senke liegt einige hundert Meter unter dem Meeresspiegel. Die

Temperaturen im Sommer können auf über 50 Grad steigen. Jetzt, im kalten Februar,

müssen wir uns mit 25 Grad begnügen. Es ist eine flache Steinwüste mit sehr wenig

natürlicher Vegetation.

O-Ton Henriette Motivation

Ik heb mijn man hier in Israël … ik heb er geen spijt van.

Sprecherin 1

Meinen Mann habe ich hier in Israel kennengelernt, während einer Urlaubsreise. Wir

haben dann zuerst zusammen in den Niederlanden gewohnt, aber waren oft hier, auf

Familienbesuch oder auf Urlaub. Die Arava hat mich immer fasziniert. Ich kann das

schwer in Worte fassen. Es war einfach ein Gefühl. Ich fühlte mich sehr wohl hier. Wir

haben es keinen Moment bereut.

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Brecher: Grenzland 5

Autor

Neben Hazeva, dem Dorf, in dem sich Yoram und Henriette niedergelassen haben,

gibt es noch ein halbes Dutzend anderer kooperativer Dörfer, Kibbutzim und

Moshavim, mit insgesamt knapp 3.000 Bewohnern - jüdischen Bewohnern. Die rund

3.000 thailändischen Gastarbeiter, die für ein bis fünf Jahre kommen, werden nicht

mitgezählt. Die Dörfer der Arava liegen an einer 100 km langen, zweispurigen

Landstraße: Sie führt entlang der jordanischen Grenze durch eine flache

Wüstenlandschaft, auf beiden Seiten flankiert von imposanten Bergketten, die je nach

Tageszeit braun, rosa oder rot erscheinen.

O-Ton Henriette Niederländer

Voor mij is de woestijn heel erg soul touching … naar de Arava zijn gekomen.

Sprecherin 1

Mich berührt die Wüste sehr stark und ich begreif‘ gut, dass Menschen deshalb

hierherziehen. Ich habe hier einmal in einem Café gesessen, und da kam eine Frau

mit einem kleinen Kind herein, barfuß und ziemlich hippieartig angezogen. Ich hörte,

wie die Mutter mit dem Kind niederländisch sprach. Es waren Niederländer, die lange

in Indien gelebt haben, ihre Kinder bewusst nicht in die Schule geschickt haben und

auf spirituellem Gebiet sehr weit entwickelt sind. Das ist ihr Lebensinhalt, und deshalb

haben sie sich hier in der Arava niedergelassen.

Autor

Das Besucherzentrum, in dem ich Henriette getroffen habe, ist ein flacher,

schmuckloser Zweckbau am Rande der Landstraße. Dahinter liegen die

Gewächshäuser von Hazeva, die sich bis zur zwei Kilometer entfernten Grenze zu

Jordanien erstrecken. Kurz vor der Grenze, rechts und links des eigentlichen Dorfes,

gibt es noch alte Minenfelder aus der Zeit, in der hier Feindesland begann. Ein

einfacher Zaun mit Schildern „Vorsicht Minen“ schirmt sie ab. Seit dem

Friedensvertrag mit Jordanien vor mehr als 20 Jahren sind sie eigentlich überflüssig.

Doch den Bewohnern gelten die Minen als billiger und effektiver Grenzschutz. Ein

wenig inhuman, könnte man sagen. Aber wer hier illegal über die Grenze geht, ist

selbst schuld.

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Brecher: Grenzland 6

O-Ton Arik Lavie Lied: HaSela Ha ADom

Autor:

Ein Film über die Arava, der im Filmsaal des Besucherzentrums in einer

Endlosschleife läuft. Bevor die Juden kamen, sagt der Kommentar, sei die Wüste ganz

leer gewesen und Israels erster Ministerpräsident David Ben Gurion habe deshalb die

Juden in den Städten dazu aufgerufen, die Wüste zu besiedeln, sie zum Blühen zu

bringen. Dieser Mythos vom Land ohne Volk für das Volk ohne Land ist hier in der

Wüste immer noch gegenwärtig.

Atmo Haus Arnon

O-Ton Henriette Haus

Toen wij hier kwamen … bij de bouw van het huis echt rekening gehouden.

Sprecherin 1

Wir hatten in den Niederlanden ein schönes Haus mit einem schönen Garten. Dann

kommst du hier an und denkst: jetzt muss ich erst einmal das Gerümpel wegräumen.

Es gibt hier viel Platz, die Autos werden wild geparkt und stehen nicht so ordentlich

vor dem Haus wie in den Niederlanden. Und überall liegt, wie soll ich es sagen,

landwirtschaftlicher Abfall herum. Unser Haus ist auch nicht ideal. Ich dachte zuerst,

was für eine Bruchbude. Es hat alles, fließend Warmwasser, Elektrizität, aber als wir

es zuerst sahen, dachten wir: es sieht aus wie ein kleines Gefängnis. Es gab kaum

Fenster. Wir haben den Vermieter dann gefragt, ob wir einen Durchbruch für eine

Terrassentür machen dürfen. Das wird euch noch leidtun, hat er gesagt, wegen des

Sandes und der Hitze. Aber ich wollte Licht.

Atmo Yoram und Tochter

O-Ton Yoram Arbeit

HaAvoda sheli be’etzem … shema’averim ota po.

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Sprecher 3

Ich arbeite jetzt als Buschauffeur und fahre die Kinder des Moshavs zur regionalen

Grundschule. Und ich fahre die thailändischen Gastarbeiter. Sie kommen für ein

Schulungsjahr von zehn bis zwölf Monaten, arbeiten fünf Tage in der Woche bei

einem der Landwirte und haben dann einen Tag pro Woche Unterricht in der

Landwirtschaftsschule. Das Ausbildungsjahr zählt dann mit beim ihrem

Landwirtschaftsstudium in Thailand.

Autor

Yoram Arnon, Henriettes Mann. Yoram hat sieben Jahre in den Niederlanden

gewohnt. Weil er vorhatte nach Israel zurückzukehren, schlug er sich dort mit

Gelegenheitsarbeiten durch, zuletzt als Briefsortierer bei der Post. Jetzt will er sich

endlich entfalten. Aber die Beschäftigungsmöglichkeiten sind begrenzt. Die

thailändischen Gastarbeiter besetzen hier 90 Prozent der Arbeitsplätze für

Landarbeiter.

O-Ton Yoram Bewerbung

Tov, be’ikaron mashe hichlatnu ... lehakim meshek.

Sprecher 3

Wir sind jetzt ein halbes Jahr hier und haben uns entschieden, in die Landwirtschaft zu

gehen. Das bedeutet, dass wir uns als Mitglieder im Moshav bewerben müssen. Der

erste Schritt ist eine externe Prüfung, die eine unabhängige Stelle abhält. Da geht es

um unsere soziale und berufliche Eignung. Der nächste Schritt ist die Prüfung der

finanziellen Voraussetzungen, unseres Einkommens, unserer Schulden, unseres

Besitzes. Dann muss die Mitgliedskommission des Moshavs entscheiden, ob wir

geeignet sind, einen Landwirtschaftsbetrieb zu gründen und zu führen.

Autor

Dieser langwierige Bewerbungsprozess ist noch nicht alles. Der Moshav ist zwar der

kapitalistische Bruder des Kibbuzes mit privatisiertem Gewinn und privatem Besitz des

Wohnhauses, aber der Absatz der Produkte und viele andere Einrichtungen auf dem

Moshav sind gemeinschaftlich organisiert.

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O-Ton Yoram Mitgliedschaft

Jachasiet, im ken avarnu ... las’chum she’ata omed lehashgi’a sham.

Sprecher 3

Wenn wir diese Phasen absolviert haben, werden wir als Kandidaten für ein Probejahr

aufgenommen in dem Moshav, in dem wir wohnen wollen. In diesem Probejahr

müssen wir uns dann gesellschaftlich betätigen, werden zu gemeinsamen Abenden

oder Wochenenden eingeladen, damit die Mitglieder uns kennenlernen und am Ende

eine Entscheidung treffen können. Wenn wir angenommen werden, erhalten wir fünf

Hektar Land für den Anbau. Dann müssen wir dem Landwirtschaftsministerium einen

Plan vorlegen für das, was wir anbauen wollen, und unsere Finanzplanung. Wenn der

Antrag angenommen wird, haben wir Recht auf einen staatlichen Zuschuss von 25

Prozent unserer Investitionen.

Autor

Das klingt großzügig, aber die Risiken sind groß. Die Erträge der in der Aarva

angebauten Gemüsesorten – Paprika, Gurken, Zucchini – schwanken sehr stark. Das

Beste wäre Datteln anzubauen. Datteln aus der Arava sind ein Qualitätsprodukt, das

über Umwege sogar nach Saudi-Arabien exportiert wird.

O-Ton Yoram Sieben Jahre

Tov, hagidul hachakla’i … mishana hashvi’it ata matchil leharvi’ach

Sprecher 3

Wenn wir Dattelpalmen anpflanzen, müssen wir vier Jahre warten, bis die Bäume

Früchte tragen. Dann beginnen wir mit der Ernte und dem Verkauf und dann dauert es

noch einmal bis zu vier Jahren, bis du deine Kosten zurückverdient hast. Sieben Jahre

dauert es durchschnittlich, bis die Sache sich zu lohnen beginnt.

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Autor

Und die Alternativen? Landwirtschaft war in Israel früher einer der wichtigsten

Exportsektoren, inzwischen aber liegen High-Tech-Rüstungsgüter und Software vorn.

Und die Regierung investiert in der Zwischenzeit lieber in die Westbank.

Atmo Autofahrt Musik: Saad Al-Hussainy „To Kiwan“

Autor

Ich mache mich auf den Weg in den Norden des Negev. Die Fahrt geht durch eine

rosarote Felsenlandschaft, durch Haarnadelkurven die Berge hinauf zu

atemberaubenden Panoramen und hinunter in Wadis, in denen jetzt, zu Beginn des

Frühjahrs, ein paar Sträucher blühen. Vorbei an Israels einzigem Kernreaktor und

einer nuklearen Versuchsstation, die von einer riesigen militärischen Schutzzone

umgeben ist. Vorbei an den zwei Enwicklungsstädten Dimona und Yerucham, die

Anfang der Fünfzigerjahre für jüdische Einwanderer aus Nordafrika gebaut wurden,

aber sich nie entwickelt haben. Jemand hat dieses Gebiet einmal das Sibirien Israels

genannt, in das orientalische Juden verbannt wurden, um den Negev jüdisch zu

besiedeln.

Wir sind auf dem Weg nach Beer Sheva, der größten jüdischen Stadt des Negev. Sie

wurde um 1900 von der osmanischen Distriktregierung erbaut und war die erste

Beduinen-Stadt des Landes. Hier am relativ fruchtbaren Nordrand des Negev entstand

ein wichtiger Markt für beduinische Landwirte und Viehzüchter. 1948 wurde die Stadt

von der israelischen Armee erobert. Die einheimische Bevölkerung floh oder wurde

vertrieben. Beer Sheva und ein zehn Kilometer tiefer Gürtel um die Stadt herum

wurden zum Sperrgebiet für Beduinen erklärt.

O-Ton Zaid Heimatdorf

Ani gadalti bejeschuv … hechalnu livnot zrifim.

Sprecher 1

Ich bin in einer nicht anerkannten Siedlung aufgewachsen, neben dem Moshav

Nevatim, etwa sechs bis sieben Kilometer von Beer Sheva. Nevatim ist ein Moshav für

Juden aus Indien. Unsere Siedlung und der Moshav sind nur von einer Schnellstraße

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getrennt. Wir haben bis in die Achtzigerjahre in Zelten gewohnt. Dann haben wir

begonnen, Hütten zu bauen.

Autor

Zaid Afawi ist Arzt und Hirnforscher.

O-Ton Zaid Heimatdorf

Weha’inu ad arshav … ze ad schnat haschmonim.

Sprecher 1

Bis heute haben wir keinen Strom und kein Wasser. Wir hatten nur eine kleine

Laterne. Ich erinnere mich, dass meiner Mutter morgens Wasser über dem Feuer

erwärmte, damit ich mich vor dem Weg in die Schule waschen konnte. Was mir noch

genau vor Augen steht, sind die Kuhlen, die wir im Winter um das Zelt herum

gegraben haben. Darin haben wir das Regenwasser eingefangen. Im Sommer haben

wir das Zelt dann umgebaut. Im Winter hielt es den Regen ab, im Sommer die Hitze.

So ging es bis in die Achtzigerjahre.

Autor

Die nicht anerkannten Dörfer sind Siedlungen, die größtenteils in der Zeit nach der

Gründung Israels entstanden sind. Als Wohnorte wurden sie von der Regierung nie

anerkannt. Sie sind nicht an die Verkehrs- und Versorgungsnetze angeschlossen und

haben keinerlei Infrastruktur. 46 Dörfer mit 80 000 Bewohnern werden von einer

Organisation der Beduinen repräsentiert.

Zaid musste in seiner Jugend jeden Tag zehn Kilometer laufen, um die Schule

besuchen zu können, erzählt er. Mit 18 bewarb er sich um einen Medizin-Studienplatz

an der Universität Beer Sheva, benannt nach David Ben Gurion. Nur zwei Beduinen

hatten vor ihm in Israel Medizin studiert. Die Ben-Gurion-Universität nahm ihn nicht an.

Zaid lernte italienisch und studierte in Neapel. Er erwarb sich als Hirnchirurg großes

Ansehen und machte schnell Karriere. Trotzdem wollte er wieder nachhause. Fühlte er

sich gegenüber seiner Familie verpflichtet, wollte ich wissen.

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Brecher: Grenzland 11

O-Ton Zaid Rückkehr

Nachon, sot echad ha sibot … lach’sor laIma scheli.

Sprecher 1

Das stimmt. Das war einer der Gründe, warum ich aus Italien zurückgekommen bin.

Ich fühle mich stark mit meiner Familie verbunden. Ich liebe meine Familie. Einer

unserer Traditionen ist die Eltern zu ehren. Ich hatte viele Angebote im Ausland. Es

ging mir sehr gut, auch was die Arbeit anlangt. Aber trotzdem wollte ich zu meinem

eigenen Leben zurück, zu meiner Mutter, ohne Wasser, ohne Strom. Ich war bereit, all

das in Kauf zu nehmen, um zu meiner Mutter zurück zu können.

Autor

Ich hatte Zaid Afawi und seine Frau Amal im Herbst 2016 kennengelernt, als Zaid auf

Einladung der Erasmus-Universität einige Tage in den Niederlanden war. Ich lud sie

zu mir nachhause ein. Wir kamen schnell ins Gespräch, in ein sehr persönliches und

aufwühlendes Gespräch über seine Erfahrungen als Arzt und Beduine, seine nicht

immer einfache Position in der traditionellen Gesellschaft seines Stammes und seine

Position als Außenseiter in der jüdischen Gesellschaft Israels, in der er Bürger zweiter

Klasse ist. Zaid und Amal luden mich in ihr Haus nach Tel Sheva ein, der ersten, 1967

von der israelischen Regierung für Beduinen gebauten Stadt. Hier, zehn Kilometer von

Beer Sheva entfernt, wohnen sie mit ihren Kindern in einem modernen

Einfamilienhaus. Andere Mitglieder seiner Familie, unter anderem seine über 90jährige

Mutter, sind in der illegalen Siedlung geblieben. Seine Mutter lebt weiterhin ohne

Wasser- und Stromanschluss, ohne Heizung im Winter und ohne moderne Toilette.

O-Ton Zaid Anpassung

HaAchim sheli weIma sheli … bikoret bazad scheni.

Sprecher 1

Meine Brüder, meine Mutter, wenn sie herkommen, fühlen sich wie im Gefängnis und

wollen schnell wieder nachhause. Mir selbst fiel es schwer, nachdem ich einmal zum

Studieren weggegangen war, morgens auf das Duschen zu verzichten. Ich konnte

auch nicht mehr ohne Klimaanlage im Sommer und ohne Heizung im Winter schlafen.

Ich hatte mich an das moderne Leben gewöhnt und konnte nicht mehr zum alten

Leben zurück. Ich kann morgens nicht mit dem Geruch von Rauch in der Kleidung zur

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Brecher: Grenzland 12

Arbeit im Krankenhaus erscheinen. Meine Kollegen würden sagen: Du bist jetzt Teil

unserer Gesellschaft, du musst dich anpassen. Deine Gewohnheiten und Bräuche in

allen Ehren, aber du musst vermeiden, dass andere Kritik an dir äußern.

Autor

Zaid ist eine internationale Kapazität auf dem Gebiet der genetischen Grundlagen der

Epilepsie und leitet die israelische Forschungsgruppe Epilepsie. Trotzdem ist es dem

50Jährigen bislang nicht gelungen, eine feste Anstellung zu bekommen. Er fühlt sich

als Außenseiter unter seinen jüdischen Kollegen. Israelis unterscheiden sehr deutlich

zwischen Arabern und Juden, die in fast völlig getrennten gesellschaftlichen Sphären

leben, aber Beduinen sind noch weniger integriert und akzeptiert. Auch seine Frau

Amal arbeitet am Universitätskrankenhaus in Beer Sheva und hat hier ähnliche

Erfahrungen gemacht.

O-Ton Zaid Mehr Hass

HaHachas haya pi mea … ba’aliya shel mea’chus.

Sprecher 1

Die Beziehungen waren früher hundert Mal besser. Als kleines Kind bin ich in den

Moshav arbeiten gegangen. Sie haben mich respektiert, sie haben meine Eltern

respektiert, und wir haben ihnen Respekt gezeigt. Wir vertrauten einander. Es gab

keine Unterschiede, außer im Lebensstandard. Wir wohnten in Zelten, und sie

wohnten in Häusern. Bis zum Tod von Rabin empfanden wir keinen Hass. Die

Menschen gingen zu Arbeit, konnten sich frei bewegen. In den letzten Jahren ist Hass

entstanden. Wir empfinden das sehr stark. Er hat um hundert Prozent zugenommen.

Atmo Muezzin Lakia

Autor

Ein sternenklarer Abend im Dorf Lakia. Wir stehen vor dem Haus von Amals Eltern

und lauschen gebannt dem Gesang der beiden Muezzine von Lakia. Von zwei

Minaretten rufen sie von verschieden Seiten des Dorfes her zum Gebet. Lakia ist der

Heimatort von Amal, etwa 20 Kilometer von Tel Sheva entfernt. Das Haus der Eltern

ist das älteste hier, aus Lehm gebaut, mit einem großen Vorplatz, auf dem eine riesige

Palme steht. Zaid und seine Frau Amal haben mich zum Abendessen eingeladen.

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Brecher: Grenzland 13

O-Ton Amal Haus

BaBayit haze haya li sichronot … hem garu misawiev.

Sprecherin 2

Mit diesem Haus verbinden mich viele Erinnerungen an die Kindheit. Meine Familie

hat bis in die Neunzigerjahre hier gewohnt, mit mehr als 60 Personen. Darüber hinaus

hatten wir auch immer Gäste. Ganze Familien kamen zu Besuch. Das Haus war

immer voller Menschen. 1990 hat das Haus während des Golfkriegs sogar als Bunker

gedient. Danach wurde es als Schuppen genutzt. Die Familie blieb in der Nähe

wohnen.

Autor

Wir haben uns zum Essen auf den Boden gesetzt. Es gibt Nagluba, ein Gericht aus

Gemüse, Reis und Geflügel, das auf einer großen Schale zwischen uns steht. Die

Mutter hat gemeinsam mit Amal dieses Essen vorbereitet, tritt aber selbst nicht in

Erscheinung. Amals Vater vertritt die Familie. Kadr Abu Karen ist ein einfacher Mann.

Auf dem Abhang hinter dem Haus repariert er Autos, mit den allereinfachsten Mitteln.

Trotzdem hat er es geschafft, alle seine Kinder studieren zu lassen, auch seine

Töchter. Das ist eine Besonderheit in dieser traditionellen Gesellschaft, die zudem

noch bettelarm ist. Die Familie Amals repräsentiert den schwierigen Übergang, in dem

sich die Beduinen hier befinden, von traditionellen Lebens -und Arbeitsweisen zu

einem freieren Lebensstil. Dieser Übergang wird durch die Chancen, die das moderne

Israel bietet, möglich gemacht, aber durch die diskriminierende Haltung der Umwelt

auch wieder sehr erschwert. Ich frage Amal, ob der Weg, den sie gewählt hat –

Fachhochschulstudium in einer anderen, einer jüdischen, Stadt und eine Arbeitsstelle

in einer nicht-beduinischen Umgebung, als OP-Schwester an den Uni-Kliniken in Beer

Sheva – auch von anderen Frauen eingeschlagen wird.

O-Ton Amal Krankenpflege

Ada’in lo … me’ascher bedui.

Sprecherin 2

Noch nicht. Es gibt einzelne Mädchen, die unabhängig sind und vorausstrebend. Aber

im Prinzip lassen die traditionellen Normen der Beduinen-Gesellschaft diese

Unabhängigkeit nicht zu. Krankenpflege ist übrigens kein gutes Beispiel. Die

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Brecher: Grenzland 14

Regierung fördert diesen Beruf sehr stark wegen des Arbeitskräftemangels in diesem

Sektor in ganz Israel. Andere Berufsfelder bleiben Beduininnen praktisch versperrt.

Aber selbst in der Krankenpflege kommst du nicht voran. Eine leitende Position als

Krankenschwester – da werden Juden vorgezogen oder Mitglieder anderer Gruppen,

aber keine Beduininnen.

Autor

Entscheidend sei die Unterstützung der Familie, wenn eine Frau außerhalb der

Familie und des Stammes arbeiten oder einer Ausbildung machen will. Heute leben

etwa 250.000 Beduinen in Israel, größtenteils im Negev. Bei den Männern liegt die

Arbeitslosigkeit bei 60 Prozent Arbeit gibt es vorwiegend im Bau oder im

Transportsektor. Über 80 Prozent der Frauen haben außerhalb der Familie keine

Arbeit und kaum eine Chance, Arbeit zu finden. Amal hat studiert. Haben Frauen ohne

Ausbildung überhaupt Arbeitsmöglichkeiten?

O-Ton Amal Heimarbeit

E’in, e’in … mevi habayta.

Sprecherin 2

Nein, überhaupt nicht. Wenn eine Frau keine Ausbildung hat, findet sie außerhalb des

Hauses keine Arbeit. Körperliche Arbeit oder Arbeit im Freien kommen nicht in Frage.

Einige Frauen gehen putzen, aber das wird unter Beduinen nicht gern gesehen. Ich

arbeite mit einer Gruppe von Frauen, die in Heimarbeit Produkte herstellen, zum

Beispiel Stickereien, oder mit anderen Handarbeiten Geld verdienen wollen. Ich helfe

ihnen beim Verkauf. Auf diese Weise können auch sie ein Einkommen haben. Zu

Hause zu sitzen, ohne Einkommen, macht sie völlig abhängig von den Männern und

von dem Geld, das Männer nach Hause bringen.

Autor

In der Vergangenheit spielte Lohnarbeit bei Beduinen kaum eine Rolle. Seit Mitte des

19. Jahrhunderts, seitdem die Beduinen im Negev allmählich sesshaft wurden, bildete

neben der Viehzucht die Landwirtschaft die wichtigste Einkommensquelle. Frauen

hatten dabei eine ebenso große Rolle gespielt wie Männer, erzählt Amal. Seitdem

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Beduinen aber in Townships wohnen und sich nach neuen Beschäftigungen umsehen

müssen, sitzen die Frauen zuhause.

In Trockenzonen wie dem Negev funktionieren traditionelle Landwirtschaft und

Viehzucht nur in Zusammenhang mit extensiver Bodennutzung und Bodenbesitz.

Damit war der Konflikt mit den jeweiligen Machthabern programmiert. Die

osmanischen, britischen und israelischen Verwaltungen versuchten alle auf ihre

Weise, die traditionellen Muster der Bodennutzung und der Ansiedlung von Beduinen

im Negev zu verändern und zu bekämpfen.

O-Ton Amal Bodenbesitz

HaMischpacha kanta … bekol ha’adamot shela.

Sprecherin 2

Meine Familie hat in der osmanischen Zeit viel Grund gekauft und im Grundbuch

eintragen lassen. Das war sehr wichtig. Heute gibt es viel Streit um Böden hier in der

Gegend. Die meisten Beduinen haben in der osmanischen Zeit Grund gekauft, aber

nicht eintragen lassen, um die Zahlung von Grundsteuern zu vermeiden.

Eingetragener Bodenbesitz war auch mit dem Militärdienst des ältesten Sohnes

verbunden, den die Beduinen umgehen wollten. Der Kauf von Böden wurde dann nur

mit einem Kaufvertrag besiegelt. Meine Familie allerdings ließ den Erwerb von Böden

auch im osmanischen Grundbuch eintragen. Als die israelische Regierung unser Land

konfiszieren wollte, sind wir vor Gericht gezogen. Wir haben bis in die letzte Instanz

kämpfen müssen, aber der Oberste Gerichtshof hat uns in den Neunzigerjahren

schließlich Recht gegeben. Wir waren die erste Beduinenfamilie, deren Grundbesitz

durch den Obersten Gerichtshof bestätigt wurde.

Atmo Autofahrt

O-Ton Atiya Industriezone

Anachnu ro’im po kfar Al Ser … la tzad hasheni.

Sprecher 5

Wir sehen hier das Dorf Al Ser, ein Beduinen-Dorf mit 2000 Bewohnern. Dort sehen

wir das Industriegebiet der Stadt Beer Sheva. Das Gebiet wird ständig erweitert. Jedes

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Mal, wenn es erweitert wird, müssen Menschen umziehen. Die Regierung will, dass

alle umziehen, hierhin, auf die andere Seite der Schnellstraße.

Autor

Atiya Al-Assam, der Vorsitzende des Verbandes der nicht anerkannten 46 Dörfer.

Atiya, der auch „Bürgermeister“ der illegalen Dörfer genannt wird, vertritt die 80.000

Bewohner der Dörfer, ein Drittel der Beduinen im Negev.

O-Ton Atiya Industriezone

Wekol ele habatim … harbei s’man we ole harbei kessev.

Sprecher 5

Alle diese Häuser hier unter den Hochspannungsleitungen müssen abgerissen und

auf die andere Seite gebracht werden. Die Stromleitungen sind gebaut worden,

während die Leute hier wohnten. Das alles symbolisiert das Verhältnis des Staates zu

den Beduinen. Fast alle nicht anerkannten Dörfer sollen aufgelöst werden. Der Staat

gönnt den Menschen nicht die Sicherheit und den Frieden, in ihren Häusern bleiben

zu können. Schau dich um. Es gibt hier keine Straßen, keine medizinische

Versorgung, keine Schulen. Es gibt hier nichts. Die Bewohner müssen für alles in

einen Ort fahren, der weit weg ist. Sie könnten den Autobus nehmen, aber es gibt hier

keine Autobusse. Sie sind auf private Autos angewiesen, und das kostet viel Zeit und

Geld.

Autor

Ich habe Atyia im Büro der Vereinigung in der Altstadt von Beer Sheva abgeholt, und

dann sind wir zusammen zur Schnellstraße 40 gefahren. Diese Umgehungsstraße von

Beer Sheva bildet die Grenze zwischen dem Gebiet der Juden, in dem der Staat

investiert und baut, und dem Gebiet der Beduinen, in dem es oft nicht einmal Strom

und fließendes Wasser gibt. Bei unserer zweiten Station klettern wir auf einen Hügel,

der uns eine weite Aussicht bietet.

Atmo Hügel

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O-Ton Atiya Pläne

Anachnu po ro’im et haKwarim … schloschimve’arba kwarim.

Sprecher 5

Wir können von hier aus fast alle nicht anerkannten Dörfer sehen. Wir sehen auch den

einzigen jüdischen Moshav in der Gegend, 1956 entstanden. Wir sehen, dass es dem

Moshav an nichts fehlt – große landwirtschaftliche Flächen, viel Platz zwischen den

Häusern. Der Staat gibt uns nicht das Recht, einen solchen Moshav für uns zu bauen,

Landwirtschaft zu betreiben und weniger dicht aufeinander zu wohnen. Schau, wie

dicht aufeinander die Häuser auf der anderen Seite stehen. Diese 34 Dörfer will der

Staat abreißen und die Menschen in die Townships oder an andere Stellen umsiedeln.

Autor

Hintergrund und Motive für diese Politik sind sehr umstritten. Die israelische

Regierung argumentiert, dass diese Dörfer auf staatlichem Grund und Boden illegal

gebaut worden seien; dass sie diese Dörfer nicht an die Versorgungs- und

Verkehrsnetze anschließen und ihnen keine öffentlichen Dienstleistungen wie Schulen

bieten könne; und dass die Bewohner in die anerkannten Siedlungen umziehen

müssten, um die jedem Bürger zustehenden Dienstleistungen zu erhalten. Viele der

Dörfer sind erst nach 1948 entstanden, als die Regierung den in Israel verbliebenen

Beduinen ein kleines Siedlungsgebiet nördlich und östlich von Beer Sheva zuwies.

Hier wurden auch die Townships gebaut. Diese Umsiedlung stellte sich aber bald als

unzureichend heraus. Gerade das Gebiet um Beer Sheva wurde und wird für eine

Ausbreitung von Industrie und jüdischen Wohngebieten beansprucht. Die Regierung

verlegte sich auf eine Politik der Anreize und des Zwangs, um die Beduinen erneut

umzusiedeln: Anerkennung größerer Dörfer und Vergabe von angrenzendem Land zu

günstigen Preisen bei gleichzeitig gewaltsamer Zerstörung von anderen. Besondere

Spannungen haben Bauvorhaben für jüdische Siedlungen hervorgerufen, wenn dafür

Beduinendörfer weichen sollten. Bei Protesten gegen ein solches Projekt in Um Al

Hiran kamen kurz vor meinem Besuch zwei Menschen ums Leben, ein Polizist und ein

Lehrer.

O-Ton Atiya Omrit Bet = 0:42

Hayom haMemschala … haJehudim baOmrit bet.

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Sprecher 5

Heute verlässt sich die Regierung auf Zwang, um das Problem zu lösen. Wie bei

diesem Dorf dort drüben. Dort wohnen etwa 6.000 Menschen. Die Regierung plant, sie

zwangsweises in die Township Rahat umzusiedeln, um an dieser Stelle eine jüdische

Siedlung zu bauen, Omrit 2. Wir sagen: O.k., baue Omrit 2, aber baue es an einer

leeren Stelle. Leere Stellen gibt es hier genug. Baue Omrit 2 und erkenne gleichzeitig

das Beduinendorf an. Sorge für eine ordentliche Planung, baue für uns eine richtige

Siedlung. Die Regierung sagt Nein. Die 6.000 müssen nach Rahat umziehen, und wir

werden Juden in Omrit 2 ansiedeln.

Atmo Autofahrt arabische Musik im Autoradio

Atmo Beer Sheva Markt

Autor

Der Beduinen-Markt in Beer Sheva. Hier werden so unterschiedliche Produkte wie

beduinisches Kunsthandwerk, Kleidung, Haushaltswaren Made in China und Gewürze

verkauft. Während meines Aufenthalts veröffentlichte die Stadtverwaltung Pläne, den

über 100 Jahre alten Markt zu schließen, um den „regulären“ Markt der Stadt zu

stärken. Der Markt habe seinen ursprünglichen Charakter verloren, hieß es. Unter

Beduinen ist dieser Schritt umstritten. Einige finden auch, dass der nur noch an zwei

Wochentagen stattfindende Markt nicht mehr lebensfähig sei. Andere sehen darin

einen weiteren Schritt im allumfassenden Projekt der „Umsiedlung“, die Anfang der

1970er Jahre begann.

O-Ton Suleiman Geplante Ortschaften

Asking about the Seventies … and what are their special needs.

Sprecher 6

Nach den 70er Jahren zu fragen, ist ein guter Ausgangspunkt. Seitdem gibt es die

Pläne der Regierung, die Beduinen in geplante Ortschaften umzusiedeln. Die

Bevölkerung sollte dort eine bessere Infrastruktur erhalten - Wasser, Strom, Telefon et

cetera. Der Plan ist teilweise gelungen. Die Regierung hat einen Teil der Bevölkerung

umsiedeln können, obwohl die Infrastruktur von jüdischen Israelis geplant wurde, ohne

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Rücksicht darauf, was zum Lebensstil der Beduinen passte und was ihren besonderen

Bedürfnissen entsprach.

Autor

Suleiman Abu-Bader ist Wirtschaftswissenschaftler an der Ben-Gurion-Universität.

O-Ton Suleiman Geplante Ortschaften

Since then there are now … in these fifteen years.

Sprecher 6

Inzwischen sind 17 geplante oder anerkannte Ortschaften entstanden. Bis 2004 gab

es sieben. Seitdem wurde weitere zehn geplant beziehungsweise anerkannt, aber das

lässt sich nicht leicht erkennen. Nichts ist nämlich geschehen, seitdem diese Orte

anerkannt wurden. Es sind noch nicht einmal gepflasterte Zugangsstraßen angelegt

worden in diesen 15 Jahren.

Autor

Ich traf Suleiman in seinem Büro auf dem modernen Campus einige Kilometer nördlich

des Beduinen-Marktes und der Altstadt von Beer Sheva.

O-Ton Suleiman Ärmste Gemeinden

If we look at the ranking … but this is not the case.

Sprecher 6

Wenn wir uns die Rangordnung aller israelischen Gemeinden anschauen, sehen wir,

dass die geplanten und anerkannten Ortschaften am unteren Ende der Skala von

insgesamt 255 Gemeinden stehen. An dieser Position hat sich im Laufe der Jahre

nichts geändert. Das bedeutet, dass mit den Plänen der Regierung etwas nicht stimmt.

Zum ersten werden diese Entwicklungspläne von der Regierung gemacht, ohne die

Araber im Süden, die Beduinen, zu konsultieren. Was brauchen sie? Wo liegt der

Bedarf? Natürlich kennt die Regierung die Probleme, aber es gibt keine

Zusammenarbeit, keine gemeinsamen Initiativen, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen

und den Lebensstandard zu verbessern. Das geschieht einfach nicht.

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Autor

Atiya Al-Assam, der Bürgemeister, hatte das Ziel der israelischen Politik so

zusammengefasst: so viele Beduinen wie möglich auf so kleinem Raum wie möglich

unterzubringen. In der Tat steht im so genannten Begin-Plan von 2013 die Landfrage

im Mittelpunkt. Der Plan geht von einer übermäßigen Flächennutzung durch Beduinen

im Negev aus und bietet als Kompensation wesentlich kleinere, aber dafür im

Grundbuch registrierte und voll erschlossene Grundstücke in anerkannten Siedlungen

an. Was hält Suleiman vom Argument der unverhältnismäßig hohen Flächennutzung?

O-Ton Suleiman Flächengröße

More and more there are … 19.6 square kilometer.

Sprecher 6

Wir sehen mehr und mehr Wohnungsmangel bei den Beduinen im Süden. Die

Gemeindeflächen sind zu klein im Vergleich zu jüdischen Gemeinden in der Region

mit derselben Bevölkerung. Dimona, auch eine arme Gemeinde im Süden, und Arad

verfügen zusammen über eine Fläche von 130 Quadratkilometern und haben

zusammen eine Bevölkerung von 57.000. Rahat hat 58.000 Einwohner aber verfügt

nur über eine Fläche von 19 Quadratkilometern.

Autor

Alle Pläne der Regierung in den vergangenen 50 Jahren boten strukturelle Hilfen für

die Beduinen immer nur in Verbindung mit Umsiedlung und Konzentration der

Bevölkerung in einer urbanen Umgebung an. Kritiker dieser Politik zitieren gerne den

israelischen Politiker Moshe Dayan, der 1963 die Beduinen durch Urbanisierung

assimilieren und innerhalb von zwei Generationen als „Proletariat“ für den Industrie-

und Dienstleistungssektor gewinnen wollte. Doch das ökonomische Wachstum im

Negev blieb aus und billigere, unqualifizierte Arbeitskräfte wurden im Ausland

angeheuert. Beduinen, und besonders Beduininnen suchen seitdem

Entwicklungsmöglichkeiten in Berufen mit höheren Qualifikationen.

O-Ton Suleiman Studenten

In the past 30 years … educating society in the future.

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Sprecher 6

In den vergangenen 30 Jahren hat sich der Bildungsgrad der Beduinen stark

verbessert, unter Männer wie Frauen, aber unter Frauen ist der Anstieg am stärksten.

Es gibt insgesamt viel mehr Studenten. An der Ben-Gurion-Universität studieren heute

doppelt so viele Frauen wie Männer. Das gilt auch für die Fachhochschulen in der

Region. Und viel mehr weibliche Studenten gehen zum Studium nach Europa. Bildung

wird immer wichtiger. Gebildete Frauen haben zudem mehr Einfluss auf das

Bildungsniveau der Gesellschaft in der Zukunft.

Autor

Wie steht es mit der Vision Ben Gurions, die Wüste zum Blühen zu bringen? Diese

Metapher für die Kolonialisierung eines Gebietes, das bis vor 70 Jahren ausschließlich

von Arabern bewohnt war, wurde auch in Deutschland zu Spendenaktionen genutzt.

So wurde mit Geldern der Bundesländer in der Wüste östlich von Beer Sheva ein

„Wald der deutschen Länder“ gepflanzt, auf dem Boden von Beduinen, die nur einen

Kaufvertrag vorweisen konnten, aber keinen Grundbucheintrag.

O-Ton Suleiman Blühende Wüste

When they talk about… It is very easy.

Sprecher 6

Wenn sie darüber sprechen, die Wüste zum Blühen zu bringen, denken sie nicht an

die Araber. Die Beduinen kommen in diesem Bild nicht vor. Das ist schwer zu

akzeptieren. Der Negev ist riesig, 70 Prozent der Fläche Israels. Es gibt hier genug

Platz für alle, für Juden und Araber, für aschkenasische Juden, für orientalische

Juden. Die Beduinen fordern weniger als vier Prozent des Negev. Gleichzeitig machen

sie 25 Prozent der Bevölkerung des Negev aus. Sie wollen nicht mehr als andere.

Wenn du willst, dass die Wüste blühen soll, dann gib den Beduinen

Entwicklungschancen im Negev. Gib ihnen Arbeit, gib ihnen Bildung, und du wirst

sehen, wie die Wüste erblühen wird. Du brauchst keine Gastarbeiter, um sie zum

Blühen zu bringen. Es ist eigentlich ganz einfach.

Atmo Autofahrt Musik: Saad Al-Hussainy „To Kiwan“

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Absage

Grenzland.

Pioniere, Zivilisationsflüchtlinge und Beduinen in der israelischen Negev-Wüste

Ein Feature von Daniel Cil Brecher.

Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2017

Es sprachen

Frank Arnold, Volker Risch, Claudia Mischke, Daniel Berger, Ernst August

Schepmann, Daniel Berger, Iris Krüger, Thomas Lang, Hendrik Stickan und Hüseyin

Michael Cirpici.

Ton und Technik: Michael Morawietz und Jens Müller

Regie: Thomas Wolfertz

Redaktion: Karin Beindorff