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DOKUMENT DOKUMENT Stellungnahme des BDKJ Bayern zur aktuellen Diskussion: Keine Verschärfung des Jugendstrafrechts! Die Tat von zwei männlichen Jugendlichen vor Weihnachten in einer Münchener U-Bahnstation, bei der ein Rentner brutal niedergeschlagen und lebensgefährlich verletzt wurde, hat Anfang des Jahres die Diskussion um Jugendgewalt und Verschärfung des Jugendstrafrechts an Aktualität gewinnen lassen. Kriminolo- gisch umfasst der Begriff Jugendgewalt folgende Tatbestände: Körperverletzung, Raub, Erpressung und Bedrohung mit Waffen. Was sagt die Statistik? n Die polizeilich registrierte Gesamt- kriminalität ist von 1997 bis 2006 um 4,3% zurückgegangen. Weder die Jugendkriminalität noch die Jugend- gewalt ist in den letzten Jahren drama- tisch gestiegen. Der Bericht „Entwick- lung der Gewaltkriminalität junger Menschen mit einem Schwerpunkt auf städtischen Ballungsräumen“ von 2007 stellt im Hellfeld (Daten der Po- lizeilichen Kriminalstatistik) einerseits einen Anstieg an Körperverletzungs- delikten von jungen Menschen fest, andererseits aber einen Rückgang an Raub- und vorsätzlichen Tötungsde- likten .1 In der Studie „Zur Entwicklung der Jugendgewalt seit 1998 in den Städten München, Stuttgart, Hannover und Schwäbisch Gmünd“ stellen die Autoren fest: „Anhand des Gesamtt- 1 Vgl. Der Spiegel, Nr. 2/7.1.2008, S.25 und Wolfgang Heinz (2008): Stellungnahme zur aktuellen Diskussion um eine Verschärfung des Jugendstrafrechts. S. 1f. rends lässt sich, unter Absehung der lokalen Besonderheit (München, Heinz), aussagen, dass aktuell ca. ein Sechstel weniger Jugendliche durch Gewalt in Erscheinung treten als noch vor sieben Jahren (von 20,1 auf 17,2%).“ 2 n 43,5 % aller registrierten Gewaltde- likte 2006 wurden von Jugendlichen unter 21 Jahren verübt. Im Zehnjah- resvergleich stieg die Zahl der Ge- walttaten von rund 70000 auf 90000, das ist eine Steigerung von über 25%. Die Statistiken verweisen hier jedoch darauf, dass die Sensibilität zur An- zeigebereitschaft in den letzten Jahren gestiegen sei. Dies relativiert die Datenlage. Betrachtet man die Täter- Opfer-Konstellation, so ist festzustel- len: „Opfer von Gewalt Erwachsener sind häufig junge Menschen, Opfer 2 Wolfgang Heinz, a.a.O., S. 3. 1 baidokument Jugendstrafrecht.indd 1 25.02.2008 16:27:51 Uhr

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Stellungnahme des BDKJ Bayern zur aktuellen Diskussion:

Keine Verschärfung des Jugendstrafrechts!Die Tat von zwei männlichen Jugendlichen vor Weihnachten in einer Münchener U-Bahn station, bei der ein Rentner brutal niedergeschlagen und lebensgefährlich verletzt wurde, hat Anfang des Jahres die Diskussion um Jugendgewalt und Verschärfung des Jugendstrafrechts an Aktualität gewinnen lassen. Kriminolo-gisch umfasst der Begriff Jugendgewalt folgende Tatbestände: Körperverletzung, Raub, Erpressung und Bedrohung mit Waffen.

Was sagt die Statistik? n Die polizeilich registrierte Gesamt-

kriminalität ist von 1997 bis 2006 um 4,3% zurück gegangen. Weder die Jugendkriminalität noch die Jugend-gewalt ist in den letzten Jahren drama-tisch gestiegen. Der Bericht „Entwick-lung der Gewalt krimi nalität junger Menschen mit einem Schwerpunkt auf städtischen Ballungsräumen“ von 2007 stellt im Hellfeld (Daten der Po-lizeilichen Kriminalstatistik) einerseits einen Anstieg an Körperverletzungs-delikten von jungen Menschen fest, andererseits aber einen Rück gang an Raub- und vorsätzlichen Tötungsde-likten.1 In der Studie „Zur Entwicklung der Jugendgewalt seit 1998 in den Städten München, Stuttgart, Hannover und Schwäbisch Gmünd“ stellen die Autoren fest: „Anhand des Gesamtt-

1 Vgl. Der Spiegel, Nr. 2/7.1.2008, S.25 und Wolfgang Heinz (2008): Stellungnahme zur aktuellen Diskussion um eine Verschärfung des Jugendstrafrechts. S. 1f.

rends lässt sich, unter Absehung der lokalen Besonderheit (München, Heinz), aussagen, dass aktuell ca. ein Sechstel weniger Jugendliche durch Gewalt in Erscheinung treten als noch vor sieben Jahren (von 20,1 auf 17,2%).“2

n 43,5 % aller registrierten Gewaltde-likte 2006 wurden von Jugendlichen unter 21 Jahren verübt. Im Zehnjah-resvergleich stieg die Zahl der Ge-walttaten von rund 70000 auf 90000, das ist eine Steigerung von über 25%. Die Statistiken verweisen hier jedoch darauf, dass die Sensibilität zur An-zeigebereitschaft in den letzten Jahren gestiegen sei. Dies relativiert die Datenlage. Betrachtet man die Täter-Opfer-Konstellation, so ist festzustel-len: „Opfer von Gewalt Erwachsener sind häufig junge Menschen, Opfer

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von Gewalt junger Men schen sind in der Regel Gleichaltrige.“3

n Der Anteil von ausländischen Tatver-dächtigen beträgt im Jahr 2006 17,4 % bei einem aktuellen Bevölkerungs-anteil von 8,8 % (hier sind Touristen und Stationierungsstreitkräfte sowie Verstöße gegen das Aufenthaltbestim-mungsrecht herausgerechnet).4

n 2006 wurden in Bayern 10640 Ju-gendliche im Alter von 14 bis 17 Jah-ren und 14769 Heranwachsende (18- bis 20-Jährige) verurteilt. 19,51% der Jugendlichen und 18,19% der jungen Heranwachsenden hatten keine deut-sche Staatsangehörigkeit.5

Was sagen kriminologische, pädagogische und psychosoziale Deutungsmodelle?

n Jugendkriminalität und Jugendgewalt sind keine neuen Phänomene. In quantitativer Hinsicht fallen junge Menschen häufiger als StraftäterInnen auf. Diese Beobachtung wurde bei allen Generationen gemacht. Prof. Dr. Heinz spricht hier von der so genann-ten „age-crime-Kurve“, die universelle Gültigkeit besitzt.

n Jugendgewalt ist in erster Linie ein Problem von männlichen Jugend-lichen. In ihrer Sozialisation wurden sie sehr oft mit familiärer Gewalt konfrontiert. „Die Gewalt fängt in der Familie an. Das gilt für nahezu alle gewaltbereiten Heranwachsenden und Mehrfach täter.“6 Der Soziologe Dieter Otten von der Universität Osnabrück sagt: „Die für so viele Männer des modernen Menschentyps charakteri-stische Aggressivität ist das Ergebnis eines scharfen Trainings.“ Dies be-deutet, das Ausmaß der Aggressivität bei männlichen Jugendlichen ist nicht

3 Vgl. Der Spiegel, a.a.O., S. 26., Wolfgang Heinz (2008), a.a.O.; S. 2.4 Vgl. Der Spiegel, a.a.O., S.26; die Zahlen beziehen sich auf die Gesamtkriminalität.5 Bayerische Staatszeitung, 11.1.2008, Nr.2, S.2.6 Achim Schröder, Angela Merkle (2008): „Die Wirk-samkeit von pädagogisch gestützter Gewaltprävention ist belegt.“ Fachliche Stellungnahme zur aktuellen Diskussion über Jugendgewalt. S. 3.

angeboren, sondern gesellschaftlich bedingt.

n Jugendgewalt ist primär ein Problem von Jugendlichen aus sozialen Rand-gruppen der Gesell schaft. Ein Bündel von ökonomischen, sozialen, indivi-duellen und situativen Faktoren wird in der kriminologischen Forschung als Ursache für Jugendkriminalität genannt. Die betroffenen Jugendlichen wachsen meist in familiären Kontexten auf, die finanziell und mate riell prekär sind. In der Regel haben sie Gewalt in der Familie erfahren oder beobachtet. Gerade bei männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind die genannten Faktoren maßgeblich. Lange Zeit haben die politisch Verant-wortlichen in Deutschland die Tatsa-che verleugnet, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die Folge war eine fehlende Einwanderungspolitik. Über Jahrzehnte wurde nicht in die berufliche und schulische Qualifika-tion von EinwanderInnen investiert. Sowohl die ersten EinwanderInnen als auch heute die zweite und dritte Generation sind bildungsfern aufge-wachsen bzw. wachsen bildungsfern auf. Schulversagen kennzeichnet ihren biografisch in der Regel aussichts-losen Lebensweg.

Verschärfung des Jugendstrafrechts versus pädagogische Interventionen

n Für die Annahme, dass eine Auswei-tung und Verschärfung des Jugend-strafrechts Jugend kriminalität und -gewalt wirksam bekämpfen, gibt es keine gesicherten erfahrungswissen-schaftlichen Belege. Empirische Be-funde zeigen eher das Gegenteil: Kri-minalität wird durch härtere Strafen eher gefördert als verhindert. Die Rückfallraten nach einer Verur teilung sind nicht niedriger als nach einer Ver-fahrenseinstellung. Das Justizministe-rium bezifferte 2003 die Rückfallquote jugendlicher Straftäter auf 45%.7

7 Bayerischer Staatsanzeiger, 11. Januar 2008, S. 2

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Nach Verfahrensein stellung waren die Rückfallquoten sogar niedriger.8

n Die pädagogische Forschung zur Wirk-samkeit pädagogisch gestützter Ge-waltprävention unterscheidet zwischen primären, sekundären und tertiären Präventionen. Für die Gruppe der straffällig und mehrfach auffällig ge-wordenen Jugendlichen wurden in der Vergangenheit verschiedene pädago-gische Programme im tertiären Bereich entwickelt: Anti-Aggressivitätstrainings, Denkzeit, Trainingscamps, erleb-nispädagogische Intensiv maßnahmen, Soziale Trainingskurse nach Weisung des Jugendgerichtsgesetzes. Kenn-zeichen dieser Maßnahmen sind die Klarheit von Regeln, Grenzen und Ver-fahrensweisen und ein konfrontativer Erziehungsstil. In Bezug auf den kon-frontativen Erziehungsstil finden sich sehr unterschiedliche Auffassungen. Die einen gehen davon aus, dass der Ju-gendliche mit seiner gesamten Person und seinem bisherigen Lernen in Frage gestellt und „gebrochen“ werden muss (Erziehungscamps, sog. Bootcamps). Aus seinem christlichen Menschenbild heraus lehnt der BDKJ Bayern dies ab.

Die andere Auffassung stellt die per-sonale und zeitnahe Konfrontation der Jugendlichen und deren Verhaltens-weisen mit den Gesetzen und Regeln der Gemeinschaft in den Mittelpunkt der pädagogischen Intervention. Eine spezielle Rolle spielt die Konfrontation mit den Opfern.

Die Evaluation tertiärer Präventionspro-gramme zeigt: n „Nur wenn die Konfrontation dazu

führt, Gefühle zu bewegen und Ein-sichten zu erzeugen, kann sie auf Dau-er bei dem Einzelnen etwas bewegen. Ein Verstehen bleibt deshalb auch die zentrale Grundlage für einen Zugang zu denen, die wir in ihrem Handeln zunächst nicht verstehen.“ 9

n Die Präventionsverfahren Anti-Aggres-sivitätstraining (AAT), Denkzeit und soziale Trainingskurse, die erlebnis-, medienpädagogisch, gesprächs- oder handlungsorientiert ausgerichtet sind, haben eine höhere Wirksamkeit in der Reduzierung der Gewaltneigung. „Einblicke in das Bundeszentralre-gister ergaben eine Senkung der De-likthäufigkeit und -intensität von AAT-Trainierten. ... Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums (BMFSFJ) zeigte, dass Soziale Trainingskurse und Denkzeit im Hinblick auf die Rücklaufquote junger Straftäter höchst wirksam sind. Wurde ein Jugendlicher ohne Absolvierung eines Sozialen Trainingskurses noch durchschnittlich 4,6 mal straffällig, so reduzierte sich dies durch das Training auf 1,3. Bei Denkzeit lagen die Vergleichswerte bei 3,9 zu 0,6.“10

Im Bereich der primären und sekundären Prävention sind solche Maßnahmen und Konzepte angesiedelt, die zur Entwicklung von sozialer Kompetenz und Konfliktkom-petenz für eine breite Gruppe von Kindern und Jugendlichen beitragen und damit vorbeugend gegen gewalttätige Auseinan-dersetzungen wirken. Den pädagogischen Konzeptionen der Kinder- und Jugend-(verbands) arbeit, wie Streitschlichtungs-projekte, Mediation, Konflikttrainings, Rollenspiele etc. kommt hier eine große Bedeutung zu.11

8 Vgl. Wolfgang Heinz (2008), a.a.O., S. 3 f.9 Achim Schröder, Angela Merkle (2008): „Die Wirk-samkeit von pädagogisch gestützter Gewaltprävention ist belegt.“ Fachliche Stellungnahme zur aktuellen Diskussion über Jugendgewalt. S. 1.

10 Ebd., S. 2.

11 Vgl. ebd., S. 2.

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n eine Versachlichung und Differenzie-rung der Debatte zur Jugendkrimina-lität und -gewalt, denn nur so können nachhaltige Lösungen erarbeitet wer-den;

n keinen Missbrauch der Jugendgewalt-debatte und deren Zuspitzung auf ein „Ausländer problem“;

n pädagogische Interventionen und Prä-ventionsverfahren statt Verschärfung des Jugend strafrechts durch Erhö-hung des Strafmaßes oder Anwendung des Erwachsenenstrafrechts;

n die spezifischen Besonderheiten des Jugendgerichtsgesetzes müssen wei-terhin Gültigkeit behalten;

n schnellere Gerichtsverfahren, so dass die Urteile von Jugendlichen mit ihren Straftaten auch tatsächlich in Verbin-dung gebracht werden können;

n keine Erziehungscamps, da sie an den tatsächlichen Problemlagen jugendli-cher DelinquentInnen vorbeigehen;

n keine Ausweisung von jugendlichen StraftäterInnen mit Migrationshin-tergrund, sondern Investitionen in tertiäre pädagogische Programme und Therapieplätze für gewaltbereite und gewalttätige Jugendliche;

n die Eröffnung von Bildungs- und Ausbildungsperspektiven für junge Menschen mit Migrationshintergrund und -erfahrung (vgl. auch Position des BDKJ „Bildung für Benachteiligte“).

n finanzielle Ausstattung von Projekten der Jungenarbeit, die mit männlichen Jugendlichen alternative, jenseits der Gewalt liegende Handlungs- und Be-wältigungskonzepte entwickeln;

n Weiterentwicklung und Ausbau der primären und tertiären pädagogischen Präventionskonzepte unter Berück-sichtigung geschlechtsspezifischer As-pekte, damit verbunden eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der verschiedenen Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe;

n eine zivilcouragierte Gesellschaft und eine öffentliche Anerkennungskultur für Einzelne und Gruppen, die sich mutig zu Wort melden und einschrei-ten, wenn andere in ihrer Unversehrt-heit und ihrer Würde angetastet wer-den.

Beschlossen vom BDKJ-Landesausschuss am 16. Februar 2008

Forderungen des BDKJ Bayern Herausgeber: Landesstelle für Katholische Jugendarbeit in Bayern e.V., Landw

ehrstraße 68, 80336 München, Tel.: 089/53 29 31-0,

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erkl, Layout: Heidi Czisch, Fotos: BDKJ Bayernbai-DOKUM

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