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Dominik Batthyány Otto Zsok (Hrsg.)
Viktor Frankl und die Philosophie
SpringerWienNewYork
Dr. Dominik Batthyány, Wien
Dr. Otto Zsok, Süddeutsches Institut für Logotherapie, Fürstenfeldbruck
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur und derKulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung
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ISBN-10 3-211-23623-6 SpringerWienNewYorkISBN-13 978-3-211-23623-9 SpringerWienNewYork
INHALT
Dominik Batthyány, Otto Zsok
WIDMUNG UND WÜRDIGUNG VII
Peter Kampits
VORWORT XIII
Norbert Leser
VIKTOR E. FRANKLS KAMPF GEGEN DEN REDUKTIONISMUS 1
Elisabeth Lukas
EIN PSYCHIATRISCHES UND EIN PSYCHOTHERAPEUTISCHES CREDO 13
Eugenio Fizzotti
MEANING OF LIFE AND DETERMINISM AND THE FRANKLIAN PARADIGM
OF FREEDOM 23
Clemens Sedmak
DIE SINNFRAGE ALS MOVENS PHILOSOPHISCHER REFLEXION 41
Dmitry Leontiev
THE MEANING VS. HAPPINESS ISSUE IN THE HISTORY OF THOUGHT AND
PRESENT-DAY DEBATES 57
Josef Seifert
VIKTOR E. FRANKLS PHILOSOPHISCHER SINNBEGRIFF UND DIE ENTDECKUNG
SEINER BEDEUTUNG FÜR DIE PSYCHOTHERAPIE 69
Heinz von Foerster
MIT DEN AUGEN DES ANDEREN 95
Moritz Gritschneder
DER EINFLUSS DER PHILOSOPHIE MAX SCHELERS AUF DIE LOGOTHERAPIE
VIKTOR E. FRANKLS 109
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Reto Luzius Fetz, Melanie Graeßner
DIE WERTPRAGMATISCHE METHODE
FRANKLS THERAPEUTISCHE UMSETZUNG VON SCHELERS ORDO AMORIS 125
Wolfhart Henckmann
„GEISTIGE PERSON“ BEI VIKTOR E. FRANKL UND MAX SCHELER 149
Otto Zsok
WAS HEISST, DASS JEDE PERSON EIN „ABSOLUTES NOVUM“ IST? 163
Anette Fintz
DIE EXISTENZANALYSE: EINE ANGEWANDTE EXISTENZPHILOSOPHIE? 183
Matthias Bormuth
„ÄRZTLICHE SEELSORGE“ IN DER ENTZAUBERTEN WELT –
KARL JASPERS ALS KRITIKER DES FRÜHEN VIKTOR E. FRANKL 213
Rolf Kühn
DASEINS-, EXISTENZ- UND LEBENSANALYSE
VIKTOR E. FRANKL IM KONTEXT PHÄNOMENOLOGISCHER FORSCHUNG 237
Pascal le Vaou
MARTIN HEIDEGGER PEUT-IL NOUS AIDER À LIRE VIKTOR FRANKL?
LE LOGOS ENTRE HERMÉNEUTIQUE ET DÉCONSTRUCTION 253
Jörg Splett
ZUM „UNBEWUSSTEN GOTT“ – DANK, DER NACHFRAGT 287
Reinhard Zaiser
DIE BEDEUTUNG VON VIKTOR E. FRANKLS LOGOTHERAPIE UND
EXISTENZANALYSE FÜR DIE PHILOSOPHISCHE PRAXIS 299
PERSONENREGISTER 307
ÜBER DIE AUTOREN 311
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WIDMUNG UND WÜRDIGUNG
Der Name des Wiener Neurologen und Psychiaters Viktor Emil Frankl (1905-1997)
wird nicht nur mit den Begriffen Logotherapie und Existenzanalyse, sondern auch
mit einer Philosophie der Sinnsuche verbunden bleiben, die in ihrer Intensität und
Differenziertheit „den Biß des Wirklichen“ (Gabriel Marcel) spürbar macht. Nach
der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Individualpsychologie Alfred Adlers
wurde Frankls Werk bereits 1948 als „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“
bezeichnet. Ihre Konzipierung, Begründung und Entwicklung ist ohne den
Einfluß mancher zeitgenössischer Philosophen auf Frankl – und ohne Philosophie
überhaupt – nicht denkbar.
Als Arzt und Philosoph hat Frankl die seelenheilkundliche Bedeutung der Philo-
sophie als liebende Suche nach Wahrheit und Weisheit erkannt und in das medizinische
und therapeutische Feld hineingetragen. So kommt es, daß die Tiefen und Höhen
der sogenannten „sinnzentrierten Psychotherapie“, der Logotherapie und Existenz-
analyse, in der philosophischen Tradition wurzeln. In der psycho- bzw. logothera-
peutischen Praxis sowie in der existenzanalytischen Durchdringung der eigenen
Lebensgeschichte oder, wie Frankl es ausdrückt, „in der Konfrontation der eigenen
Existenz mit dem Logos“ eröffnen sich diese philosophischen Dimensionen. Frankl
selbst sind diese Dimensionen nicht alleine durch denkerische Leistung erschlossen
worden; – seine „Sinnphilosophie“ wurde geformt und geprüft durch leidvolle
Erfahrungen in den Konzentrationslagern von Auschwitz, Dachau und Türkheim.
Aus Anlaß seines 100. Geburtstages – Viktor E. Frankl wurde am 26. März
1905 in Wien geboren – soll der reiche Schatz philosophischer Bezüge in seinem
Werk erneut und aus unterschiedlicher Sicht ans Licht getragen werden. Autoren
verschiedener Nationen widmen sich auf je individuelle Weise einem wichtigen
Thema aus dem Schrifttum Frankls. Die Beiträge dieses Buches haben Beachtens-
wertes zu Tage gefördert, der Schwerpunkt wurde im Bereich der philosophi-
schen Anthropologie gesetzt. Auch kritische Anfragen und Weiterführungen
mancher Grundgedanken, die Frankl in seinem großartigen Entwurf nur
skizzenhaft dargelegt hatte, sind in den Beiträgen zu finden. Zugleich wird deutlich,
daß Frankls vom Leid geformtes Denken in der heutigen philosophischen –
speziell anthropologischen, ethischen und theologischen – Diskussion Bleibendes
und Unverzichtbares zu leisten vermag. Und vielmehr noch als es in diesem Buch
möglich war, hätte etwa über Martin Buber, Gabriel Marcel, Nicolai Hartmann,
Ludwig Binswanger oder Rudolf Allers gesagt werden können.1
1 Risto Nurmela etwa ist es gelungen, „das jüdische Element“ und somit auch den
Dominik Batthyány, Otto ZsokVIII
Der vorliegende Band zeigt einen Ausschnitt dessen, was an Philosophie mit
Viktor Frankl in Verbindung gebracht werden kann. Vergessen wir nicht: Philoso-
phie, zumindest in der europäischen Bedeutung dieses Wortes, war seit etwa 2.500
Jahren die denkerische Bemühung – bei den Klassikern wohl auch als Lebens- und
Geisteshaltung – letzte Fragen und Ursachen zu ergründen. Im 20. Jahrhundert hat
die auf Kierkegaard zurückgehende Existenzphilosophie eine anthropologische
Wende vollzogen. Das bedeutet, daß man sich der existentiellen Fragestellung des
einzelnen Menschen gewidmet hat, fragend: Wer ist der Mensch? Was ist seine
letzte, essentielle, unaufgebbare Wirklichkeit, die weder durch Tod, noch durch
Leid oder Schuld vernichtet werden kann? Was ist die Bedeutung des Gewissens?
Wie verhält sich das Schicksal des Menschen zu den bleibenden, dem Gespenst des
Relativismus und des Psychologismus standhaltenden ethischen und geistigen
Werten? Jemand, der wie Viktor Frankl durch die Hölle der Konzentrationslager
gegangen ist, kann auf Fragen solcher Art anders akzentuierte Antworten geben als
ein an einem Schreibtisch sitzender, denkerisch analysierender und spekulierender
Philosoph. Die anthropologische Wende bedeutet aber auch, daß man den
bedingungslosen Sinn, den unveräußerlichen Wert des menschlichen Lebens und
die Verantwortung des Menschen in den Mittelpunkt der Philosophie gerückt hat.
Und das ist die Tat des Wiener Arztes und Philosophen Viktor Frankl, der mit
seiner „Logo-Philosophie“ besonders den leidenden Menschen helfen wollte.
Mit Stolz und Dankbarkeit schreibt Frankl in den Lebenserinnerungen über seine
Begegnungen mit den großen Philosophen seiner Zeit: „Ich konnte immer wieder
die Erfahrung machen, daß die wirklich Großen, zu denen ich aufblickte, soviel sie
an mir zu kritisieren das Recht gehabt hätten, nachsichtig waren und über all die
Unzulänglichkeiten meiner Bemühungen hinwegsahen und hinter ihnen noch immer
etwas Positives zu sehen vermochten. So erging es mir nicht nur mit Martin
Heidegger, sondern auch mit Ludwig Binswanger, Karl Jaspers und Gabriel Marcel.
– Karl Jaspers sagte, als ich ihn in Basel besuchte, wörtlich: ‚Herr Frankl, ich kenne alle
Ihre Bücher, aber das eine Buch von Ihnen, das über das Konzentrationslager (und
er wies hinauf auf seine Bibliothek, auf mein KZ Buch2
), das gehört zu den wenigen
großen Büchern der Menschheit.‘ – Und Gabriel Marcel hat mir zu meinem KZ-
Buch bzw. dessen französischer Ausgabe ein Vorwort geschrieben.“3
So sehr Frankl
Einfluß Martin Bubers auf Viktor E. Frankl sehr ausführlich zu zeigen. Siehe dazu: Nurmela,
Risto, Die innere Freiheit. Das jüdische Element bei Viktor E. Frankl, Frankfurt – Berlin 2001.
2 Frankl, Viktor E., ... trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager,
München 1990.
3 Frankl, Viktor E., Was nicht in meinen Büchern steht. Lebenserinnerungen, München 1995, S. 92.
Widmung und Würdigung IX
vor allem die Anerkennung von Heidegger und Jaspers gesucht haben mag, keiner
der genannten hat ihn so tief beeinflußt und geprägt wie der Begründer des
ethischen Personalismus. Als der 22-jährige Viktor Frankl, Student der Medizin,
mit der Wertphilosophie Max Schelers in Berührung kommt, fühlt er sich so sehr
elektrisiert, daß er dessen Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale
Wertethik etwa drei Jahre hindurch „wie eine Bibel“ bei sich trägt. „Um diese Zeit
durchschaute ich endgültig meinen eigenen Psychologismus“, erinnert er sich,
„vollends wurde ich durch Max Scheler aufgerüttelt […].“4
Wie wichtig und
bedeutend für Frankl die Auseinandersetzung und Begegnung mit den großen
Denkern seiner Zeit waren, wird auch an anderer Stelle deutlich: „Was […] meine
eigenen Erlebnisse anlangt, gehört zu den kostbarsten die Diskussion, die sich
zwischen Martin Heidegger und mir entspann, als er das erste Mal nach Wien kam
und mich besuchte.“5
Die Authentizität der Philosophie bei Viktor Frankl wurzelt einerseits in seiner
durch und durch von einem philosophischen Impetus geprägten Persönlichkeit –
sozusagen in seiner philosophischen Natur –, andererseits in einem mühsamen,
existentiellen Ringen mit der Sinnfrage, die ihn seit seiner frühesten Jugend zutiefst
bewegt und zeitweise gequält hatte. Gerne erzählte Frankl das Erlebnis eines
Schülers – der einst er selbst war: „Als einmal ein Naturgeschichtslehrer vor einer
Klasse der Untermittelschule während des Unterrichts auseinandersetzte, daß das
Leben des Organismus und so auch des Menschen ‚letzten Endes nichts anderes
als‘ ein Oxidationsvorgang, ein Verbrennungsprozeß sei, sprang plötzlich einer
seiner Schüler auf und warf ihm die leidenschaftliche Frage entgegen: ‚Ja, was hat
denn das ganze Leben dann für einen Sinn?‘ Richtig hatte dieser junge Mensch
erfaßt, daß der Mensch in einer anderen Seinsweise existiert als etwa eine Kerze,
die da vor uns auf dem Tische steht und zu Ende brennt. Ihr Sein (Heidegger
würde sagen: ‚Vorhanden-sein‘) mag als Verbrennungsprozeß gedeutet werden
[…]. Menschliches Sein ist vor allem wesentlich geschichtliches Sein, ist jeweils in
einen historischen Raum hineingestellt, aus dessen Koordinatensystem es sich nicht
herausnehmen läßt. Und dieses Bezugssystem ist jeweils von einem, wenn auch
uneingestandenen, vielleicht überhaupt unausdrückbaren Sinn her bestimmt.“6
Die Frage nach dem Sinn rückte Viktor Frankl explizit in den Vordergrund, als
er 1938 aus psychotherapeutischer Sicht die geistige Problematik der Psychotherapie
thematisiert und – im Gegensatz zur „Tiefenpsychologie“ – den Begriff der
4 Ebd. S. 42.
5 Ebd. S. 91.
6 Frankl, Viktor E., Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse,
Wien 1991, S. 57f.
Dominik Batthyány, Otto ZsokX
„Höhenpsychologie“ ins Spiel gebracht hat. Gemeint ist jene Theorie, jene Schau
vom Menschen, die über den Bereich des Psychischen hinausgehend die gesamte
menschliche Existenz in all ihrer Tiefe und Höhe betrachtet: die Existenzanalyse.7
Ihr
Kernpunkt ist die Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber Wertmöglichkeiten,
denn Existenz bedeutet: Sich-Verhalten-Können zu Anderem und auch zu sich
selbst.
Während die Psychoanalyse das bloße „Müssen“, die Individualpsychologie
das „Wollen“ in den Mittelpunkt ihrer Motivationstheorie stellten, hob Frankl
hervor, daß das „Sollen“ unausweichlich zu einer Therapie gehöre, die der Würde
des Menschen entsprechen wolle, da dessen Heilung (und wohl auch Heil) in der
Erfüllung seiner höchstmöglichen Werte liege. Diesen Gedanken hat Frankl von
Max Scheler übernommen und in seinem Denken – wie in seiner Haltung den
Patienten gegenüber – durchgehalten. Schon 1925 schreibt Viktor Frankl: „Wir
müssen uns darüber im klaren sein, daß das Prinzip der Psychotherapie ein
wesentlich ethisches, nämlich wertendes ist.“8
Die Notwendigkeit einer Wertung ist
in der Tat ein Grundcharakteristikum der Logotherapie, die den leidenden,
neurotischen oder psychotischen Menschen – in seinem noch so kleinen Freiraum
– mit Möglichkeiten der Werte- und Sinnverwirklichung konfrontiert. Wie aber ist
das möglich, ohne daß der Therapeut sein eigenes Wertsystem an den homo patiens
heranträgt? „Wir stehen hier also vor einem Dilemma“, schreibt Frankl 1938 –
„hier die Notwendigkeit, ja Voraussetzung von Werten, da sittliche Unmöglichkeit
eines Oktrois. Ich glaube nun, daß eine Lösung dieser Frage möglich ist – aber nur
eine, eine bestimmte Lösung! Es gibt nämlich einen formalen ethischen Wert, der
selbst Bedingung aller weiteren Wertungen ist, ohne an sich schon deren
Rangordnung zu bestimmen: die Verantwortlichkeit!“ Etwa wenn der Kranke „sein
Ringen um den Sinn seiner Existenz, mit der Frage nach dem Sinn des Lebens, uns
offenbart, so werden wir ihm vor allem bewußt machen müssen, daß letztlich
nicht er der Fragende ist, sondern eigentlich der Befragte; daß es dem
Urtatbestand der Verantwortlichkeit im Dasein mehr entspräche, wenn er, statt
stets nach dem Sinn des Lebens zu fragen, sich selbst als Befragten erlebte, als
Menschen, dem das Leben seinerseits ständig Fragen stellt, als ein Wesen
hineingestellt mitten in eine Fülle von Aufgaben.“9
7 Vgl. Frankl, Viktor E., Zur geistigen Problematik der Psychotherapie [1938], in: ders.,
Logotherapie und Existenzanalyse. Texte aus sechs Jahrzehnten, München 1994, S. 18.
8 Frankl, Viktor E., Psychotherapie und Weltanschauung. Zur grundsätzlichen Kritik
ihrer Beziehung, in: Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie, Bd. 3/1925, S. 250.
9 Frankl, Viktor E., Zur geistigen Problematik der Psychotherapie [1938], in: ders.,
Logotherapie und Existenzanalyse. Texte aus sechs Jahrzehnten, München 1994, S. 21.
Widmung und Würdigung XI
Daß Logotherapie und Existenzanalyse – die zwei Begriffe zusammen und in
Einheit gedacht – auf ein persönlich zu erfüllendes „Soll“ abzielt, bildet das
unaufgebbare Grunddatum der logotherapeutischen Intervention und der exis-
tenzanalytischen Anthropologie. Das Mensch-sein als personale, geistige Existenz
bildet die Grundlage der Therapie, und deutet auf das Verantwortlich-sein und
auf die Freiheit des Menschen. Den Logos in die Psychotherapie einzubeziehen
heißt, sich des „Willens zum Sinn“10
, sich des Hingeordnetseins des Menschen auf
einen Sinn, der ihm durch sein „Sinn-Organ“11
, das Gewissen, gewahr wird,
bewußt zu werden. Das Einbeziehen der existentiellen Sinnsuche, die auf etwas
aus ist, das das eigene, kleine Ich überschreitet, enthüllt sich als Quintessenz des
Humanums. „Offenbar und unverborgen ist das Sein erst dann,“ schreibt Frankl,
„wenn ich mich ihm zuwende und hingebe, und diese Hingabe hat mit Liebe zu
tun: nicht zufällig gibt es im Hebräischen für Erkenntnis und Begattung dasselbe
Wort. (Im Übrigen geht auch Scheler zufolge dem Erkenntnisakt ein Liebesakt
voraus.) Ich möchte sagen: Die Dinge harren bräutlich des geistig Seienden, dessen
geistiges Sein, dessen ganze Geistigkeit ja darin besteht ‚bei‘ den Dingen ‚sein‘ zu
können – wobei dieses Bei-sein, also die Erkenntnis insofern ebenfalls auf den
Logos angewiesen ist, als nur letzter dem geistig Seienden die Dinge überhaupt erst
‚bei-bringt‘ […]. Letztlich und eigentlich […] sind beide – Logos und Liebe – nichts
anderes als zwei Aspekte von Einem und Demselben, nämlich des Seins selbst.“12
Das ist Philosophie konkret. Das ist therapeutische Philosophie. Das ist ein
Fundament, das nicht wackelt. „Das Gebiet, das wir mit der Logotherapie und
erst recht mit der Existenzanalyse betreten haben“, schreibt Viktor Frankl 1946 am
Ende der Ärztlichen Seelsorge, „ist ein Grenzgebiet zwischen Medizin und
Philosophie. […] Wer an der Zweiländergrenze wandelt, muß bedenken, daß er
von zwei Seiten her mißtrauisch beobachtet wird. […] Ärztliche Seelsorge liegt
zwischen zwei Reichen. So ist sie ein Grenzgebiet. Als Grenzgebiet ist sie ein
Niemandsland. Und doch – welch ein Land der Verheißung!“13
Die Herausgeber erblicken in Viktor E. Frankl einen Arzt und Philosophen –
einen Arztphilosophen –, der, wie kaum ein anderer im 20. Jahrhundert, in seinem
Leben mit der Sinn-Leere gerungen hat bis es ihm schließlich gelungen ist, sich zu
einer Sinn-Lehre durchzuringen.
10 Siehe dazu auch: Frankl, Viktor E., Das Leiden am sinnlosen Leben. Psychotherapie für
heute, Freiburg – Basel – Wien 1989, S. 70–75.
11 Siehe dazu auch: Frankl, Viktor E., Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und
Existenzanalyse, Wien 1991, S. 76.
12 Vgl. Frankl, Viktor E., Logos und Existenz. Drei Vorträge, Wien 1991, S. XII.
13 Frankl, Viktor E., Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse,
Wien 1991, S. 289.
Dominik Batthyány, Otto ZsokXII
Besonders danken möchten die Herausgeber an dieser Stelle den Autoren und
dem Verlag SpringerWienNewYork für die hervorragende Zusammenarbeit. Die
Finanzierung und damit die Realisierung wäre ohne die Zuwendungen seitens der
Kulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung, und
des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Wien nicht
möglich gewesen. Besondere Danksagung gilt auch Dr. Eva Bohn und Sabine
Krammer für deren große Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches.
Wien/Fürstenfeldbruck, im März 2005 Die Herausgeber
VORWORT
Viktor E. Frankl und die Philosophie – dieser rechtzeitig zum 100. Geburtstag des
Gründers der „Dritten Wiener Schule der Psychotherapie“ erscheinende Band
leuchtet den philosophischen Hintergrund von Frankls Logotheraphie aus und
zeigt die enge Verwandtschaft psychotherapeutischer Praxis mit Grundfragen der
Philosophie.
Wie sollte es auch anders sein – steht doch für beide, die Philosophie und die
Logotherapie, das Problem des Sinns im Mittelpunkt. Frankl hat auch immer
wieder die Auseinandersetzung mit den großen Philosophen seiner Zeit gesucht,
wie etwa mit Martin Heidegger und Karl Jaspers, Max Scheler, Gabriel Marcel
oder Martin Buber – um nur einige zu nennen. Die Sinnsuche dieser Philosophen
und der Wille zum Sinn, den Frankl in den Mittelpunkt seiner Psychotherapie
gerückt hat, ergänzen einander nicht nur, sondern gehen in eine fruchtbare
Synthese ein, die auch mit Begriffen wie Person, Geist, Verantwortung und
Gewissen gekoppelt sind.
Es ist hier nicht der Ort, die Bedeutung Frankls für die Psychotherapie, die
Psychologie und die Philosophie zu würdigen. Frankls Auffassung – und hier stellt
er sich auch in Gegensatz zu Sigmund Freud und Alfred Adler – daß Neurosen
auf ungelöste metaphysische Fragen verweisen, seine Auseinandersetzung mit den
Konstanten des Menschseins wie Leiden, Schuld, oder Tod implizieren unabding-
bar die Sinnfrage. Daß Viktor Frankl durch die Hölle der Konzentrationslager
gegangen ist, macht seine Gedanken und sein ärztliches Handeln auch im Hinblick
auf die in solchen Grenzsituationen naheliegende Sinnlosigkeit und deren
Überwindung bedeutsam. Sein vielleicht größtes und berühmtestes Werk Man’s
Search for Meaning legt davon in erschüttender und beeindruckender Weise Zeugnis
ab. Der unpathetische Satz: „Überleben kann nur durch eine Orientierung in der
Zukunft erfolgen, auf einem Sinn, dessen Erfüllung in der Zukunft wartet“1
,
drückt dies deutlich genug aus. Im Gegensatz zu vielen Sinnlosigkeitspropheten
unseres Jahrhunderts hat Frankl um die Bejahung eines Lebenssinnes gerungen,
auch und vor allem aus der Erfahrung dieser Extremsituation. Er reiht sich damit
auch in die Reihe jener großen Sinnsucher ein, die von Dostojewskij bis Camus
durch die Hölle von Zweifeln und Niedergeschlagenheiten zu einem Ja zum
Leben gelangten.
1 Viktor E. Frankl, zit. nach Giselher Guttmann: „Einführung zur 1. Auflage“. In:
Frankl, Viktor E., Logotherapie und Existenzanalyse. Texte aus sechs Jahrzehnten. Neue, erw.
Ausg. Berlin – München 1994, S. 12.
Peter KampitsXIV
Im Gegensatz zu den reduktionistischen Tendenzen der beiden anderen
großen Wiener Schulen der Psychotherapie – der Psychoanalyse Sigmund Freuds
und der Individualpsychologie Alfred Adlers – sieht Frankl im Sinnvakuum, das
vor allem die Gegenwart beherrscht, die entscheidende Bedrohung unseres
Menschseins. Das von ihm immer wieder beschriebene Sinnlosigkeitsgefühl, das
sich nicht nur in der Extremsituation des Leides zeigt, zu überwinden, ist eine der
wesentlichen Leistungen seines Denkens und seines ärztlichen Willens.
Die persönliche Größe Frankls läßt sich nicht allein erkennen an seinem
Überstehen der Grauen der Konzentrationslager und dem Ertragen des Leides
und des Schmerzes, die ihm die Ermordung seiner Frau, seiner Eltern und vieler
Verwandter und Freunde zufügte, sondern in der Art und Weise wie er sich zu
diesen Erfahrungen stellte. Seine berühmte Rede, die er 1988 auf dem Wiener
Rathausplatz vor 3.500 Zuschauern gehalten hat und in der frei von Haß die oft
zitierte Kollektivschuld zurückgewiesen und eine neue Dimension der Vergangen-
heitsbewältigung aufgewiesen wurde, bezeugt dies ebenso wie sein berühmt
gewordenes Wort, daß er nur zwei menschliche Rassen kenne, die der anständigen
und der nicht anständigen Menschen.
Ich hatte bereits als junger Student der Philosophie die Ehre und Freude Viktor
Frankl persönlich begegnen zu können. Sein berühmtes Buch Man’s Search for Meaning,
in den USA nahezu ein Bestseller, war nach seinem Erscheinen in der Nachkriegszeit
in Österreich weitgehend unbekannt geblieben. Eine studentische Zeitschrift, bei der
ich damals mitarbeitete, bereitete eine Folge von Kapitelabdrucken aus diesem Buch
vor. Dies in die Wege zu leiten führte mich in Frankls Wohnung und Arbeitsstätte in
der Mariannengasse, wo mich die Schlichtheit und zugleich Eindringlichkeit seiner
Persönlichkeit zutiefst beeindruckte. Er, der Berühmte und um vieles Ältere,
diskutierte mit mir geduldig über Philosophen wie Martin Heidegger oder Gabriel
Marcel, mit denen wir uns beide zu dieser Zeit beschäftigten.
Dies führte zu zahlreichen Gesprächen, Kontakten und Begegnungen durch
Jahrzehnte, ich lernte seine Familie kennen und konnte schließlich meine Verbun-
denheit mit ihm auch durch Mitarbeit im Kuratorium des Viktor Frankl Fonds der
Stadt Wien bezeugen.
Am beeindruckendsten für mich war eine kleine Begebenheit, die mir die
ungeheure Wirkung Viktor Frankls deutlich vor Augen führte: Ich nahm 1970 die
Einladung zu einer Gastprofessur an der University of Alaska an – zu dieser Zeit
noch ein recht abenteuerliches Unternehmen. Als ich nach ermüdendem Langstre-
ckenflug über den Nordpol in Anchorage den Zoll passierte, blickte die junge
Zollbeamtin von meinem Paß auf und fragte: „You are coming from Vienna? Do
you know Dr. Frankl?“ Weder Mozart oder Johann Strauss, Schönbrunn oder die
Lipizzaner, sondern Viktor Frankl wurde dort mit Wien identifiziert.
Vorwort XV
Daß bei der Fülle des Werkes von Viktor Frankl nunmehr zu seinem 100. Geburtstag
seine Beziehung zur Philosophie in den Mittelpunkt gerückt wird, bleibt ein großer
Verdienst der Herausgeber Dominik Batthyány und Otto Zsok. Damit wird nicht
zuletzt auch jener existenziellen Dimension des Denkens von Frankl entsprochen, die
sein gesamtes Werk durchzieht. Frankl kennt nur allzu gut die Sinnwidersprüche des
menschlichen Daseins, er erkennt auch die Grenzen unserer Rationalität und die
Vergeblichkeit, durch die Vernunft den letzten Sinn menschlichen Leidens zu erhellen.
„Der letzte Sinn zeigt sich nicht im Bereich des Denkens, sondern in der Dimension
des Glaubens; dies können wir nicht auf intellektuelle Weise erreichen, sondern nur
auf existenzielle, mit unserem ganzen Sein.“2
Frankls Nähe zu den existenziellen Denkern des 20. Jahrhunderts wird in
diesem Band eindeutig dokumentiert. Für Frankl muß eine recht verstandene
Logotherapie darum auch auf einer Existenzanalyse aufbauen. Aus dieser dem
Menschen eigenen Seinsart entfaltet sich seine Personalität, bestimmt sich die
Vorgangsweise der Logotherapie und deren Orientierung an der Personalität des
Menschen. Das, was Frankl „Die Trotzmacht des Geistes“ nennt, bestimmt nicht
nur die Dimension des Willens zum Sinn sondern auch unsere Freiheit und damit
unsere Verantwortung. Hier setzt auch die Kritik Frankls an der Naturwissenschaft
ein, die eben nur den psychophysischen Organismus, nicht aber die geistige Person
zu sehen vermag. Der Mensch ist nicht auf Kausalketten reduzierbar, er ist weder
Produkt der Vererbung noch ein solches der Umwelt, sondern er entscheidet über
sich selbst, auch wenn dies nur auf dem Grund unserer Bedingtheit und
Endlichkeit möglich sein kann. Es kann als sicher angenommen werden, daß
Frankl diese Thesen auch gegenüber den deterministischen Auffassungen der
Hirnforscher jüngster Zeit energisch vertreten hätte.
Auch wenn Viktor Frankls Stimme verstummt ist, in seinen Werken, seinen
Schülern und in seinem ärztlichen Wirken lebt er weiter. Denn auch für ihn gilt ein
Satz aus der Schrift Bemerkungen zur Pathologie des Zeitgeistes : „[F]ür gewöhnlich sehen
wir nur, wenn ich so sagen darf, die Stoppelfelder der Vergänglichkeit – und
übersehen die vollen Scheunen der Vergangenheit, in denen wir längst die Ernte
eingebracht haben: die Werke, die wir geschaffen haben und – nicht zuletzt – all
die Leiden, die wir gelitten haben in Würde und mit Tapferkeit.“3
Peter Kampits
Dekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaften, Universität Wien
2 Frankl, Viktor E., Raisons de vivre, Geneve 1993, S. 133. (Übers. v. Peter Kampits.)
3 Frankl, Viktor E., Bemerkungen zur Pathologie des Zeitgeistes, in: ders., Logotherapie und
Existenzanalyse. Texte aus sechs Jahrzehnten. Neue, erw. Ausg. Berlin – München 1994, S. 295.
Norbert Leser
VIKTOR E. FRANKLS KAMPF GEGEN DEN REDUKTIONISMUS
Wenn man den Versuch unternimmt, die zahlreichen und inhaltlich vielfältigen
Veröffentlichungen und Aussagen Frankls auf einen Nenner zu bringen und das
Bleibende daran festzuhalten, wird man der Tatsache gewahr, daß es sich bei
seinem Lebenswerk und dessen Botschaft nicht nur um Ergebnisse der Psycholo-
gie handelt, obwohl Frankl seiner Herkunft und seinen Schwerpunkten nach in
erster Linie Psychologe, ja Schöpfer eines neuen psychologischen, genauer gesagt,
psychotherapeutischen Systems geworden ist, sondern um eine philosophisch
fundierte Gesamtschau des Menschen, seiner Möglichkeiten und seiner Bestim-
mung. Die von ihm ins Leben gerufene Logotherapie ist in mindestens gleichem
Umfang philosophische Anthropologie wie sie eine eigene Schule der Psychothe-
rapie ist, die auch immer wieder treffend als „Dritte Wiener Schule“ neben der
Freudschen Psychoanalyse und der Individualpsychologie Alfred Adlers bezeich-
net wird.
Doch die Leistung Frankls erschöpft sich nicht in dieser Eigenständigkeit
innerhalb der psychotherapeutischen Schulen und Richtungen des 20. Jahrhun-
derts, sondern greift weit darüber hinaus. Sie greift weiter als die genannten
Richtungen, weil sie tiefer fundiert ist und Einseitigkeiten des Positivismus
überwindet, die nicht nur die empirische Psychologie, wie sie zum Beispiel an der
Universität Wien von Hubert Rohracher gelehrt und mit Ausschließlichkeitsan-
spruch vertreten wurde und von manchen seiner Schüler nach wie vor vertreten
wird, sondern auch die Schulen von Sigmund Freud und weniger, aber doch auch,
von Alfred Adler charakterisieren, die Frankl nicht nur wie ihre Urheber
persönlich gekannt, sondern auch in seiner Entwicklung durchlaufen hat, nicht um
bei ihnen stehenzubleiben, sondern um sie zu überwinden und in eine höhere
Einheit zu integrieren.
Aufgrund seiner Herkunft und Hauptbeschäftigung war es Frankl in erster
Linie darum zu tun, die Psychologie und Psychiatrie, die sein eigentliches
Fachgebiet waren, philosophisch zu durchdringen und zu überhöhen. Er führte
dementsprechend vor allem einen Kampf gegen den Psychologismus als eine
Spielart des Reduktionismus, der durch die immer wiederkehrende Behauptung,
psychologische Phänomene seien nur aus sich selbst und aus der biologischen
Natur des Menschen zu erklären, sie machten philosophische Überlegungen
überflüssig, notorisch ist. Frankl wandte sich in den verschiedensten Zusammen-
hängen gegen die oberflächliche Feststellung und Anmaßung der Reduktionisten,
Norbert Leser2
der Mensch sei „nichts anderes als“, nichts anderes als das, was eine positivistisch
verengte Wissenschaft feststellen und für endgültig erklären könne. Demgegenüber
betonte Frankl, daß der Mensch im Gegenteil immer mehr als das, was empirisch
jeweils über ihn aussagbar ist, sei. Frankls Hauptangriff galt naturgemäß und
fachspezifisch vor allem dem psychologischen Reduktionismus, das als „Psycho-
logismus“ nach wie vor einen starken Einfluß in der zeitgenössischen Wissenschaft
ausübt. Der Psychologismus ist aber keineswegs der einzige wissenschaftliche
Engpaß, den Frankl vorfand und überwinden helfen wollte, sondern eben nur die
eine seinem engeren Fachgebiet am nächsten liegende Form und Abart des
Reduktionismus. Daneben gab und gibt es noch als Varianten des Reduktionismus,
die sich auf andere Zweige der Wissenschaft stützen und diese ihrerseits
überstrapazieren und für ihre Zwecke instrumentalisieren, den Soziologimus und
durch die Erkenntnisse und Erfolge der Genforschung und -technik heute im
Vordergrund stehend, den Biologismus, der die Biologie zum alleinigen Maßstab
philosophischer Einsichten machen will und damit heillos überfordert.
Der Soziologismus hat im 20. Jahrhundert vor allem in Form des historischen
und dialektischen Materialismus marxistischer Prägung Gestalt angenommen und
zeitweise mit der Ausdehnung des „realen Sozialismus“ eine weltweite Ausdeh-
nung erfahren. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssys-
tems im Großteil der Welt ist der Einfluß dieser szientistischen Denkrichtung, die
zum Unterschied von einer wissenschaftlich einwandfreien, die Wissenschaft mit
übermäßigen Anforderungen belastet und mißbraucht, stark zurückgegangen,
doch keineswegs verschwunden, denn Irrtümer haben, auch wenn sie so
spektakulär empirisch scheitern wie die marxistischen Systeme, ein zähes Leben.
Trat dieser Reduktionismus früher mit Herrschaftsgewalt auf und setzte sich
gegen konkurrierende Deutungen mit den einfachen Mitteln der Gewalt durch, so
hat er einen Teil seiner real eingebüßten Macht durch das ihm zugrundeliegende
Vorurteil, alles soziologisch erklären zu können, in den Hirnen vieler Menschen, die
sich gerne mit einfachen Erklärungen zufriedengeben, behauptet. War es unter
marxistischen Vorzeichen üblich, eine mißliebige Meinung durch den Hinweis auf
deren „bürgerlichen“ oder „kleinbürgerlichen“ Inhalt oder die entsprechende
Herkunft des Urhebers einer solchen Meinung zu disqualifizieren, so wuchert der
Soziologismus auch ohne diese marxistische Imprägnierung bei vielen Soziologen
weiter, die sich der Wahrheitsfrage gegenüber einer bestimmten Behauptung
durch den Hinweis auf deren soziologische Bedingtheit und Relativität entziehen
zu können glauben. Dabei können soziale Faktoren und Umstände, wenn man der
Philosophie Max Schelers, der Frankl sehr nahestand und nahekam, folgt,
höchstens erklären, warum sich bestimmte Ideen zu einer bestimmten Zeit und in
einer bestimmten Gesellschaft durchsetzen und andere nicht, die Herkunft und der
Viktor E. Frankls Kampf gegen den Reduktionismus 3
Inhalt dieser Ideen wurzeln aber in einer überempirischen Werte- und Ideenwelt.
Diese Form des Dualismus unterscheidet sich fundamental vom marxistischen
Schema von Unterbau und Überbau, das den prinzipiellen Unterschied der
geistigen und materiellen Sphäre ignoriert und Inhaltsfragen durch den Verweis
auf Formgebendes und auf Formationen ausweicht.
Sowohl im Falle des Psychologismus als auch des Soziologismus wird nicht
nur reduktionistisch verfahren und damit der Weg zum Verständnis des eigenstän-
digen geistigen Seins verbaut statt eröffnet, es wird auch gegen das wissenschafts-
theoretisch fundierte Postulat der Trennung von Ursprung und Geltung versto-
ßen. So werden philosophische und politische Aussagen von Vertretern der
Psychoanalyse vielfach durch den Verweis auf die neurotische Natur und
Belastung des Schöpfers entwertet oder sogar der Lächerlichkeit preisgegeben,
ohne gleichzeitig dartun und ausführen zu können, wie eine nicht unter Neurose-
verdacht stehende Aussage beschaffen sein müßte. Diese psychologische Sicht
wird dem Gehalt einer wissenschaftlichen Aussage oder politischen Stellungnahme
ebensowenig gerecht, wie der Hinweis auf die der künstlerischen Produktion
zugrundeliegende psychische Eigenart des Künstlers den Inhalt eines Kunstwerkes
und das Überdauernde seiner Wirkung zu erklären vermag. Die psychologische
Verengung und Denunzierung mißliebiger Meinungen ist eine beliebte Waffe im
Kampf gegen abweichende Theorien und Persönlichkeiten, tragen aber nichts zur
inhaltlichen Erkenntnis bei, sondern stiften nur Verwirrung und Vermischung der
Sphären. Der Psychologismus leistet einer solchen sachlich ungerechtfertigten
Abwertung bestimmter Meinungen und Haltungen ebenso Vorschub wie der
Soziologismus, der unwillkommene Abweichungen zu Denkfehlern oder Tod-
sünden erklärt. In naturwissenschaftlichen und technischen Zusammenhängen
kommt wohl kaum jemand auf die Idee, eine Erfindung oder Entdeckung durch
psychologische oder soziologische Kategorisierung des Erfinders zu disqualifizie-
ren, das einzige Kriterium für den Wert einer Erfindung und technischen
Konstruktion ist deren Brauchbarkeit, wie das Kriterium für die Beurteilung einer
menschlichen Handlung oder eines menschlichen Denkaktes deren ethischer
Gehalt, bzw. deren Wahrheitsgehalt sein sollte.
Wie problematisch der Reduktionismus aller Spielarten ist, läßt sich auch
dadurch demonstrieren, daß die verschiedenen Vertreter des Reduktionismus
einander das Erklärungsmonopol streitig machen und einander relativieren, statt
sich selbst zu relativieren oder von einer übergeordneten Instanz relativieren zu
lassen.
So hat der marxistische Philosoph Walter Hollitscher, der eine Zeitlang die
Rolle eines Parteiideologen der KPÖ spielte und der vom Wiener Kreis und der
Psychoanalyse herkam, die einschlägigen Systeme also sehr gut kannte, der vom
Norbert Leser4
Sowjetsystem verurteilten Freudschen Psychoanalyse eine „Biologisierung der
Psychologie und eine Psychologisierung der Geschichte“ vorgeworfen und
demgegenüber den marxistischen Anspruch verteidigt, sowohl den Psychologis-
mus als auch den Biologismus in ihre Schranken zu weisen. Psychoanalytische
Autoren umgekehrt sahen und sehen kein Problem darin, al limine durch die
Disqualifizierung der Revolutionäre als Neurotiker, der Revolution die Berechti-
gung abzusprechen, obwohl diese Frage wiederum nur unter ethischen und
Gerechtigkeitsgesichtspunkten, bzw. nach ökonomischen Überlegungen zu beur-
teilen ist.
Frankl ist der Gefahr des Reduktionismus und der Versuchung, sich auf die
Seite einer bestimmten Variante des Reduktionismus zu schlagen, durch seine
wissenschaftliche Entwicklung, aber auch durch seine reiche und tragische
Lebenserfahrung, die ihn an die Grenzen der menschlichen Existenz und
Belastbarkeit führte, entgangen. Theorie und Praxis haben sich in seiner Entwick-
lung glücklich und organisch ergänzt und zur Ausformung einer eigenen
theoretischen psychologischen Methode, der Logotherapie, als auch zu einer auf
der Höhe der Zeit stehenden Gesamtschau von Welt und Leben geführt. Frankl
hatte und bewahrte sich lebenslänglich eine Bewunderung für Freud, er erkannte
aber schon frühzeitig dessen Schwächen und Grenzen, ja dessen philosophische
Unbedarftheit und Brüchigkeit. Auch die Hinwendung zur Individualpsychologie
Alfred Adlers blieb im Entwicklungsgang Frankls eine nur partielle und temporä-
re. Er erkannte und bejahte den prinzipiellen Fortschritt, den die Individualspsy-
chologie gegenüber der Psychoanalyse darstellte und mit sich brachte. Vor allem
die Betonung des teleologischen Charakters des Seelenlebens erhob Alfred Adler
über seinen Lehrer Sigmund Freud, von dem er sich selbst als einer der ersten,
wenn auch keineswegs der letzten Schüler abwandte. Im Gegensatz zu Freud sah
Adler den Menschen nicht nur als ein Bündel von Trieben, als eine bloß kausal
erfaßbare Größe und auch nicht als ein bloßes Zusammenspiel von Ich, Es und
Über-Ich, sondern als eine schöpferische Einheit, die den einzelnen Phasen und
Kräften des Seelenlebens einen Zusammenhang, eine Ausrichtung auf ein selbst
geschaffenes und übergeordnetes Ziel verleiht. Dieser teleologische Aspekt, der
Adler vom deterministisch-kausal denkenden Freud abhob, arbeitet sich mehr
und mehr an die von Freud verworfene und abgelehnte Sinnfrage, die für Frankl
mehr und mehr zur zentralen Frage wurde, heran und war damit auch für eine
theologische Vertiefung offen. So ist es kein bloßer Zufall, daß Schüler Alfred
Adlers, wie vor allem Rudolf Allers, sich zur katholischen Kirche bekannten und
die Teleologie ins Theologische weiteten und darauf einen Schluß zogen, den
Adler selbst nicht zog, den er aber im Gegensatz zu Freud, der alle Abweichungen
von seiner reinen Lehre in Acht und Bann tat, offen und gelten ließ. Doch auch
Viktor E. Frankls Kampf gegen den Reduktionismus 5
Adler blieb nach den stets wachsenden Einsichten Frankls noch im Psychologis-
mus und Relativismus stecken, wenn es auch nicht der Sexualtrieb war, den Adler
in den Mittelpunkt rückte, sondern das Streben nach Geltung. Doch Frankl wollte
weder den Sexualtrieb noch den Willen zu Macht und Geltung als letzte Instanzen
des Seelenlebens gelten lassen, sondern betrachtete beide nur als Teilerscheinungen
und Annäherungen des Willens zum Sinn, der nicht nur den Philosophen, sondern
auch den Menschen schlechthin auszeichnet und durch sein ganzes Leben verfolgt.
Frankl sah das gesunde Seelenleben, zu dessen Gelingen er durch seine Logothera-
pie beitragen wollte, nicht durch Anpassungsleistungen und Erfüllung von
Normalitätskriterien charakterisiert, für ihn vollendete sich das Menschsein erst in
der Suche nach einem je eigenen Sinn und dessen Findung als lebenslangen Prozeß.
Dabei kamen Frankl nicht nur seine Lebenserfahrungen, sondern auch seine
Anknüpfung an mächtige geistige Strömungen und Traditionen zugute. Erst die
Verschmelzung mit ihnen gab seiner Logotherapie das unverwechselbare und
einzigartige geistige Profil.
Zum Unterschied von anderen Richtungen schöpfen Frankl und die von ihm
begründete Logotherapie aus den Quellen der antik-abendländischen wie auch
der jüdisch-christlichen Tradition oder stimmen jedenfalls in ihren Ergebnissen mit
deren Denk- und Deutungsmustern überein. Dies kommt schon in der triadischen
Kategorisierung zum Ausdruck, die sich sowohl in den antiken als auch in den
jüdisch-christlichen Vorlagen findet. Eines dieser Zuordnungskriterien Frankls
bezieht sich auf die Werte und Werthaltungen, die sich im menschlichen Handeln,
aber auch schon im Denken manifestieren. Es ist im Sinne dieser Traditionen,
wenn Frankl den schöpferischen Werten, der künstlerischen oder sonstigen
Produktion des Menschen mit Hilfe eines formbaren Materials und unter der
Anleitung und Inspiration von Ideen den höchsten Rang einräumt, tritt der
Mensch in dieser seiner Fähigkeit, die ihn vom Tier unterscheidet, doch als Mit-
und Nachschöpfer auf, der sich in dieser Funktion den platonischen Ideen des
Wahren, Guten und Schönen nähert und an der creatio continua Gottes, von der
die christliche Theologie kündet, die aber auch schon im Alten Testament zu
finden ist, mitwirkt. Auch die einen Rang tiefer angesiedelten Erlebniswerte
verbinden den Menschen mit einer höheren Wirklichkeit und werden für die
Mehrheit der Menschen, die nicht im engeren Sinne schöpferisch sein können, ein
Weg zur Selbstverwirklichung und Sinnfindung. Frankl aber läßt es bei diesem
Dualismus in bezug auf die den Menschen motivierenden Werte nicht bewenden,
wie er überhaupt den traditionellen Dualismus von Leib und Seele durch die
Hinzufügung, ja durch die Vorrangstellung des Geistes überbietet. Im gegenständ-
lichen Fall der Werte sind es die Einstellungswerte, die einen Menschen in die Lage
versetzen, auch mit einer Situation, an der er nichts mehr ändern kann, so einer
Norbert Leser6
unheilbaren Krankheit, nicht nur fertigzuwerden, sondern sie zu einer Vollendung
der Persönlichkeit zu verarbeiten. Damit rückt Frankl den leidenden Menschen in
die Nähe Hiobs, der trotz aller Schicksalsschläge an Gott nicht irre wird, aber auch
in die Nähe von Christus am Kreuz, der, obwohl unschuldig, eigenes und fremdes
Leid trägt und erträgt.
Gegenüber diesen Werten nimmt der bloße Genuß, den wir im Alltag allzuoft
mehr als alles andere erstreben, einen minderwertigen Rang ein. Vor allem die
hemmungslos konsumierte sexuelle Lust ist nach Frankl der sicherste Weg, die
wahre Liebe und Liebesfähigkeit zu zerstören. Überhaupt sollte der Mensch nach
der Lehre Frankls nicht den törichten Versuch unternehmen, unter allen Umstän-
den Lust und Glück als Inbegriff irdischen Wohlergehens und Wohlempfindens
anzustreben und auf der anderen Seite das Leid um jeden Preis zu vermeiden.
Denn durch die Sinnfindung und Sinnerfüllung ergeben sich Freud und Leid als
Nebenprodukte, die man dankbar, bzw. geduldig hinnehmen, aber nicht als das
eigentliche Kriterium des Gelingens des eigenen Daseins betrachten und damit
überschätzen soll.
In welcher Art und Weise diese Sinnerfüllung zu finden und zu leisten ist,
entscheidet der Mensch selbst, hoffentlich nach bestem Wissen und Gewissen.
Doch auch für diese Sinnfindung bietet sich nach Frankl eine trinitarische
Hilfestellung an. Allen diesen drei Formen des Transzendierens ist gemeinsam, daß
der Mensch sich nicht bloß selbst verwirklicht, wie es ein modernes Schlagwort
nahelegt, sondern gleichzeitig auch sich selbst einem anderen zuwendet und sich
ihm öffnet und erschließt. Die erste Form dieser Zuwendung ist die Hingabe an
eine Person, sei es in Form der auf Dauer und Exklusivität angelegten
Partnerschaft, sei es durch Sorge um eine der körperlichen oder geistigen Pflege
bedürftige Person. Diese personale Hingabe kann sogar den Tod überdauern und
überwinden. Es handelt sich um jene Ich-Du-Beziehung, von der der jüdische
Religionsphilosoph Martin Buber, auch ein in Wien geborener Geistesverwandter
Frankls, im Rahmen seiner Philosophie des Dialoges spricht. Die zweite Form des
Transzendierens, deren der Mensch fähig ist, ist die Hingabe an ein Werk, das im
idealen Fall das ganze Leben erfüllt und begleitet. Wenn dieses Werk groß und
eindrucksvoll genug ist, wird es meist anerkennend als Lebenswerk bezeichnet und
gewürdigt, aber auch das kleine, im Verborgenen gewirkte Werk beglückt
wenigstens seinen Schöpfer und hebt ihn über die Zerstreuung des Alltags hinaus.
Die dritte Form des Transzendierens, die oft in Verbindung mit der Arbeit an
einem Werk auftritt, ist die Hingabe an eine Idee, an einen übergreifenden und viele
Menschen verbindenden ideellen Zusammenhang. Allerdings ist hinsichtlich dieser
Form des Transzendierens unter Berücksichtigung der traurigen Erfahrungen des
20. Jahrhunderts Vorsicht am Platz, denn Millionen Menschen haben in diesem
Viktor E. Frankls Kampf gegen den Reduktionismus 7
„Jahrhundert der Wölfe“, wie Nadeshda Mandelstam, die Witwe des großen
russischen Lyrikers Osip Mandelstam, das 20. Jahrhundert in einem monumenta-
len Rückblick bezeichnet hat, einer falschen Idee zuliebe Untaten sondergleichen
vollbracht und auch die erste Frau und die Eltern Viktor Frankls ermordet. Das
Beispiel der Hingabe an eine Idee zeigt, daß Ideen im positiven, platonischen, aber
auch jüdisch-christlichen Sinne, nicht von ihren ontologischen Wurzeln und
Grundlagen abzulösen und zu isolieren sind, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen,
zu einem falschen Menschenbild zu pervertieren und bei einer Form der
Menschenvernichtung totalitärer Prägung zu landen. Der Mensch kann daher
wenigstens prinzipiell gar nicht darauf verzichten, auch einen letzten Schritt zu tun
und das innerweltliche Transzendieren in Richtung auf eine über- und außerweltli-
che Intelligenz, die wir Gott nennen und die erst den Maßstab für die Bewertung
alles Irdischen abgibt, zu überschreiten.
Frankl selbst hat in seinem Werk Der unbewußte Gott diesen Zusammenhang
aufgezeigt und seinen Glauben auch im Alltag praktiziert. So weiß seine Frau Elly
zu berichten, was in der Biographie Frankls, die von Haddon Klingberg unter
dem Titel Das Leben wartet auf Dich1
veröffentlicht wurde, nachzulesen ist: Frankl
versäumte es während der fünfzig Jahre, in denen er mit seiner Frau Elly
zusammenlebte, an keinem Tage, vor Beginn des Tagewerkes zu den jüdischen
Gebetsriemen, Teffelin genannt, zu greifen, sie anzulegen und im Gebet
Zwiesprache mit Gott zu halten. Und bei der Feier zur siebzigsten Wiederkehr
seiner Bar-Mitzwa, dem jüdischen Mannbarkeitsritual, das mit dreizehn Jahren
stattfindet, erneuerte er sein Bekenntnis und seine Bindung gegenüber einem
Rabbiner in hebräischer Sprache. Diese Treue ist angesichts der Gleichgültigkeit
vieler Menschen von heute gegenüber Gott, die allen Grund hätten, Gott dankbar
zu sein, vorbildlich und bewundernswert, hätte doch Frankl aufgrund seines
persönlichen Schicksals Grund gehabt, mit Gott zu hadern und die Beziehung zu
ihm abzubrechen. Aber er handelte wie Hiob und wurde an der göttlichen
Weisheit, die alles menschliche Begreifen übersteigt und auch dann zu respektieren
ist, wenn sie einen unvermutet trifft, nicht irre. Frankl begleitete aber auch seine
katholische Frau gelegentlich in die Kirche, zeigte sich also insgesamt der jüdisch-
christlichen Tradition verpflichtet und stand deren Postulaten, vor allen den zehn
Geboten, wohl von allen österreichischen Psychiatern, am nächsten.
Daher war ihm auch klar, daß man den Dekalog nicht um die ersten drei
Gebote, die sich auf Gott beziehen, verkürzen kann, ohne auch den übrigen
Geboten und den Werten, die durch sie geschützt werden, Abbruch zu tun und sie
ihres ontologischen Haltes und Urgrundes zu berauben. Frankl verstand seine
1 Klingberg, Haddon, Das Leben wartet auf Dich, Wien 2002.
Norbert Leser8
Logotherapie freilich nicht als religiöse Botschaft, deren Annahme und Praktizie-
rung von dem Glauben an Gott abhängig ist. Frankl legte sich diese Zurückhal-
tung wohl nicht nur aus methodischen Gründen auf, um niemanden auszuschlie-
ßen, sondern weil er der festen Überzeugung war, daß eine Sinnsuche und -
findung ohnehin früher oder später, auf die eine oder andere Art zu Gott als dem
höchsten Gut und Wert findet und in ihn mündet. Jedenfalls steht fest, daß Frankl
mit seiner Lehre auf dem Boden zweier mächtiger humanistischer Traditionen,
der antiken und der jüdisch-christlichen steht, und er damit jener philosophia
perennis zuzurechnen ist, von der Leibniz sprach und die der Wiener Philosoph
Erich Heintel verbal und inhaltlich fortsetzte. Diese philosophia perennis geht im
Gegensatz zum modernen Evolutionismus, der die Evolution verabsolutiert und
zum alleinigen Erklärungsprinzip der Wirklichkeit macht, und zum Materialismus,
wie ihn z. B. Franz Wuketits in Form eines Biologismus repräsentiert, von der
Annahme und Überzeugung aus, daß der Urgrund der Wirklichkeit im Logos, in
einer ursprünglichen und nicht abgeleiteten Vernunft besteht und sich durch das
Wort an den Menschen als dem Empfänger der göttlichen Botschaft richtet. Die
Bedeutung, die die Logotherapie dem Wort und dem Gespräch zuweist, ist ohne
diesen ontologischen Hintergrund der philosophia perennis, die gleichzeitig eine
Philosophie des Logos im dreifachen Sinne ist, nicht verständlich.
Diese prinzipielle Überlegenheit der Logotherapie gegenüber anderen, positi-
vistischen, aber auch mystisch-okkultistischen Richtungen der Psychologie, wie der
analytischen Psychologie von C. G. Jung, bürgt freilich noch nicht für die sich aus
dieser Überlegenheit scheinbar ergebenden überlegenen Resultate der logothera-
peutischen Behandlung. Wie auch in bezug auf andere Richtungen und Schulen ist
die Beurteilung der theoretischen Richtigkeit der Konzepte von der der erfolgrei-
chen Anwendung in der Praxis zu trennen. Beide bedürfen einer getrennten
Prüfung, die freilich im Falle der praktischen Erfolge nur vergleichend und mit
großen Fragezeichen der Unsicherheit durchzuführen ist. Es kann ein richtiges
Konzept in der Praxis keinen oder einen nur geringen Erfolg zeitigen und dieser
fehlende bis mangelhafte Erfolg kann wiederum auf die falsche Anwendung
durch den Therapeuten zurückzuführen sein oder auf die Fehlerhaftigkeit der
Theorie zurückfallen. Auch die Logotherapie ist gegen diese Schwierigkeiten nicht
gefeit und muß sich laufend dem Vergleich mit anderen Methoden aussetzen,
wobei nicht verschwiegen werden soll, daß es empirische Skeptiker, wie den
Psychologen Hans Jürgen Eysenck, gibt, die allen Richtungen entscheidende
Vorsprünge gegenüber der Rate der spontanen Remission, die durch Zeitablauf
gleichsam von selbst entsteht, bei der Heilung von Neurosen absprechen und
daher eher der Verhaltenstherapie als der Psychotherapie und Tiefenpsychologie
zuneigen.
Viktor E. Frankls Kampf gegen den Reduktionismus 9
Dessen ungeachtet ist es ein bleibendes Verdienst Viktor Frankls, gegenüber
dem verengten Neurosebegriff der Richtungen vor ihm, die „noogene Neurose“
identifiziert und eine Therapie gegen sie entwickelt zu haben. Die Logotherapie
bietet sich vor allem für jene Menschen als geeignete Form der Therapie an, die
elementare Schwierigkeiten sexueller und beruflicher Natur gelöst haben und sich
trotzdem psychisch nicht wohl befinden, sondern nach einer darüber hinausgehen-
den Therapie, die zugleich Sinnfindung ist, Ausschau halten. Die Logotherapie hat
kein Patentrezept zur Bewältigung dieser differenzierteren Lebensprobleme zu
bieten, aber sie kann dem einzelnen behilflich sein, diesen spezifischen Sinn, der
sich nicht in der Erfüllung von Normalitätskriterien erschöpft, sondern eine
höchstpersönliche Eigenleistung ist und eine dementsprechende Anstrengung
erfordert, zu finden. Eines der von Frankl angebotenen Hilfsmittel ist die
„paradoxe Intention“2
, die der Wirklichkeit durch eine neue Sicht, die die
gewohnte auf den Kopf stellt, einen neuen Sinn und eine fruchtbare Perspektive
verleiht. So hat Frankl als der Erfinder dieser Methode, einem Mann, der über den
Tod seiner geliebten Frau nicht hinwegkommen konnte, zum Bewußtsein
gebracht, daß er seiner Frau durch sein Überleben die Trauer, die sonst sie
empfunden hätte, erspart hat. Auf diese Art gelang es Frankl, den Mann nicht nur
mit seinem Schicksal zu versöhnen, sondern ihm auch einen tröstlichen Aspekt
abzugewinnen.3
Trotzdem wäre es falsch, die Logotherapie als eine billige
Tröstungs- und Vertröstungsphilosophie mißzuverstehen, der Trost ist auch in
diesem Falle nicht das Hauptziel und der Haupterfolg, sondern das Nebenpro-
dukt einer gelungenen Sinnsuche und Selbstfindung.
Postskriptum
Ich möchte im Anschuß an meine sachlich-inhaltlichen Ausführungen durch einige
persönliche Anmerkungen betonen und bekräftigen, daß ich meine Kenntnis der
Positionen Viktor Frankls nicht nur der Lektüre und dem Studium seiner Schriften,
sondern auch dem Besuch von Vorlesungen und zahlreichen persönlichen
Gesprächen und Begegnungen mit ihm verdanke. Was die Vorlesungen anbelangt,
erinnere ich mich an eine, die Frankl schon Jahre nach seiner Pensionierung im
Auditorium Maximum der Universität Wien gehalten hat, die mir aus zwei
Gründen in unvergeßlicher Erinnerung geblieben ist: zum einen war die Vorlesung
2 Siehe dazu auch Frankl, Viktor E., Die paradoxe Intention, in: ders., Das Leiden am
sinnlosen Leben. Psychotherapie für heute, Freiburg – Basel 1989, S. 56–67; die Herausgeber.
3 Siehe dazu Frankl, Viktor E., Der Sinn des Leidens, in: ders., Das Leiden am sinnlosen
Leben. Psychotherapie für heute, Freiburg – Basel 1989, S. 83f; die Herausgeber.
Norbert Leser10
ein Zeichen dafür, daß Frankl mit seiner Sinnfrage nicht nur älteren, in der
Tradition verwurzelten Menschen etwas zu sagen hatte, sondern auch jüngeren
und vor allem Studenten. Der zweite erwähnenswerte Grund, mich an diese
Vorlesung zu erinnern, ist die Tatsache, daß ich das Auditorium Maximum bei
keiner Gelegenheit je so überfüllt gesehen habe wie bei diesem Vortrag Frankls.
Der Andrang war schlechthin überwältigend, ich erinnere mich, es inmitten dieser
Menge plötzlich mit Platzangst zu tun bekommen zu haben und vorsichtshalber
dem Ausgang zustrebte, was alles andere denn leicht war. Frankl war nicht nur ein
glänzender Schriftsteller, dessen Werke in aller Welt und in allen Sprachen Millionen
Leser fanden, sondern auch ein phantastischer Rhetoriker und hervorragender
Pädagoge. Er schaffte es aber nicht nur in Wien und Österreich für volle Häuser zu
sorgen, sondern auch im Ausland, in Nord- und Südamerika, wovon die
zahlreichen Ehrendoktorate der verschiedensten Universitäten zeugen.
Ich hatte aber des öfteren auch die Gelegenheit, mit Frankl persönlich zu
sprechen und Gedanken auszutauschen, das eine oder andere Mal zusammen mit
seiner Frau in seiner Wohnung in der Mariannengasse, einmal auch in der Wohnung
meiner Mutter Jolanthe Leser, mit der ich nach dem Tod meines Vaters 1971
öfters in unserer ursprünglich gemeinsamen Wohnung in der Alserstraße 32
zusammenkam. Einmal besuchte Frankl mit seiner Frau nach einem Mittagessen,
das er häufig im Restaurant Winter, das im selben Haus lag und liegt, einnahm, die
Wohnung, wobei sich im Gespräch herausstellte, daß Frankl selbst in diesem Haus
vor 1938 ordiniert und seine Schwester dort gewohnt hatte. Einmal besuchte mich
Frankl nach einer Veranstaltung im Döblinger Heimatmuseum auch in meiner
Döblinger Wohnung in einer Professorensiedlung in der Bauernfeldgasse, in der
ich heute noch lebe. Es waren aber nicht nur räumlich vermittelte und gleichsam
periphere Anlässe, die uns zusammenführten. Es kam immer wieder zu
persönlichen Begegnungen nicht bloß zufälliger Natur, immer wieder und immer
mehr stellten sich dabei sachliche Übereinstimmungen und Berührungspunkte ein,
die unseren Kontakt belebten. Einmal, im Dezember 1966 habe ich ihn unter dem
Titel „Ein Privatkrieg“, ohne mit Frankl vorher Rücksprache gepflogen zu haben,
in der Zukunft, dem theoretischen Organ der SPÖ, gegen die wilden Attacken
eines Namensvetters, der ebenfalls Viktor Frankl hieß, verteidigt, eines früheren
Professors an einer südamerikanischen katholischen Universität, der sich, in
merkwürdiger Weise durch die Namensgleichheit und die damit wohl verbundene
Ambivalenz motiviert, in Frankl verbiß. Frankl kommentierte meine damalige
Parteinahme für ihn bei einer späteren Begegnung mit den dem Talmud entlehnten
Worten: „Wenn Du ungerecht angegriffen wirst, schickt Gott Dir einen Boten, der
Dich schützt.“
Viktor E. Frankls Kampf gegen den Reduktionismus 11
Auf Anregung Frankls habe ich 1983 am Dritten Weltkongreß für Logotherapie
teilgenommen, der in Regensburg stattfand und der mir Gelegenheit bot, als
Vertreter einer verwandten Disziplin vor einem großen Auditorium zu sprechen
und meiner Affinität zu den Gedanken Frankls Ausdruck zu verleihen.
Als im Jahre 1980 im Österreichischen Bundesverlag eine Aufsatzsammlung
mit dem Titel Jenseits von Marx und Freud mit dem Untertitel Studien zur philosophischen
Anthropologie von mir herauskam, rezensierte Frankl dieses Buch, das er als ein
„notwendiges Buch“ charakterisierte, im Heft 6 aus 1981 in der Österreichischen
Ärztezeitung zustimmend.
In einem anderen, späteren Fall kam es sogar zu einer gewissen Kooperation,
die unsere sachliche Übereinstimmung dokumentierte. Und zwar wurde Frankl
von einem deutschen katholischen Verlag namens Ströher in Buseck gebeten, die
theistische Position gegen die atheistischen Invektiven des bekannten deutschen
Autors und Psychiaterkollegen Frankls, Horst Eberhard Richter, zu verteidigen,
der seine Position unter anderem schon in dem 1976 erschienenen Buch
Gottesvergiftung dargelegt hatte. Frankl delegierte die Erfüllung dieser Aufgabe
damals an mich und ich erfüllte sie zu seiner Zufriedenheit. 2001 habe ich diesen
Aufsatz dann in einem eigenen Buch, dem im Verlag va bene erschienenen Gottes
Türen und Fenster – ein erneuter Blick auf die Gottesbeweise. Erkenntnisse und Bekenntnisse
unter Hinweis auf die damalige deutsche Publikation über Ersuchen und im
Geiste Frankls veröffentlicht. Richter und andere deklarierte Atheisten begehen
mit oder ohne Anlehnung an Freud den gleichen Fehler wie deren Herr und
Meister, der sich selbst als „gottloser Jude“ charakterisierte, während Frankl ein
von Gott überzeugter und durchdrungener Jude war, den Fehler nämlich, die
Gottesidee, nur weil sie ohne Zweifel auch eine Projektion des Vaterbildes ins
Kosmische ist, darauf zu reduzieren. Die Tatsache der Projektion präjudiziert die
Frage, ob die Gottesidee darüberhinaus noch etwas anderes und ontologisch
Fundiertes sei, keineswegs negativ. Die Tatsache, daß der Mensch gar nicht anders
kann, als dem „unbewußten Gott“, dem Frankl ein eigenes Buch gewidmet hatte,
seinen Tribut zu zollen, wenn er nicht seine eigene Natur verleugnen will, ist logisch
geradezu ein Indiz dafür, daß dieser Projektionsmechanismus ein ontologisches
fundamentium in re in Gestalt einer Person, nach deren Bild und Gleichnis der
Mensch geschaffen wurde, hat und diese Person nicht nur der Herr aller Dinge,
sondern auch der Auslöser dieses Projektionsmechanismus ist. In diesem
Zusammenhang fällt mir ein Ausspruch ein, den ein berühmter Psychiaterkollege
Frankls, Erwin Stransky, immer wieder getan hat: „Ich habe im Laufe meines
langen Lebens nur sehr wenige echte Atheisten kennengelernt. Die meisten, die sich
dafür halten, sind nur aus irgendeinem Grund auf den lieben Gott bös.“
Norbert Leser12
Das größte Kompliment, das mir Frankl einmal mündlich zollte und das aus
seinem Munde ein qualifiziertes Lob war, betraf seine Feststellung, daß es im Wien
der Zwischenkriegszeit ein, zwei Dutzend Persönlichkeiten meines Zuschnittes
und meiner Vielseitigkeit gegeben habe, ich aber im Wien von heute zu einer
Einzelerscheinung geworden sei. Diese Aussage wiederum erinnert mich an die
scherzhafte Bemerkung mit ernstem Hintergrund, die Hertha Firnberg, die meine
Lebenslaufbahn begleitete und unterstützte, in bezug auf meine Person gemacht
hat: „Leser hat sich vom Einzelkind zum Einzelgänger, vom Einzelgänger zum
Unikum und vom Unikum zum Unikat entwickelt.“ Obwohl ich mich mit dem
Lebenswerk, das Frankl hinterlassen hat, nicht im entferntesten messen kann, darf
ich doch auch für mich hoffen, daß diese Einschätzung meiner Hingabe an ein
Lebenswerk nicht bloß Einzelmeinungen repräsentiert, sondern auch in Zukunft
ihren Niederschlag finden wird. Jedenfalls darf ich mit Stolz und Genugtuung
behaupten, daß Frankl durch seine Ermunterung zur Gestaltwerdung meines
eigenen Lebenswerkes wesentlich beigetragen hat.
Elisabeth Lukas
EIN PSYCHIATRISCHES UND
EIN PSYCHOTHERAPEUTISCHES CREDO*
Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag …
Dietrich Bonhoeffer, 1944
(1945 im KZ Flossenbürg ermordet)
Um das Menschenbild der Logotherapie nachzuzeichnen, bedarf es zunächst
eines kleinen Rekurses auf das Begriffspaar Immanenz – Transzendenz. Die
Immanenz wird allgemein definiert als die Beschränkung auf das innerweltliche
Sein und das darin Erkennbare und Erfahrbare. Was aber ist erkennbar und
erfahrbar im innerweltlichen Sein? Ein Vierfaches: Raum, Zeit, Materie und
Kausalität (Naturgesetze). Nicht mehr und nicht weniger brauchte auch die
Evolution, um in einem unendlich langsamen doch steten Prozeß lebendige
Zellen, Pflanzen, Tiere und schließlich den Menschen hervorzubringen. Innerwelt-
liches Leben ist somit Leben in Raum und Zeit, auf der Basis von Materie und
durchkonstruiert von kausalen Zusammenhängen.
Im Unterschied dazu wird die Transzendenz definiert als das jenseits von
Erkenntnis und Erfahrung Liegende, Bewußtseinsgrenzen Überschreitende, einer
Überwelt Zugehörige, theologisch ausgedrückt: Göttliche. Über die Transzendenz
gibt es – von Offenbarungen abgesehen – mangels Erkenntnis und Erfahrung
keine Aussagen außer solchen, die beschreiben, was sie nicht ist und sein kann. Sie
ist nicht in Raum und Zeit (sondern „ewig“, überall und nirgends), sie ist nicht aus
Materie entstanden oder ableitbar (sondern eher der Ursprung aller Materie) und
sie unterliegt keiner zwingenden Kausalität (weil sie selber und ihrerseits die „Causa
prima“ darstellt).
In der Logotherapie wird nun davon ausgegangen, daß der Mensch von
immanenter und transzendenter Herkunft ist, oder poetisch formuliert, Wurzeln
im Himmel und auf Erden hat.
Die „Erdwurzeln“ repräsentieren die psychophysische Gebundenheit des
Menschen: seine Körperlichkeit und die Funktionen seiner Körperlichkeit bis hin
* Unter diesem Titel erschienen in: Lukas, Elisabeth, Geborgensein – worin? Logotherapeutische
Leitlinien zur Rückgewinnung des Urvertrauens, Freiburg 1993, S. 15–26. Abgedruckt mit
freundlicher Erlaubnis der Autorin.
Elisabeth Lukas14
zu den hochkomplexen Vorgängen im Zentralnervensystem, die jedwedes
leibseelische Wechselgeschehen steuern.
Die „Himmelswurzeln“ repräsentieren im Kontrast dazu die geistige Freiheit
des Menschen: sein durch Körperlichkeit Bedingt- aber nicht Bewirkt-sein, sein
durch evolutionäre Entwicklung Ermöglicht- aber nicht Erschaffen-worden-sein
und sein durch Schäden des Zentralnervensystems Behindert- aber nicht Ausge-
löscht-werden-können.
Psychophysische Gebundenheit und geistige Freiheit in Einheit und Ganzheit –
das ist das Bild des Menschen in der Logotherapie, wobei sich Viktor E. Frankl an
Nicolai Hartmann anlehnt, der als Charakteristikum des Menschen von einer
„Autonomie trotz Dependenz“ gesprochen hat.
Verglichen mit anderen psychotherapeutischen Schulen und Denkansätzen
besteht in Hinblick auf die psychophysische Gebundenheit des Menschen durchaus
Übereinstimmung. Keine seriöse Humanwissenschaft negiert heutzutage mehr die
„Erdwurzeln“ des Menschen mit ihren starken biologischen, psychologischen und
soziologischen Determinanten. Weniger Übereinstimmung besteht hinsichtlich der
Beurteilung, ob dem Menschen über jene psychophysische Gebundenheit hinaus ein
Rest an geistiger Freiheit verbleibt, ja, ob seine Existenz sozusagen aus transzenden-
ten Wurzeln mitgespeist wird, und ob diese vielleicht das Eigentliche und Wesentliche
des Menschen ausmachen. Hier nimmt die Logotherapie im Reigen der verschiede-
nen Schulmeinungen gewiß die entschiedenste Ja-Position ein. Sie ordnet dem
Menschen eindeutig „Himmelswurzeln“ zu, was auch für die angewandte Psychiatrie
und Psychotherapie nicht ohne Belang ist. Diese Position der Logotherapie soll an
Hand von Original-Textstellen aus den „Metaklinischen Vorlesungen“, die Viktor E.
Frankl 1949 an der Wiener Universität gehalten hat, belegt werden.
Gemäß Viktor E. Frankl ist der Mensch eine geistige Person:
„Woher rührt die menschliche Schichtstruktur? Das gestufte Gefüge des Menschen?
Nicht daher, daß er sich aus Leib, Seele und Geist zusammensetzt, sondern daher,
daß sich das Geistige mit dem Leiblichen und dem Seelischen auseinandersetzt:
immer nimmt der Mensch als Geist zu sich als Leib und Seele Stellung, immer steht
der Mensch als Geist sich selbst als Leib und Seele gegenüber. Was er sich selbst
gegenüber ‚hat‘, ist Leib und Seele; was er Leib und Seele gegenüber ‚ist‘, ist Geist […] Der
Mensch ‚hat‘ Leib und Seele – aber er ‚ist‘ Geist.“1
Hier werden bereits die „Erd- und Himmelswurzeln“ von einander getrennt. Der
Mensch hat Haare, Zähne, Augen, Arme usw. Er hat Ängste, Träume, Gedanken,
1 Frankl, Viktor E., Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Bern
1996, S. 112.
Ein psychiatrisches und ein psychotherapeutisches Credo 15
Triebe usw. Er hat Physis und Psyche, aber er ist Geist. Das von ihm zu Habende
ist raum- und zeitgebunden. Haare und Zähne befinden sich an einem Ort, Ängste
und Träume finden zu einer bestimmten Zeit statt. Was aber der Mensch ist, ist
raum- und zeitübergreifend:
„[…] das Hinauslangen von Existenz ist niemals eines in der Zeit, vielmehr immer
eines über die Zeit hinaus – ins Überzeitliche hinein.2
[…] Mein Geist ‚ist‘ tatsächlich
bei allem, woran er jeweils denkt, woran er ‚rührt‘. Nur, daß dieses Bei-sein nicht
räumlich vorgestellt werden darf […] geistig Seiendes ist nämlich der Raumkategorie
überhaupt nicht unterstellt. Geist – als wesentlich Unräumliches – ist im Raume
nirgends, und so denn auch nicht ‚im Leibe‘ […] er ‚ist bei‘ den Dingen.“3
Die geistige Person, die ein Mensch ist, kann sich sonach aus dem Hier und Jetzt
entfernen, kann sich aufschwingen in Zeiten und Räume, denen der psychophysi-
sche Organismus nicht zu folgen vermag. Sitzt beispielsweise jemand an seinem
Schreibtisch und studiert die geologische Formation des Meeresbodens im Pazifik,
dann „ist“ er geistig am Meeresboden des Pazifiks, auch wenn er physisch an seinem
Schreibtisch sitzt und psychisch erste Ermüdungserscheinungen verspürt.
Oder gedenkt jemand liebend seines verstorbenen Vaters, dann „ist“ er geistig
bei seinem Vater, auch wenn er physisch in einem Jahr lebt, in dem der Vater längst
nicht mehr lebt und in dem er psychisch über das Nicht-mehr-leben des Vaters
trauert.
Wie ist nun die Wirklichkeit des Geistigen zu verstehen? Viktor Frankl erteilt
dem Materialismus eine klare Absage:
„Das Wesen des Materialismus erblicken wir nun darin, daß er die seelisch-geistigen
Phänomene als bloße Epiphänomene der Materie hinstellt. Mit anderen Worten:
alles Geistige wird aus der Materie abgeleitet. Dieser ‚spiritus ex materia‘ ist und bleibt
jedoch so recht ein Deus ex machina; denn niemals läßt menschlicher Geist sich auf
den ‚homme machine‘ zurückführen.“4
Hier kommt ein weiteres Kennzeichen der „Himmelswurzel“ des Menschen zum
Ausdruck: die geistige Person ist nicht nur nicht gefesselt in Raum und Zeit, sie ist
auch nicht von materieller Art. Die Attribute der Immanenz gelten nicht für sie:
„Die leibliche Erkrankung schränkt die Entfaltungsmöglichkeiten der geistigen
Person ein, und die somatische Behandlung gibt sie ihr zurück, gibt ihr wieder
2 Ebd., S. 115.
3 Ebd., S. 87.
4 Ebd., S. 94.