DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013 Paralympics Zeitung · Eingetaucht DieSchwimmerinKirstenBruhnimPorträt...

8
Eingetaucht Die Schwimmerin Kirsten Bruhn im Porträt Paralympics Zeitung Ausgeleuchtet Ein Blick hinter die Kulissen des Films „Gold“ DONNERSTAG, 28. FEBRUAR 2013 SONDERAUSGABE ZUM KINOSTART DES FILMS „GOLD – DU KANNST MEHR ALS DU DENKST“ In Kooperation mit der

Transcript of DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013 Paralympics Zeitung · Eingetaucht DieSchwimmerinKirstenBruhnimPorträt...

Page 1: DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013 Paralympics Zeitung · Eingetaucht DieSchwimmerinKirstenBruhnimPorträt Paralympics Zeitung Ausgeleuchtet EinBlickhinterdieKulissendesFilms„Gold“ DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013

EingetauchtDie Schwimmerin Kirsten Bruhn im Porträt

ParalympicsZeitung

AusgeleuchtetEin Blick hinter die Kulissen des Films „Gold“

DONNERSTAG, 28. FEBRUAR 2013

SONDERAUSGABE ZUMKINOSTARTDES FILMS „GOLD – DU KANNST MEHR ALS DU DENKST“

In Kooperation mit der

Page 2: DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013 Paralympics Zeitung · Eingetaucht DieSchwimmerinKirstenBruhnimPorträt Paralympics Zeitung Ausgeleuchtet EinBlickhinterdieKulissendesFilms„Gold“ DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013

Imer wieder brandet im ausverkauftenSaal Szenenapplaus auf. Und es gibtStanding Ovations, minutenlang. AuchBundespräsident Joachim Gauck undseine Lebensgefährtin Daniela Schadt

sind begeistert. „Gold – Du kannst mehr alsdu denkst“ erlebt bei der Berlinale-Weltur-aufführung eindeutige Sympathiebekundun-gen. Der Film zeigt den Lebensweg dreierParalympics-Ahtleten und hinterläßt bei sei-nen Zuschauern Eindruck.Dies ist nicht zuletzt der Kamera vonMar-

cusWinterbauer zu verdanken: Sie lässt denBetrachter den Fahrtwind mitfühlen, wennder australische Rennrollstuhlfahrer KurtFearnley auf der Landtstraße dicht nebenlangen Trucks den Hügel hinunterrast. Ander Seite des kenianischen Marathonläufer-duos mit dem blinden Henry Wanyoike undseinem Guide Joseph Kibunja läuft sie mitüber Stock und Stein an Büffeln und Giraffenvorbei. Man hört der deutschen Schwimme-rin Kirsten Bruhn ergriffen zu, wenn sie sichin ihremheutigen Leben als Leistungssport-lerin darüber ärgert, dass sie bei demMotor-radunfall 2001 in Griechenland so gar keineKörperspannung hatte.Die Protagonisten des Films sind Persön-

lichkeiten, Typen und Kämpfer. Und ihre Le-benserfahrung ist wertvoll – gerade für an-dereMenschen. Die Botschaft: Es gibt ein Le-ben nach einer persönlichen Katastrophe,nach einem Schicksalsschlag, und Sport istein wichtiges Element der Rehabilitation.„Gold“ ist ein sehr emotionaler Film. Die

106-minütige filmische Reise erweitert denHorizont, sowohl bei behinderten als auchbei nichtbehindertenMenschen. Die Produk-tion der Parapictures Film ProductionGmbH erzählt erstmals in der Filmge-

schichte die bewegenden Lebensläufe vonaußergewöhnlichen Menschen und Spitzen-sportlern – von der Geburt bis zu einemKar-rierehöhepunkt, den Paralympics in London2012. Drehbuchautor Andreas F. Schneiderund Mitproduzent Hendrik Flügge wollten„etwas erzählen, was jeder – auch jemand,der eigentlich nichts über den Sport vonMenschenmit Handicap weiß – in seiner Be-deutung und Leistung versteht“. Den Filmsieht man mit dem Herzen, so, wie es dernach einem Schlaganfall als Junge plötzlicherblindete Henry Wanyoike von sich sagt.„Als ich blind wurde, war ich nicht mehr ichselbst, hatte Depressionen.“ Heute strahltseine Mutter, „als wäre ein Wunder gesche-hen“.Die Idee, diese Emotionen auf die Lein-

wand zu bringen, kamvon der DeutschenGe-setzlichen Unfallversicherung (DGUV), demSpitzenverband der gewerblichen Berufsge-nossenschaften und Unfallkassen mit mehrals 70 Millionen Versicherten in Deutsch-land. Die DGUV hat „Gold – Du kannst mehrals du denkst“ erst ermöglicht, indem sie ei-nen Großteil der Produktionskosten getra-gen hat. „Ich hatte die Idee zu dem Film2009, während einer Autofahrt nach sehr be-wegenden Gesprächen mit Paralym-pics-Sportlern. Im Auto habe ich einen fan-tastischen Titel von Stevie Wonder gehört,und da wurde mir irgendwie klar, wir müs-sen etwasNeuesmachen, um dieMenschenzu berühren, einen Film, der mitreißt, und

so das unglaubliche Potenzial, das in The-men wie Rehabilitation und Behinderten-sport steckt, viel wirkungsvoller darstellenals alles bisher Dagewesene“, erinnert sichGregor Doepke, DGUV-Kommunikations-chef und „Vater“ des Films.Auch über den Ort für die große Feier zum

Kinostart in Deutschland am28. Februar hatman sich Gedanken gemacht. Sie fand zweiTage zuvor im Flughafenhangar von„Gold“-Unterstützer Lufthansa auf demHamburger Flughafen statt. Die DGUV ludbewusst an einen Ort, an dem möglichstviele Rollstuhlfahrer kommen können.Barrierefreiheit war auch ein Thema bei

der Premiere auf der Berlinale am 15. Feb-ruar: „Da muss noch eine Menge passieren.

Wir haben hier für die Premiere einfachselbst spontan Hand angelegt und umge-baut“, sagte Berlinale-Chef Dieter Kosslickdem Tagesspiegel in Berlin.Inklusion – dieses Ziel ist leider noch nicht

erreicht, auch das ist eine Botschaft desFilms.KurtFearnley etwaweiß,wasesheißt,Hindernisse zu überwinden: Er klettert we-gen der seit der Geburt fehlenden Beine ein-fachauf seinen starkenArmenüberStachel-drahtzäune und platscht durch Bäche. Überseinen Sport sagt er glücklich: „Ich bin ein-fach der Typ, der in einen Rennrollstuhlpasst.“ Da fühlt er sich „perfekt“. Die größteAngstabersei, „dasssichmirandereDinge inden Weg stellen, wenn einem gesagt wird,hier kommst du nicht rein, obwohl ich meinganzes Leben danach ausgerichtet habe,selbstständigzusein“.DieProtagonistenzei-gen, wieman trotz Behinderung nicht behin-dert ist. „Kurt gehört zu einerMinderheit. EristWeltmeister“, lautet ein „Gold“-Slogan.„Ich finde die Botschaft des Films sehr er-

mutigend, sie ist motivierend für alle Men-schen. Dabei spielt es keine Rolle, ob maneine Behinderung hat oder nicht. Es geht da-rum, welche besonderen Fähigkeiten wirentwickeln müssen, um unser Leben mög-lichst gut zu meistern“, sagt DGUV-Vor-standsvorsitzende Marina Schröder. Dabeihilft, so formuliert es Vorstandskollege Dr.Hans-Joachim Wolff, „die Kraft des Sports“.Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrichund UN-Sonderbotschafter für den Sport

Willi Lemke sind Schirmherren des Filmpro-jekts. Es soll Sondervorführungen unter an-derem für Bundestagsabgeordnete, für Be-hindertensportler und für Schulen geben.Grimme-Preisträger Michael Hammon

hat als Regisseur viele intime Momente ein-gefangen: zum Beispiel wie Kurts Vater dieTränen kommen, als er sich an die erstenMomente nach der Geburt des Sohnes erin-nert. Heute zeigen die Eltern stolz Sammel-alben mit den Erfolgsberichten ihres Soh-nes. Henry Wanyoike bekam Unterstützungvon Boris Becker dabei, Kühe für die Leutein seinem Dorf Kikuju anzuschaffen. Heuteveranstalten Henry und sein Begleitläufer

Joseph landesweit Charitys. Er ist so selbst-ständig, dass andere Blinde denken, erkönne sehen. „Wichtig ist, eine Vision zu ha-ben“, sagtWanyoike – und sie zu leben. Dannkommt die Liebe von ganz allein. Wie in derSzene, als Kurt Fearnleys Frau Sheridan indieGarage stürmt: Sie braucht einenSchrau-bendreher. Er schiebt seine Räder weiter an,sie sirren, er kann jetzt nicht, er schwitzt.„Schatz, du stinkst“, sagt sie mit so einemAusdruck, wie es nur liebende Frauen kön-nen. „Mein Mann kann nicht so gut laufen“,kokettiert sie, beide lachen. „Ich habe mei-nen Mann zum Invaliden gemacht“, prustetsie. Alle imKino lachen herzlich. Es sind sol-che Szenen, die „Gold“ sehenswert machen.

Bei derWeltpremieregab es Szenenapplausund Standing Ovations

3_Paralympics_Tagesspiegel_28. Februar 2013

Blaue Wand, roter Teppich. Kurt Fearnley(l.), Rennrollstuhlfahrer, Henry Wanyoikeund Joseph Kibunja (h.), Marathonläufer,und Schwimmerin Kisten Bruhn imBlitzlichtgewitter der Berlinale. Wirklichbeste Freunde: das ProduzententeamAndreas F. Schneider (l.) und HendrikFlügge.

Die Menschen gehörenzu einer Minderheit.Sie sind Weltmeister

Mit dem Herzen sehenDie Paralympics-Dokumentation „Gold – Du kannst mehr als du denkst“ erlebtbei der Berlinale eine begeisternde Premiere. Der emotionale Film erzähltdie Geschichte dreier bewegender Lebensläufe

Fotos:ThiloRückeis,Promo

VON ANNETTE KÖGEL

Page 3: DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013 Paralympics Zeitung · Eingetaucht DieSchwimmerinKirstenBruhnimPorträt Paralympics Zeitung Ausgeleuchtet EinBlickhinterdieKulissendesFilms„Gold“ DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013

Sie schwebt. Sie fliegt. Sie ist frei. Esist eine poetische Szene im Film, alsdie Kamera die Schwimmerin vonoben beobachten darf, wie sie sich

auf fast zärtlicheWeise auf demRücken trei-bend mit den Händen ganz langsam durchihr Element schiebt. ImWasser zu sein, „dasist für sie die Befreiung, wie eine Erlösung“,sagt Kirsten Bruhns Trainer. Sie sagt „ HalloTrainer“ und „Vati“ zu ihm, Manfred Bruhnsteht konzentriert am Beckenrand.Er war geschockt, damals, als ihn im Juli

2001 die Nachricht erreichte: Es gab einenschweren Unfall. Da war seine Tochterschon Leistungsschwimmerin, bereits mitzehn Jahren trainierte das Mädchen profes-sionell, schon mit drei Jahren war sie gernins Becken gesprungen. Abitur 1990, einJahr als Au-pair in den USA, dann stand ei-gentlich ein Grafikdesign-Studium in Ham-burg an. Eigentlich. Kirsten und ihr damali-ger Freund waren im Urlaub, er hatte sie zueiner Spritztour auf dem Motorrad überre-

det. Auf einer Serpentinenstraße schnitt einAutofahrer das Paar.Der Sturz. Filmriss im Leben.Erst vierzig Stunden nach demUnfall wird

die schwer verletzte 21-Jährige zur Akutver-sorgung in ein Krankenhaus geflogen. DerArzt teilt ihr die Diagnosemit folgendenWor-ten mit: „Frau Bruhn, das mit dem Gehenkönnen Sie vergessen.“ Er sagt das, drehtsich um und geht weg.Im Film „Gold - Du kannst mehr als du

denkst“ läuft Kirsten Bruhn die steile Wen-deltreppe eines Sightseeing-Busses in Ber-lin hinauf, sie stützt sich einfach an den Sei-ten ab: geht doch, kein Problem. Sie hat, wieimmer elegant und stilvoll gekleidet, schonviele Ehrungen zur Sportlerin des Jahresaufrecht entgegengenommen. Da hat siesich an ihren farblich auf die Kleidung abge-stimmten Krücken Schritt für Schritt auf dieBühne gekämpft und alle im Saal wusstenspätestens jetzt, was dasWort Ehrfurcht be-deutet. Für ihre außerordentlichen Leistun-gen bei den Paralympischen Sommerspie-len in London wurde Kirsten Bruhn im No-vember 2012mit einemBambi in der Katego-rie „Sport“ ausgezeichnet.Das mit der Diagnose, Herr Doktor, das

können Sie vergessen.Die 43-Jährigemacht in demDokumentar-

film „Gold - Du kannst mehr, als du denkst“ordentlich Klimmzüge und sie kann ihr aus-gestrecktes Bein an der Sprossenwand ste-hend bis an den Oberkörper herandehnen.In der TV-Talkshow „Tietjen und Hirschhau-sen“ hat sie gerade vorgemacht, dass sie ihrBein in den langen Stiefeln, die sie so gerneträgt, trotz inkompletter Querschnittläh-mung kraft der Oberschenkelmuskulaturlanggestreckt hoch Richtung Decke reißenkann. Das sieht dann aus wie beim Fernseh-ballett. Til Schweiger saß mit am Tisch imStudio, sein bewundernder Blick sprachBände. Sport hat all das möglich gemacht,konsequentes Rehatraining, „mein Motiva-tor“, erzählt sie in einer Filmszene.„Träume nicht dein Leben, sondern lebe

deinen Traum“, so was sagt Kirsten Bruhngern, oder: „Du bist, was du denkst. Ich habegelernt, mich nicht übermeine Behinderungzu definieren, sondern über das, was ich zuleisten imstande bin.“ Mit viel Disziplin, ge-gen alle Schmerzen: 92-fache deutscheMeisterin, 65 Welt- und 76 Europarekorde,

sechsfacheEuropa- und vierfacheWeltmeis-terin, drei Mal paralympischer Rekord, para-lympisches Gold 2004 in Athen, 2008 inPeking, und jetzt zum Abschluss der para-lympischen Karriere in London 2012 nocheinmal die Goldmedaille: zum dritten Malin Folge über 100 Meter Brust, mit großem

Abstand vor allen anderen Konkurrentin-nen. Der perfekte Schlusspunkt einer Sport-lerlaufbahn.Die Dreharbeiten zum Film „Gold“ aber

waren nicht nur einfach für sie: „Ich habe dieganze Zeit nochmal komplett durchlebt, dasgeht einem schon an die Nieren“, sagt Kirs-tenBruhn. Im Film sagt sie einmal unter Trä-nen: „Zu wissen, du wirst jetzt dein Lebenaus dem Sitzen bestreiten – das sind Mo-mente, wo man wirklich einfach nur die Au-gen zumachen und nie wieder aufmachenmöchte.“ Nach demUnfall war das Kranken-haus monatelang ihr Zuhause. Elf Jahrelang kämpfte sie mit sich selbst, mit demneuen Leben.Freunde und Sportkameraden brachten

sie dann auf die Idee, es doch wieder mitdem Leistungsschwimmen zu versuchen.Der eine Schritt sei es aber, die eigeneBehin-derung für sich anzunehmen, berichtet die„Gold“-Protagonistin vor der Kamera. Dernächste Schritt, „sich selbst so auch noch po-sitiv zu präsentieren“. So weit war sie an-fangs noch nicht,. Die Leichtigkeit, die wardahin, erzählt sie. Nie wieder einfach was

spontan unternehmen, nie wieder beimBeachvolleyball nach einem Ball springen.„Aber ich kann ja nicht weglaufen, auchnicht vor mir selbst.“Kirsten Bruhn hat längst neue Energien

gewonnen. Sie kann auch ihre Schwächenzeigen und darausKraft schöpfen. Bruhn be-ginnt ihr neues Leistungsschwimmerleben2002. Und dann, 2004, die ersten Paralympi-schen Spiele ihres Lebens: Sie holt in Athendie Goldmedaille in ihrer Paradedisziplin,100 Meter Brust. „Ich hätte nie gedacht,dass der schlimmste Tagmeines Lebens zu-gleich Auslöser des schönsten Tags meinesLebens sein würde.“ Heute arbeitet die aus-gebildete Verwaltungsangestellte längst

auch als Motivationstrainerin für Unterneh-men. Und sie bemüht sich darum, anderen„frisch Verunfallten“ Mut zu machen, weilsie selbst es doch auch geschafft habe. MitErnst und mit Scherzen.In einer Szene sieht man sie im Unfall-

krankenhaus Boberb in Hamburg, wo sieselbst monatelang lag. Heute sitzt das Idolauf dem Bett, macht einer anderen Frau imRollstuhl Mut. Diese hatte einen Reitunfall,und sie erzählt davon, wie sie noch dagegengekämpft habe, dass das Notarztteam ihrdie geliebte Reithose aufschneidet.Auch Kirsten Bruhn kann sich nicht mehr

mithilfe ihrer Beine im Wasser anschieben.Und wenn die Sportlerin kraftvoll krault,ragte anfangs der Po wegen des Auftriebsim Wasser in die Höhe. Mit einer anderenSchwimmtechnik gleicht sie das aus. In„Gold – Du kannst mehr als du denkst“ sieht

man sie mit dem Technik- und Diagnosetrai-ner des deutschen Schwimmteams bei derAnalyse vor dem Computer. Phillip Seme-chin, das erfährt man später, ist auch ihr Le-bensgefährte. Sie ziehen jetzt zusammen

nach Berlin. Zuletzt suchte das Paar nochnach einer passenden, auch behinderten-freundlichen Wohnung nahe dem Olympia-stützpunkt in Berlin-Hohenschönhausen.Sie bleibt aber weiter in ihrem alten Neu-münsteraner Schwimmverein.Auch bei Phillip Semechin kam vieles an-

ders, als er dachte. Na ja, er habe sich erstnicht vorstellen können, mit einer Frau zu-sammenzusein, die älter sei als er. Und auchnicht mit einer Frau, die „behindert“ ist.„Und jetzt ist Kirsten für mich einfach nurnoch der tollste Mensch der Welt.“So etwas zu hören, die Eltern im Film auf

der Leinwand und sich selbst zu sehen, daswar auch für die mediengewohnte und auf-trittserprobte Leistungssportlerin ein emo-tionales Erlebnis. Sie hatte sich das großeFilmpremierenerlebnis bis zur Berlinale inBerlin aufgehoben. Die anderen Athletenhatten schon mal in die Rohfassung des Ki-nofilms hineingeschmult.Als sich dann ein Teil der Bühne nach der

Berlinale-Premiere im Haus der BerlinerFestspiele extra für die Rollstuhlfahrer ab-senkte, umdie Paralympioniken dann sprich-wörtlich hochleben zu lassen, hielten sichalle vierHauptpersonen spontan an denHän-den: Wir sind ein Team, wir haben so viel al-lein und auch gemeinsam miteinander ge-schafft. Vor demgroßenAuftritt bei den Para-lympischen Spielen im Spätsommer 2012 in

London hatte Kirsten Bruhn ein bisschenSorge. Die letzten großen Paralympics derKarriere – auch mal Krankheitszeiten wäh-rend der Trainingsvorbereitung. Und dannnoch die ganze Zeit von einem Filmteam be-gleitet werden? Total aufregend.Aber alles lief gut. Die Schwimmhalle

tobte vor Begeisterung, als sie ihr wohlwich-tigstes Gold gewann. Jeden Tag war dasAquatics Centre völlig ausverkauft, wie auchdas gut 80000 Zuschauer fassende Londo-ner Olympiastadion. Da war das euphori-sche Publikum sogar lauter als ein starten-des Flugzeug. Kirsten Bruhn wird auch amBeckenrand noch weiter Applaus hören.Dieses Jahr will die Nationalschwimme-

rin bei den Internationalen Deutschen Meis-terschaften im Schwimmen vom 23. bis 26.Mai in der Schwimm- und Sprunghalle Eu-ropa Sportpark an der Landsberger Allee inBerlin antreten. Im August folgt die Welt-meisterschaft in Kanada, 2014 die Europa-meisterschaft. Dann heißt es, langsamabzu-trainieren. Denn sie ist auf dem Sprung insnächste Leben, das nach den Paralympics.Das Unfallkrankenhaus Berlin-Marzahn

(UKB) hat sie als Mitarbeiterin der Presse-stelle gewonnen, sie ist jetzt als Botschafte-rin der berufsgenossenschaftlichen Klinikund auch für die Deutsche Gesetzliche Un-fallversicherung tätig. Sie besucht Patientenundmacht ihnenMut, und sie tritt bei öffent-lichen Veranstaltungen auf, ist derzeit auf„Gold“-Promotiontour.Man könnte ihr aber übrigens einen

Wunsch noch erfüllen: Es gibt noch keineRollstühle mit innovativen Abstellrasten fürstylishe High Heels.

„Der schlimmste Tagwar auch Anlass fürmeinen schönsten Tag“

„Dasmit dem Gehenkönnen Sie vergessen.“Pustekuchen.

5_Paralympics_Tagesspiegel_28. Februar 2013

Geschafft! Immer früh den Wecker stellen,ab ins Wasser, Theorietraining, wiederschwimmen, noch mal Analyse: All dieTrainingstage sind herausfordernd. Aberdie Mühe hat sich gelohnt. Zum Finale derParalympics-Karriere errang KirstenBruhn in London Gold.

„Träume nicht dein Leben,sondern lebe deinen Traum“.Den Spruch beherzigt Kirsten Bruhn.2012 wurde sie mit demSportler-Bambi ausgezeichnet.

Paralympics_Tagesspiegel_28. Februar 2013_4

Bitte recht konzentriert. Phillip Semechin, Techniktrainer und Lebensgefährte, bei der Analyse mit Kirsten Bruhn.

NeuerAuftrieb

Sie ist Vorbild,Motivationstrainerin,Botschafterin des UKB

Foto:Parapictures/OlafBallnus

Ein Motorradunfall änderte ihr Leben schlagartig,die alte Liebe zum Schwimmsport entdeckte sie neu.Der Lebensweg von Kirsten Bruhn

Fotos:dpa,Parapictures/OlafBallnus

Fotos:Kai-UweHeinrich,dapd

VON ANNETTE KÖGEL

Der Schirmherr von Projekt GOLD und Unterstützer des paralympischen Spitzensports Bundesinnen-minister Dr. Hans-Peter Friedrich während seines Besuchs der Paralympischen Spiele London 2012

Obere Reihe: Dr. Hans-Peter Friedrich (Bundesminister des Innern), Thomas Rau (Tischtennis),Dr. Karl Quade (Chef de Mission), Gerhard Böhm (Abteilungsleiter Sport, Bundesinnenministerium)Untere Reihe: Tanja Gröpper (Schwimmen), Mathias Mester (Speerwurf), Niels Gruneberg (Schwimmen)

www.bmi.bund.de

Page 4: DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013 Paralympics Zeitung · Eingetaucht DieSchwimmerinKirstenBruhnimPorträt Paralympics Zeitung Ausgeleuchtet EinBlickhinterdieKulissendesFilms„Gold“ DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013

Geburtsdatum: 10. Mai 1973Wohnort: Kikuyu, KeniaRituale vor dem Wettkampf: ZweiStunden vorher aufstehen, beten unddann ein leichtes Frühstück zu mirnehmen, wie z.B. Brot und schwarzenTee oder eine Banane.Pläne nach dem Leistungssport:Michweiter gemeinnützig engagieren.Dein Motto: Ich habe zwar mein Augen-licht, aber nicht meine Vision verloren.Größter Erfolgsmoment:Meine ersteGoldmedaille bei den Paralympics inSydney 2000.Größte Niederlage: Bei den Spielen inLondon 2012 aufgrund einer Verlet-zung aufgeben zu müssen.

Geburtsdatum: 3. November 1969Wohnort: BerlinRituale vor dem Wettkampf: Glücks-bringer immer dabeihaben, die Ab-läufe im Geiste durchgehen und michmit dem Gelände anfreunden.Pläne nach dem Leistungssport: DemArbeitgeber, dem UnfallkrankenhausBerlin, gute Arbeit bieten. Mit Freundeine schöne Wohnung beziehen und ge-meinsame Zeit genießen.Dein Motto: Träume nicht dein Leben,sondern lebe deinen Traum!Größter Erfolgsmoment: Jedes Erleb-nis, wo ich Dinge geschafft habe, fürdie ich viel getan habe und sie kaumfür möglich gehalten habe.Größte Niederlage: Der Unfall.

Geburtsdatum: 23. März 1981Wohnort: Newcastle, AustralienRituale vor dem Wettkampf: Ich esseimmer eine Banane, trinke einen Es-presso und einen Liter Sportgetränk.Bei den wichtigen Wettkämpfen trageich seit 2004 immer dasselbe Paar So-cken und dieselbe Unterwäsche.Pläne nach dem Leistungssport: Ichbin eigentlich Lehrer und hoffe den Be-ruf später ausüben zu können.Dein Motto: Das Leben ist viel kompli-zierter als ein Motto.Größter Erfolgsmoment:Meine wun-dervolle Frau zu heiraten. Sportlichgesehen das erste Gold in Athen 2004.Größte Niederlage: In London nichtdie dritte aufeinanderfolgende Goldme-daille zu gewinnen.

„Gold – Du kannst mehr als du denkst“ist vollständig untertitelt.Länge: 106 MinutenRegie: Michael HammonKamera: Marcus WinterbauerProduzenten: Hendrik Flügge,Andreas F. SchneiderDie Dokumentation läuft ab 28.2. indeutschen Kinos, u.a. in Berlin, Ham-burg, Köln, München und Stuttgart.Welches Kino in Ihrer Nähe den Filmzeigt, können Sie dem Kinofinder aufder Webseite des Films entnehmen:www.du-bist-gold.de

Graue Wogen, eine schier endloseWeite, so fliegt die Kamera, so flie-gen wir zu Beginn des Films übersMeer. Nichts als Wasser und Men-

schenleere vor dem offenen Horizont. Fastein Schock dann – oder eine Erlösung? –, alsdas Auge irgendwann in der Tiefe einen ein-samen Schwimmer entdeckt. Wir wissen danoch nicht, obMann oder Frau undwer über-haupt. Aber es muss ein sehr kühnerMensch sein, so allein und fern offenbar vonjeder Küste: ein winziges Stück Leben, dassich in der Welt bewegt, im riesigen Raum.Wie sinnfällig dieses harte und doch poeti-

sche Bild für Michael Hammons Dokumen-tarfilm „Gold – Du kannst mehr als dudenkst“ tatsächlich ist, wird später auf viel-fältige Weise klar. Hammon und seine Dreh-buchautoren Andreas F. Schneider, RonaldKruschak und Marc Brasse erzählen vondrei behinderten Menschen, die trotzdemSupersportler sind. So geht’s in die keniani-schen Savannen, in ein lehmstaubiges Dorfzu dem mit 20 Jahren plötzlich erblindetenLangstreckenläufer Henry Wanyoike. ZuKurt Fearnley, dem australischen Rennroll-stuhlfahrer ohne Beine. Zur deutschenSchwimmerin Kirsten Bruhn, die infolge ei-nes Motorradunfalls seit über 20 Jahrenquerschnittsgelähmt ist. Alle drei sind be-reitsWeltrekordler, Weltmeister, Olympiasie-ger, ihr gemeinsames Ziel heißt „Gold“ – beiden Paralympics in London 2012.Natürlich ist das ein Sportfilm. Mit gran-

diosen Fahrt-, Lauf-, Schwimmszenen, mitderfabelhaftenEröffnungderSpiele imjedesMal ausverkauften Londoner Olympiasta-dion, mit den Marathons durch die sommer-swingende City. Mit intelligenten, anrühren-den Interviews, die auch den Schock der Be-hinderung bei denBetroffenen nicht ausspa-ren. Nicht den Kampf gegen Depressionen,Verzweiflung, Todesgedanken. Alle drei aber

haben auch Partner, Familien, liebende,kluge, einfühlendeMitmenschen. Undselbstwenn’s in London nicht nur Gold wird, gefei-erte Champions und materiell versorgt sindsie schon dank ihrer Lebensleistung und ih-resVorbilds.Dassdas,wasmanäußerlichse-henkann,dennochnieallesist,dasahntman,wenn auch mal Oscar Pistorius durchs Bildläuft. Menschen haben Gründe und Ab-gründe.Menschenwie sie undwir.Doch wirklich groß wird der Film, indem

er die jeweilige Behinderung gerade nichtvergessen macht, sondern durch die Bilderdes Alltags, des alltäglichen Trainings denmitreißenden Kampf gegen das Handycapdokumentiert. Sisyphos siegt. Wenn etwaKurt Fearnley mit seinem tollen Kopf undseinem kindkleinen, doch muskelbespann-ten Körperstumpf aus eigener Kraft durchdie australischen Dünen robbt – und dannauf den Wogen surft. Oder Kirsten Bruhn,am Ende ist sie es, die sich im weiten Meernicht verliert, sondern: gewinnt.

Peter von Becker ist Kulturautor und war jah-relang Chef des Tagesspiegel-Kulturresorts,er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und istAutor mehrerer Fernsehdokumentarfilme.

Kurt Fearnley war in London schonbei seinen dritten Paralympics. Die ersteGoldmedaille aus Athen 2004 bleibtfür ihn trotzdem unvergesslich.

Kirsten Bruhn, schon mehr als zehn Jahreals Leistungsschwimmerin aktiv, trainiertbis zu 25 Stunden wöchentlich, derzeit fürDeutsche Meisterschaft, WM und EM. Inder Freizeit bleibt sie ihrem Sport treu.

Henry Wanyoike und Joseph Kibunja sindunzertrennlich: Sie kennen sich seit ihrerKindheit und trainieren seit 2001 zusam-men. Joseph unterstützt seinen Freund

gerne dabei, seine Träume zu realisieren –sie sehen sich als Team, laufen als Teamund gewinnen und verlieren als Team.Einen früheren Guidemusste der blindeHenry bei den Paralympics in Sydney 2000selbst bis ins Ziel anfeuern, sein Begleit-läufer machte schlapp. Henry und Josephbedauern, dass sie in London verletzungs-bedingt aufgebenmussten. Sie freuen sichauf Rio und wollen dort Gold holen. Dies-mal vielleicht auch für Joseph, denn seit

den Paralymics 2012 erhalten auch die Be-gleitläufer eine Medaille.

Kurt Fearnley ist mit vier Geschwistern im200-Seelen-Dorf Carcour (Australien) auf-gewachsen. Um seine Brüder auf ihrenAusflügen ins Umland begleiten zu kön-nen, musste Kurt häufig durch Wiesenund Bäche krabbeln.

Der Dreh bei den Paralympics in London 2012war die größte Herausforderung für Regisseurund Kameramann Michael Hammon.Bei Kurt Fearnleys Start über 5000 Meter wardas Leichtathletikstadion ausverkauft und dieAnfeuerungsrufe ohrenbetäubend.

Kirsten Bruhn hat schon vor denParalympics ihren Abschied vom

Leistungssport verkündet und konnte ihrefantastische Karriere in Londonmit ihrer

dritten Goldmedaille krönen.

Henry Wanyoike hat in seiner Heimat Kenialängst eigene soziale Projekte aufgebaut. Diejunge Frau auf dem Bild, die hat er auchmoti-viert, innerhalb seiner eigenen Therapie. Siekonnte gar nicht glauben, dass dieser Mann,der sie aus dem Haus führte, selbst blind ist.

7_Paralympics_Tagesspiegel_28. Februar 2013Paralympics_Tagesspiegel_28. Februar 2013_6

Gold im Blick Siegerwie sie

Wirklich groß wird derFilm durch die Bilderdes Alltags

HenryWanyoike

Kirsten Bruhn

Kurt Fearnley

Infos zum Film

Drei Supersportlerkämpfen für mehr als nurMedaillen in der Filmdoku„Gold – Du kannst mehrals du denkst“

Hochspannung

AmBecken

Gleichschritt

Kamera ab

Im Element

Ganz natürlich

Großes Herz

Fast zwei Jahre begleitete das Filmteam von „Gold –Du kannst mehr als du denkst“ die drei ProtagonistenKirsten Bruhn, Henry Wanyoike und Kurt Fearnley

auf ihremWeg zu den Paralympics in London.

Fotos:Parapictures/OlafBallnus

VON PETER VON BECKER

Page 5: DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013 Paralympics Zeitung · Eingetaucht DieSchwimmerinKirstenBruhnimPorträt Paralympics Zeitung Ausgeleuchtet EinBlickhinterdieKulissendesFilms„Gold“ DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013

Die zwei „Gold-Macher“ waren zu-nächst etwas skeptisch: „Begon-nen hat alles damit, dass die Deut-sche Gesetzliche Unfallversiche-

rung (DGUV) angefragt hat, ob man einenFilm zum Thema Sport und Rehabilitation,gekoppelt mit dem Aspekt der Integration,drehen kann“, sagt Andreas Schneider, derzusammen mit Hendrik Flügge Produzentdes Films ist. „Der Knackpunkt war, wieman diesen Sachverhalt spannend darstel-len kann, um einen Kinofilm daraus zu ma-chen“, erinnert sich Schneider, der selbstquerschnittsgelähmt ist. „Wichtig war vor al-lem, dass der Film einewahreGeschichte er-zählt, und so haben wir uns auf die Suchenach möglichen Protagonisten begeben.“Schließlich willigten Kirsten Bruhn, Kurt Fe-

arnley und Henry Wanyoike ein, ihr Lebenfür „Gold“ zu erzählen – drei ganz unter-schiedliche Charaktere mit einer jeweilsganz besonderen Geschichte.Doch zunächst musste ein Drehteam zu-

sammengestellt werden: Als die Produzen-ten sich an den mehrfachen Grimme-Preis-träger Michael Hammon wandten, lag die-ser gerade im Krankenhaus. Er war siebenMeter tief vom Dach gefallen. Dabei hatte ersich einige Knochen gebrochen und dasRückgrat gequetscht. „Ich habe riesigesGlück gehabt, es war keine Querschnittsläh-mung. Alsmich Andreas Schneider eineWo-che nach dem Unfall fragte, ob ich die Ka-mera für ’Gold’ übernehmen würde, er-schien mir das wie ein Wink des Schicksals,und ich sagte natürlich zu.“ Zudem konntederDokumentarfilmer den erfolgreichenKa-meramann Marcus Winterbauer mit insBoot holen, der unter anderem die Doku-

mentarfilme „Rhythm Is It“ und „Full MetalVillage“ gedreht hat.Im Sommer 2011 konnten die Dreharbei-

ten schließlich beginnen. Im schleswig-hol-steinischen Neumünster bekam das„Gold“-Team erstmals tiefe Einblicke in dasLeben ihrer ersten Protagonistin, der quer-schnittsgelähmten Schwimmerin KirstenBruhn. Ganz offen erzählte Kirsten vor derKamera von ihren schlimmsten Erinnerun-gen aus der Zeit nach ihremUnfall. „Daswarein Dreh, bei dem man sich fragt, ob mannicht doch zu dicht herangetreten ist“, erin-nert sich Hammon, der kurz nach Beginnder Dreharbeiten die Regie übernommenhatte. DerDrehtag hatte das ganze Teammit-genommen, auch den Produzenten HendrikFlügge: „Man konnte in den Gesichtern je-des Einzelnen erkennen, dass an diesemTag etwas Außergewöhnliches passiert war,als Kirsten ihr Herz geöffnet hat.“Im Herbst des Jahres 2011 machte sich

das Filmteam auf den Weg nach Australien,wo der erfolgreiche RennrollstuhlfahrerKurt Fearnley 250 Kilometer westlich vonSydney in dem Ort Carcoar aufgewachsenist. Ein Dorf, das wie eine große Familie zu-sammenlebt. Kurts Geburtsfehler hatte fürdie Gemeinde nie eine Rolle gespielt. „Ge-lebte Inklusion, weit entfernt von den Mög-lichkeiten und vermeintlichen Erleichterun-gen der Großstadt“, berichtet Michael Ham-mon fasziniert. Bei den Aufnahmen, die dendreifachen Weltmeister beim Training zei-gen, entstanden beeindruckende Bilder, dieKurts eiserne Disziplin und seinen Kampf-geist widerspiegeln. Den dritten Protagonis-ten, den blinden kenianischen Langstre-cken- und Marathonläufer Henry Wanyoike,besuchte das Drehteam im Februar 2012.Auch hier konnten vor der Kulisse Keniasfantastische Aufnahmen gemacht werden,die Henry beim Training mit seinem GuideJoseph Kibunja oder im Alltag zeigen.Henrywar nach einemSchlaganfall erblin-

det. Doch er hielt an seinem heimlichen Le-benstraum fest: Läufer werden, Weltrekord-ler und Goldmedaillengewinner. Bei den Pa-

ralympics 2000 in Sydney wurde der Traumerstmals wahr.Die vierte Etappe des Films spielt bei den

Paralympics in London im Sommer 2012.„Londonwar wie gegen denWind zu laufen“,erzählt Regisseur Michael Hammon. Beiüber 4000 Athleten, die innerhalb von zehn

Tagen 500 Wettkämpfe bestreiten, stelltesich nur eine Frage: Wie soll man da denÜberblick behalten? Allein im Leichtathletik-stadion tummelten sich täglich 80000 Zu-schauer, die in ihrer Begeisterung eine gi-gantische Geräuschkulisse boten. Es warüberwältigend – und eine enormeHerausfor-derung für Tonmeister André Zacher. Eine

speziell für Sportevents entwickelte Tech-nik, bei der vier gerichtete Mikrofone einenvierkanaligen Surroundsound aufnehmenund so ein einmaliges Kinoerlebnis ermögli-chen, war die Lösung. Zusätzlich liefert„Alexa“, die wohl zurzeit beste Kamera fürKinofilme, die entsprechenden Bilder.So hat das Filmteam in den letzten zwei

Jahren viele kleine Momente aus dem Le-ben und den Erinnerungen von drei außerge-wöhnlichen Menschen festgehalten. Mo-mente, die oft auch schmerzhaft sind, aberdie im Gesamtbild etwas zeigen, das jedeninspirieren und ermutigen kann, an sich zuglauben. Dass ihr Film „Gold - Du kannstmehr als du denkst“ genau das zu bewirkenvermag, glauben Kirsten Bruhn, Kurt Fearn-ley und Henry Wanyoike: „Jeder Menschkann auf seine Weise ein Champion sein. Je-der kann für sich etwas erreichen, wenn erhart arbeitet und seinem Herzen folgt. Dasist die Kernbotschaft von ’Gold’.“

Paralympics_Tagesspiegel_28. Februar 2013_8

Das Filmteam bei Dreharbeiten in Henry Wanyoikes Heimat Kenia.

Making of „Gold“

Regisseur Michael Hammon filmt KurtFearnley beim Training im heimatlichenAustralien. (Bild links)Das Filmteam ist auch bei Kirsten BruhnsWettkämpfen in London hautnah dabei.(Bild unten)Henry Wanyoike und sein BegleitläuferJoseph Kibunja trainieren in Kenia vormalerischer Kulisse. (Bild ganz unten)

„Als manmich fragte,erschienmir das wie einWink des Schicksals“

„London warwie gegen denWind zu laufen“

Fotos:Parapictures/OlafBallnus

Bis zu den Paralympics 2012 in London war es ein weiter Weg – nicht nur für diedrei Protagonisten Kirsten Bruhn, Kurt Fearnley und Henry Wanyoike,sondern auch für die Macher des Films. Ein Blick hinter die Kulissen

Foto:Parapictures/OlafBallnus

VON MAXIE BORCHERT

Page 6: DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013 Paralympics Zeitung · Eingetaucht DieSchwimmerinKirstenBruhnimPorträt Paralympics Zeitung Ausgeleuchtet EinBlickhinterdieKulissendesFilms„Gold“ DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013

Kurt Fearnley will an diesem Tag zurLegende werden. Den Hattrick imMarathon – das hat noch keiner ge-schafft. Als er ins Ziel des Mara-

thons in London rollt, blickt der 31-Jährigeungläubig: Die Goldmedaille hat er im Ziel-sprint knapp verpasst. Doch wer den Austra-lier kennt, der weiß: Dannmuss das Edelme-tall 2016 in Rio her.In seiner Kindheit wird Fearnley, dem

Teile seiner Lendenwirbelsäule fehlen, vonseinen vier Geschwistern und den anderenBewohnern seines Heimatdorfes in NewSouth Wales nie behandelt, als habe er eineBehinderung: „Ich wollte als Kind Feuer-wehrmann werden, Astronaut oderRugby-Profi, und mir hat nie jemand gesagt,dass das nichtmöglichwäre. Irgendwann be-ginnst du zu glauben, dass du das kannst."Seine Gymnasiallehrerin macht ihn auf den

Rollstuhlsport aufmerksam. Nach Rugbyund Basketball entdeckte er schnell imRennrollstuhlfahren seine Leidenschaft. Sei-nen ersten Rennrollstuhl finanzierten dieBewohner seines Dorfes, und so kamFearn-ley mit 14 Jahren zu dem Sport, der ihn spä-ter berühmt machen sollte.Mit zwei Silbermedaillen feierte er bei

den Paralympics 2000 im heimischen Syd-ney sein internationales Debüt. 2004 inAthen gewann derMittel- und LangstrecklerGold über 5000 Meter und imMarathon. DasMarathon-Gold verteidigte er 2008 in Pe-king, zudemgewann erweltweit etliche Ren-nen. Trotzdem: „Der größte Moment meinesLebens war es, meine Frau zu heiraten.“Schon immer war der Sportlehrer auch

sozial engagiert: Er unterrichtete Kinderund benachteiligte Aborigines in ärmlichenGegenden, unterstützt Stiftungen, motiviertNachwuchsathleten. Auch findet der leiden-schaftliche Surfer Gefallen amExtremsport.

Ende September 2009 bezwingt er die 1500Stufen des Sydney Towers in nur zwanzigMi-nuten, zwei Monate später bewältigt er den96 Kilometer langen Kokoda-Buschpfad mitseiner Familie und Freunden. Ohne Roll-stuhl kroch er elf Tage lang für einen gutenZweck durch denDschungel vonPapua-Neu-guinea. „Ich wollte zeigen, dass alles mög-lich ist, und gleichzeitig Gutes tun."Die Mode, dass Sommer-Paralympioni-

ken auch bei Winterspielen antreten, willdas Multitalent allerdings nicht mitmachen:„Ichwerde die Spiele in Sotschi 2014 hoffent-

lich besuchen, noch ein neuer Sport wäreaber zu anstrengend. Diese Monate braucheich immer, um mich selbst zu reflektieren,um am Strand zu sitzen und surfen zu ge-hen. Außerdem wäre es dort kalt, und ichbin nicht unbedingt ein Liebhaber derKälte“, sagt er lachend.In London gewann Kurt Silber über 5000

Meter und Bronze imMarathon. Bei den Pa-ralympics 2016 in Rio de Janeiro soll es injedem Fall wieder eine Goldmedaille wer-den: „Das motiviert mich. Ich habe jetzt vierweitere Jahre, um zu trainieren."

In der Nacht des 1. Mai 1995 raubte demheute 38-jährigen Henry Wanyoike einSchlaganfall sein Augenlicht. DochHenry will denen, die wie er im Dunkeln

leben, Hoffnung geben. Dafür ist der Vatervon vier Kindern Marathonläufer geworden.Bei seinen ersten Läufen durch die kenia-

nische Steppenlandschaft schlägt er sichnoch die Knie blutig. Für einen Blinden istKenia kein guter Ort, noch weniger für einenblindenMarathonläufer. DieWege sind stau-big und schlecht, Tartanbahnen sind selten,professionelle Ausrüstung nirgends vorhan-den. Doch Henry Wanyoike ist ein Kämpfer.Nur fünf Jahre nach seinem Schlaganfallholt er bei den Paralympics 2000 in Sydneyseine erste Goldmedaille über 5000 Meter.„Sydney war mein wichtigster Erfolg, damithat ein neues Kapitel inmeinemLeben ange-fangen“, sagt Henry heute. Der Siegeslauf inSydney ging in die Sportgeschichte ein.Nachdem Henry seine Konkurrenten mehr-mals überrundet hatte, ging seinemBegleit-

läufer kurz vor dem Ziel die Puste aus. Dieletzten Meter schleifte Henry seinen Guidean der kurzenKordel,mit der die beiden Läu-fer verbunden sind, ins Ziel und tanzte vorBegeisterung über seine erste Goldmedailleum den am Boden liegenden Begleitläufer.Zusammen mit seinem neuen Guide, Jo-

seph Kibunja, geht es danach für Henry steil

aufwärts: zwei Mal Gold in Athen 2004, einWeltrekord über 10000Meter, dazu einMara-thonsieg nach dem anderen.Mit ihren Preisgeldern unterstützen die

beiden Läufer dieMenschen in Kenia. So ver-suchen sie talentierten Nachwuchsfußbal-lern Trikots und Schuhe zu organisieren.Oder sie finanzieren die Augenoperationen

von erblindeten Kindern, die sich die Elternsonst niemals leisten könnten. Henry ist alsMutmacher in seiner Heimat unterwegs, erbesucht Behindertenschulen und Kranken-häuser und erzählt ihnen: „Auch du kannstein Weltmeister werden!“Von den Paralympics 2012 in London

kehrteHenry ohneMedaille zurück nach Ke-nia. Eine Verletzung zwang ihn zur vorzeiti-gen Aufgabe. Pech für den begnadeten Läu-fer. Doch das hält ihn nicht davon ab, weitermit Joseph durch die kenianische Steppe zulaufen, in der Regenzeit den roten Schlamman den Schuhen, in der Dürreperiode denStaub. Die beiden trainieren dort, wo sie ei-nen Weg finden. „Natürlich vermisse ich einprofessionelles Trainingsgelände. Vor allemdann, wenn die Wege zu schlammig oder zustaubig sind, um zu laufen“, bestätigt Henry.„Aber es sind genau diese Hindernisse, andenen mein Wille gewachsen ist.“„Der Film ’Gold’ wird mehr Menschen mit

Behinderung Mut machen, ihre Kraft undihre Fähigkeiten zu entdecken. Und er wirdden Menschen ohne Behinderung die Augendafür öffnen, dass die Behinderten ein TeilihrerWelt sind“, glaubt Henry. Auch wenn erden Film niemals sehen wird, viele Men-schen werden ihn sehen und daraus neueHoffnung schöpfen.

9_Paralympics_Tagesspiegel_28. Februar 2013

In Rio 2016 will Kurt Fearnley wieder ganz oben aufs Podest.

Rio soll esrichten

Auch ohne professionelles Trainingsgelände finden Henry und sein Begleitläufer Joseph Kibunja ihren Weg.

Henry beim Training – hier ausnahmsweisean der Alster.

Staub an denSchuhen

2012 in London verpasste Kurt Fearnley knapp dieGoldmedaille. Eine Enttäuschung für den

australischen Rennrollstuhlfahrer – und ein Ansporn

Foto:AFP

Wenn „Gold“ in den Kinos läuft, wird Henry Wanyoikeihn nicht sehen können. Der Marathonläufer ausKenia ist blind, aber für andere ein Licht

Fotos:Parapictures/OlafBallnus

VON NICO FEISST

VON KARLA IMDAHL

Page 7: DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013 Paralympics Zeitung · Eingetaucht DieSchwimmerinKirstenBruhnimPorträt Paralympics Zeitung Ausgeleuchtet EinBlickhinterdieKulissendesFilms„Gold“ DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013

Verena Bentele ist eine der erfolgreichstenblinden Biathletinnen der Paralympics. Ins-gesamt erkämpfte sie zwölf Goldmedaillen,fünf davon allein während der letzten Spielein Vancouver 2010. Kurze Zeit später been-dete sie ihre Karriere im Leistungssport:Die Winterspiele in Sotchi 2014 sind die ers-ten Paralympics seit 16 Jahren, die sie nichtals aktive Teilnehmerin erlebt. Trotzdemsucht sie ständig neue Herausforderungen:So hat sie Anfang Februar den Kili-mandscharo bestiegen. Außerdem enga-giert sie sich parteipolitisch.

Frau Bentele, Sie sind vergangenen Som-mer der SPD beigetreten. Was hat Siedazu bewogen?Ich war auch vorher schon politisch interes-siert und informiert. Neben dem Leistungs-sport und den Vorträgen, die ich halte, bliebeinfach keine Zeit, um sich noch in größe-rem Umfang zu engagieren. Christian Udehat mich gebeten, eine Rede zu den The-men Sport und Inklusion auf seinem Nomi-nierungsparteitag zu halten. Ich dachte,das wird schon klappen. Während meinersportlichen Karriere habe ich auch ständigInterviews gegeben und Reden gehalten.Als ich dann aber angefangen habe, dieRede zu schreiben, war das doch einegroße Herausforderung für mich. Ich war

extrem aufgeregt, fast wie vor einem Wett-kampf. Danach hat mich Christian Ude ge-fragt, ob ich in seinemWahlkampfteam alsBeraterin für die Themen Sport und Inklu-sion tätig sein möchte. Ich hatte wirklichLust, es ist eine gute Möglichkeit, meinFachwissen einzubringen.

Welche Reaktionen gab es darauf?Es gab viele positive Reaktionen aus den

Reihen der Partei. Die SPD legt Wert da-rauf, dass die Partei eine große Vielfaltganz unterschiedlicher Menschen repräsen-tiert – Frauen, Männer, Menschen mit Mi-grationshintergrund oder Menschen mit ei-ner Behinderung. Am Anfang gab es manch-mal kleine organisatorische Herausforde-rungen. Da hat einfach niemand daran ge-dacht zu fragen: Verena, wie reist du eigent-lich an? Brauchst du eine Assistentin? Dashat sich aber schnell eingespielt. An dieserStelle bin ich auch selbst gefragt, meine Po-sition zu vertreten, dann können beide Sei-ten ihren Horizont erweitern.

Sie sind eine der erfolgreichsten Biathle-tinnen, dass heißt aber nicht, dass Siekeine anderen politischen Interessen ha-ben. Sind Sie durch Ihre Karriere festge-legt auf die Themen Sport und Inklusion?Ja, in gewisser Hinsicht bin ich festgelegt.Christian Ude hat mich natürlich auch we-gen meiner Akzeptanz und Reputation indiesem Themengebiet angesprochen. Wennich mich jetzt dem Thema Ökologie widme,würde sich natürlich jeder fragen, was willdie Leistungssportlerin jetzt mit Umwelt-schutz. Trotzdem beschäftigen mich auchThemen wie die Gleichstellung von Frauenund Männern, Arbeitsrechte und Bildung.Gerade die Inklusion im Bildungsbereichfinde ich unglaublich wichtig. Da gibt esnoch genug Eltern, die glauben, ihre Kinderohne Behinderung lernen weniger, wenn siemit Kindern mit Behinderung zusammenlernen. Solche Ängste wollen wir den Men-schen nehmen. Es gibt aber auch Bereichewie die Finanzpolitik, in die ich mich zwareinarbeiten kann, in denen ich aber nie eineExpertin sein werde. Momentan bin ich mitmeiner Aufgabe und den Themen sehr zu-frieden.

Hauptberuflich „Politikerin“ oder lieberehrenamtliches Engagement – wo sehenSie Ihre Zukunft in der Politik?Ich habe die Tätigkeit als Beraterin im Wahl-kampf nicht angenommen, weil ich mir Hoff-nungen auf irgendeinen Job mache, son-dern weil ich das, was die SPD hier in Mün-chen und Bayern macht, befürworte. Irgend-wann wäre es vielleicht auch vorstellbar, inanderen Gremien oder im Stadtrat zu arbei-ten, aber darüber denke ich aktuell nochnicht nach. Die Fragen stellten

LEONIE ARZBERGER UND ANNE BALZER

„Gold“-Drehtag mit Kirsten Bruhn inder Schwimmhalle im Sportforum Ho-henschönhausen am 26.7.2012 in Ber-lin. Foto: Parapictures/Olaf Ballnus

DDarf man Witze über Menschen mitBehinderung machen? Wenn esnach AdamHills und den Produzen-ten des britischen Fernsehsenders

Channel 4 geht, dann ja. Deshalb wurde dieSendung „The Last Leg“ ins Leben gerufen,die während der Paralympischen Spiele inLondon für Aufsehen sorgte. Täglich lieferteHills seinem Publikum einen Mix aus Co-medy, Highlights des Tages und Gesprächenmit Gästen aus dem Paralympischen Dorf.„Es ist alles eine Frage des Standpunktes

in einem sehr vagen Bewertungssystem.Wenn man nur darauf abzielt, Behindertewährend der Paralympics zu verspotten, istdas nicht lustig“, erklärt der Australier. „Viel-mehr dreht es sich darum, die Personen zufeiern und darin etwas Humorvolles zu ent-decken.“ Der Australier profitiert von 20 Jah-ren Erfahrung im Bereich Comedy und derTatsache, schon langeWitze über einen spe-ziellen Behinderten zu machen, nämlichsich selbst: Hills wurde ohne rechten Fuß ge-boren, trägt dort eine Prothese.Welche Gratwanderung die Kombination

aus Behinderungen und Spaß ist, musste

Channel 4mit der Show „I'mSpazticus“ fest-stellen. Im Gegensatz zu „The Last Leg“wurde die Sendung teilweise als geschmack-los empfunden. Menschen mit Behinderungspielten in der Öffentlichkeit Streiche, wäh-rend diese mit versteckter Kamera gefilmtwurden. Doch anstatt der erhofften Lachererzeugte das Programm eher eine unange-nehme Betroffenheit.Dennoch: Humor kann dabei helfen, Span-

nungen in einer Thematik abzubauen – undhierzu sind nicht nur die für ihren Humor be-kannten Briten in der Lage. „Ein bisschensind Witze über Behinderte mit dem Trendder Ethnocomedy vergleichbar“, erklärt derdeutsche Comedian Martin Fromme, „dennsobald sich die Leute auf die Idee einlassen,dass Lachen darüber legitim sei, schafftdiese Art von Comedy eine ungeheure Ent-spannung im Umgang mit dem Thema.“Frommes Karriere, von der Bühnenshow

„Der Telök“ über seine Rolle in der „Para-Co-medy“, die auf Comedy Central ausgestrahltwird, bis hin zur Veröffentlichung seines Bu-ches „Besser Arm ab als arm dran“, ist vor-nehmlich ein Spiel mit seiner Einarmigkeit,in dem er sich selbst, aber auch Nichtbehin-derte veralbert. Für ihn ist das Lachen übersich selbst ein Schlüssel zum entspanntenUmgangmit sich selbst: „Bei einer Auftritts-reihe entdeckte ich imPublikum bei vier Vor-stellungen dieselbe Frau“, erinnert sichFromme. „Beim erstenMal trug sie einen di-cken Pullover, um ihre Einarmigkeit zu ver-stecken. Beim zweiten Mal war sie etwasleichter gekleidet, beim dritten Mal trug sieein T-Shirt und beim vierten Mal spielte siemit mir auf der Bühne Gitarre!“Auch der Cartoonist Phil Hubbe sucht die

Komik in Handicaps. Die Meinungen zu sei-nenComics gehen in Internetforen von „inak-zeptabel und respektlos“ bis zu „jeder hatdas Recht, ausgelacht zu werden“. Seit beiihm Multiple Sklerose diagnostiziert wurde,stellt der Mann aus Sachsen-Anhalt seineKrankheit und andere Behinderungen in denMittelpunkt seiner Arbeit und veröffentlichtsie in Tageszeitungen, Zeitschriften und Aus-tellungen sowie online. „Nach einem Auftrittim ZDF-’Mittagsmagazin’ bekam ich eineMail aus der Schweiz“, erzählt Hubbe. „EineFrau schrieb, ihr Mann habe dank meinerCartoons das erste Mal seit fünf Jahrenüber seine Krankheit lachen können.“Gleichberechtigung bedeutet, dass auch

Leute mit Handicap im Zentrum von Witzenstehen dürfen. Ungewöhnlicher, sarkasti-scher, fast schwarzer Humor ist hierbei wir-kungsvoll, darin sind sich Fromme undHubbe einig. Gerne darf man sich auch einbisschen ertappt fühlen – nur verletzen solles nicht. Schließlich hat jedermann dasRecht, ausgelacht zu werden.

Was Rollenangebote angeht, hatsich in den letzten Jahren für be-hinderte Schauspieler nichtwirklichwas verändert“, sagt Er-

win Aljukic. Nach 13 Jahren bei der ARD-Se-rie „Marienhof“ ist er einer der wenigen be-kannten Schauspieler mit Behinderung inDeutschland.Zwar wird das Thema „Behinderung“ in

Film und Fernsehen immer präsenter, abernicht auf selbstverständliche oder alltägli-che Weise. „Behinderung taucht nie zufälligim Film auf“, so Ingo Bosse. Der Dozent ander TUDortmund forscht imBereichMedienundBehinderung. „Wenn Fernsehen den An-spruch hat, ein Spiegelbild der Gesellschaftzu sein, dannmüssteman imFilm beispiels-weise zufällig einen Rollstuhlfahrer an derBushaltestelle sehen.“Ändern will dies auch die Akademie für

darstellende Kunst in Ulm. Sie bietet seitknapp zehn Jahren eine integrative Theater-ausbildung an – die einzige in Europa. Hierwerden Behinderte zusammen mit Nichtbe-hinderten unterrichtet.Noch aber nehmen Behinderte gerade in

Spielfilmen und den Boulevardsendungeneine gewisse Sonderstellung ein: Sie sind„das Exotische, das Ungewöhnliche“, dasdie Zuschauer anziehen soll. Diesen Effektmachen sich viele renommierte Schauspie-ler zunutze: So gilt es als Glanzleistung,wenn ein Schauspieler einen Behinderten„realistisch“ verkörpert – man denke nur an

den Oscar für Tom Hanks als Forrest Gump.Dies bedeutet, dass selbst die wenigen Rol-len, die auf Behinderte zugeschnitten wä-ren, meist von nichtbehinderten Schauspie-lern übernommen werden.MedienpädagogeBosse sieht einen positi-

ven Trend im Umgang der Medien mit demThema Behinderung. „Dennoch“, so warnter, „sobald jemandmit Behinderung im Filmauftritt, sollte man sehr genau aufpassen,welche Funktion dieser in der Geschichtehat. Zu oft wird versucht, über die Behinde-rung Sensation auszulösen.“ Film und Fern-sehen haben die Möglichkeit, Behinderungals gesellschaftliche Normalität zu präsen-tieren. Eine Normalität auch für behinderteSchauspieler, wie sie sich Erwin Aljukicwünscht.

Herausgeber: Stephan-AndreasCasdorff, Lorenz MaroldtRedaktion: Clara Kaminsky, CarstenKloth, Annette Kögel, Karin Preug-schat, Thomas WursterArtdirektion: Carmen KlauckeFotoredaktion: Thilo RückeisAnzeigen: Luxx MedienProduktion: Fritz SchanningerDie Paralympics Zeitung ist einGemeinschaftsprojekt von Tagesspie-gel, der Deutschen Gesetzlichen Unfall-versicherung und panta rhei, Bera-tungsgesellschaft für gesellschaftlicheProzesse mbH.

Challenge, Kabel Eins: TV-Reportagevon und für behinderte Menschen, dieeinmal im Monat läuft.Ohne Grenzen, ORF-Sport+: Zur Pri-metime an jedem Donnerstagabendstellt „Ohne Grenzen" paralympischenSpitzen- und Breitensport vor.Paralympics 2014 & 2016, Channel 4:Nach den medial erfolgreichen Para-lympics in London hat sich der briti-sche Sender Channel 4 vorzeitig dieÜbertragungsrechte für die kommen-den beiden Wettkämpfe gesichert.Aus anderer Sicht, 3sat: An jedem ers-ten Freitag im Monat begleitet die Sen-dung behinderte Menschen in ihremAlltag und zeigt ihren Blick auf diesen.Grenzenlos, Sport1: Das Fernseh-Rei-semagazin für Menschen mit und ohneBehinderung zeigt alle zwei MonateMöglichkeiten, sportlich aktiv zu sein.Selbstbestimmt, MDR: Der bekanntebehinderte Moderator und KomödiantMartin Fromme hinterfragt in der30-minütigen Sendung die Situationvon Menschen mit Behinderung in un-serer Gesellschaft.Stolperstein, BR: Wird unregelmäßigan Feiertagen ausgestrahlt. Das Maga-zin zeigt Beispiele, wie eine gelungeneIntegration und Inklusion von behinder-ten Menschen aussehen kann.

11_Paralympics_Tagesspiegel_28. Februar 2013Paralympics_Tagesspiegel_28. Februar 2013_10

ZumKaputtlachen

Engagiert

Adam Hills und Kollegen von derComedyshow „The Last Leg“.

Phil Hubbe zeichnet zum Thema Behinderte und Behinderungen.

Til Schweiger und Erwin Aljukic auf derPremierenparty von „Wo ist Fred?“.

Spiegel derGesellschaft

IMPRESSUM

„Humor kann helfen,Spannungen bei einemThema abzubauen“

HINGESCHAUT

TITELBILD

Foto:Promo

Humor und Behinderungen – geht das zusammen?Nicht nur während der Paralympics gibt es

Fernsehsender, die diese Gratwanderung versuchen

VON DOMINIK PRÜFER, WIBKE SCHUMACHERUND FRANZISKA EHLERT

Vielfalt leben – gemeinsam!Inklusion ist kein Expertenthema – es betrifft uns alle. Im Privatlebengenauso wie im Beruf.

Mobilität ist ein viel diskutiertes Thema und für die Teilhabe am beruf-lichen und gesellschaftlichen Leben unverzichtbar. Gleichzeitig bringtsie für viele Menschen mit Behinderungen spezifische Probleme undRisiken mit sich. Die Förderung der individuellen Mobilitätskompetenzstellt einen wichtigen Beitrag zur Inklusion dar. Wenn aus Neben-einander Miteinander und aus Stillstand Mobilität wird – dannwissen wir, dass Inklusion wirklich gelebt wird.

Dafür engagieren wir uns – Ihre BGW

FÜR EIN GESUNDES BERUFSLEBEN

Nicole SeifertGold bei der Basketball-Europa-

meisterschaft 2005/2007Silber bei den Paralympics 2008

Fotos:in.signo

GmbH

/SvenSind

t

Karikatur:PhilHubbe

Foto:Promo

Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft:Ein Gespräch mit Verena Bentele über ihreneue Aufgabe in der Politik

„Forrest Gump“, „Wo ist Fred?“, „Ziemlich besteFreunde“ – das Thema Behinderung ist in Film undFernsehen präsent. Aber auf die richtige Weise?

Foto:dpa

VON LEONIE ARZBERGER

Page 8: DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013 Paralympics Zeitung · Eingetaucht DieSchwimmerinKirstenBruhnimPorträt Paralympics Zeitung Ausgeleuchtet EinBlickhinterdieKulissendesFilms„Gold“ DONNERSTAG,28.FEBRUAR2013

Mehr Barrierefreiheit in deutschenKinos – das fordert die AktionMensch. Wie Inklusion gelingenkann, zeigt das Filmfestival „über-

all dabei“ des Deutschen Filmförderfonds.Bis zum Mai 2013 tourt es noch durchDeutschland. Alle gezeigten Filme des Festi-vals sind untertitelt. Bei Bedarf können sichMenschen mit Sehbehinderung eine Audio-deskription zur Verfügung stellen lassen.Auch für Rollstuhlfahrer sind die Spielstät-ten uneingeschränkt zugänglich. Barriere-freie und behindertenfreundliche Kinos sindnoch etwas Besonderes. Rollstuhlplätze be-finden sich oft dort, wo sich kaumein Kinobe-sucherwegen der Aussicht auf Nackensteifefreiwillig hinsetzten würde: in der erstenReihe. OhneBegleitperson gibt es häufig kei-nen Eintritt. Auch andere Barrieren sind imKino noch nicht überwunden. Menschen mitvermindertemoder ohneHörvermögen kön-nenmitunter denDialog imFilm nicht verfol-gen. Menschen mit Sehbehinderung hörennur die Dialoge, erfahren aber nicht, was vi-suell passiert. Es gibt noch viel zu tun.Dass die Weichen dazu schon gestellt

sind, sagt Andreas Kramer vom HDF Kino,der Interessengemeinschaft deutscher Ki-nos. „Im neuen Filmförderungsgesetz, das2014 in Kraft tritt, wird die Barrierefreiheit

in Kinos ein gesonderter und herausgehobe-ner Förderbestand sein, der voll bezu-schusst sein wird. Das heißt, die Branchenimmt das sehr wichtig.“ Seit 2002 gibt es inDeutschland zudem ein „Gesetz zur Gleich-stellung behinderter Menschen“. Es soll si-cherstellen, dass Menschen mit Handicapgleichberechtigt am gesellschaftlichen Le-ben teilnehmen können. Das gilt auch für Ki-nos. Bei Neubauten, Modernisierungen oderUmbautenmüssen die Betreiber darauf ach-ten, dass die Kinos für Menschenmit Behin-derung zugänglich sind. Dazu gehört, dassHöhenunterschiede ohne Stufen angegli-chen oder beispielsweise mit einem Fahr-stuhl überwunden werden können.Auch die Filmproduktion entwickelt sich

behindertenfreundlich weiter. „Bekommtein Produzent ein deutsches Fördergeld, somuss er von seinem Film eine barrierefreieKopie mit Untertiteln und Audiodeskriptionzur Verfügung stellen, die dann weiter ge-nutzt werden kann“, sagt Kramer.Wer überprüfen will, ob das nächstgele-

gene Kino schon heute rollstuhlgerecht ein-gerichtet ist, kann das im Internet unterwheelmap.org tun. Konsequent barrierefreiwarman bei der Premiere des Films „Gold“:Sie fand in einem Hangar des HamburgerFlughafens statt, so dass alle Besucher – obRollstuhlfahrer oder nicht – die gleichen,ebenerdigen Plätze einnehmen konnten.

Winterspiele am Meer? 2014 wirddies zum ersten Mal der Fallsein. Dann finden Olympia unddie Paralympics im russischen

Sotschi statt. „Frühling an der Küste und inden Bergen Winter. Schnee ist garantiert“,wirbt Präsident Wladimir Putin.Die Spiele sollen der Welt nicht nur ein

Bild des „neuen“ Russlands zeigen, sondernauch der Region und den russischen Spitzen-sportlern nachhaltig Nutzen bringen. Mitknapp 40 Milliarden Euro wären es die teu-

ersten Winterspiele der Geschichte. Dafürsoll es in der Region danach einen starkenWintertourismus geben, die Sportstättensollen als Leistungszentren dienen.Sotschi will durch kurze Anfahrtswege

glänzen: Alle Sportstätten verteilen sich aufzwei Orte. Im Olympiapark Sotschi werdendie Hallen und Arenen zu finden sein – allenvoran das „Fisht“-Olympiastadion. Hier fin-den Eröffnungs- und Schlussfeier mit bis zu40000 Zuschauern statt.Knapp 70 Kilometer weiter werden im

4000-Seelen-Dorf Krasnaja Poljana dieWett-bewerbe im Ski Alpin, Biathlon und Langlaufstattfinden. Im Alpinzentrum „Rosa Chutor“treffen sich die möglichen Paralympics-Teil-nehmer schon Anfang März zumWeltcup.Russland freut sich auf seine ersten Win-

terspiele. Auch die Maskottchen, der Leo-pard, der Eisbär und der Hase, können eskaumnoch erwarten. Bewerbungschef Dimi-tri Tschernitschenko ist sich sicher: „Es wer-den fantastische Spiele werden.“

Sotschigrüßt

Paralympics_Tagesspiegel_28. Februar 2013_12

Im russischen Sotschi finden 2014 Winterspiele statt. Freiwillige Helfer sind schon da.

Kino ohne GrenzenDer Film „Gold“ bringt Menschen mit Behinderungauf die Leinwand. Doch wie steht es um dieBarrierefreiheit für behinderte Zuschauer davor?

Foto:dpa

VON NICO FEISST

VON ALEXANDER KAUSCHANSKI