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1 Dorothea Bender-Szymanski Diskurse unter Pädagogen zu einem religiös-weltanschaulichen Konflikt in der Schule. 1 Der Diskurs als demokratisches Prinzip und Herausforderung für Schule Demokratie lebt von der wechselseitigen Achtung und Anerkennung der Personen, der Unter- schiedlichkeit der Überzeugungen und dem Diskurs um vertretbare Interessenkoordinationen. Diskurse geben uns die Möglichkeit, uns von der Ernsthaftigkeit zu überzeugen, mit welcher andere Personen Meinungen vertreten, die wir nicht teilen. Diskurse korrigieren, weil sie die eigene Urteilssicherheit stören und irritieren. 1 Diskurse fordern zu einer Reflexion und Neu- bestimmung des eigenen Selbstverständnisses heraus, denn „Bestehendes hat keinen An- spruch darauf, ohne sorgfältige Überprüfung für alle Zeiten konserviert zu werden. Es muss sich vielmehr ständig neu bewähren und Änderungen in den Lebensverhältnissen Rechnung tragen“ 2 . Diskurse erhalten zunehmend und zuweilen existenzielle Bedeutung in mehrkultu- rellen demokratischen Gesellschaften, und dies über nationale Grenzen hinweg. Bildungseinrichtungen, allen voran die Schulen, sind „hervorragende Orte zum Erlernen des interreligiösen und des interkulturellen Dialogs. Zu ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag gehört es, demokratische Grundwerte zu vermitteln, für unterschiedliche kulturelle Prägungen und religiöse und weltanschauliche Überzeugungen offen zu sein, Solidarität und interkultu- relle Kompetenz zu fördern.“ 3 Die Bildungsziele Dialogfähigkeit und interkulturelle Kompe- tenz als Schlüsselqualifikation für alle Schüler – so bereits die Empfehlung der Kultusminis- terkonferenz 1996 – sind leicht zu formulieren; die Umsetzung dieser Ziele ist jedoch eine schwierige Aufgabe, wie eigene Untersuchungen bei Lehrern und Schulleitern belegen. 4 Sie bestätigen die Forderung nach einer verbindlichen Verankerung interreligiöser und interkultu- reller Erziehung bereits in der universitären Ausbildung (Fußnote 3, 136). Kompetenzen manifestieren sich stets als „Performanzkompetenzen“ 5 im (Sprech)Handeln in konkreten Situationen. Sie dienen als – beobachtbare – Indikatoren, aus denen auf zugrunde liegende Kompetenzen geschlossen wird. Mit dem Ziel der Optimierung 6 der „Performanz- 1 Reichenbach, R. (2000). Zur pädagogischen Bedeutung des Dissenses. Zeitschrift für Pädagogik, 6, 795-807, 801. 2 Rohe, M. (2001). Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen. Rechtliche Perspektiven. Freiburg: Herder, 130. 3 Weimarer Aufruf (2003). Lerngemeinschaft. Das deutsche Bildungswesen und der Dialog mit den Muslimen. URL: http://www.kmk.org/doc/publ/Lerngemeinschaft_10.pdf, 135. 4 Bender-Szymanski, D. (2000). Learning through Cultural Conflict? A Longitudinal Analysis of German Teachers’ Strategies for Coping with Cultural Diversity at School. European Journal of Teacher Education, 23, 3, 229-250. Bender-Szymanski, D. (2009). Unzureichend gefördert? Eine Analyse der Bildungssituation und der Förderbe- dingungen für Migrantenkinder an Frankfurter Schulen – auch aus der Perspektive von Schulleitern. In G. Auer- nheimer, Schieflagen im Bildungssystem. Die Benachteiligung der Migrantenkinder. Interkulturelle Studien, Band 16. 3. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 207-227. 5 Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept „Interkulturelle Kompetenz“ und zur begrifflichen Präzi- sierung siehe Bender-Szymanski, D. (2010). Interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern aus der Sicht der empirischen Bildungsforschung. In G. Auernheimer (Hg), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Interkulturelle Studien, Band 13. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 3. Aufl., 201-228, 204 ff. 6 Wie interkulturelle Forschungen zeigen, hatten gezielt eingesetzte pädagogische Maßnahmen bei Personen mit plausiblerweise angenommenen gleichen Kompetenzen wie die einer Vergleichsgruppe, deren Performanzen jedoch vor dem Training erheblich unter dem Niveau letzterer lagen, einen deutlicheren Zuwachs in den Perfor- manzen als bei der Vergleichsgruppe zur Folge, was auf die Beseitigung performanzmindernder Bedingungen durch die Trainingsmaßnahmen schließen lässt. Solche können im kognitiven (Problemverkennung, unangemes- sene Situationsinterpretation und Attribution, geringe Selbstwirksamkeitserwartungen, Mangel an für alle ange- messenen Konfliktlösungsvorstellungen u. dgl. mehr), im affektdynamischen (Ich-Bedrohung, Suche nach Si- cherheit mit der Folge einer starken Regelorientierung zur möglichen Verantwortungsentlastung), im sozialen oder im motivationalen Bereich angenommen werden. Aber auch die Kompetenzen jener Personen, bei denen

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Dorothea Bender-Szymanski Diskurse unter Pädagogen zu einem religiös-weltanschaulichen Konflikt in der Schule. 1 Der Diskurs als demokratisches Prinzip und Herausforderung für Schule

Demokratie lebt von der wechselseitigen Achtung und Anerkennung der Personen, der Unter-schiedlichkeit der Überzeugungen und dem Diskurs um vertretbare Interessenkoordinationen. Diskurse geben uns die Möglichkeit, uns von der Ernsthaftigkeit zu überzeugen, mit welcher andere Personen Meinungen vertreten, die wir nicht teilen. Diskurse korrigieren, weil sie die eigene Urteilssicherheit stören und irritieren. 1 Diskurse fordern zu einer Reflexion und Neu-bestimmung des eigenen Selbstverständnisses heraus, denn „Bestehendes hat keinen An-spruch darauf, ohne sorgfältige Überprüfung für alle Zeiten konserviert zu werden. Es muss sich vielmehr ständig neu bewähren und Änderungen in den Lebensverhältnissen Rechnung tragen“ 2. Diskurse erhalten zunehmend und zuweilen existenzielle Bedeutung in mehrkultu-rellen demokratischen Gesellschaften, und dies über nationale Grenzen hinweg.

Bildungseinrichtungen, allen voran die Schulen, sind „hervorragende Orte zum Erlernen des interreligiösen und des interkulturellen Dialogs. Zu ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag gehört es, demokratische Grundwerte zu vermitteln, für unterschiedliche kulturelle Prägungen und religiöse und weltanschauliche Überzeugungen offen zu sein, Solidarität und interkultu-relle Kompetenz zu fördern.“ 3 Die Bildungsziele Dialogfähigkeit und interkulturelle Kompe-tenz als Schlüsselqualifikation für alle Schüler – so bereits die Empfehlung der Kultusminis-terkonferenz 1996 – sind leicht zu formulieren; die Umsetzung dieser Ziele ist jedoch eine schwierige Aufgabe, wie eigene Untersuchungen bei Lehrern und Schulleitern belegen. 4 Sie bestätigen die Forderung nach einer verbindlichen Verankerung interreligiöser und interkultu-reller Erziehung bereits in der universitären Ausbildung (Fußnote 3, 136).

Kompetenzen manifestieren sich stets als „Performanzkompetenzen“ 5 im (Sprech)Handeln in konkreten Situationen. Sie dienen als – beobachtbare – Indikatoren, aus denen auf zugrunde liegende Kompetenzen geschlossen wird. Mit dem Ziel der Optimierung 6 der „Performanz- 1 Reichenbach, R. (2000). Zur pädagogischen Bedeutung des Dissenses. Zeitschrift für Pädagogik, 6, 795-807, 801. 2 Rohe, M. (2001). Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen. Rechtliche Perspektiven. Freiburg: Herder, 130. 3 Weimarer Aufruf (2003). Lerngemeinschaft. Das deutsche Bildungswesen und der Dialog mit den Muslimen. URL: http://www.kmk.org/doc/publ/Lerngemeinschaft_10.pdf, 135. 4 Bender-Szymanski, D. (2000). Learning through Cultural Conflict? A Longitudinal Analysis of German Teachers’ Strategies for Coping with Cultural Diversity at School. European Journal of Teacher Education, 23, 3, 229-250. Bender-Szymanski, D. (2009). Unzureichend gefördert? Eine Analyse der Bildungssituation und der Förderbe-dingungen für Migrantenkinder an Frankfurter Schulen – auch aus der Perspektive von Schulleitern. In G. Auer-nheimer, Schieflagen im Bildungssystem. Die Benachteiligung der Migrantenkinder. Interkulturelle Studien, Band 16. 3. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 207-227. 5 Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept „Interkulturelle Kompetenz“ und zur begrifflichen Präzi-sierung siehe Bender-Szymanski, D. (2010). Interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern aus der Sicht der empirischen Bildungsforschung. In G. Auernheimer (Hg), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Interkulturelle Studien, Band 13. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 3. Aufl., 201-228, 204 ff. 6 Wie interkulturelle Forschungen zeigen, hatten gezielt eingesetzte pädagogische Maßnahmen bei Personen mit plausiblerweise angenommenen gleichen Kompetenzen wie die einer Vergleichsgruppe, deren Performanzen jedoch vor dem Training erheblich unter dem Niveau letzterer lagen, einen deutlicheren Zuwachs in den Perfor-manzen als bei der Vergleichsgruppe zur Folge, was auf die Beseitigung performanzmindernder Bedingungen durch die Trainingsmaßnahmen schließen lässt. Solche können im kognitiven (Problemverkennung, unangemes-sene Situationsinterpretation und Attribution, geringe Selbstwirksamkeitserwartungen, Mangel an für alle ange-messenen Konfliktlösungsvorstellungen u. dgl. mehr), im affektdynamischen (Ich-Bedrohung, Suche nach Si-cherheit mit der Folge einer starken Regelorientierung zur möglichen Verantwortungsentlastung), im sozialen oder im motivationalen Bereich angenommen werden. Aber auch die Kompetenzen jener Personen, bei denen

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kompetenz“ entwickelte ich auf der Grundlage eigener wissenschaftlicher Projekte theoriege-leitet zwei strukturgleiche, jedoch inhaltsverschiedene dreiphasige Lehr-Lernsequenzen zu konkreten interreligiös-interkulturellen Lehrinhalten. Übergeordnetes Ziel war es, mit diesen Sequenzen einen Beitrag im Sinne des Gutachtens für ein Modellversuchsprogramm der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, „Demokratie ler-nen und leben“ 7, zu leisten, das explizit den Schwerpunktbereich „Interkulturelles Lernen - Interkulturelle Kooperation“ ausweist (49 ff., 62 ff.). Zielgruppen können nach vielen empi-risch begleiteten Durchführungen und Evaluationen Lehramtsstudierende, Lehrer 8 und Schü-ler sein 9.

Gegenstand der folgenden Ausführungen ist die Analyse einer Phase der Lehr-Lernsequenz „Von der Schwierigkeit der Toleranz“, deren Struktur und Inhalte im Folgenden kurz be-schrieben werden. 2 Die Lehr-Lernsequenz „Von der Schwierigkeit der Toleranz“

Im Zentrum der Lehr-Lernsequenz „Von der Schwierigkeit der Toleranz“ steht ein religiös begründeter Antrag einer muslimischen Schülerin auf Befreiung vom koedukativen Sportun-terricht, der die Schule vor die Aufgabe stellt, zwischen zwei prinzipiell gleichgeordneten verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten – dem Recht auf Glaubens- und Religionsaus-übungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz (GG) und dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule nach Art. 7 Abs. 1 GG – abwägen zu müssen. Die Sequenz gliedert sich in drei Hauptphasen mit Unterphasen:

ein fiktives Planspiel, in dessen Zentrum der Diskurs und die Entscheidung von Rollenträ-gern mit unterschiedlichen Positionen und Argumenten zum Anliegen der muslimischen Schülerin stehen,

eine theoriebasierte Vertiefungsphase, in der Modelle möglicher Entscheidungen aus inter-kultureller und juristischer Perspektive sowie der Verfahrensweg erarbeitet werden, der der Schülerin für die Durchsetzung ihres Anliegens für den Fall der Ablehnung durch die Schu-le offen steht, und

eine reale Phase, in der das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zum tatsäch-lichen Fall bearbeitet wird.

keine performanzmindernden Bedingungen beobachtbar sind, lassen sich durch gezielte pädagogische Maßnah-men möglicherweise noch steigern. 7 Edelstein, W. & Fauser, P. (2001). Demokratie lernen und leben. Gutachten für ein Modellversuchsprogramm der BLK. Bonn: Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, Heft 96. 8 Im Text wird für beide Geschlechter der Einfachheit halber die maskuline Form verwendet, sofern nicht aus-drücklich zwischen den Geschlechtern unterschieden wird. 9 Bender-Szymanski, D. (2010). Vom gerechten Umgang der Schule mit religiös-weltanschaulicher Heterogeni-tät. Ergebnisse der Durchführung einer Lehr-Lernsequenz mit Schülerinnen und Schülern. In J. Hagedorn, V. Schurt, C. Steber & W. Waburg (Hrsg.), Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erzie-hungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 269-294.

Bender-Szymanski, D. (2010). „Demokratie lernen und leben.“ Durchführung und Evaluation einer Lehr-Lernsequenz zu einem religiös-weltanschaulichen Konflikt, der auch unsere Schule herausfordert. In W. Baros, F. Hamburger & P. Mecheril (Hrsg.), Zwischen Praxis, Politik und Wissenschaft. Die vielfältigen Referenzen Interkultureller Bildung. Migrationsforschung, Band 3. Berlin: Verlag Regener, 133-154.

Die Kurz- und Langfassungen der Lehr-Lernsequenzen sowie Publikationen zur Durchführung und Evaluation mit unterschiedlichen Adressaten einschließlich der Darstellung der Evaluationsergebnisse sind auf dem Inter-netportal des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung, München, zum Themenschwerpunkt „In-terkulturelle Kompetenz als integrativer Bestandteil der Schulkultur unter besonderer Berücksichtigung des jüdisch-christlich-islamischen Dialogs“ erschienen, das laufend aktualisiert wird. URL: http://www.kompetenz-interkulturell.de → Interkulturelles Lernen → Praxisbeispiele → 10.–13. Jgst. → Materialien

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Der folgende Beitrag konzentriert sich auf die Darstellung der Ergebnisse der ersten Phase der Lehr-Lernsequenz, das Planspiel. 3 Die erste Phase der Lehr-Lernsequenz: das Planspiel

Ein Planspiel ist – im Unterschied zum Rollenspiel, bei dem es primär um die Darstellung von Rollen geht – dadurch gekennzeichnet, dass die Teilnehmenden, ausgehend von einem Szena-rio, die Positionen bestimmter Personen argumentativ vertreten, sich auf den Diskurs mit an-deren Argumenten einlassen, gegebenenfalls ihre Argumente revidieren und schließlich mög-lichst gemeinsam eine Entscheidung treffen sollen.

Die unterschiedlichen Positionen, welche die Diskursteilnehmer zu vertreten hatten, sowie die Argumente zur Stützung der jeweiligen Positionen wurden zuvor von mir theoriegeleitet erar-beitet und den Teilnehmern der Diskurse als Rollenbeschreibungen zur Verfügung gestellt. 3.1 Theoretische Grundlagen

Die Rollenbeschreibungen wurden inhaltlich anhand zuvor festgelegter Kriterien konzipiert. Diese orientierten sich an in diesem Spezialfall möglichen Entscheidungsausgängen und ihren Konsequenzen sowie deren Beurteilung aus interkultureller und juristischer Perspektive. Während bei der interkulturellen Perspektive die jeweiligen Entscheidungen mit ihren Konse-quenzen unterschiedliche Akkulturationsvarianten – Segregation, Assimilation, Integration 10 – repräsentieren, stehen im Fokus der juristischen Perspektive die jeweiligen Argumente der Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsinstanzen sowie ihre Beurteilung durch das BVerwG als letzter verwaltungsgerichtlicher Instanz, wie sie im realen Fall der Lehr-Lernsequenz (Phase 3) anhand der tatsächlichen Entscheidungen durch die Schulverwaltung und die Recht-sprechung bei der Abwägung zwischen dem Recht auf Glaubens- und Religionsausübungs-freiheit einerseits und dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule anderer-seits von mir rekonstruiert wurden.

Die folgende Abbildung zeigt die möglichen Entscheidungsausgänge mit den Konsequenzen und (in Klammern) die diesen zugeordneten Rollen sowie ihre Beurteilung aus der Perspekti-ve des interkulturellen und juristischen Modells:

Entscheidung Konsequenz interkulturelles Modell juristisches Modell

Antrag wird gewährt

Befreiung vom Sportunterricht. Koedukation bleibt Unterrichtsprinzip (Direktor, muslimische Schülerin)

Segregation

Religionsfreiheit vor Bildungs- und Erziehungsauftrag

Antrag wird zurückgewie-sen

Teilnahmepflicht ohne Änderung der Bedingungen. Koedukation bleibt Un-terrichtsprinzip (Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzender)

Assimilation

Bildungs- und Erziehungsauftrag vor Religionsfreiheit

Antragsgründe werden abge-mildert

Teilnahmepflicht unter geänderten Bedingungen: Koedukation bleibt Unterrichtsprinzip, aber Rücksicht auf Bekleidungsvorschriften (Sportlehrer)

Integration: Kompromiss

Bildungs- und Erziehungsauftrag vor Religionsfreiheit

Antrag wird gegenstandslos

Aufgabe des Koedukationsprinzips (Juristin)

Integration: Schonender Interessenausgleich

Bildungs- und Erziehungsauftrag und Religionsfreiheit

Abb. 1: Entscheidungsausgänge und ihre Beurteilung aus interkultureller und juristischer Perspektive

10 Berry, J.W. (1980). Acculturation as varieties of adaptation. In A.M. Padilla (Ed.), Acculturation: Theory, models, and some new findings (pp. 9-25). Colorado: Westview, 16.

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3.2 Durchführung des Planspiels

Ausgangsbasis für das Planspiel ist das folgende Szenario:

Die Eltern von Yildiz sind in B. zur Schule gegangen. Herr Polat ist Journalist und für alle Berichter-stattungen zuständig, die das Zusammenleben von deutschen und ausländischen Mitbürgern betreffen. Frau Polat arbeitet halbtags als Bankangestellte. Die Familie hat enge Kontakte zu ihren Verwandten in der Türkei, aber auch gute deutsche Freunde. Ihre zwölfjährige Tochter Yildiz besucht die 7. Klasse des Gymnasiums für Mädchen und Jungen in B. Seit sie zwölf ist, trägt sie aus religiösen Gründen außer in ihrem häuslichen Bereich eine weitgeschnittene Kleidung und ein Kopftuch, und die meisten Klassenkameraden haben sich daran gewöhnt.

Vor einer Woche beantragte Herr Polat beim Direktor des Gymnasiums im Namen der Familie die Befreiung seiner Tochter vom koedukativen Sportunterricht, weil ihr islamischer Glaube es ihr verbie-te, zusammen mit Jungen Sport zu treiben.

Auslöser für das Planspiel ist eine vom Direktor einberufene Diskussion zur Entscheidungs-findung in diesem Fall, an der sechs Diskutanten unter der Leitung eines Moderators ihre Po-sitionen und Argumente austauschen und eine Entscheidung treffen sollen, nicht ohne zuvor auf explizite Aufforderung des Moderators hin zu prüfen, ob sich ihre Rollenpositionen kraft überzeugenderer Argumente im Verlauf des Diskurses geändert haben 11.

Das Planspiel wurde als Podiumsdiskussion in sechs Seminarveranstaltungen unter späterer Einbeziehung der übrigen Seminarteilnehmer, die ebenfalls Rollen übernahmen und das Ple-num repräsentierten, sowie bei einer internationalen Fachtagung durchgeführt und videoauf-gezeichnet. Die Diskutanten wurden von Lehramtsstudierenden, bei der Fachtagung auch von Teilnehmern mit Studienabschluss, als Rollenträger dargestellt: zwei Diskutanten hatten mit entsprechenden Argumenten für eine Befreiung vom koedukativen Sportunterricht zu votieren (Direktor, muslimische Schülerin), zwei für eine bedingungslose Teilnahmepflicht (Schul-sprecherin, Elternbeiratsvorsitzender), zwei Diskutanten jeweils für eine weitere Teilnahme unter Rücksichtnahme auf die religiösen Überzeugungen der Schülerin (Sportlehrer) bzw. – im Gegensatz zu anderslautenden Entscheidungen der vorhergehenden Instanzen – für die Aufgabe des Koedukationsprinzips entsprechend dem Urteil des BVerwG’s 12 (Juristin).

Alle Rollenträger erhielten die Rollenbeschreibungen mit den unterschiedlichen Positionen und Argumenten sowie zusätzliches Informationsmaterial (z.B. Auszüge aus dem Hessischen Schulgesetz, Bekleidungsvorschriften einer Moschee, Positions- und Grundgesetzartikel, aus wissenschaftlichen Abhandlungen entnommene Argumente für bzw. gegen den koedukativen Sportunterricht, Beschluss der Kultusministerkonferenz zum koedukativen Sportunterricht, Suren aus dem Koran und Zitate aus dem Neuen Testament), das sie für die Erarbeitung ihrer Rollenargumentationen und zur Stützung ihrer Positionen nutzen sollten. Die Rollenträger, die sich in der Regel freiwillig zur Verfügung stellten, wurden bei der Übernahme der Rollen nicht über deren Positionen und Argumente informiert. Kein Rollenträger kannte zudem die Positionen und Argumente der Mitdiskutanten vor der Durchführung des Planspiels. Der je-

11 Auf diese Möglichkeit hatten die Moderatoren ausdrücklich hinzuweisen. 12 Das BVerwG kommt zum Ergebnis, dass die staatliche Schulverwaltung unter Abwägung des Bildungs- und Erziehungsauftrags und der Glaubens- und Gewissensfreiheit verpflichtet ist, alle ihr zu Gebote stehenden, zu-mutbaren organisatorischen Möglichkeiten auszuschöpfen, für Mädchen ab dem Alter der zwölfjährigen Kläge-rin einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht einzurichten und anzubieten, um einen schonenden Ausgleich beider Rechtspositionen herbeizuführen; dann aber, und nur dann, wenn die staatliche Schulverwal-tung dieser Verpflichtung nicht nachkommt oder nicht nachkommen kann, ist der Konflikt so zu lösen, dass ein Anspruch auf Befreiung vom koedukativ erteilten Sportunterricht besteht. Letzteres sei bei der Klägerin der Fall. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25.8.1993, Akt.Z.: 6 C 8. 91. Siehe auch: Sammlung schul- und prü-fungsrechtlicher Entscheidungen, n. F. 882, Nr. 10.

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weilige Moderator, ebenfalls Seminar- bzw. Tagungsteilnehmer, erhielt schriftliche Anwei-sungen zur Ausübung seiner Funktion 13. 3.3 Leitfragen und Auswertung der Diskurse

Die Leitfragen lassen sich wie folgt darstellen:

Wird im Diskurs deutlich, dass sich die Argumentationen, die den Rollenbeschreibungen zugrunde liegen, wesentlich in zwei Spannungsfeldern bewegen, die jeweils wiederum in ei-nem Spannungsverhältnis zueinander stehen: zwischen dem staatlichen Bildungs- und Erzie-hungsauftrag der Schule und dem Recht auf Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit – zwei prinzipiell gleichgeordneten verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten, die gegeneinan-der abgewogen werden müssen – einerseits sowie Assimilation, Integration und Segregation als mögliche Akkulturationsvarianten andererseits?

Lassen sich Merkmale identifizieren, die einen wesentlichen Impuls für die Setzung von Diskursschwerpunkten und die Diskursverläufe darstellen, und die einen Einfluss auf das Diskursergebnis haben könnten? Dieser Frage wird in der Zusammenschau der Diskursverläu-fe und –ergebnisse nachgegangen.

Wird eine Lösung gefunden, die den Interessen aller Beteiligten gerecht wird, wie es sich im Urteil des BVerwG’s widerspiegelt, oder bleibt die Diskussion in der – vergeblichen? – Suche nach einem Kompromiss haften, der auf eine Teilnahme am koedukativen Sportunter-richt unter gleichzeitiger Berücksichtigung der respektierten Glaubensüberzeugung durch Abmilderung der Teilnahmebedingungen gerichtet ist?

Die Auswertung der videoaufgezeichneten Diskurse erfolgte unter Zugrundelegung der Leit-fragen. Angesichts der Dynamik der Diskurse auf Grund der bereits im Design angelegten Komplexität hinsichtlich der möglichen Entscheidungsausgänge einerseits und der zwischen den genannten Spannungsfeldern angesiedelten Thematik andererseits wurden die Diskursver-läufe so rekonstruiert, dass sie diese Dynamik abzubilden imstande waren. Als geeignete Me-thode wurde die Gliederung der Verläufe in einzelne Phasen angesehen. Zur Bestimmung der Phasen wurde gezielt danach gesucht, welche Diskursbeiträge als verbale Impulse eine Zäsur im Diskursverlauf markieren und eine neue Phase einleiten, die die Diskursrichtung und die inhaltlichen Diskursschwerpunkte verändern. Damit ist allerdings nicht zwangsläufig auch ein Diskursfortschritt verbunden. Ob dies der Fall ist, wird empirisch zu prüfen sein. 4 Ergebnisse der Diskursanalysen

Die Dauer der Planspiele betrug insgesamt sechs Stunden und vierzig Minuten (6:40). Alle Planspiele ließen sich in mehrere Phasen untergliedern. Im Folgenden werden die rekonstru-ierten Diskursverläufe zunächst einzeln dargestellt, bevor die Forschungsfrage beantwortet werden soll, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich in den Diskursverläufen belegen lassen. 4.1 Diskurs 1

Phase 1: Jeder Rollenträger stellt sich zunächst den anderen Diskussionsteilnehmern vor und informiert sie über seinen Standpunkt. Mehrheitlich werden dabei die wesentlichen Begrün-dungen für diesen Standpunkt bereits genannt. Nach Abschluss dieser Phase wird deutlich, dass mit jeweils unterschiedlichen – rollenkonformen – Begründungen zwei Rollenträger eine

13 Die Rollenbeschreibungen einschließlich den Anweisungen für den Moderator und dem zusätzlichen Informa-tionsmaterial sind auf den Seiten 4-10 der folgenden URL dargestellt: http://www.kompetenz-interkulturell.de/userfiles/Materialien%20fuer%20den%20Unterricht/Toleranz_Lehr-Lernsequenz.pdf

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Befreiung vom koedukativen Sportunterricht, zwei weitere eine bedingungslose Teilnahme sowie ein Rollenträger eine Teilnahme unter weitgehender Rücksichtnahme auf die religiösen Bedürfnisse der muslimischen Schülerin befürworten. Eine Rollenträgerin, die „Juristin“, verweist auf die Schulpflicht und die Verantwortung der Schule für die Gestaltung des Sport-unterrichts, faltet die Argumente für einen monoedukativen Sportunterricht im Einzelnen je-doch erst im Verlauf der Diskussion aus. Deutlich wird, dass sich die Argumentationen, die den Entscheidungen zugrunde liegen, wesentlich in zwei Spannungsfeldern bewegen: zwi-schen Schulpflicht und Glaubens- und Gewissensfreiheit einerseits sowie Assimilation, In-tegration und Segregation andererseits.

Phase 2: Der Diskurs wird durch die „These“ 14 des „Direktors“, eröffnet, der für eine (vor-läufige) Befreiung votiert: er sehe keine Möglichkeit, die muslimische Schülerin in den ko-edukativen Sportunterricht zu integrieren, ohne gleichzeitig ihre „moralischen Werte“ zu ver-letzen. Zwei Rollenträger greifen die These auf, um sie kritisch zu hinterfragen: Es sei erst zu prüfen, ob dem Antrag der Schülerin nicht, wie in der These vorausgesetzt, eine religiöse, sondern eine politische Motivation zugrunde liege, die der Anwendung der grundrechtlich geschützten Religionsfreiheit die Basis entzöge. Dieser Impuls wird jedoch nicht aufgegriffen. Der zweite Impuls erfolgt durch die „Juristin“ und eröffnet einen bislang nicht genannten Lö-sungsweg: Der Konfliktauslöser sei der koedukative Sportunterricht. Da dieser jedoch päda-gogisch, sportfachlich und schulorganisatorisch vertretbar sein müsse 15, wäre vor der Erwä-gung einer Befreiung die Möglichkeit zum Angebot eines getrenntgeschlechtlichen Sportun-terrichts zu prüfen. Dieser Vorschlag wird unter Hervorhebung auch der „persönlichen“ Be-vorzugung von Koedukation im Sportunterricht durch den Rollenträger, der die These aufge-stellt hat, und ohne Widerspruch der übrigen Teilnehmer ad acta gelegt. Phase drei wird ein-geleitet.

Phase 3: Auch Rollenträger, deren Positionen und Argumente dies in der Rollenkonzeption nicht implizieren, sind nun um die Entkräftung der These in Phase 2 bemüht: eine für alle Beteiligten tragfähige Kompromisslösung zu finden, die auf eine Teilnahme am koedukativen Sportunterricht unter gleichzeitiger Berücksichtigung der zu respektierenden Glaubensüber-zeugung gerichtet ist.

Die Suche nach Kompromisslösungen führt zur Generierung vielfältiger Vorschläge zu ge-meinsamen Spielen, alternativen Kopfbedeckungen zur Vermeidung von Sicherheitsrisiken unter wiederholter Hervorhebung der Vorteile des gemeinsamen Sportunterrichts als Lernge-legenheit und Erziehungschance. Gegenargumente der „muslimischen Schülerin“, dargestellt von Studierenden mit Migrationshintergrund (keine Umkleidekabinen, unerwünschte Über-griffe durch Jungen) werden mit Alternativvorschlägen entkräftet: „Wenn es nur daran liegen sollte, sind schon Lösungen möglich“. Keiner der Vorschläge bewirkt jedoch eine Zurück-nahme des Befreiungsanliegens durch die „muslimische Schülerin“.

Phase 4: Der bereits in Phase 2 vorgeschlagene monoedukative Unterricht wird erneut unter Thematisierung eines moralisch starken Arguments von der „Juristin“ aufgegriffen: „Die Klasse – und das berührt mich so – ist bereit, trotz jeder Schulkultur jetzt hier einen koeduka-tiven Sportunterricht aufzubrechen und möchte aus Solidarität zu ihrer Mitschülerin einen monoedukativen Unterricht haben. 16 […]. Es geht ja auch um mehr als nur um Sport: Man kommt ja aufeinander zu, man lernt voneinander, die Schüler setzen sich auseinander mit ih-rer Kultur, es finden Gespräche statt, da entsteht Solidarität […]. Es wäre doch schön, wenn

14 Hier und im folgenden sind alle in Anführungszeichen gesetzten Formulierungen wörtliche Zitate von Rollen-trägern bzw. die Rollenträger in der Person, die sie darstellen. 15 Diese Ausführungen entsprechen den Argumenten der Rollenbeschreibung. 16 Dieses Argument war in der Rollenbeschreibung vorgesehen.

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wir das dadurch auch juristisch umgehen können. […] Mein Gott, da passiert doch ein Pro-zess, das kann man doch nicht einfach so verschütt’ gehen lassen und das Mädchen aus dem Unterricht herausnehmen. […]. Das ist doch toll, mein Gott! Was wollen Sie denn mehr als Pädagoge?“ Dieser Argumentation liegt die Generierung eines gemeinsamen Oberziels zur Transzendierung des Konflikts zugrunde – des Verzichts auf den koedukativen Unterricht zugunsten gemeinsamer Klasseninteressen 17.

Phase 5: Der Vorschlag wird nicht aufgegriffen. Vielmehr wird weiter nach Möglichkeiten gesucht, „in denen wir beides berücksichtigen könnten. […]. Das erfordert vielleicht ein biss-chen mehr Überlegung und ein bisschen mehr Umdenken, aber ich könnte mir vorstellen, dass der koedukative Unterricht weitergeführt wird, und dass wir uns Möglichkeiten überlegen, die Yildiz den Sportunterricht zumutbar machen. [...]. Vielleicht kommen wir ja doch zu einer Entscheidung, der Prozess dauert ein bisschen länger.“ Da, so die Interpretation, von den üb-rigen Rollenträgern keine neuen Argumente zu erwarten sein dürften, wird nun die „muslimi-sche Schülerin“ in die Kompromisssuche einbezogen. Der Versuch führt zu keiner Lösung: „Man fasst sich dann auch an, das möchte ich nicht. Ich möchte aber auch nicht ausgelacht werden, weil ich Sachen mache, die keiner versteht. [...] Und wenn ich sage, ich möchte diese Übungen nicht machen, dann sitze ich da und dann bin ich weg von allen, den Schülern, die mich ja in der Klasse, so wie ich bin, akzeptieren, aber mit Anfassen und Näherkommen, das wird dann anders.“ Auch die Frage nach Übungen, die ihr im Sportunterricht „gefallen“ ha-ben, der Hinweis auf Übungen, in denen kein Kontakt mit Jungen stattfindet sowie auf die negativen Folgen einer Befreiung vom Sportunterricht für die Leistungsbewertung führen nicht zum angestrebten Kompromiss, mit dem alle leben können. Die „muslimische Schüle-rin“ argumentiert: „Ich will ja auch keine schlechte Note! Ich habe auch Angst, dass ich das nicht schaffe mit den schlechten Noten, aber das ist meine Religion. Ich glaub’ an den Koran, er macht mich stark und gibt mir Kraft. Ich glaub’ daran.“ Als die Moderatorin den Vorschlag des nach Geschlechtern getrennten Unterrichts aufgreift und die „muslimische Schülerin“ damit konfrontiert, wird deutlich, dass dies für sie eine Alternative zur beantragten Befreiung wäre.

Phase 6: In der Schlussphase der Diskussion wird, für Beobachter unerwartet, die gesamte Entscheidungsgrundlage in Frage gestellt: „Ich weiß gar nicht, worüber ich wirklich entschei-den soll.“; es lägen nicht genügend Informationen vor z.B. zum Problem von Yildiz („Geht es um die Kleidung, um den Kontakt mit Jungen?“; ist der koedukative Sportunterricht für das Mädchen oder nur für die Eltern bzw. den Vater ein Problem?). Ein Gespräch mit den „west-lich orientierten“ Eltern, die ein Mitspracherecht hätten, wird kontrovers diskutiert, die Frage nach einem wirklich religiösen Motiv der Schülerin nochmals aufgegriffen, die Ausschluss-möglichkeit von einem versetzungsrelevanten Fach angesichts der bestehenden Schulpflicht thematisiert. Dass die Diskussion allerdings in der vergeblichen Suche nach einem Kompro-miss haften bleibt, schlägt sich auch in der Entscheidung am Ende der Diskussion nieder.

Entscheidungsphase

In der Entscheidungsphase verfügte jeder Rollenträger über eine Stimme, alle Stimmen waren gleichberechtigt. In der folgenden Tabelle sind in der linken Spalte die Entscheidungen der Rollenträger dargestellt, wie sie in den Rollenbeschreibungen vorgesehen und entsprechend zu vertreten waren, in der rechten Spalte ist das Entscheidungsergebnis der Rollenträger nach der Diskussion abgebildet:

17 Vgl. Eckensberger, L. H. Reinshagen, H. (1980). Kohlbergs Stufentheorie der Entwicklung des Moralischen Urteils: Ein Versuch ihrer Reinterpretation im Bezugsrahmen handlungstheoretischer Konzepte. In L. H. Eckensberger und R. K. Silbereisen (Hrsg.), Entwicklung sozialer Kognitionen: Modelle, Theorien, Methoden, Anwendung. Stuttgart: Klett, 125.

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Entscheidung nach der Rollenkonzeption

Entscheidung nach dem Diskurs

Antrag wird gewährt, Befreiung: Direktor, muslimische Schülerin

Antrag wird zurückgewiesen, Teilnahmepflicht: Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzender

Elternbeiratsvorsitzender

Antragsgründe werden abgemildert durch Rücksicht auf Bekleidungsvorschriften: Sportlehrer

Direktor, Juristin, Sportlehrer, Schulsprecherin

Antrag wird gegenstandslos durch Aufgabe des Koedu-kationsprinzips: Juristin

muslimische Schülerin

Abb. 2: Entscheidungen nach der Rollenkonzeption und nach dem Diskurs Das Ergebnis des Diskurses dokumentiert eine mehrheitlich nicht rollenkonforme Entschei-dung zugunsten einer Kompromisslösung: Man erkennt eine Verlagerung der Positionen des Direktors, der Schulsprecherin sowie der Juristin zugunsten einer Teilnahme am koedukativen Sportunterricht unter Berücksichtigung von Bedingungen, die geeignet sein können, die An-tragsgründe der muslimischen Schülerin durch diverse Schutzmaßnahmen abzumildern sowie der Position der muslimischen Schülerin, deren Antrag durch eine Entscheidung der Schule zur Einrichtung eines nach Geschlechtern getrennten Unterrichts gegenstandslos würde. 4.2 Diskurs 2

Phase 1: Deutlich wird bereits mit der Begründung für die Einberufung der Kommission so-wie den weiteren Positionsbekundungen mit kurzen Kommentaren der Diskursteilnehmer, dass diese vor der Aufgabe stehen, zwischen dem Recht auf Glaubens- und Religionsaus-übungsfreiheit, das einen Zwang zur Teilnahme am koedukativen Sportunterricht verbietet, einerseits und dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule andererseits ab-wägen zu müssen; die verschiedenen Akkulturationsvarianten spielen eine sekundäre Rolle. Der Hinweis auf die gesundheitlichen und sozialen Vorteile gerade auch des koedukativen Sports wird nicht weiter verfolgt, der Vorschlag der Teilnahme unter Rücksichtnahme auf die religiösen Überzeugungen (weite Kleidung, Befreiung von bestimmten Übungen) ohne weite-re Vertiefung kurz kommentiert. Bestimmend für die folgende Phase des Diskussionsverlaufs wird hingegen das Plädoyer der „Juristin“ für die Notwendigkeit einer „grundsätzlichen“ Re-form des praktizierten koedukativen Unterrichts, um einen Weg aus dem Dilemma zu finden. Phase 2: Die „Juristin“ faltet ihren Reformvorschlag aus, den sie mit dem Verweis auf das in ihrer Rollenbeschreibung u.a. genannte „Zweite Aktionsprogramm für den Schulsport“ (KMK-Beschluss 1985) 18 stützt, als Alternative einen getrennten Sportunterricht ab Klasse 12 einzuführen, der über den zu entscheidenden Fall hinaus mit zusätzlichen Vorteilen verbun-den sei: der gerechteren Berücksichtigungen jeweils geschlechtsspezifischer Fähigkeiten und der Vermeidung von Überforderungen leistungsschwächerer Schüler sowie der Dominanz des männlichen Geschlechts. Diese Diskursphase wird im Gegensatz zu Diskurs 1 (s.o.), den die vergebliche Suche nach einem Kompromiss fast vollständig bestimmte, deutlich auf der Ebe-ne von Verfassungspositionen geführt. Kontrovers diskutiert werden die Vor- und Nachteile einer Geschlechtertrennung unter der Perspektive der Gleichberechtigung des Art. 3 Abs. 2 18 „3.2 Koedukativer Sportunterricht ist möglich, wenn er pädagogisch, sportfachlich und schulorganisatorisch vertretbar ist. 3.1 Die kulturelle Identität und die unterschiedliche Sozialisation von Kindern ausländischer Herkunft [sind] nachdrücklich zu beachten.“

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GG. Artikel 3 Abs. 3 GG 19, neben anderen Artikeln des GG’s allen Rollenträgern als zusätz-liches Informationsmaterial zur Verfügung gestellt, wird expliziert und der Kompromissvor-schlag der Berücksichtigung der religiösen Überzeugungen bei gleichzeitiger weiterer Teil-nahme auch unter der Perspektive der Benachteiligung der Schülerin zurückgewiesen: „Zu-dem kann sie nicht erfolgreich im Sinne der Einbringung ihrer Fähigkeiten am Sportunterricht teilnehmen, wenn sie behindernde Kleidung trüge und von bestimmten Übungen befreit wür-de.“ Die „muslimische Schülerin“ ergänzt den Kommentar um ein für sie persönlich weiteres wichtiges Argument: „Es geht nicht nur um meine Kleidung, dass ich eine angemessene Klei-dung für den Sportunterricht finde, sondern dass ich mit dem männlichen Geschlecht in Be-rührung komme, was ich nicht möchte. […] Im Sportunterricht bewege ich mich, laufe, […]. Bei jeder Bewegung kommen körperliche Vorzüge in Geltung, und das möchte ich vermei-den.“ Der Hinweis auf auch sonst im Alltag vorfindbare „Bewegungen, die die Vorzüge zei-gen“, wird zurückgewiesen: „Ich brauche ja da nicht hinzugucken. Das ist für mich Schutz. Ich fühle mich beschützt, wenn ich ein Kopftuch trage und angemessen für mich gekleidet bin. Ich möchte keine körperlichen Reize nach außen tragen. Das ist meine religiöse Überzeu-gung.“ Sie könne als Alternative zur aktiven Betätigung theoretisch etwas zum Sportunter-richt beitragen. Dies könnte auch für die anderen Schüler attraktiv sein. Der alternative Vorschlag wird nicht aufgegriffen. Vielmehr bewirkt, so die Interpretation, die offen gelegte Verknüpfung von Bekleidung und religiöser Überzeugung mit der psychologi-schen Bedeutung für die Schülerin (Schutz) einen Perspektivenwechsel, der sich in einem Diskurswechsel von der Gesetzesebene hin zur persönlichen und moralischen Ebene nieder-schlägt und damit einen neuen Diskursraum eröffnet. Phase 3: Die „Juristin“ greift den Beitrag der „Schülerin“ auf und verstärkt mit Nachdruck ihre Argumentation zugunsten eines getrennten Unterrichts durch ein in der Rollenbeschrei-bung enthaltenes, von ihr zum richtigen Zeitpunkt klug genutztes und moralisch starkes Ar-gument: sie berichtet von einer Befragung der Mitschüler durch ihre Tochter, die mit der „muslimischen Schülerin“ die gleiche Klasse besucht, und deren Ergebnis: Die Solidarität mit der Schülerin wiege „viel, viel mehr als der gemeinsame Sportunterricht“. Die Mitschüler seien entsprechend für die Geschlechtertrennung. Sie hebt noch einmal den Konfliktkern her-vor: „Es geht nicht darum, nicht am Sportunterricht teilzunehmen, sondern dass ein Raum geschaffen wird, indem sie sich ihrer Glaubensüberzeugung entsprechend aktiv bewegen kann. […] Das geht mit Mädchen und einer Sportlehrerin.“ Der Beitrag und die in ihm enthaltenen Informationen lösen eine lebhafte und kontroverse Debatte aus. Während in der zweiten Phase von der Verfassungsebene und Beschlüssen aus-gehend argumentiert wurde, um daraus Konsequenzen für ein Handeln im individuellen Fall abzuleiten („top-down“), wird nun der umgekehrte Weg – vom Individuum ausgehend – ein-geschlagen und die Bedeutung individueller Orientierungen für die Allgemeinheit kritisch hinterfragt („bottom-up“): „Wo sind die Grenzen der Individualität?“ – „Man kann das Wohl einer Einzelnen nicht über das aller stellen.“ – „Hier wird ein Präzedenzfall geschaffen!“ – „Soll man wegen eines Falles das System ändern, die gesamte Organisation des Unterrichts neu gestalten?“ Mit dem Argument: „Es verlangt keiner, das ganze Schulsystem zu ändern. Es geht nur um die Respektierung der religiösen Überzeugungen der Schülerin und die Findung des bestmög- 19 „(3) Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. […].“

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lichen Weges in diesem Fall.“ und dem Verweis auf die Klassenebene („Auch die Klasse ist damit einverstanden.“) wird das Problem wieder in einen überschaubaren Rahmen gerückt, innerhalb dessen reformorientierte Handlungsspielräume offen stehen, ohne sie zum allge-meinen Prinzip zu erheben. Entsprechend verläuft die weitere Diskussion. Dabei dominieren Vorschläge dazu, wie ein gemeinsamer Sportunterricht doch noch zu gewährleisten sei, nicht ohne jedoch den sozialen Kontext des Einzelfalles – die Klasse – mitzudenken und in die Verantwortung einzubinden: Man solle vor der Klasse thematisieren, warum die „muslimische Schülerin" so denkt – „Die Schüler sollen eine andere Sichtweise einnehmen lernen“ –, auf der Basis des Art. 3 Abs. 3 GG gemeinsam überlegen, wie eine Benachteiligung der Schülerin einschließlich diskriminie-render Handlungsweisen durch Mitschüler vermieden werden könne. Deutlich wird allerdings durch den Kommentar des „Direktors“, dass die zuvor aufgeworfenen Fragen noch längst nicht zu überzeugenden Antworten geführt haben: „Ich finde, das ist einfach horrende! Wir können nicht einfach irgend etwas aufteilen! Das können wir doch nicht tun! Seit Jahren wird das überall gemacht, und jetzt haben wir einen besonderen Fall, und wir müssen eine beson-dere Lösung finden, aber die nur sie betrifft und nicht die Mitschüler!“ Diese auf einem blo-ßen Traditionsverweis beruhende Argumentation fällt hinter den bereits erreichten Diskussi-onsstand zurück und leitet eine neue Phase ein, in der wieder von der Verfassungsebene her argumentiert wird. Phase 4: Die „Juristin“ erkennt, dass eine derartige Begründung im Widerspruch zu Gesetz und Recht steht: sie verweist nochmals auf das „Schulgesetz“ und appelliert an den „Direk-tor“: „Der Direktor hat das Recht, einen Sportunterricht zu ermöglichen, an dem sie aktiv da-ran teilnehmen kann.“ Sie benennt nochmals die „Kann-Bestimmung“ einschließlich der zu erfüllenden Bedingungen für die Durchführung eines koedukativen Sportunterrichts (Fußnote 17) und weist zusätzlich auf Art. 3 Abs. 3 GG hin: „[…] die Unverletzbarkeit ihrer kulturellen Identität und die Nicht-Diskriminierung wegen ihrer religiösen Anschauungen.“ Um doch noch einen konstruktiven Lösungsweg zu ermöglichen, schlägt sie für eine „gewisse Zeit eine probeweise Trennung für diese Klasse“ vor. Die „Schulsprecherin“ könne zudem eine Befra-gung vor, während sowie nach der Probezeit unter den Mitschülern zu ihren Erfahrungen und Einschätzungen durchführen und die Ergebnisse analysieren. Auf die Frage durch den „Direk-tor“: „Und wenn es nicht funktioniert?“ wird eine erneute Podiumsdiskussion vorgeschlagen ebenso wie für den Fall des Gelingens („Und wenn es ganz toll funktioniert? Soll das Projekt dann ausgeweitet werden?“). Diese Phase wird durch die Intervention des Moderators mit dem Hinweis auf die anstehende Entscheidung beendet. Entscheidungsphase Eine Frage des „Direktors“ an die „muslimische Schülerin“ leitet die Entscheidungsphase ein: „Was ist Dir lieber: eine Befreiung oder ein getrennter Unterricht mit einer Sportlehrerin?“ Die „Schülerin“ entscheidet sich eindeutig für letzteres. Die „Juristin“ vertritt nochmals ihren zuvor eingebrachten Vorschlag und beruft sich zusätzlich auf das Elternrecht (Art. 6 GG) und Art. 7 GG: „Das gesamtes Schulwesen unter Aufsicht des Staates. Beide Artikel können durch einen probeweisen getrennten Unterricht in Einklang gebracht werden! Die Schulsprecherin kann einen Erfahrungsbericht machen und ihn analysieren.“ Der Moderator beendet den Diskurs mit der Aufforderung zur Entscheidung. Das Ergebnis sieht wie folgt aus:

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Entscheidung nach der Rollenkonzeption

Entscheidung nach dem Diskurs

Antrag wird gewährt, Befreiung: Direktor, muslimische Schülerin

Antrag wird zurückgewiesen, Teilnahmepflicht: Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzender

Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzender

Antragsgründe werden abgemildert durch Rücksicht auf Bekleidungsvorschriften: Sportlehrer

Direktor

Antrag wird gegenstandslos durch Aufgabe des Koedu-kationsprinzips: Juristin

Juristin, muslimische Schülerin, Sportlehrer

Abb. 3: Entscheidungen nach der Rollenkonzeption und nach dem Diskurs

Das Entscheidungsergebnis dokumentiert, dass drei Rollenträger ihre der Konzeption entspre-chende Position beibehalten sowie drei weitere sie geändert haben. Die Argumente der „Juris-tin“ zugunsten der Aufgabe des Koedukationsprinzips haben offenkundig zwei weitere Dis-kursteilnehmer überzeugt. Der „Direktor“ gibt seine Position der Befreiung der Schülerin zu-gunsten ihrer Integration auf, kann sich jedoch nur zu einem Kompromiss durchringen. Eine einstimmige Entscheidung konnte auch nach diesem Diskurs nicht erzielt werden. 4.3 Diskurs 3

Phase 1: Der Moderator informiert über den geplanten Ablauf der Diskussion und bittet die Rollenträger, zunächst nur ihre Position mitzuteilen, ohne sie zu begründen. Dies sei der Dis-kussion vorbehalten. Explizit hebt er die Erwünschtheit der Änderung des (zunächst) zu ver-tretenden Rollenstandpunktes im Fall überzeugenderer Argumente hervor. Mehrheitlich hal-ten sich die Teilnehmer an seine Anweisung. Die Spannungsfelder, innerhalb deren sich der Konflikt bewegt, sind noch nicht erkennbar. Phase 2: Die „Juristin“ verweist darauf, dass die Teilnahme am Sportunterricht zur Schul-pflicht gehört. Da aber in diesem Fall nicht nur der staatliche Bildungs- und Erziehungsauf-trag der Schule, sondern auch das Recht auf Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit zur Geltung käme, müssten diese beiden prinzipiell gleichgeordneten verfassungsrechtlich ge-schützten Grundrechte gegeneinander abgewogen werden. Damit ist das Spannungsfeld, wie es sich aus der Rechtsperspektive darstellt, eingeführt und die Aufgabe, der sich die Diskutan-ten zu stellen haben, präzise artikuliert. Den Rollen entsprechend werden nun die Begründungen für die Ergebnisse der jeweiligen Abwägungsprozesse genannt: für eine Befreiung der Schülerin wegen der prioritären „Ver-pflichtung der Schule, die Religionsausübungsfreiheit zu gewährleisten“, für die weitere Teil-nahme am koedukativen Sportunterricht, um dem Bildungs- und Erziehungsauftrag gerecht zu werden sowie für einen geschlechtergetrennten Unterricht, der beide Grundrechte berücksich-tige. Gegen eine Befreiung wird eingewendet, dass sie den „Ausschluss“ der Schülerin aus dem Klassenverband bedeute, die „Abschottung“ fördere und somit dem allgemein erwünschten Ziel der „Integration“ entgegen stünde. Damit wird das zweite Spannungsfeld eingeführt, in dem sich der Fall bewegt: zwischen den Akkulturationsvarianten Integration, Segregation und Assimilation. Die komplexe Verschränkung der beiden Spannungsfelder bestimmt die weitere kontrovers geführte Diskussion. Phase 3: Die Begründung für eine weitere Teilnahme am Unterricht mit der Überschreitung der „Grenzen der Toleranz“ für den Fall der Befreiung wird unter nochmaligem Verweis auf

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das „Schulgesetz, das die unbedingte Achtung religiöser Überzeugungen vorschreibt und die Schule verpflichtet, die Meinung Andersdenkender anzuerkennen“, als „Zwang zur Assimila-tion“ für rechtswidrig erklärt. Von für Pädagogen geltende Grenzen seien die Schüler ausge-nommen, soweit es ihre Religionsausübungsfreiheit betrifft. Der Einwand, ein Handeln, das gegen den Verfassungsstaat verstoße, dürfe auch nicht in der Schule geduldet werden, wird mit dem folgenden Argument zu entkräften versucht: „Wir leben in einem freiheitlich-demokratischen Staat. Die Schülerin ist voll integriert. […] Ich kenne kein Gesetz, dass es ihr z.B. verbietet, ein Kopftuch zu tragen.“ Um dennoch das Argument verfassungswidrigen Handelns aufrecht zu erhalten, so die Interpretation, wird die Freiwilligkeit ebenso wie die religiöse Motivation der Schülerin bezweifelt (Unterdrückung der Frau, politische Äußerung) und ein klärendes Gespräch mit dem Vater der erst 12-jährigen Schülerin für erforderlich er-achtet. Da dieser im Planspiel nicht vorgesehen ist, wird darüber nicht weiter diskutiert. Deut-lich wird jedoch, dass der Lösungsversuch, eine weitere Teilnahme ohne Berücksichtigung der religiösen Überzeugungen zu erzwingen, nicht mehrheitsfähig ist.

Eine neue Phase beginnt mit der Suche nach einem Kompromiss: eine weitere Teilnahme un-ter Berücksichtigung der religiösen Überzeugungen zu gewährleisten.

Phase 4: Die vor allem sozialen Vorteile der Koedukation werden ausgefaltet und als Kom-promiss eine weite Kleidung einschließlich der Befreiung von bestimmten Übungen vorge-schlagen: „Ich denke, das wäre ein Mittelweg.“ Mit Gegenargumenten wird erneut die Akkul-turationsvariante der Segregation thematisiert: eine solche Bekleidung wäre ein Zeichen für Ausgrenzung und der erste Schritt zu einer Parallelgesellschaft. Die „muslimische Schülerin“ bekräftigt dies: „Alle würden mich auslachen!“ Deutlich wird, dass nach diesen Argumenten sowohl die Befreiung („Ausschluss“) als auch die Teilnahme unter Berücksichtigung der reli-giösen Überzeugungen wegen der negativen Begleitumstände des Kompromisses zum selben Ergebnis – der Segregation – führen würden. Damit erweisen sich nun auch die Alternativen „Befreiung“ und „Teilnahme unter abgemilderten Bedingungen“ als nicht mehrheitsfähig.

Phase 5: Als Ausweg aus dem Dilemma wird unter Verweis darauf, dass ein koedukativer Sportunterricht nicht voraussetzungslos für pädagogisch wertvoll oder gar unverzichtbar ge-halten wird und die kulturelle Identität und die unterschiedliche Sozialisation von Kindern ausländischer Herkunft nachdrücklich zu beachten seien (s. Fußnote 18), die auch an anderen Schulen praktizierte Geschlechtertrennung als weitere zu prüfende Alternative vorgeschlagen. Zudem wird das Ergebnis einer Klassenbefragung – der Verzicht auf den koedukativen Unter-richt aus Solidarität mit der muslimischen Schülerin – rollenentsprechend entfaltet.

Gegen die Einführung eines geschlechtergetrennten Unterrichts werden zahlreiche Argumente angeführt wie die Benachteiligung der anderen Schüler, organisatorische und personelle Eng-pässe, die leistungs-, motivationsfördernden und sozialen Vorteile eines koedukativen Unter-richts bei geeignetem Angebot an Sportarten für beide Geschlechter: „Getrennter Sportunter-richt erscheint mir eher mittelalterlich.“ Zugespitzt wird die Gegenposition durch die mehr-fach geäußerte Inakzeptanz, wegen einer Person einen monoedukativen Unterricht einzufüh-ren. Die Ebenen der Gemeinschaft und der Gesellschaft – der interpersonale und transperso-nale Handlungsraum 20 – werden thematisiert: Die „muslimische Schülerin“ könne „nicht auf Kosten der Gemeinschaft“ ihre Kultur ausleben. Dagegen wird argumentiert, sie verstoße mit ihrem Wunsch 21„nicht gegen ein Gesetz, nicht gegen die Verfassung.“ Der Wechsel zur Ge- 20 Im Diskurs wird deutlich, dass die Argumente nicht nur das interpersonale Zusammenleben in einer Gemein-schaft betreffen, sondern auch Demokratie als Gesellschafts- und Staatsform im transpersonalen Handlungsraum (s. Breit, H. & Eckensberger, L.H. (2004). Demokratieerziehung zwischen Polis und Staat. DIPF informiert, 6, 6-11). 21 Genannt werden auch die „enormen Vorteile, beide Kulturen auszuleben. Das soll sie meiner Meinung nach auch weiterhin können.“

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sellschaftsebene wird mitvollzogen, aber hinterfragt: „Warum muss sie eine Sonderrolle in der Gesellschaft haben wegen ihrer Kultur? […] Die Schule muss sich nicht wegen einer ein-zigen Person verändern.“ Damit ist auch die Alternative der Geschlechtertrennung nicht mehrheitsfähig: wie im ersten Diskurs gelingt die Generierung eines gemeinsamen Oberziels zur Transzendierung des Konflikts durch den Verzicht auf den koedukativen Unterricht zu-gunsten gemeinsamer Klasseninteressen nicht. Phase 6: Die Diskutanten schlagen nun als gleichsam letzten Ausweg Ersatzleistungen wie Theoriearbeit (Referate, Protokolle) bei gleichzeitiger Anwesenheit während des Unterrichts „auf der Bank“ vor, um eine Leistungsbewertung zu gewährleisten und sowohl eine Befrei-ung, eine Geschlechtertrennung als auch die Zwangsteilnahme bzw. die Teilnahme unter ab-gemilderten Bedingungen zu vermeiden. Diese Möglichkeit müsse es, so die von einem Dis-kutanten genannte Bedingung, dann aber unter dem Gleichbehandlungsprinzip 22 auch für andere Schüler geben. Auch dieser Vorschlag erweist sich nicht als mehrheitsfähige Lösung des Konflikts, wie in der Entscheidungsphase, vom Moderator eingeleitet, deutlich wird. Entscheidungsphase

Es wird der Vorschlag der „Lösungsfindungsvertagung“ unterbreitet: die muslimische Schüle-rin solle mit ihrer Klasse, nicht nur wie hier mit Erwachsenen, ein Gespräch führen; evtl. fän-den sich neue Perspektiven und eine Lösung. Die anderen Schüler fühlten sich zudem nicht übergangen. Die „muslimische Schülerin“ erklärt ihre Gesprächsbereitschaft, aber auch deut-lich ihre Bedingungen: der weiteren Teilnahme bei Trennung der Geschlechter sowie der Be-freiung oder eines Schulwechsels für den Fall der Beibehaltung des koedukativen Unterrichts. Die sich anschließende Entscheidung zeigt die folgenden Ergebnisse:

Entscheidung nach der Rollenkonzeption

Entscheidung nach dem Diskurs

Antrag wird gewährt, Befreiung: Direktor, muslimische Schülerin

Antrag wird zurückgewiesen, Teilnahmepflicht: Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzender

Antragsgründe werden abgemildert durch Rücksicht auf Bekleidungsvorschriften: Sportlehrer

Antrag wird gegenstandslos durch Aufgabe des Koedu-kationsprinzips: Juristin

muslimische Schülerin

Für eine Lösungsfindung mit der Klasse: Sportlehrer, Juristin, Direktor, Schulsprecherin, El-ternbeiratsvorsitzender [letzterer: Bereitschaft zur Übernahme einer Lösung, bei der alle Schüler gleich-ermaßen zur (Nicht)Teilnahme berechtigt sind]

Abb. 4: Entscheidungen nach der Rollenkonzeption und nach dem Diskurs Mit Ausnahme der „muslimischen Schülerin“ votieren alle Diskutanten zugunsten der Auf-schiebung der Entscheidung. Die „Schulsprecherin“ kommentiert dieses Ergebnis mit den Worten: „Ich muss […] meine Enttäuschung zum Ausdruck bringen. Eigentlich sind wir zu einer Entscheidungsfindung hierher gekommen. Nun wird sie vertagt. […] Ich bin enttäuscht, dass wir zu keiner Lösung gekommen sind.“ 22 „Man kann nicht die positive Glaubensfreiheit gewähren und die negative außen vor lassen. Keiner darf be-vorzugt oder benachteiligt werden. […] Genauso wie die christlichen und atheistischen Schüler sollten auch die muslimischen Schüler gleichbehandelt werden! [..] Das heißt Gleichberechtigung!“

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4.4 Diskurs 4

Phase 1: Die Moderatorin informiert über den geplanten Ablauf der Diskussion, bittet die Rollenträger, zunächst nur ihre Position ohne Begründungen mitzuteilen und hebt die Er-wünschtheit der Änderung des (zunächst) zu vertretenden Rollenstandpunktes im Fall über-zeugenderer Argumente hervor. Alle Diskutanten halten sich an die Anweisung. Die Span-nungsfelder, innerhalb deren sich der Konflikt bewegt, sind noch nicht erkennbar.

Phase 2: Die „muslimische Schülerin“ begründet ihren Antrag auf Befreiung ausführlich mit allen wesentlichen (rollenkonformen) Argumenten, ohne allerdings den koedukativen Sport-unterricht als Hindernis für ihre Teilnahme zu nennen. Nach wenigen weiteren kurzen Positi-onsbegründungen (keine Benachteiligung wegen religiöser Überzeugungen durch Teilnahme-zwang) und entgegenhaltenden Argumenten (keine Bevorzugung durch Befreiung) erklärt sie nochmals, vom Sportunterricht befreit werden zu wollen, eine vom allen Teilnehmenden be-kannten Antrag (s. S. 4) abweichende und in der Rolle nicht vorgesehene Bekundung. Für den Fall der Nichtgenehmigung würde sie die Schule beenden. Diese Mitteilung löst Empörung aus: „Es kann doch nicht sein, dass Du uns unter Druck setzt. […] Du schreibst uns vor, ent-weder wir machen das so, wie Du möchtest, oder Du gehst. Das ist doch […] keine Lösung!“

Die anschließende Gesprächspause signalisiert, so die Interpretation, die auch durch das Ver-halten der Diskutanten gestützt wird, Irritationen angesichts der Kompromisslosigkeit – die Option einer Geschlechtertrennung ist bei einer Forderung nach genereller Befreiung nicht gegeben – sowie Unsicherheit über den weiteren Diskussionsverlauf und das anzustrebende Ziel einer möglichst gemeinsamen Lösungsfindung. Die Moderatorin beendet die Pause mit der Bitte um weitere Positionsbegründungen.

Phase 3: Erstmalig wird der koedukative Sportunterricht antragskonform als Teilnahmehin-dernis in den Fokus gerückt. Den genannten Vorteilen setzt die „muslimische Schülerin“ ent-gegen, dass, anders als im alltäglichen Leben, von ihr aus religiösen Gründen nicht tolerierba-re Berührungen „durch Dritte“ unvermeidbar seien, ohne jedoch das antragsauslösende Prob-lem – den gemeinsamen Unterricht mit Jungen – zu spezifizieren. Alternative, die religiösen Überzeugungen berücksichtigende Sportbekleidungen weist sie mit entsprechenden Argumen-ten zurück und bekräftigt nochmals ihre Forderung nach Befreiung.

Der Einwand, die Schülerin schlösse sich für den Fall einer Befreiung aus der Klassenge-meinschaft aus und mache sie zur Außenseiterin, führt in eines der Spannungsfelder ein, in dem sich der Fall bewegt: zwischen den Akkulturationsvarianten Integration, Segregation und Assimilation. Unverständnis wird darüber geäußert, dass sie, hier aufgewachsen, sich nicht anpasst und verhält wie alle anderen Schüler 23. Die Frage, ob sie an einem geschlechterge-trennten Unterricht unter der Leitung einer Lehrerin teilnehmen würde, beantwortet sie mit einem „Weg in die richtige Richtung“. Damit eröffnet sie wieder Handlungsspielräume, die in Phase 2 ausgeschlossen schienen. Die übrigen Diskursteilnehmer greifen die Alternative der Geschlechtertrennung auf. Es wird jedoch deutlich, dass die Aufgabe des koedukativen Unter-richts wegen eines Einzelfalls nicht mehrheitsfähig ist: Die Schülerin solle zwar nicht zur An-passung gezwungen, aber von der Sinnhaftigkeit der weiteren Teilnahme überzeugt werden, da sie so nicht ausgegrenzt würde.

Das Argument, durch einen getrennten Unterricht die Religionsausübungsfreiheit zu schützen und gleichzeitig der Schulpflicht Genüge zu tun, führt zwar in das Spannungsfeld ein, wie es sich aus der Rechtsperspektive darstellt. Aber auch der zusätzliche (rollenentsprechende) Hinweis auf die Bereitschaft der Mitschüler zum Verzicht auf den koedukativen Sportunter- 23 Bekräftigt wird auch auf einer anderen Ebene die Notwendigkeit der Anpassung an das „christlich-humanis-tische“ Weltbild.

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richt aus Solidarität mit der Schülerin bringt den Diskurs nicht voran 24. Vielmehr wird das Unverständnis für die Haltung des Schülerin erneut thematisiert: „Ich bin da wirklich empört darüber. Ich glaube einfach nicht, dass Yildiz das wirklich von sich aus will. […] Das ist doch einfach nur Sport! Die machen doch nichts Schlimmes dort!“ Das Argument der Schülerin, es sei für sie ein Zeichen von Glaubensstärke, nicht teilzunehmen, wird mit der Aussage kom-mentiert: „Das verstehe ich nicht. […] Ich glaube, Du schadest Dir selbst.“

Phase 4: Angesichts des mangelnden Verständnisses für die religiöse Motivation des Antrags auf Befreiung bekennt sich die „muslimische Schülerin“ zu den für sie verpflichtenden Be-kleidungsvorschriften der Bilal-Moschee, die sie ausführlich zitiert 25. Als sie den Diskursteil-nehmern, die wiederholt auf die ihrer Meinung nach überzeugende Kompromisslösung ver-weisen 26, „Intoleranz“ vorwirft, eskaliert der Diskurs, wie ein kurzer Ausschnitt dokumen-tiert: „In diesem Fall bist Du intolerant! Wir gehen auf Dich zu und unterbreiten Dir Vor-schläge, und Du verschließt Dich!“ Die „Schülerin“ kontert: „Das sind aber keine produktiven Vorschläge!“ Aus der Diskussionsrunde wird ihr vorgeworfen: „Du wehrst Dich ja dagegen! Du lässt ja überhaupt keine Argumente zu!“ „Natürlich wehre ich mich. Es geht ja um meine Person, um meine Grundrechte!“ „Die mag ja auch keiner bestreiten!“ „Doch!“ „Wir hindern Dich weder an Deiner Religionsausübung noch an sonst etwas!“

Die Argumente, im Koran seien keine Bekleidungsvorschriften vorgeschrieben, und die Klei-dung sei kein Beleg für die Glaubenstiefe, werden von der „muslimischen Schülerin“ mit dem Verweis auf das Recht zu einer „individuellen Entscheidung“ für die Art der Religionsaus-übung zu entkräften versucht, allerdings ohne Erfolg. Die Mehrheit der Teilnehmer stimmt mit dem Ziel überein: „Wir wollen, dass du mitmachst. Wir wollen Dich stärken und über-zeugen.“

Phase 5: Als Ausweg aus dem Dilemma wird eine Umfrage in der Schulstufe zum Anliegen der Schülerin vorgeschlagen. Die Frage, ob sie bereit wäre, sich der Mehrheitsentscheidung anzuschließen, wird für den Fall, dass diese zugunsten der Aufrechterhaltung des Koedukati-onsprinzips ausfiele, verneint. Auf die Unterstellung, sie lehne alles ab, entgegnet sie: „Ich bin für getrennten Unterricht 27 oder Befreiung, bin aber auch bereit, theoretische Aufgaben zu übernehmen.“ In der sich anschließenden heftigen Debatte werden zahlreiche Argumente wiederholt und z.T. erweitert 28. Ein Fortschritt im Diskurs ist immer noch nicht erkennbar.

Entscheidungsphase

Die Moderatorin erstellt ein Tafelbild mit den bislang erörterten Alternativen und ihren Vor- und Nachteilen:

ersatzlose Befreiung,

24 Organisatorische Maßnahmen werden zwar durchgespielt, die Trennungspraxis an anderen Schulen wird vor-gestellt, aber das Argument der „Sprengung des Stundenplans“ („Dann muss ich ja deswegen alles wieder än-dern!“) bleibt unwidersprochen. Die Möglichkeit theoretischer Ersatzleistungen wird nur kurz erwähnt. 25 Die Vorschriften, als zusätzliches Informationsmaterial der Rollenbeschreibung beigefügt, wurden der Autorin im Original von der Moschee zur Verfügung gestellt. Auf sie hat sich auch die muslimische Schülerin im tat-sächlich vor dem BVerwG verhandelten Fall berufen (Phase 3 der Lehr-Lernsequenz). 26 Weite Kleidung, mit Klammern befestigtes Kopftuch, Befreiung von Übungen, mögliche Leistungsbewertung. 27 Die „muslimische Schülerin“ bestätigt, dass sie in diesem Fall keine Berührungsprobleme hätte und normale Sportkleidung trüge. 28 Es wird die Befürchtung geäußert, dass eine Geschlechtertrennung auch für die spätere berufliche Zusammen-arbeit mit dem anderen Geschlecht von Nachteil sein kann: „Vielleicht weigert sie sich dann später, mit Männern zu arbeiten.“ Darauf die „muslimische Schülerin“: „Ich arbeite auch mit Jungen im Unterricht zusammen. Mein Problem sind die sportlichen Übungen mit Jungen.“

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Trennung (pro: geschlechtsspezifische Hemmungen umgehen; Interessenausgleich; keine Beeinträchtigung des Glaubens; der Schulpflicht nachkommen; kontra: geschlechtsdiskrimi-nierend), Koedukation (Förderung des Sozialverhaltens; Abbau von Hemmungen), und Theoriearbeit (pro: Ersatzleistung; Referate als Profit für alle; Blöße und Kontakt mit Jun-gen fallen weg; kontra: Präzedenzfall; keine sportliche Betätigung; dem Sozialverhalten ab-träglich; Sport als Ablenkung vom Schulstoff).

Die Vor- und Nachteile werden während der Erstellung des Tafelbildes weiterhin kontrovers diskutiert, ohne dass ein Fortschritt in der Entscheidungsfindung erkennbar wäre. Erst ein auf eigenen Erfahrungen beruhender Vorschlag aus dem Plenum (Einzeltraining, z.B. auf einem Fahrrad im Nebenraum zur körperlichen Ertüchtigung, ansonsten Hilfsarbeiten wie Messun-gen bei Leichtathletik, Schiedsrichtertätigkeit etc.) bewirkt zwar keine mehrheitliche Zustim-mung, überzeugt drei Teilnehmer wohl aber durch die Perspektive, diverse Vorteile der unter-schiedlichen Alternativen unter einen Hut bringen zu können:

Entscheidung nach der Rollenkonzeption

Entscheidung nach dem Diskurs

Antrag wird gewährt, Befreiung: Direktor, muslimische Schülerin

Antrag wird zurückgewiesen, Teilnahmepflicht: Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzender

Elternbeiratsvorsitzender

Antragsgründe werden abgemildert durch Rücksicht auf Bekleidungsvorschriften: Sportlehrer

Sportlehrer

Antrag wird gegenstandslos durch Aufgabe des Koedu-kationsprinzips: Juristin

Juristin

Einzeltraining mit Hilfsarbeiten und Theorie: muslimische Schülerin, Direktor, Schulsprecherin

Abb. 5: Entscheidungen nach der Rollenkonzeption und nach dem Diskurs

Das Ergebnis, so die Moderatorin, verdeutliche eine „Veränderung“: die Schülerin müsse nicht am koedukativen Unterricht in der bisherigen Form teilnehmen und werde nicht befreit. 4.5 Diskurs 5

Phase 1: Die Moderatorin informiert über den geplanten Ablauf der Diskussion, bittet die Rollenträger, zunächst nur ihre Position ohne Begründungen mitzuteilen und hebt die Er-wünschtheit der Änderung des (zunächst) zu vertretenden Rollenstandpunktes im Fall über-zeugenderer Argumente hervor. Alle Diskutanten halten sich an die Anweisung. Die Span-nungsfelder, innerhalb deren sich der Konflikt bewegt, sind noch nicht erkennbar.

Phase 2: Die „muslimische Schülerin“ begründet ausführlich ihren Antrag unter explizitem Ausschluss von Kompromisslösungen (weite Kleidung, zusammengebundenes Kopftuch etc.). Einschränkend betont sie jedoch, nicht gänzlich vom koedukativen Unterricht befreit werden zu wollen, da dies eine unrechtmäßige Bevorzugung sei, und erklärt ihre Bereitschaft zur re-gelmäßigen Anwesenheit, zu Ersatzleistungen wie Theoriearbeiten und Prüfungen.

Die „Juristin“ klärt über die Rechtslage auf und entfaltet das Spannungsfeld, in dem dieser Fall rechtlich angesiedelt ist: zwischen Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit einerseits und der Schulpflicht andererseits. Mit ihrem Vorschlag, den Unterricht nach Geschlechtern zu trennen, möchte sie eine „sinnvolle Alternative zur Diskussion stellen“. Nach einem kurzen

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Diskurs über die Vor- und Nachteile des Koedukationsprinzips im Sport argumentiert die „muslimische Schülerin“ gegen eine Geschlechtertrennung mit den folgenden Begründungen:

eines so von ihr nicht angestrebten unangemessen großen Aufwands für die Schule, der Befürchtung einer verstärkten Außenseiterposition, da die Klasse nur ihretwegen ge-trennt würde, und es, auch wenn die Mitschüler das „nach außen“ nicht so zeigten, „zu ganz großen Verwerfungen kommen würde“, sowie der Nichtteilnahme an einem getrennten Unterricht auch dann, wenn er zum normalen Schulangebot zählte, wegen ihrer Bekleidung: Sie müsse die Bekleidung nicht anziehen, son-dern sie sei „erst [dann] ich. Es ist […] keine Qual für mich, ich will das tragen!“

Sie wiederholt ihr Angebot zur weiteren Anwesenheit im Unterricht, zu Theoriearbeit und zur Bereitschaft, Klausuren zu schreiben, um eine Leistungsbewertung zu erhalten. Die Frage, ob ihre Religion grundsätzlich den Sport verbiete, verneint sie: die im Sportunterricht angestrebte körperliche Ertüchtigung pflege sie im privaten Bereich. Zu Hause könne sie eine andere Kleidung tragen, die ihr eine sportliche Betätigung besser ermögliche als im Rahmen der Klasse. Sie bejaht, dass es für sie ein Problem sei, wenn andere Mädchen, auch Muslimas, sie in Sportkleidung sähen: „Der einzige, der mich in anderer Form sehen kann, ist später mein Ehemann.“

In dieser zweiten Phase wird so nicht nur das in das interkulturelle Spannungsfeld eingeführt, sondern auch deutlich, dass es für die Schülerin nur die von ihr vorgeschlagene Lösung ihres Problems gibt. Diese Erkenntnis leitet über in die dritte Phase.

Phase 3: Der Schülerin wird vorgeworfen, dass sie sich auf keine der ihr angebotenen Lösun-gen einlassen will. Sie setzt dagegen, dass auch niemand auf ihren Wunsch eingehe, die An-gelegenheit „möglichst klein zu halten“. Die Konsequenzen eines Präzedenzfalles – „Es gibt viele muslimische Mädchen an der Schule. Das zieht einen Rattenschwanz nach sich. […] Dann sitzen auf einmal zehn auf der Bank! Wie will man da noch einen angemessenen Sport-unterricht machen?“ – wird mit dem Verweis auf ihren Einzelfall zurückgewiesen: „Andere haben keinen Antrag gestellt. […] Es geht um mich! […] Es ist auch eine Form von Stärke, die ich zeigen will. Auch meinen Eltern gegenüber.“ Die Möglichkeit weiterer Befreiungsan-träge aus nicht religiösen Motiven weist sie mit dem Argument zurück, diese Schüler sähen es vermutlich als viel größere Belastung an, Theoriearbeit mit anschließender Klausur zu leisten, „sie würden das gar nicht wollen.“ Sie verstehe den Diskussionsaufwand angesichts ihrer „kleinen Bitte“ nicht, die sie lautstark wiederholt. Den erneuten Vorschlag, einen nach Ge-schlechtern getrennten Unterricht, wie auch an anderen Schulen üblich, nicht nur ihretwegen einzuführen, weist sie wiederum zurück: „Aber ich wäre jetzt der Auslöser!“ Der nochmalige Vorwurf, es sei keine andere Alternative von ihr aus erkennbar, wird von ihr bestätigt, nicht ohne erneut darauf hinzuweisen: „Es kann kein Problem sein, mir das zu gewähren! […] Auch wenn wir getrennt sind, nur Mädchen, kann ich das nicht.“ Der Verweis auf religiöse Pflichten auch bei Jungen – Mädchen sollten sich „entsprechend dem Koran […] kleiden, und was ist mit den Jungen, bitte? Sie sollen ihre Blicke senken! Ich finde es total ungerecht, die Mädchen wollen vom koedukativen Unterricht befreit werden, und was ist mit den Jungen? Warum hat hier keiner Gewissensbisse? Das ist gegen die Gleichberechtigung!“ – wird von der „muslimischen Schülerin“ als nicht entscheidungsrelevant angesehen: „Es geht um mich!“

Phase 4: Eine längere Gesprächspause indiziert Ratlosigkeit. Es wird vorgeschlagen, der Klasse die angebotenen Alternativen vorzutragen und dann abstimmen zu lassen. Das Plenum wird einbezogen und als „Klasse“ definiert. Im Podium bereits vorgetragene Argumente wie z.B. die theoretische Ersatzleistung werden aufgegriffen, bleiben jedoch unkommentiert. Die Frage, warum sich die Eltern nicht vorab über den Sportunterricht an der Schule informiert und daraus entsprechende Konsequenzen in Form einer alternativen Schulwahl gezogen ha-ben, wird mit einer Gegenfrage beantwortet: „Soll die Schule nach religiösen Aspekten aus-

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gewählt werden??“ Die Antwort darauf – „Wenn meine Eltern ein gehbehindertes Kind hät-ten, würden sie es auch nicht auf ein Sportgymnasium schicken.“ – führt zur Eskalation. Die „muslimische Schülerin“ schreit: „Ich hab doch gute Noten! Das kann doch wohl nicht sein! Ich bin keine schlechte Schülerin! Es geht nur um den Sportunterricht!“ Das weitere Gespräch läuft wie folgt ab: „Du musst nicht mit den Jungen zusammen Sport machen. Das verstehe ich ja. Aber Du willst nur Deinen Wunsch durchsetzen, auf eine Alternative lässt Du Dich gar nicht ein!“ Darauf die „muslimische Schülerin“: „Ich will ihn nicht durchsetzen, sondern ge-währt bekommen!! Gewährt!!“ Es sei nur ein „Anliegen, um meinem Glauben gerecht zu werden.“ Sie fühlt sich „angegriffen“. Sie müsste es „hinnehmen, die Schule wegen einer so kleinen Sache zu wechseln.“ Der Vorwurf, sie sei „nicht bereit, auf die anderen einzugehen“, wird nochmals erhoben, der Entschluss zum Schulwechsel nochmals betont.

Entscheidungsphase

Die Phase wird dominiert von Bedauern, Verständnis- und Hilflosigkeit, einseitiger Schuld-zuweisung; sie verdeutlicht die Unversöhnlichkeit der Positionen der Schülerin einerseits und der übrigen Diskursteilnehmer andererseits sowie das Misslingen einer Entscheidungsfindung. Der „Direktor“ bekundet: „Es ist schade, wenn Du denkst, diese Entscheidung treffen zu müs-sen. […]Aber dass Du Dich in diesem Fall so stur stellst, hätte ich nicht erwartet.“ Der Vor-schlag, die Schülerin solle noch einmal darüber nachdenken, mit ihren Eltern reden, wird vom „Direktor“ aufgegriffen, nicht ohne die eigene Sprachlosigkeit zu betonen: „Wir können uns gern noch einmal unterhalten, auch mit der Klasse. Das würde ich für sinnvoll halten. Aber mir fehlen die Worte.“ Der Diskurs endet mit der Zusicherung, der „Sportlehrer“ und der „Di-rektor“ blieben Ansprechpartner für die Schülerin, und der Bekundung der Bereitschaft zu Gesprächen zwischen ihren Eltern und Lehrern:

Entscheidung nach der Rollenkonzeption

Entscheidung nach dem Diskurs

Antrag wird gewährt, Befreiung: Direktor, muslimische Schülerin

Antrag wird zurückgewiesen, Teilnahmepflicht: Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzender

Antragsgründe werden abgemildert durch Rücksicht auf Bekleidungsvorschriften: Sportlehrer

Antrag wird gegenstandslos durch Aufgabe des Koedu-kationsprinzips: Juristin

Für einen Schulwechsel: muslimische Schülerin Zu weiteren Gesprächen bereit: Direktor, Sportlehrer, Juristin, Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzender

Abb. 6: Entscheidungen nach der Rollenkonzeption und nach dem Diskurs 4.6 Diskurs 6

Phase 1: Der Moderator informiert über den geplanten Ablauf der Diskussion und bittet die Rollenträger, zunächst nur ihre Position mitzuteilen, ohne sie zu begründen. Dies sei der Dis-kussion vorbehalten. Mehrheitlich halten sich die Teilnehmer an seine Anweisung. Die Span-nungsfelder, innerhalb deren sich der Konflikt bewegt, sind noch nicht erkennbar.

Phase 2: Der „Direktor“ verweist auf das verfassungsmäßige Recht der Eltern auf die Erzie-hung ihrer Kinder sowie Art. 4 GG und schließt einen Teilnahmezwang aus. Die Schülerin bleibe in die Schule integriert, da sie am sonstigen Unterricht teilnehme. Er votiert für die Befreiung der Schülerin, da er den bewährten koedukativen Unterricht nicht aufgeben will.

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Die „muslimische Schülerin“ beruft sich ebenfalls auf die Rechtslage der Art. 3 und 4 GG und bekräftigt ihr Anliegen: „Teile meines Ichs beziehe ich aus Religion, ich wäre nicht mehr ich selber, eine schwache Person.“ Sie führt alle religiös begründeten Argumente für ihre Befrei-ung und gegen eine Teilnahme unter Berücksichtigung der Bekleidungsvorschriften rollen-konform aus.

Die weiteren in den Diskurs eingebrachten Argumente der Rollenträger belegen, dass die Spannungsfelder, innerhalb deren sich der Konflikt bewegt, erkannt werden: zwischen Schul-pflicht („Von anderen Fächern kann sie auch nicht befreit werden“) und Religionsausübungs-freiheit einerseits („Zwei Welten prallen aufeinander: Artikel 4 und Schulpflicht“) und In-tegration einschließlich der Vorteile einer Koedukation, Segregation („Ausschluss aus der Klassengemeinschaft“) und Assimilation („Sonderbehandlung ist nach Artikel 3 nicht ge-rechtfertigt“, „Anpassung an die Leitkultur ist notwendig“) andererseits.

Die „Juristin“ erklärt den „Widerspruch“ zwischen Religionsausübungsfreiheit und Schul-pflicht als einen „nur vermeintlichen“ und schlägt eine Geschlechtertrennung vor, die beide Grundrechte „in Einklang bringen“ könne. Der weitere Diskursverlauf zeigt, dass zunächst das zweite Spannungsfeld im Vordergrund steht.

Phase 3: Die „muslimische Schülerin“ greift die Anpassungsforderung auf: „Ich muss doch keine andere Religion annehmen!“ Dies wird verneint, jedoch auf die Bedeutung „einer Schulkultur“ hingewiesen und Unverständnis darüber geäußert, dass der integrationsfördernde Kompromiss – die Teilnahme am koedukativen Unterricht unter Rücksichtnahme auf die reli-giösen Überzeugungen (weite Bekleidung etc.) – „nicht möglich sein soll“. Die „muslimische Schülerin“ verteidigt ihr Befreiungsanliegen und hebt ihre gelungene Integration hervor (die Beherrschung der deutschen Sprache, ihre Selbstüberzeugtheit und ihr Selbstbewusstsein: „Ich ziehe Stärke aus meinem Glauben, ein Verzicht wäre ein Selbstbewusstseinsverlust.“).

Die dezidierte Zurückweisung des Kompromissvorschlags rückt die Frage nach der Ge-schlechtertrennung in den Vordergrund des Diskurses. Gegenargumente (eine „generelle Auf-spaltung“ führe zu Trennungen über die Klasse hinaus und produzierte eine „Jungen- und Mädchenschule“ innerhalb einer Schule) werden mit dem Verweis auf die Singularität des Faches zurückgewiesen („Es geht nur um den Sportunterricht.“; „Andere Fächer sind mit Sport so nicht vergleichbar, weil sie die Religion nicht verletzen.“). Die religiösen Überzeu-gungen müssten ernst genommen und die Grundrechte gegeneinander abgewogen werden.

Das vorläufige Fazit eines Rollenträgers lautet: Eine Zwangsteilnahme am koedukativen Un-terricht verbietet der Art. 4 GG. Die Teilnahme verbietet die Religion. Eine Trennung ist nicht mehrheitsfähig. Die Befreiung, obwohl sie den Ausschluss der Schülerin aus der Klassenge-meinschaft zur Konsequenz habe, sei die einzige Alternative: „Andere Möglichkeiten gibt es nicht.“

Phase 4: Die „Absurdität des Koran und seiner Vorschriften“ wird thematisiert und die Frage nach der Gültigkeit auch für das männliche Geschlecht am Beispiel des „Bruders“ der Schüle-rin gestellt. Die „muslimische Schülerin“ berichtet, auch ihr „Bruder“ nähme aus religiösen Gründen nicht am koedukativen Sportunterricht teil. „Das finde ich schön. Man denkt immer, Frauen würden unterdrückt. […] Bei meinem Bruder war es problemlos wegen des Art. 4, man kam ihm in seiner Schule entgegen. Warum ist das hier so ein Problem?“ Entgegen der plausiblen Erwartung, dass nun, wie im vorläufigen Fazit der dritten Phase bereits zum Aus-druck gebracht, die Befreiung (erneut) thematisiert wird, rückt die Geschlechtertrennung wie-der in den Fokus des Diskurses, da, so die Interpretation, nach einer Lösung gesucht wird, die einen schonenden Interessenausgleich zwischen allen Beteiligten ermöglicht.

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Phase 5: Die „muslimische Schülerin“ greift den Vorschlag der „Juristin“ nach einer Ge-schlechtertrennung auf und spricht sich unter Verweis darauf, dass sie nicht die einzige Mus-lima in der Klasse sei und, unter Bezug auf die Bibel, „es sicher auch sehr christliche Schüle-rinnen und Schüler [gibt], die das auch wollen […] Das ist ähnlich wie im Koran“, ebenfalls dafür aus: sie nähme dann am Unterricht teil, ihr Antrag sei damit hinfällig.

Verschiedene Modelle der Geschlechtertrennung werden kontrovers diskutiert: eine klassen-spezifische Trennung wird abgelehnt und eine grundsätzliche Trennung ab der Mittelstufe vorgeschlagen, eine Trennung bereits in der Unterstufe („Ab Eintreten der Geschlechtsreife“) zurückgewiesen, als Alternative zur erwünschten, aber abgelehnten Trennung in der Oberstu-fe 29 ein speziell für Mädchen einzurichtender Sportkurs ins Gespräch gebracht. Es wird deut-lich, dass sich zunehmend mehr Diskutanten zu einer Trennung entschließen können.

Entscheidungsphase

Der Moderator fasst die Positionen und Argumente zusammen und leitet den Entscheidungs-vorgang ein, einen von mehreren langen Reflexionspausen begleiteten Prozess, der zuweilen eskaliert, vor allem zwischen dem „Sportlehrer“ („Yildiz drückt auf die Tränendrüsen wegen ihrer Religion“, und er schlägt einen Schulwechsel in der Oberstufe vor) und der „muslimi-schen Schülerin“ („Deshalb, wegen einer Lächerlichkeit, soll ich die Schule wechseln?“). Die Beiträge, auch die des einbezogenen Plenums, erschöpfen sich nicht in bloßen Wiederholun-gen bereits vorgetragener Argumente, sondern knüpfen an die sich abzeichnende Trennung als konsensfähige Alternative an und dokumentieren das Bemühen um eine vertiefende Refle-xion religiöser Überzeugungen ebenso wie die Bereitschaft zu eigenen Positionsänderungen. Der Beitrag des „Sportlehrers“, Einstimmigkeit könne erzielt werden, wenn man eine Tren-nung der Geschlechter in der Mittelstufe vornähme, und der Vorschlag, die Trennung als ei-nen „Probelauf“ anzusehen, aus dessen Erkenntnissen man Konsequenzen auch für einen ge-trennten Unterricht in der Oberstufe ziehen könne, erweist sich als konsensfähig:

Entscheidung nach der Rollenkonzeption

Entscheidungen nach dem Diskurs

Antrag wird gewährt, Befreiung: Direktor, muslimische Schülerin

Antrag wird zurückgewiesen, Teilnahmepflicht: Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzender

Antragsgründe werden abgemildert durch Rücksicht auf Bekleidungsvorschriften: Sportlehrer

Antrag wird gegenstandslos durch Aufgabe des Koedu-kationsprinzips: Juristin

Trennung in der Mittelstufe: Direktor, muslimische Schülerin, Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzen-der, Sportlehrer, Juristin

Abb. 7: Entscheidungen nach der Rollenkonzeption und nach dem Diskurs

Die „muslimische Schülerin beendet den Diskurs mit den Worten: „Ich muss sagen, erstmal dankeschön. Ich bin positiv überrascht, dass Sie sich den einen oder anderen Gedanken tiefe-rer Natur gemacht haben, und ich wäre auf jeden Fall damit einverstanden.“ 4.7 Diskurs 7

Phase 1: Der Moderator stellt den Fall vor und begründet die Einberufung der Diskussions-runde: „Wir werden darüber diskutieren, ob es gemacht werden kann, wie es gemacht werden

29 „Wenn es in Oberstufe keine Trennung gibt, muss ich die Schule wechseln. Das wäre traurig.“ („muslimische Schülerin“)

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kann oder ob es überhaupt gemacht werden sollte.“ Er bittet die Rollenträger, sich vorzustel-len und zunächst nur anzugeben, ob sie für oder gegen eine Befreiung sind. Die Teilnehmen-den halten sich nur bedingt an die Anweisung: mehrheitlich begründen sie ihre Positionen, allerdings weder der Rolle entsprechend vollständig noch mit der nötigen Präzisierung. Die Spannungsfelder, innerhalb deren sich der Konflikt bewegt, sind allerdings bereits erkennbar.

Phase 2: Mehrheitlich werden die unterschiedlichen Positionen durch die Diskursteilnehmer rollenentsprechend präzise begründet. Einen Diskursschwerpunkt bildet die Frage nach dem – unverständlichen – Zusammenhang von Religion und Sport: Religionsfreiheit müsse in der Schule als staatliche Einrichtung gewährleistet sein. Dies treffe auf den Religionsunterricht zu. Sport aber sei ein Unterrichtsfach wie die übrigen Fächer. Man könne „da nicht mit Reli-gion argumentieren“. Die „muslimische Schülerin“ erläutert den Zusammenhang aus ihrer (rollenkonformen) Sicht, begründet, warum die Rücksicht auf ihre religiösen Überzeugungen durch weite Kleidung bzw. Befreiung von bestimmten Übungen für sie nicht akzeptabel ist und übt an den bisher geäußerten Argumenten Kritik: Man konzentriere sich zu sehr auf „Ein-zelaspekte“ und lasse außer Acht, dass es sich um „ein ganzes Bündel, einen Komplex von Dingen“ handele, „die mich dazu veranlasst haben, die Befreiung zu beantragen bzw. meine Eltern.“ Im übrigen gäbe es keinen Religionsunterricht für muslimische Schüler und somit auch keine Entscheidungsmöglichkeit zur (Nicht)Teilnahme. Sie besuchten ihrer Erfahrung nach dann den Ethikunterricht oder gingen in die Bibliothek – hier werde eine Nichtteilnahme am Unterricht bzw. eine Befreiung zugelassen. Es wird zugestanden, dass es sich hierbei um ein „strukturelles Problem der Schule“ handelt und der deutsche Staat es versäumt habe, rechtzeitig für einen Religionsunterricht für Muslime zu sorgen.

Der sich anschließende Diskursschwerpunkt konzentriert sich auf die Frage nach den Gründen für die Widerständigkeit der Diskursteilnehmer gegenüber einer Befreiung. Genannt wird die „Angst vor der Konsequenz, was passiert, wenn die Schülerin ausgeschlossen wird“, z.B. die Befürchtung inflationsartig ansteigender Befreiungsanträge. Weitere Gründe sind die Gefähr-dung der Klassengemeinschaft und Erfahrungsdefizite der Schülerin 30, die auch nicht durch den von der „muslimischen Schülerin“ mit positiven Beispielen zu ihrer eigenen Integriertheit und der ihrer Eltern aufgegriffenen Hinweis, eine Befreiung vom Sportunterricht sei „kein erster Schritt zu einer Parallelgesellschaft“, entkräftet werden können.

Phase 3: Diskursschwerpunkt in dieser Phase ist die Alternative einer Geschlechtertrennung. Die „muslimische Schülerin“ lehnt ihre Teilnahme auch an einem reinen Mädchenunterricht ab. Sie hält sich damit streng an den Wortlaut des der Rollenbeschreibung beigefügten Aus-zugs aus den Bekleidungsvorschriften des Islamischen Zentrums Aachen (Bilal-Moschee) e. V., die im tatsächlichen Fall (Phase 3 der Lehr-Lernsequenz) Bezugspunkt für die bis zum BVerwG klagende Schülerin war.

Entscheidungsphase

Der Moderator bittet jeden Diskursteilnehmer um die Beantwortung der Frage, welchen Kompromiss er bereit sei einzugehen. Das Ergebnis, in das ein neuer Vorschlag aus dem Ple-num einbezogen wird – eine muslimische Mädchengruppe zu bilden, in der Sportarten ange-boten werden, die mit der religiös angemessenen Kleidung vereinbar sind – dokumentiert, dass mit Ausnahme zweier Teilnehmer die Rollenträger ihre ursprünglichen Entscheidungen aufrecht erhalten haben und eine Mehrheitsentscheidung nicht erzielt wurde:

30 „Ich sehe Klasse als eine Gemeinschaft an. In dem Moment, wo sich eine Schülerin oder ein Schüler dieser Gemeinschaft entzieht, und sei es auch nur in einem Fach, geht der Gemeinschaft ein wichtiger Bestandteil ver-loren. Yildiz macht […] nicht die gleichen Erfahrungen wie ihre Klassenkameraden, da bleibt einiges auf der Strecke, was […] ich nicht verantworten kann. Es wird niemand aus der Klasse ausgeschlossen, aus keinem Grund!“

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Entscheidung nach der Rollenkonzeption

Entscheidung nach dem Diskurs

Antrag wird gewährt, Befreiung: Direktor, muslimische Schülerin

Direktor, muslimische Schülerin

Antrag wird zurückgewiesen, Teilnahmepflicht: Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzender

Antragsgründe werden abgemildert durch Rücksicht auf Bekleidungsvorschriften: Sportlehrer

Sportlehrer

Antrag wird gegenstandslos durch Aufgabe des Koedu-kationsprinzips: Juristin

Juristin, Elternbeiratsvorsitzender

muslimische Mädchengruppe: Schulsprecherin

Abb. 8: Entscheidungen nach der Rollenkonzeption und nach dem Diskurs

5. Zusammenschau der Ergebnisse

Das Planspiel wurde als Podiumsdiskussion in sechs Seminarveranstaltungen mit Lehramts-studierenden sowie bei einer internationalen Fachtagung durchgeführt und videoaufgezeich-net. Die Rollenbeschreibungen wurden anhand zuvor festgelegter Kriterien konzipiert. Diese orientierten sich an in diesem Spezialfall möglichen Entscheidungsausgängen und ihren Kon-sequenzen sowie deren Beurteilung aus interkultureller und juristischer Perspektive.

Der Rollenkonzeption entsprechend votierten 33,3% (N=42) der Diskursteilnehmer (zu-nächst) für eine Befreiung der muslimischen Schülerin vom koedukativen Sportunterricht, 33,3% für eine bedingungslose weitere Teilnahme, 16,7% für eine Teilnahme unter abgemil-derten Bedingungen sowie ebenfalls 16,7% für eine Trennung der Geschlechter. Vergleicht man die Entscheidungen, wie sie nach der Rollenkonzeption vorgesehen waren, mit den Ent-scheidungen der Rollenträger nach den Diskursen, dann zeigt sich, dass nach den Diskursen nur noch 4,8% für eine Befreiung votierten, 9,5% für eine bedingungslose weitere Teilnahme, 16,7% für eine Teilnahme unter abgemilderten Bedingungen, 33,3% für eine Geschlechter-trennung bzw. vergleichbar viele Diskursteilnehmer (35,7%) für nicht in den Rollenkonzepti-onen vorgesehene Lösungen (Lösungsfindung mit der Klasse, weitere Gespräche, Einzeltrai-ning mit Hilfsarbeiten und Theorie, Bildung einer muslimischen Mädchengruppe sowie Schulwechsel), wobei sich letztere mehrheitlich (66,7%) streng genommen als Entschei-dungsaufschub interpretieren lassen. Eine Verschiebung der Entscheidungen hat demnach vor allem von der Befreiung und der bedingungslosen Zurückweisung des Antrags hin zur Ge-schlechtertrennung und zu alternativen Lösungen mit der Einschränkung des Entscheidungs-aufschubs stattgefunden.

Entscheidung nach der Rollenkonzeption

%

Entscheidung nach den Diskursen

%

Antrag wird gewährt: Befreiung

33,3

Antrag wird gewährt: Befreiung

4,8

Antrag wird zurückgewiesen: Teilnahmepflicht

33,3

Antrag wird zurückgewiesen: Teilnahmepflicht

9,5

Antragsgründe werden abgemildert

16,7

Antragsgründe werden abgemildert

16,7

Antrag wird gegenstandslos: Aufgabe der Koedukation

16,7

Antrag wird gegenstandslos: Aufgabe der Koedukation

33,3

Weitere Alternativen

35,7

Abb. 9: Entscheidungen der Teilnehmer (N=42) nach der Rollenkonzeption und nach den Diskursen

Legt man die Abbildung 10 zugrunde, dann zeigt sich, dass über alle Diskurse hinweg nur knapp ein Drittel (31%) der Teilnehmer ihre Entscheidung nach deren Beendigung so traf, wie es in der jeweiligen Rollenkonzeption vorgesehen war:

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Entscheidung nach Rollenkonzeption

nach Diskurs 1

nach Diskurs 2

nach Diskurs 3

nach Diskurs 4

nach Diskurs 5

nach Diskurs 6

nach Diskurs 7

Antrag wird gewährt, Befreiung: Direktor, muslimische Schülerin

Direktor, mus-limische Schüle-rin

Antrag wird zurückgewiesen, Teilnah-mepflicht: Schulsprecherin, Elternbeirat

Elternbeirat

Schulsprecherin, Elternbeirat

Elternbeirat

Antragsgründe werden abgemildert, Rücksicht auf Bekleidung etc.: Sportlehrer

Direktor, Juris-tin, Sportlehrer, Schulsprecherin

Direktor

Sportlehrer

Sportlehrer

Antrag wird gegenstandslos, Aufgabe der Koedukation: Juristin

muslimische Schülerin

muslimische Schülerin, Juris-tin, Sportlehrer

muslimische Schülerin

Juristin

Trennung in der Mittelstufe: Direktor, mus-limische Schüle-rin, Schulspre-cherin, Eltern-beirat, Sportleh-rer, Juristin

Juristin, Eltern-beirat

Für Lösung mit Klasse: Sport-lehrer, Juristin, Direktor, Schul-sprecherin, Elternbeirat [letzterer: Be-reitschaft zu Lösung, bei der alle Schüler gleichermaßen zur (Nicht) Teilnahme be-rechtigt sind]

Einzeltraining mit Hilfsarbei-ten und Theorie: muslimische Schülerin, Di-rektor, Schul-sprecherin

Für Schulwech-sel: muslimische Schülerin Für weitere Gespräche: Direktor, Sport-lehrer, Juristin, Schulsprecherin, Elternbeirat

muslimische Mädchengruppe: Schulsprecherin

Abb. 10: Entscheidungen nach der Rollenkonzeption und nach den Diskursen

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Die Mehrheit der Rollenträger hat demnach ihre Rollenposition im Verlauf der Diskurse auf-gegeben 31.

Eine einstimmige Entscheidung wurde nur in einem Diskurs getroffen: zugunsten einer Ge-schlechtertrennung in der Mittelstufe mit der Option einer Trennung auch in der Oberstufe für den Fall positiver Rückmeldungen, eine Lösung, die einen schonenden Interessenausgleich unter allen Beteiligten herbeiführt, wie es sich im Urteil des BVerwG’s widerspiegelt. In drei Diskursen kamen Mehrheitsentscheidungen zustande, drei Diskurse endeten in einem Ent-scheidungspat.

Eine Leitfrage für die Auswertung der Diskurse lautete: Lassen sich Merkmale identifizieren, die einen wesentlichen Impuls für die Setzung von Diskursschwerpunkten und die Diskurs-verläufe darstellen, und die einen Einfluss auf die Diskursergebnisse haben könnten? Dieser Frage wird im Folgenden unter zusätzlicher Berücksichtigung der Bedeutung, die den beiden Spannungsfeldern (siehe S. 5) im Diskurs zukommt, nachgegangen.

In drei Diskursen wird die Diskursrichtung von Beginn an durch je einen Rollenträger vorge-geben (Diskurse 1, 4, 5). Im ersten Diskurs handelt es sich um eine aufgestellte These, die besagt, dass eine Kompromisslösungsfindung – die Integration der muslimischen Schülerin in Bestehendes bei gleichzeitiger (Be)Achtung ihrer moralischen Werte – nicht realisierbar sei. Diese These hat offenkundig einen so starken Aufforderungsgehalt, dass Argumente, die sie kritisch hinterfragen und den Diskurs in eine andere Richtung hätten lenken können, ebenso wenig aufgegriffen werden wie ein alternativer, die Grundrechte betreffender und von der Schülerin akzeptierter Lösungsvorschlag. Die Teilnehmer sind vielmehr um die Entkräftung der These bemüht mit der Folge, dass der Diskurs in der vergeblichen Suche nach einem trag-fähigen Kompromiss haften bleibt. Die Bearbeitung des Konflikts findet fast ausschließlich im Spannungsfeld zwischen Integration, Assimilation und Segregation statt. Die Generierung eines gemeinsamen Oberziels zur Transzendierung des Konflikts misslingt. Am Ende des Diskurses entscheidet sich die Mehrheit für einen Kompromiss, von dem sie selbst nicht über-zeugt ist.

Auch die Diskurse 4 und 5 bewegen sich wesentlich im Spannungsfeld zwischen Integration, Segregation und Assimilation. Impulsgeberin für die Diskursrichtung ist in beiden Diskursen von Beginn an die „muslimische Schülerin“. Sie legt die Bekleidungsvorschriften als ein ihre Identität konstituierendes Merkmal streng und wörtlich aus 32. Im fünften Diskurs setzt sie mit ihrem aus ihrer Sicht problemlos zu gewährenden einzigen Kompromissangebot als Alternati-ve zur Befreiung 33 den Maßstab, an dem alle anderen Lösungsvorschläge scheitern. Es folgen

31 Von jenen Teilnehmern, die zunächst gemäß ihrer Rolle für eine Befreiung votierten, wechselten die meisten hin zur Geschlechtertrennung (fünf), ferner zu einem Einzeltraining (zwei), zur Abmilderung der Antragsgründe (zwei) sowie zu weiteren Gesprächen (zwei), nur eine Person entschied sich für einen Schulwechsel. Von einer bedingungslosen Zurückweisung gemäß der Rollenposition wechselten vier Personen zu weiteren Gesprächen (auch mit der Klasse), drei Personen zu einer Trennung und je eine Person zur Abmilderung der Bedingungen, zum Einzeltraining sowie zur Bildung einer muslimischen Mädchengruppe. Nur wenige Teilnehmer wechselten von der Teilnahme unter abgemilderten Bedingungen hin zur Trennung bzw. zu weiteren Gesprächen (je zwei) sowie von einer Trennung zu weiteren Gesprächen (zwei) bzw. zur Abmilderung der Bedingungen (eine Person). Die „muslimische Schülerin“ wechselte in der Mehrheit der Diskurse von ihrem Anliegen auf Befreiung hin zur Geschlechtertrennung. In keinem Diskurs erfolgte ihre Entscheidung zugunsten einer bedingungslosen bzw. einer Teilnahme unter Berücksichtigung ihrer religiösen Überzeugungen. 32 Auch in Diskurs 7 hält sich die „muslimische Schülerin“ streng an den Wortlaut der Bekleidungsvorschriften. Es entwickelt sich allerdings kein eskalierender Konflikt, aber es lässt sich auch kein erwähnenswerter Entwick-lungsfortschritt im Diskurs erkennen; die (Rollen)Entscheidungen werden trotz einer um Konsens bemühten, in den Rollenbeschreibungen nicht enthaltenen Alternative mehrheitlich beibehalten. 33 Angebot der weiteren Anwesenheit im Unterricht, der Theoriearbeit und der Bereitschaft, Klausuren zu schreiben, um eine Leistungsbewertung zu erhalten.

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Schuldzuweisungen an die Schülerin durch die übrigen Teilnehmer, sie unter Druck zu setzen, sowie eine Eskalation des Konflikts, der mit der Entscheidung der Schülerin zu einem Schul-wechsel sowie der mit Verständnis- und Hilflosigkeit begleiteten Bekundung der Bereitschaft der übrigen Teilnehmer zu weiteren Gesprächen unbewältigt bleibt. Die Interpretation liegt nahe, dass nicht Sachargumente für das Ergebnis ausschlaggebend sind, sondern dass sich die Mehrheit nicht vorschreiben lassen will, wie sie sich zu entscheiden hat. Im vierten Diskurs besteht die Schülerin hingegen auf einer Befreiung vom Sportunterricht, andernfalls würde sie die Schule beenden. Auch in diesem Diskurs sehen sich die Teilnehmer unter Druck gesetzt und das anzustrebende Ziel einer gemeinsamen Lösungsfindung angesichts der Kompromiss-losigkeit der Schülerin als nicht erreichbar an. Der Versuch, die Schülerin von der Sinnhaf-tigkeit einer weiteren Teilnahme auch unter dem Zugeständnis abgemilderter Bedingungen zu überzeugen, um sie vor einem Ausschluss zu bewahren, mündet in einen eskalierenden Kon-flikt mit gegenseitigen Vorwürfen der Intoleranz. Obwohl die Schülerin schließlich den Vor-schlag einer Geschlechtertrennung als Alternative zur Befreiung akzeptiert, erweist sich dieser als nicht mehrheitsfähig. Erst ein am Ende des Diskurses aus dem Plenum eingebrachter Im-puls bewirkt zwar keine mehrheitliche Zustimmung, ist jedoch für drei Teilnehmer einschließ-lich der Schülerin eine Alternative 34 zur Befreiung bzw. Teilnahmepflicht.

Auch in einem weiteren Diskurs (Diskurs 2) wird die Dynamik des Diskursverlaufs von Be-ginn an maßgeblich bestimmt durch Impulse, in diesem Fall jedoch von zwei Impulsgebern: der „Juristin“ und der „muslimischen Schülerin“. Beide Rollenträger haben Schlüsselpositio-nen inne: erstere sorgt dafür, dass die Verfassungsebene mit den zwei prinzipiell gleichgeord-neten Grundrechten nicht aus dem Blick gerät, indem sie Argumente immer unter der Rechts-perspektive aufgreift und auch entkräftet. Letztere vermittelt einen nachvollziehbaren Ein-blick in die Entwicklung einer eigenen religiösen Identität im Spannungsfeld zwischen Assi-milation, Integration und Segregation. Beide Rollenträger nehmen jeweils aufeinander Bezug und dokumentieren so in ihrem Zusammenspiel die Verschränkungen der beiden Spannungs-felder. Auch ohne Mehrheitsentscheidung zeichnet sich der Diskurs durch den Wechsel der Perspektiven, die vertiefte Bearbeitung der Grundrechts- ebenso wie der individuellen Ebene und die Eröffnung neuer Diskursräume aus.

Anders als in den bisher abgehandelten Diskursen wird der Verlauf zweier weiterer Diskurse (Diskurse 6 und 3) nicht von Impulsgebern richtungsweisend vorgegeben. Die Teilnehmer arbeiten vielmehr sukzessiv diverse Konfliktlösungsmöglichkeiten durch. Kriterien für deren Beurteilung werden in Diskurs 6 aus unterschiedlichen Quellen herangezogen: dem Grundge-setz, den religiösen Überzeugungen der Schülerin, der mangelnden Mehrheitsfähigkeit eines Lösungsvorschlags. Das Bemühen um eine vertiefende Reflexion religiöser Überzeugungen ebenso wie die Bereitschaft zu eigenen Positionsänderungen ermöglicht eine von der „musli-mischen Schülerin“ mit Dank an die Diskursrunde verbundene konsensische Lösung. Im drit-ten Diskurs ist die mangelnde Mehrheitsfähigkeit das einzige Kriterium für die Ablehnung aller Vorschläge. Die Generierung eines gemeinsamen Oberziels zur Transzendierung des Konflikts misslingt. Die Entscheidung wird mit Ausnahme der muslimischen Schülerin, die für eine Geschlechtertrennung plädiert, zugunsten einer mit Enttäuschung registrierten Verta-gung der Lösungsfindung mit der Klasse getroffen.

Es ist eine schwierig zu beantwortende Forschungsfrage, ob und wenn ja, welchen Einfluss die Setzung von Diskursschwerpunkten und die Diskursverläufe auf die Diskursergebnisse gehabt haben könnten. Dass es sich dabei um ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren handelt, und dass ein Diskursergebnis für sich genommen nicht zwangsläufig etwas aus über die Qualität eines Diskurses aussagt, belegt auch diese Untersuchung. Mit aller gebotenen

34 Einzeltraining während des Unterrichts mit Hilfstätigkeiten und theoretischen Arbeiten.

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Vorsicht lässt sich, bezogen auf den hier diskutierten spezifischen Inhalt, festhalten, dass we-sentlich folgende Merkmale auf die Diskursver läufe und -ergebnisse eine umso förderlichere Auswirkung haben dürften, je stärker die beiden Spannungsfelder, innerhalb deren sich der Konflikt bewegt – zwischen Schulpflicht und Religionsausübungs freiheit einerseits und Inte gration, Segregation und As-similation andererseits – im Blick behalten und aufeinander bezogen werden, je systematischer die unters chiedlichen Konfliktlösungsmöglichkeiten nach verschiedenen Beurteilungskriterien durchgearbeitet werden, je weniger sich die Diskutanten von Impulsgebern auf eine bestimmte Diskursrichtung fest-legen lassen, und je mehr die Diskutanten um die Generierung eines gemeinsames Oberzieles zur T ranszen-dierung des Konflikts bemüht sind.