Dr. Jonathan Swift - Meine Liebe gilt dem Einzelnen - Erinnerung

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„Meine Liebe gehört dem Einzelnen" Die irdische Höllenreise des Dr. Jonathan Swift - Zum 250. Todestag eines “Nestbeschmutzers" / Michael Winter Am Beginn des 18. Jahrhunderts, so um das Jahr 1704, betrat ein unbekannter irischer Landpfarrer eines der Londoner Kaffeehäuser, die nach dem Ende der Puritanerherr- schaft wie Pilze aus dem Boden der City geschossen und sofort zum Sammelplatz der politischen, mondänen und literarischen Welt geworden waren. Der Mann, der mit dem Schritt über die Schwelle eines Cafés nicht nur vor der englischen Gesellschaft seiner Zeit, sondern auch vor aller Nachwelt ins Rampenlicht trat, fiel sowohl durch seinen Witz und exzentrischen Humor als auch durch seine brüskierende Scharfzüngigkeit auf. Jonathan Swift war kein Greenhorn mehr, als er sich mit Mitte Dreißig unter die Lon- doner Literaten mischte. Er war mit dem bedeutenden Schriftsteller John Dryden ver- wandt, mit dem späteren Romancier William Congreve zur Schule gegangen, war im Hause Sir William Temples, eines der einflußreichsten Diplomater der Zeit aufgewachsen und dort Wilhelm von Oranien vorgestellt worden. Er war bereits die erste Stufe in der Kirchenhierarchie hinaufgeklettert, der einzigen Karriereleiter, die einem mittellosen Waisenkind offenstand, und hatte gerade - anonym - seine ersten satirischen Texte ver- öffentlicht, welche von der literarischen Welt mit Schenkelklopfen oder voller Entrüstung zur Kenntnis genommen wurden. Man rieb sich die Augen, Derart böse Hiebe auf den Literaturbetrieb, die Religion und die zeitgenössische Philosophie hatte bisher noch niemand auszuteilen gewagt. Da setzte einer zum Sturm auf den Fortschrittsgedanken an, ehe dieser in der Wissenschaft richtig Fuß gefaßt hatte, da führte einer Krieg gegen alles Moderne. Da zog ein No-name in die Schlacht gegen Bücher, als gerade einer der verheerendsten und längsten europäischen Kriege, der Spanische Erbfolgekrieg, ausgebrochen war. Da startete ein vollkommen unbekannter Schriftsteller einen Generalangriff auf die Literaturkritik und die kritische Vernunft überhaupt, ergriff Partei für längst widerlegte Autoren der Antike und verhöhn- te die Theorien der modernen Philosophen („Die Bücherschlacht"). Ein kleiner Landpfarrer aus dem letzten Winkel Irlands maßte sich an, in ironischem Ton mit Glaubensfragen, die ganze Reiche gespalten und für die Millionen ihr Leben gelassen hatten („Ein Tonnenmärchen"), seine Scherze zu treiben. Die einen schrien nach dem Pranger, an den man gerade noch Daniel Defoe, den Schöpfer „Robinsons", wegen einer ähnlichen Blasphemie gestellt hatte; die anderen bewunderten den Mut des Autors, dessen Name nicht lange geheim blieb. Wir aber, die wir im bitteren Bewußtsein der Dialektik der Aufklärung aufgewachsen sind, bewundern heute einen Mann, der ganz am Anfang dieses Zeitalters seine tiefe Skepsis gegen die reine Vernunft und ihre Glücks- versprechungen verkündet, als sei sein Fortschrittsglaube bereits durch Nazibarbarei und Atombombe erschüttert. Es könnte doch sein, gibt der satirische Anonymus in aller Bescheidenheit dem vernünf- tigen Leser zu bedenken, „daß der Wahnsinn ..., verursacht durch gewisse, von den niederen Regionen aufsteigende Dünste ..., der Vater all der gewaltigen Umwälzungen

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Verkannt + geschmaeht: eine Denkschrift zu einem der Urheber des kritischen Journalismus + hellsichtigen Satire-Autor gegen die fortgeschrittene, rassistisch-oekonomistische Nutzenreligion, spaeter identifiziert als Kapitalismus / Koennte es sein, dass „daß der Wahnsinn ..., verursacht durch gewisse, von den niederen Regionen aufsteigende Dünste ..., der Vater all der gewaltigen Umwälzungen gewesen sein muß, die es jemals im Staatswesen, in der Philosophie und in der Religion gegeben hat" ?

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„Meine Liebe gehört dem Einzelnen"

Die irdische Höllenreise des Dr. Jonathan Swift - Zum 250. Todestag eines “Nestbeschmutzers" / Michael Winter

Am Beginn des 18. Jahrhunderts, so um das Jahr 1704, betrat ein unbekannter irischer Landpfarrer eines der Londoner Kaffeehäuser, die nach dem Ende der Puritanerherr-schaft wie Pilze aus dem Boden der City geschossen und sofort zum Sammelplatz der politischen, mondänen und literarischen Welt geworden waren. Der Mann, der mit dem Schritt über die Schwelle eines Cafés nicht nur vor der englischen Gesellschaft seiner Zeit, sondern auch vor aller Nachwelt ins Rampenlicht trat, fiel sowohl durch seinen Witz und exzentrischen Humor als auch durch seine brüskierende Scharfzüngigkeit auf.Jonathan Swift war kein Greenhorn mehr, als er sich mit Mitte Dreißig unter die Lon-doner Literaten mischte. Er war mit dem bedeutenden Schriftsteller John Dryden ver-wandt, mit dem späteren Romancier William Congreve zur Schule gegangen, war im Hause Sir William Temples, eines der einflußreichsten Diplomater der Zeit aufgewachsen und dort Wilhelm von Oranien vorgestellt worden. Er war bereits die erste Stufe in der Kirchenhierarchie hinaufgeklettert, der einzigen Karriereleiter, die einem mittellosen Waisenkind offenstand, und hatte gerade - anonym - seine ersten satirischen Texte ver-öffentlicht, welche von der literarischen Welt mit Schenkelklopfen oder voller Entrüstung zur Kenntnis genommen wurden.

Man rieb sich die Augen, Derart böse Hiebe auf den Literaturbetrieb, die Religion und die zeitgenössische Philosophie hatte bisher noch niemand auszuteilen gewagt. Da setzte einer zum Sturm auf den Fortschrittsgedanken an, ehe dieser in der Wissenschaft richtig Fuß gefaßt hatte, da führte einer Krieg gegen alles Moderne. Da zog ein No-name in die Schlacht gegen Bücher, als gerade einer der verheerendsten und längsten europäischen Kriege, der Spanische Erbfolgekrieg, ausgebrochen war. Da startete ein vollkommen unbekannter Schriftsteller einen Generalangriff auf die Literaturkritik und die kritische Vernunft überhaupt, ergriff Partei für längst widerlegte Autoren der Antike und verhöhn-te die Theorien der modernen Philosophen („Die Bücherschlacht").

Ein kleiner Landpfarrer aus dem letzten Winkel Irlands maßte sich an, in ironischem Ton mit Glaubensfragen, die ganze Reiche gespalten und für die Millionen ihr Leben gelassen hatten („Ein Tonnenmärchen"), seine Scherze zu treiben. Die einen schrien nach dem Pranger, an den man gerade noch Daniel Defoe, den Schöpfer „Robinsons", wegen einer ähnlichen Blasphemie gestellt hatte; die anderen bewunderten den Mut des Autors, dessen Name nicht lange geheim blieb. Wir aber, die wir im bitteren Bewußtsein der Dialektik der Aufklärung aufgewachsen sind, bewundern heute einen Mann, der ganz am Anfang dieses Zeitalters seine tiefe Skepsis gegen die reine Vernunft und ihre Glücks-versprechungen verkündet, als sei sein Fortschrittsglaube bereits durch Nazibarbarei und Atombombe erschüttert.Es könnte doch sein, gibt der satirische Anonymus in aller Bescheidenheit dem vernünf-tigen Leser zu bedenken, „daß der Wahnsinn ..., verursacht durch gewisse, von den niederen Regionen aufsteigende Dünste ..., der Vater all der gewaltigen Umwälzungen

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gewesen sein muß, die es jemals im Staatswesen, in der Philosophie und in der Religion gegeben hat". Wie weit ist das entfernt von den Enzyklopädisten, von Kant, von Condor-cet? Wieviel näher kommt Swifts erschreckender Vorschlag, den Wahnsinn in den Dienst des Staates zu stellen, unserer Welterfahrung? Von Utopie-, von Fortschrittsgläu-bigkeit findet sich bei diesem heillosen Konservativen keine einzige Spur. Weil er nicht sehen wollte, daß die Menschheit unaufhaltsam ihrem Glück entgegenging, beschimpfte man ihn als Misanthrop und legte einen Gürtel schwarzer Anekdoten um ihn. Niemand hat die Menschen hundert Jahre vor dem Scheitern der Französischen Revolution so schonungslos über das Glück aufgeklärt, das ihnen die Utopien versprechen.

Swift ist ein Spieler, und er spielt leidenschaftlich Versteck mit seinen Lesern. Das hat ihm die Nachwelt, das haben ihm diejenigen, die Texte nur wörtlich nehmen können und keinen Sinn haben für das verneinende Ja und das bejahende Nein der Satire und den plötzlichen Wechsel von Satire und Ernst, am meisten übelgenommen. So wurde er für die Nachwelt zum Menschenfeind und zum Nestbeschmutzer der ganzen Menschheit. Die Viktorianer stilisierten ihn zum Monster, das in Exkrementen wühlte und die Welt mit Schmutz bewarf.Die Angst vor Swift wirft ihre Schatten bis in unser Jahrhundert. Swift verfälsche das ganze Weltbild, weil er im menschlichen Leben nichts als Schmutz, Narrheit und Ver-derbtheit sehen wolle, schrieb George Orwell. Am schlimmsten haben diesem Mann, der wie kaum ein anderer am Elend der Menschen litt und sich über das Unrecht, das ihnen von ihresgleichen geschah, zutiefst empörte, diejenigen mitgespielt, die aus seiner Welt der Anklage nur die ersten beiden Teile des „Gulliver" nahmen und sie zu einem Kinder-buchklassiker verunstalteten. Unter dem Dauererfolg in den Kinderstuben blieb der wahre Autor bis weit in unser Jahrhundert vollkommen verschüttet.

Vielleicht ist erst unsere Zeit wieder bereit, Swifts radikalen Konservativismus zu ver-stehen, der etwas anderes ist als politische Rückständigkeit; nicht weniger schwer zu begreifen sind seine Widersprüche, die Vielschichtigkeit seiner Texte und vor allem seine furchtbare Angst, nicht vor den Menschen, sondern davor, von den Menschen verlassen zu sein.Swifts bitterste Erkenntnis war diese: Der Mensch, der Einzelne, ist einsam, gefangen in seinem Körper, der unweigerlich verfällt. Kaum ein anderer Autor der Weltliteratur außer vielleicht Samuel Beckett hat diese Tatsache so konsequent in Literatur umgesetzt. In Swifts Werk nimmt zum ersten Mal in der europäischen Kulturgeschichte der Typ des Single Gestalt an.

Der Single ist in Swifts Werk allgegenwärtig. Seine Menschenscheu aber als Misanthropie zu interpretieren, ist falsch. Einer der wenigen, die das in unserem Jahrhundert erkannt haben, war Hermann Hesse. „Es ist ... töricht", schreibt Hesse, „Swifts sogenannten Menschenhaß zu verurteilen. Es gibt keine Forderung für den Denker, seine Resultate einem Gebot unterzuordnen, das eine ideale Menschenliebe höher als die Wahrheit stellt." Die Idee von der moralischen und biologischen Fähigkeit des Menschen, sich zu vervollkommnen, ist eine Utopie, hinter der sich zuweilen auch das denkbar größte Verbrechen verschanzt: der Völkermord.

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Der heutige Leser des „Gulliver" versteht vielleicht erstmals die Botschaft, die hinter dem satirischen Spiel mit den vernünftigen Pferden steht, richtig: Das größte Verbre-chen des Menschen ist es, seinesgleichen das Recht auf Leben abzusprechen, nur weil er nicht einem bestimmten Ideal, sei es des Glaubens, der Moral, der Vernunft oder der Rasse, entspricht. Dem Menschen als Gattung und als fanatisches Mitglied politischer, religiöser oder sonstiger weltanschaulicher Gruppen bringt Swift seine tiefste Verachtung entgegen.Er hat dieses Mißtrauen in einem Brief an seinen Freund Alexander Pope als sein großes „Fundament der Misanthropie" bezeichnet. Daran haben sich alle Interpreten festge-bissen, und sie haben den Satz wohlweislich übersehen, der einige Zeilen darübersteht: „Meine ganze Liebe gehört dem Einzelnen." Die Liebe zum Individuum, das Engagement für den Einzelnen, die Wut über das ganz konkrete Elend waren sein Lebensinhalt. Die Erfahrung des Verlustes hat Swifts Leben von seiner Geburt an geprägt. Sein Vater starb im Alter von 26 Jahren, sieben Monate vor Swifts Geburt. Die Mutter übergab das Kind einer Amme, die es aus Dublin nach Whitehaven an der mittelenglischen Westküste mit oder ohne Billigung der Mutter „entführte" und erst drei Jahre später nach Irland zurück-brachte. Der Junge wurde von den Brüdern des Vaters unterstützt, die alle dem englisch-protestantischen Establishment, das heißt der unteren und mittleren Ver-waltungsschicht des kolonisierten Landes, angehörten. Wie sein Vater waren seine Onkel in der Justizverwaltung tätig. Besonders Godwin Swift kam als Anwalt zu Reichtum, den er später in waghalsigen Geschäften verlor. Es ist wahrscheinlich, daß er Swifts Aus-bildung im Internat zu Kilkenny und am berühmten Trinity College in Dublin zu einem großen Teil bezahlt hat.

Swift hat seine Mutter als Kleinkind kaum gesehen und aus dieser Zeit keine Erinnerung an sie behalten können. Bald nachdem er im Internat verschwand, kehrte sie in ihre Heimat nach Leicester zurück. Erst der Zwanzigjährige besuchte sie dort. Man kann sagen, Swift ist ohne Eltern aufgewachsen. Er konstruierte sich im Alter eine edle Her-kunft, die genausowenig der Wahrheit entspricht wie die Legenden, die von seinem tiefen Haß auf den Onkel Godwin berichten, seine Mutter als Metzgerstochter und seinen Vater als Kellner ausgeben.

Swift war Engländer, aber in Dublin geboren und damit in England, besonders in der Londoner High-Society, ein Mensch zweiter Klasse. Seine Sehnsucht galt England. Weit über die Hälfte seines Lebens pendelte er zwischen beiden Inseln hin und her. Seine Beschreibung der Yahoos im „Gulliver" war von seinem Haß auf die Iren getränkt. Dennoch wurde er zum ersten irischen Nationalhelden.

Was bleibt einem, der in die Welt geworfen wurde wie ein Stück Treibholz, übrig, als sich als Single zu fühlen? Was bleibt einem solchen Menschen, der nie eine private Existenz hatte, übrig, als mit seinen Kräften die Öffentlichkeit zu seiner Heimat zu machen? Swift machte Karriere. Er wurde der gefragteste politische Journalist in London. Vielleicht war er überhaupt einer der ersten unabhängigen Journalisten in der Geschichte dieses Konti-nents.

Sein Wechsel von den Whigs, der Partei des neuen Geldadels, zu den Tories, der Partei

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des alten Landadels, zu einem Zeitpunkt, als die ersten stürzten und die anderen an die Regierung kamen, wurde ihm als Opportunismus ausgelegt. Tatsächlich stand er über den Parteien, die sich in ihren gemäßigten Flügeln kaum unterschieden, außer im Für und Wider den Krieg. Die Whigs hatten England an der Seite Hollands, Preußens und Österreichs gegen Frankreich und Spanien in den Spanischen Erbfolgekrieg getrieben, der seit 1701 in Südeuropa, in den Spanischen Niederlanden und in Deutschland tobte. Der Herzog von Marlborough, ein Vorfahre Winston Churchills, war der oberste Kriegs-herr und galt wegen seiner glänzenden Siege als Volksheld. Swift biß sich an ihm fest. Er hatte den Rückhalt der Tory-Regierung; zwei Minister versorgten ihn mit allen Interna. In seinem Wochenblatt, dem Examiner, betrieb er systematisch die Demontage des Feldherrn Marlborough.

Swifts beispiellose Pressekampagne, die den Volkshelden in der öffentlichen Meinung in einen Verräter verwandelte, kann neben der Dreyfus- und der Watergate-Affäre als eine der Sternstunden in der Geschichte des Journalismus gelten. Aber Swift war kein Ent-hüllungsjournalist. Er deckte nicht auf. Er verarbeitete die Fakten, die ihm andere besorgten, zu giftigen Pfeilen. Sein Hauptvorwurf gegen Marlborough war todernst gemeint: Habsucht, Korruption, Verlängerung des Krieges aus dem niederen Motiv, sich zu bereichern. Marlborough kochte vor Wut, und einen Nachhall dieser Wut spüren wir noch in Churchills Biographie seines Ahnen. Auf dem Höhepunkt der Krise und seiner Kampagne verstummt der Satiriker, und wir hören plötzlich den modernen Staats-theoretiker: Ein freier Staat solle bei seiner Kriegführung darauf achten, die militärische Gewalt vollkommen der zivilen unterzuordnen. Swift stürzte den mächtigsten Feldherrn seiner Zeit. 1713 wurde in Utrecht der Friedensvertrag unterzeichnet.

Ein Jahr später stürzte das Tory-Ministerium und mit ihm Swift. Die Königin starb, die Hannoveraner bestiegen den Thron, und die Macht der Whigs blieb bis ans Ende des Jahrhunderts unerschütterlich. Seinen eigenen Fall aus dem Zentrum der Macht auf den Posten des Dekans von St. Patrick in Dublin hat Swift nie überwunden. Für ihn war seine Geburtsstadt ein Exil. Sein Sturz war nicht bodenlos, aber seine Melancholie. Später warb sogar der neue Whig-Premier um ihn. Swift blieb für den Rest seines Lebens beleidigt: „Ich mache meine Verbeugung und verschwinde wieder in der Menge."

Aber Swift verschwand keineswegs in der Menge, sondern startete von der anderen Seite der Irischen See aus seine zweite Karriere als irischer Nationalheld wider Willen. Er verachtete zwar seine Landsleute. Doch der angebliche Menschenfeind platzte fast vor Empörung über das Elend der irischen Bevölkerung und über das Kolonialregiment der Engländer.

Unter dem Namen Penal Laws (Strafgesetze) wurde den Katholiken der Insel das aktive und passive Wahlrecht bei Parlamentswahlen abgesprochen. Sie durften weder als Anwälte oder Richter tätig sein noch die einzige irische Universität, das Trinity College in Dublin, besuchen. Sie durften nicht in der Marine oder irgendwelchen anderen öffent-lichen Institutionen dienen, durften keine Schule leiten, keine Waffen besitzen, keine Protestantin heiraten, kein Land kaufen und kein Pferd besitzen, das mehr als fünf Pfund wert war. Gegen diese Politik reklamiert Swift die Menschenrechte, lange bevor die Väter

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der amerikanischen Verfassung sie zur Grundlage der Demokratie machen.In Briefen, in denen er sich als ein irischer Tuchhändler ausgab, der von den englischen Handelsbeschränkungen gegen irische Waren betroffen war, deckte er einen Währungs-skandal auf. Einem Eisenwarenhändler, der eine Mätresse König Georgs I. bestochen hatte, wurde erlaubt, für Irland Münzen zu prägen, die nur ein Zehntel des Nominal-wertes hatten. Angesichts des riesigen Betruges und des Elends der irischen Bevölke-rung verläßt Swift abermals der Humor. „Ich fände kein Ende, wollte ich Euch all das Elend aufzählen, das uns erwartet, wären wir so töricht und schlecht beraten, diese verfluchte Münze anzunehmen", schreibt er in seinen Tuchhändlerbriefen. Und dann ruft er den Iren zu: „Ist nicht das Volk von Irland ebenso frei geboren wie das von England? ... Bin ich in England ein freier Mann und werde ich in sechs Stunden zum Sklaven, wenn ich über den irischen Kanal fahre?"Swift ruft zum Boykott der neuen Münzen auf, und die Iren folgen ihm. Zum ersten Mal in der Geschichte des modernen Pressewesens wird mit journalistischen Mitteln etwas erreicht, das erst im 19. Jahrhundert, ebenfalls ausgehend von einem irischen Land-edelmann aus der Grafschaft Mayo, seinen Namen finden wird und bis heute ein politi-scher Kampfbegriff geblieben ist: der Boykott. Das Parlament in London kapituliert.

Der Schriftsteller wurde gefeiert, als habe er die Machtverhältnisse zwischen Irland und England umgekehrt. Die Dubliner haben ihn dafür auf Händen getragen, haben zu jedem seiner Geburtstage ihre Häuser illuminiert. Als die englische Regierung eines Tages auch noch den Goldstandard der irischen Währung senkte, ließ Swift die Glok-ken von St. Patrick umwickeln und hißte eine schwarze Fahne.

Spätere Biographen haben zu bedenken gegeben, das Engagement des Schriftstellers habe freilich nur den protestantischen Anglo-Iren gegolten. Swifts Haß auf die Iren, sein Ekel vor dem Schmutz und dem Elend der irischen Unterschicht, seine Sehnsucht, ganz und gar als Engländer zu gelten, seine Verzweiflung, im irischen „Exil" weitab von der Londoner Bühne leben zu müssen, das alles läßt sich mit seinen Briefen, Satiren und Pamphleten ebenso belegen wie das genaue Gegenteil: sein Mitleid mit den Armen, die er vor dem Hungertod rettet, seine Fürsorge für die Bettler im Kirchensprengel von St. Patrick, die Kredite, die er zinslos in Not geratenen Handwerkern und Kaufleuten gab.

Genau dieses Mitleid fehlt den vernunftbegabten Pferden im Houyhnhnm-Land, das Gulliver im vierten Teil seiner phantastischen Reise besucht. Das Mitleid mit den Yahoos, den Tieren in Menschengestalt, welche von den weisen Pferden als Sklaven gehalten werden, fehlt auch dem Titelhelden, der am Ende ganz der reinen unmenschlichen Arroganz seiner Gastgeber verfällt. Die Houyhnhnms und Gulliver sind keine Idealbilder vom Menschen. Sie sind nicht Swifts Utopie, sondern sie stellen die schonungsloseste Entlarvung der Vernunftutopie dar, die je unternommen wurde.

Gulliver ist der vollkommene Misanthrop. Aber Gullivers negative Anthropologie ist nicht die Swifts. Viele Interpreten haben in dem undurchsichtigen Spiel des Satirikers die Orientierung verloren. Welche Äußerungen und Charaktereigenschaften der literarischen Figuren entsprechen der Meinung ihres Schöpfers, welche widersprechen ihr? Erst wenn solche Fragen nicht mehr restlos geklärt werden können, hat die Satire die Ebene des

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Kunstwerks erreicht.

Im letzten Teil des „Gulliver" und in Swifts Schrift mit dem harmlos klingenden Titel „Bescheidener Vorschlag, wie man verhüten kann, daß die Kinder armer Leute in Irland ihren Eltern zur Last fallen" wird die Satire kohlrabenschwarz. Das Lachen bleibt uns im Halse stecken, wenn wir lesen, wie die vernünftigen Pferde vernünftige Pläne zur Ausrottung der Yahoos diskutieren und wie im „Bescheidenen Vorschlag" mit todernster Miene der Öffentlichkeit der Plan unterbreitet wird, die Kinder armer irischer Eltern zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, indem man sie zur Schlachtung frei-gibt und geschmort, gebraten, gebacken oder als Ragout den reichen Engländern auf den Speiseplan setzt. Herrschaft als Kannibalismus. Solche Bilder sind wir von konserva-tiven Denkern nicht gewöhnt. Wir blicken durch die Coolness von Swifts gläserner Argu-mentation und erschauen eine vom Elend der Welt tief verwundete Seele.

Eines hat Swift mit seiner Figur Gulliver gemein: die Unfähigkeit zur Nähe. Wie der reisende Schiffsarzt ist auch sein Autor ein Fremder unter Fremden, ein Robinson in der Zivilisation geworden. Daß er in Gesellschaft ein charmanter Plauderer war, daß er in den Salons von London und Dublin ein gern gesehener Gast war, darf uns nieht darüber hinwegtäuschen, daß ihn zeit seines Lebens eine furchtbare Angst heimsuchte. Allein der Gedanke an den Verlust eines geliebten Menschen bereitete ihm Höllenqualen.

So blieb er lieber in der anderen Hölle seiner Single-Existenz, die ihn schrullig machte, aber nicht wahnsinnig. Vor allem war er unerträglich als Liebhaber. Den beiden Frauen, die das Pech hatten, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden, hat er das Leben zur Hölle gemacht, nicht durch Tyrannei, sondern durch Entzug. Der einen, Stella oder Ester Johnson, die er seit ihrem achten Lebensjahr kannte, näherte er sich nie, außer ihre ältere Freundin und Vertraute Mrs. Dingley war dabei. Zu der anderen, Vanessa oder Hester Vanhomrigh, hatte er bis zu ihrem Tod ein von Heimlichkeit verschrulltes Ver-hältnis, und bis heute machen sich die Biographen einen Sport daraus zu wetten, ob er mit dieser Frau tatsächlich einmal geschlafen hat oder nicht.

In der Nacht nach Stellas Tod setzte er sich hin und schrieb nächtens ein Portrait des Menschen, den er am meisten geliebt hatte. Einmal wechselte er in ein anderes Zimmer, um nicht den Kerzenschein aus der Kathedrale gegenüber sehen zu müssen, in der die Trauerfeierlichkeiten stattfanden.Es ist nicht so, daß sich Swift nach Stellas Tod von der Welt ganz zurückgezogen hätte. In Lady Acheson findet er beinahe eine neue Stella. Er bedrängt sie auf ihrem Landsitz mit einer fast einjährigen Anwesenheit, frißt mit seinen beiden Hunden und Pferden Haus und Hof leer, langweilt sie mit Kalauern und seinen ständigen Versuchen, sie zu belehren, jagt sie, da er ein fanatischer Jogger ist, durch Wald und Flur und hört beim Frühstück ab, was sie am Abend gelesen hat. Das alles erfahren wir aber nicht aus einer Klage der Lady, sondern aus Gedichten, zu deren Inhalt Swift seine eigene Unerträg-lichkeit gemacht hat.Ob ständiger Weingenuß bei gesundheitsschädlichen Konservierungsmethoden zu einer Zerebralsklerose führte oder ob nach neueren Theorien eine genetische Disposition bei Swift die Alzheimersche Krankheit auslöste, ist nicht geklärt und auch unerheblich. Dem

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Wahnsinn ist er nicht verfallen. Einige Schlaganfälle machten ihn bewegungsunfähig, taub und apathisch. Mit unbändiger Wut versuchte er Wörter zu formen. Drei Jahre dämmerte er dahin - entmündigt. Er starb am 19. Oktober 1745. In einem seiner letzten Gedichte schrieb er die Verse: „Der irre Betrieb der Welt ist nun vorbei, / Und ich nehme euch eure Possen nicht mehr übel. / Ich mich mit solchen Dummköpfen abgeben! / Ich solche Narren verdammen! - Geht, geht, ihr seid betrogen."

Der Satiriker Swift (1667-1745):irischer Nationalheld wider Willen