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Das Buch »Dieser Roman ist in New York, in den bittersten Jahren des letzten Weltkrieges, entstanden. Es war, als die furchtbaren Luftangriffe der Alliierten Deutschland ausbrannten und als schließlich die ersten Atombomben auf Japan fielen. Was steht uns noch bevor? Was wird aus der Welt und der Menschheit nach dieser unfaßbaren Katastrophe werden?« Der Pazifist Oskar Maria Graf hat eine Vision: Nach einer atomaren Katastrophe überlebt nur noch ein Zehntel der Menschheit. Er erzählt, wie die Menschen »sich auf der ver- wüsteten Welt irgendwie einrichten. Ganz von unten auf, ganz nach völlig veränderten Voraussetzungen müssen sie diesen heroischen Neuaufbau beginnen und durchführen, denn das, was vorher war, hat keine Geltung mehr. Aus dieser Anarchie entwickelt sich eine völlig veränderte Menschenordnung und Gesetzlichkeit.« Nach einem apo- kalyptischen Vorspiel entwirft Graf eine Sozialutopie, die man als die politisch-soziale Summe seiner Lebenserfah- rungen ansehen darf und in der er sich zu einem religiösen Sozialismus tolstoianischer Prägung bekennt. Deshalb kann dieses Buch auch als politisches Testament des Dichters gelten. Graf plädiert für einen kosmopolitischen Regiona- lismus: »Je kleiner die Gebiete, umso besser. Sie blasen dem Nationalsozialismus das Lebenslicht aus, vor allem aber ver- mindern sie Unrecht und Unmenschlichkeit. Provinziell muß die Welt werden, dann wird sie menschlicher!« Der Autor Oskar Maria Graf, geboren am 22. Juli 1 894 in Berg am Starn- berger See, gehörte zu den Kämpfern für die Revolution von 1918. Als engagierter Antifaschist ging er 193 3 ins Exil. Über Wien und Prag gelangte er 1938 nach New York, wo er am 29. Juni 1967 starb. Werke u. a.: >Die Chronik von Flechting< (' 92 S ), > Bolwieser< (1931), >Der harte Handel< (I 93 S ), >Anton Sittinger< ('937), >Das Leben meiner Mutter< (i 940), >Die Flucht ins Mittelmäßige< (1 9 S 9), Romane.

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Das Buch

»Dieser Roman ist in New York, in den bittersten Jahren desletzten Weltkrieges, entstanden. Es war, als die furchtbarenLuftangriffe der Alliierten Deutschland ausbrannten und alsschließlich die ersten Atombomben auf Japan fielen. Wassteht uns noch bevor? Was wird aus der Welt und derMenschheit nach dieser unfaßbaren Katastrophe werden?«Der Pazifist Oskar Maria Graf hat eine Vision: Nach eineratomaren Katastrophe überlebt nur noch ein Zehntel derMenschheit. Er erzählt, wie die Menschen »sich auf der ver-wüsteten Welt irgendwie einrichten. Ganz von unten auf,ganz nach völlig veränderten Voraussetzungen müssen siediesen heroischen Neuaufbau beginnen und durchführen,denn das, was vorher war, hat keine Geltung mehr. Ausdieser Anarchie entwickelt sich eine völlig veränderteMenschenordnung und Gesetzlichkeit.« Nach einem apo-kalyptischen Vorspiel entwirft Graf eine Sozialutopie, dieman als die politisch-soziale Summe seiner Lebenserfah-rungen ansehen darf und in der er sich zu einem religiösenSozialismus tolstoianischer Prägung bekennt. Deshalb kanndieses Buch auch als politisches Testament des Dichtersgelten. Graf plädiert für einen kosmopolitischen Regiona-lismus: »Je kleiner die Gebiete, umso besser. Sie blasen demNationalsozialismus das Lebenslicht aus, vor allem aber ver-mindern sie Unrecht und Unmenschlichkeit. Provinziellmuß die Welt werden, dann wird sie menschlicher!«

Der Autor

Oskar Maria Graf, geboren am 22. Juli 1 894 in Berg am Starn-berger See, gehörte zu den Kämpfern für die Revolution von1918. Als engagierter Antifaschist ging er 193 3 ins Exil. ÜberWien und Prag gelangte er 1938 nach New York, wo er am29. Juni 1967 starb. Werke u. a.: >Die Chronik von Flechting<(' 92 S ), > Bolwieser< (1931), >Der harte Handel< (I 93 S ), >AntonSittinger< ('937), >Das Leben meiner Mutter< (i 940), >DieFlucht ins Mittelmäßige< (1 9 S 9), Romane.

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Oskar Maria Graf:Die Erben des UntergangsRoman einer Zukunft

Mit einem Nachwort vonErhard Eppler

DeutscherTaschenbuchVerlag

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Von Oskar Maria Grafsind im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:Die Chronik von Flechting (1425)Die gezählten Jahre (' S 4 5 )Wir sind Gefangene (1612)

Das Leben meiner Mutter ( 10044)Gelächter von außen (10206)

Kalendergeschichten (I I 434)Der harte Handel (11480)Anton Sittinger (I I 8 5 S )An manchen Tagen (11898)Jedermanns Geschichten (ii 899)Reise in die Sowjetunion (SL 71012)

Ungekürzte AusgabeJuni 1 994Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,München

© 1985 Paul List Verlag in derSüdwest Verlag GmbH & Co. KG,München • ISBN 3 - 799 1-6261 - 5Umschlagtypographie: Celestino PiattiUmschlagbild: Regine TararaGesamtherstellung: C.H. Beck'sche Buchdruckerei,NördlingenPrinted in Germany • ISBN 3-423-1 ‚88o-6

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Inhalt

Kleine, notwendige Vorbemerkung . . . . . . . . . . 13

Das apokalyptische Vorspiel . . . . . . . . . . . . . . .i 6»Stirb und werde.. . « . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 5

Sonderbare Genesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42Schritt für Schritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S 3

Bei dieser Gelegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Zwei Lieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 8

Stockungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 03

Geist und Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i ^ 7

Die Menschen zwischen Gestern und Morgen . . . . 134

Variationen über ein Thema . . . . . . . 4. . . . . . . i 6o

Zufälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Dunkle Wege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Vor dem Sturm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

.... 242Der Wettlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242Versuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260Die zweifache Niederlage . . . . . . . . . . . . . . . 2 73Rätsel, die keine waren . . . . . . . . . . . . . . . . . 290Entwirrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 09Die Klärung der Fron ten . . . . . . . . . . . . . . . . 3 26Dazwischen die Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . 341Das große Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 5 9Der letzte Griff ins Leere . . . . . . . . . . . . . . . . 380

Der Weg nach innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399Noch einige Kleinigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 4 8

Nachwort von Erhard Eppler . . . . . . . . . . . . . 437

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Editorische Anmerkung:

Diese Neuausgabe folgt der 1959 im Nest Verlag GmbH., Frankfurta. M., erschienenen, vom Autor noch selbst überarbeiteten und um-betitelten Zweitfassung des Romans. Die Erstfassung war bereits

949 unter dem Titel >Die Eroberung der Welt< (erste unverbindlicheTitelüberschrift des vom Dezember 1946 bis Juli i97 in der Urfas-sung entstandenen Manuskriptes: >Die Entdeckung der Welt<) imVerlag Kurt Desch, München, erschienen.Über die Entstehungsgeschichte und die Absicht des Buches schriebOskar Maria Graf für die Ausgabe letzter Hand, die hier in das Ge-samtwerk wieder neu aufgenommen wurde, im Januar 1959 die>Kleine, notwendige Vorbemerkung<, auf die wir den Leser zuerstverweisen wollen (s. S. 13).

Erhard Eppler, führendes Mitglied der Friedensbewegung und au-ßerdem Literaturwissenschaftler, beschreibt in seinem Nachwortdie Wirkung von Grafs >Roman einer Zukunft<, der vor rund vierzigJahren geschrieben wurde, auf den Leser von heute in einer inzwi-schen veränderten Welt.

München 1985 Hans Dollinger

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»Mit welchen Waffen, was meinen Sie, wird man nacheinem Atomkrieg dann künftige Kriege führen?« fragte einJournalist einen hohen amerikanischen Offizier, der an denAtombombenversuchen auf Bikini teilgenommen hatte.»Wahrscheinlich mit Pfeil und Bogen«, antwortete der Be-fragte lakonisch.

(Aus einer Zeitungsmeldung)

»Wie oft habe ich euch versammeln wollen, wie eine Henneversammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habtnicht gewollt. «

(Matth. 23, 37)

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DEN NACHKOMMENDEN!

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Albert Einstein an Oskar Maria Graf

Herrn Oskar Maria Graf34 Hillside Ave.New York 34, N.Y.

Lieber Herr Graf!

Ich habe das Manuskript Ihres neuenRomans mit großem Interesse gelesen. DasBuch zeigt den tiefen Ernst der gegen-wärtigen Menschheits—Situation mit einerÜberzeugungskraft, wie sie nur ein wahrerDichter besitzt, und ich glaube, daß eswohl einen dauernden Einfluß ausüben kann.Eine amerikanische Herausgabe diesesBuches würde ein wesentlicher Beitrag zurÜberwindung der gefährlichen Gleichgültig-keit des Publikums in bezug auf die großeninternationalen Probleme unserer Zeitsein. Das Buch ist auch konstruktiv, da eseine mögliche Lösung zeigt.

Mit freundlichen persönlichen Empfehlungen

Ihr ergebener

1.Albert Einstein

(Übersetzung des Originalbriefes aus dem Englischen)

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KLEINE, NOTWENDIGE VORBEMERKUNG

Dieser Roman ist in New York, in den bittersten Jahren desletzten Weltkrieges, entstanden. Es war, als die furchtbarenLuftangriffe der Alliierten Deutschland ausbrannten und alsschließlich die ersten Atombomben auf Japan fielen. Ganzabgesehen davon, wem die Schuld an dieser entsetzlichenEntwicklung zuzuschreiben war, in dieser Zeit standen dieMenschen aller Nationen vor der beklemmenden Frage:»Was steht uns noch bevor? Was wird aus der Welt und derMenschheit nach dieser unfaßbaren Katastrophe werden?«In Anbetracht der inzwischen erreichten fast totalen Perfek-tion der nuklearen Vernichtungswaffen ist diese Fragestel-lung für uns alle zu einem beständigen, unheilbaren Angst-zustand geworden, der unsere bisherigen politischen Idealeund Ideologien, unsere ethischen und moralischen Vorstel-lungen von Menschenwürde und einem Sinn des Lebensaufzehrte und nur noch den blinden Selbsterhaltungstriebübrigließ, den verzweifelten Willen, zu überleben und dasWeiterexistieren zu sichern.Damals, als das Schreckensgespenst der Vernichtung zumersten Male sichtbar wurde, war es für jeden Einsichtigenklar, daß es — wenn uns auch die Strategen und Politikerhartnäckig vom Gegenteil überzeugen wollten — nach demKriegsende kein eigentliches Unterliegen und Siegen mehrgeben konnte. In dieser bisher gefährlichsten und folgen-schwersten Krise unserer Menschheit war die Zusammen-fassung aller noch halbwegs intakten Energien unerläßlich,um die drohende Auflösung des ganzen Weltgefüges zuverhindern und die Anarchie der erschöpften, demoralisier-ten Menschenmassen in den verwüsteten Ländern zu ban-nen. Durch die gigantischen Errungenschaften der Technikist das, wenn auch rein äußerlich und in der Hauptsache ad-ministrativ-technopolitisch, nach gewaltigen Anstrengun-gen auch gelungen. Inmitten der neuaufgebauten Welt aberleben die Völker und lebt der einzelne Mensch wie in einemProvisorium des unentschiedenen Friedens und einesgleichsam schleichenden Krieges, der sich wie ein unaus-

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rottbares, tödliches Virus mit der scheinbar völlig normalfunktionierenden Weltpolitik vermengt hat und immer wie-der höchst gefährliche Krankheitskrisen erzeugt. Daß dieseKrisen den Körper der mitgenommenen Menschheit immermehr schwächen und dessen Abwehrkräfte von Fall zu Fallwiderstandsloser machen, steht außer Frage. Der Mensch,zerrieben von all dem Grauenhaften, das er durchlebt hat,und geistig und seelisch überholt von der fast schon selb-ständig agierenden Technik, ist nicht mehr fähig, das flu-tende Heute zu kontrollieren und die hereinbrechende Zu-kunft planvoll zu bestimmen. Er ist hilflos in seinem Gesternstehengeblieben und droht in einen derart unheilvollen Fa-talismus zu versinken, daß er sich schließlich allem, was mitihm geschieht, ohnmächtig überläßt. Wer hier weiterdenkt,wird aller Wahrscheinlichkeit nach zu ähnlichen Einsichtenund Schlußfolgerungen kommen, wie sie in diesem Romanenthalten sind. Er wird zugeben müssen, daß es sich dabeinicht nur um einen Antikriegsroman oder um eine phanta-stisch konstruierte, nebulose Utopie handelt, sondern umdie erzählerische Ausformung einer durchaus möglichenEntwicklung nach einem totalen Vernichtungskrieg. DasBuch ist keine romantisch fabulierte Zukunftsschilderungwie etwa Franz Werfels )Stern der Ungeborenen<, und eszeichnet nicht wie der Engländer Nevil Shute in seinem Buch>Das letzte Ufer< mit eisig-ironischem Pessimismus den Un-tergang der Menschheit nach einem Atomkrieg, sondern be-wahrt ein gewisses Quantum von realistischem Optimismus,indem es voraussetzt, daß es auch nach einer solchen Kata-strophe noch »Erben« gibt. Die Handlung ist unmittelbarmit der Realität verknüpft, zieht alle politischen, soziologi-schen, technischen und psychologischen Wandlungen undVeränderungen, die der letzte Weltkrieg hervorgerufen hat,in Betracht und steigert sie bis ins kaum mehr Fortsetzbare.Nur dieses Äußerste an Weiter- und Zuendedenken war im-stande, eine künftige Welt, wie sie dieser Roman darzu-stellen versucht, faßbar, lebendig und glaubhaft zu machen.Das Buch ist nach seinem seinerzeitigen Erscheinen voneinem großen Teil der Leserschaft und der Kritiker mißver-standen worden. Vielleicht erwarteten die meisten eine ef-

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fektvoll-geistreiche Utopie und waren enttäuscht, daß ihnenlediglich ein realistischer Problemroman geboten wurde,der sich mit dem, was morgen und übermorgen mit uns undder Welt werden kann, auseinandersetzt. Zum Teil mag dasMißverstehen auch daran gelegen haben, daß man die darinenthaltenen Voraussagen für übertrieben und unmöglichhielt. Einige davon, wie zum Beispiel die fortwährendeBeunruhigung der Welt durch Teilkriege, die dank der se-gensreichen Tätigkeit der »Vereinten Nationen« glückli-cherweise stets lokalisiert und schließlich beigelegt werdenkonnten, haben sich als zutreffend erwiesen. Die damaligeWährungsstabilisierung in der deutschen Bundesrepublik,die der Einführung einer Weltwährung im Roman ziemlichähnelt, aber auch die erst kürzlich erfolgte Umstellung desamerikanischen Schulunterrichts durch weitgehende Tele-visions- und Filmbildübertragung, welche darin bereits alseine Selbstverständlichkeit behandelt wird, liefern solcheBeweise. Es gehört wahrhaftig nicht allzuviel Phantasie oderProphetengabe dazu, Dinge, die sozusagen im Zuge der Zeitliegen, vorauszusagen. Nicht darum geht es in diesem Buch.Sein Grundakzent liegt auf dem Ethisch-Politischen. Lei-tend war das ernsthafte Bemühen, »einen wesentlichen Bei-trag zur Überwindung der gefährlichen Gleichgültigkeit desPublikums in bezug auf die großen internationalen Pro-bleme unserer Zeit« zu leisten, wie es in dem kurzen Brief-vorwort des verstorbenen, unvergeßbaren Albert Einsteinheißt.

New York City, Mitte Januar 1959 Oskar Maria Graf

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DAS APOKALYPTISCHE VORSPIEL

Nach den wirren, entscheidungslosen Jahren, die dem letz-ten großen Weltkrieg gefolgt waren, gingen auf einmal wie-der Massentod und Vernichtung um. Ein neuer Krieg rasteum den Erdball. Wie und warum er gekommen war, wußteim Grunde genommen niemand. Die mißtrauisch geworde-nen Völker ergingen sich in dunklen Mutmaßungen, unddie Regierungen verbreiteten plausibel klingende Lügen.Das erstaunlichste war nur, daß die Menschenmassen kaumerschraken und in bestimmten Ländern sogar so etwas wieeine jähe, flüchtige Erleichterung nach einem dumpfen Alp-druck empfanden. Aller Wahrscheinlichkeit nach war ihnendas, was sie in den letzten trüben Jahren als den schüchter-nen Anfang irgendeines Friedens erlebt hatten, noch garnicht als das Ende, sondern nur als eine Unterbrechung desKrieges erschienen. Das vorher Durchlebte geisterte nochdüster und traumhaft in ihrem benommenen Gefühl. Imwilden Getümmel der Geschehnisse jedoch wurde sehr baldüberhaupt nichts mehr bestimmbar, denn dieser neue Los-bruch war kein Menschenkrieg mehr. Die Elemente schie-nen auf die Erde niedergebrochen zu sein, und wie imHandumdrehen setzten sie die Armeen außer Aktion. Eswar, als flüchteten die Menschen vor ihren eigenen Werkenund verkröchen sich vor deren Furiengewalt. Schon nachkurzer Zeit wußte niemand mehr, wer gegen wen kämpfte,und wenngleich noch immer von irgendwoher Stimmendurch den verpesteten Äther drangen und den Radiohörerndas Vorhandensein einzelner Regierungen oder eines Ratesder »Vereinten Nationen« vortäuschten - rasch wurde alldies unwirklich. Jede Ordnung zerstäubte gleichsam. DieErinnerungen an das Vorher versanken. Ursache und Zeitschienen verweht und zerblasen, und nur die Wirkung warüberall dieselbe: Auf belebte Seehäfen und blühende Millio-nenstädte an den Küsten der Weltmeere fielen fast lautlosübergrelle Riesenblitze vom Himmel herab. Die erschreck-ten Menschenmassen wurden unruhig und jagten nach al-len Seiten. Ein seltsam verhaltenes, unterirdisches Grollen

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lief unter ihren Füßen, und schon brachen die Häuser kra-chend auseinander und begruben alles. Die Erde barst, undTausende fielen in ihre breiten, tiefen Rinnen. Die von Panikergriffenen Massen erreichten das Meerufer und stürztensich, alles überrennend, in die kochendheißen Fluten. ImBrodeln der erhitzten Wellen schwammen unzählige veren-dete, weißbäuchige Fische aller Größen. Flatternde Möwenerstarrten in der sengenden Luft und fielen wie verrußteTrauben mit den emporgeschleuderten, zischend platzen-den Menschenleichen auf die stürmische Wasserflächeherab. Gespenstisch trieb das schaurige Gemeng ins Un-gewisse. Das unterirdische Grollen brach plötzlich in einpeitschendes Krachen, und wie ein Fanal des kommendenWeltuntergangs warf eine riesige Feuerwolke Stadt undLand und Meer weitum ins hohe Nichts des Himmels undregnete als sengender Staub wieder hernieder. Erst nachlanger Zeit verglommen die fressenden Flammen. Staubund verkohltes Geriesel, soweit das Auge reichte. Häuserund Gärten, Wälder und Wiesen, Menschen und Tierewaren weggeätzt. Ein giftiger Dunst stand über der Stille.Eine nackte Wüste lag leblos da.Und im Innern vieler Länder war es nicht anders. Wie eineunaufhaltsame Flut flohen die Menschenscharen überall insNirgendwo. Sie flohen ohne Hoffnung, in fassungsloserVerzweiflung. Sie flohen, soweit das überhaupt noch mög-lich war, nicht nur aus dem Umkreis der zu Staub geworde-nen Städte und Industriereviere; sie flohen auch, weil außerden weißen Blitzen der Atombomben und der Raketen-streuer, die das schleichende Gift tückischer Bakterien überdie Landschaften säten, plötzlich beißende Kältewellen da-herwehten, die in wenigen Minuten alles bis zur tödlichenStarrheit gefrieren ließen. Sie flohen aus Flecken und Dör-fern, aus scheinbar noch geschützten Winkeln und aus jederArt von Seßhaftigkeit, und sie flohen, obgleich sie dunkelwitterten, daß überall das gleiche Verderben auf sie lauerte.Und alles riß so ein trauriger Heerbann mit und an sich: Au-tos und stehengelassene Lastwagen, die noch eine Weile lie-fen und dann mit Pferden bespannt wurden, zufällig aufge-lesene leichte Feldkanonen, vollbepackte Fuhrwerke aller

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Art, Fahrräder, Kinderwagen und Handkarren. Wie einHeuschreckenschwarm fiel er manchmal über eine noch fah-rende Eisenbahn. Ein blutiges, erbarmungsloses Gefechtentwickelte sich. Endlich preßten sich die Menschenknäuelin die Waggons, warfen Tote und Verwundete über die Bö-schung, kletterten auf die Wagendächer und hängten sichan die Trittbretter. Der überladene Zug keuchte noch eineStrecke weiter, bis zur nächsten Zerstörung des Schienen-strangs. Die Räder knirschten sägend in die aufgewühlteErde. Die scheppernd aufeinanderstoßenden Waggonsstockten, hoben sich aus dem Geleise und kippten um. DieDaruntergeratenen schrien und klagten gräßlich, aber dievon den Dächern waren aufs freie Feld gesprungen, die an-dem krochen aus den eingeschlagenen Fenstern und Türen,und niemand kümmerte sich um die Zugrundegehenden.Weiter, weiter wälzte sich der immer wieder zusammenrin-nende Haufe. Nur der Gewitzte, der robust Gesunde undStarke überstand und blieb obenauf, doch alles floß mit derströmenden Flut. Frauen in Pelzmänteln und barfüßige,ausgemergelte Mütter, zerlumpte Halbwüchsige mit gefähr-lichen Gesichtern, halbnackte Elendsgestalten und bestie-felte Männer in zusammengewürfelten Uniformen. Men-schen gab es in diesen verwilderten Rudeln, behangen mitallen technischen Hilfsmitteln, die ihnen für ein solches Da-sein wichtig schienen: mit Repetiergewehren und Pistolenletzter Präzision, mit Patronengurten und Handgranaten,mit Feldstechern und Fotoapparaten, mit umgehängtenschmalen Radios und Gasmasken in den Gürteln. Menschen,mit abgefrorenen Fingern und Nasen oder mit Brandwundenübersät, zogen mit, Menschen mit vergifteten Lungen, diepfeifend keuchten; andere wieder hatten Gesichter undHände wie mit Grünspan überzogen. Hautfetzen hingen ih-nen herunter. Sie rochen faulig, ihre Glieder schrumpften zu-sehends. »Freundchen, weg mit Schaden!« sagte der Hinter-mann und schoß ihnen ins Genick. Sie gaben keinen Laut vonsich. Nicht ein Tropfen Blut rann aus der Wunde. Sie brachenin sich zusammen, als wären ihre Glieder längst verwest, undschmolzen im Nu hin wie ein unkenntliches, matschigesHäuflein. Die Tausende trampelten darüberhin .. .

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Wohin zogen sie eigentlich? Ein Ziel gab es nicht mehr. Allesblieb dem Zufall und dein augenblicklichen Glück überlas-sen. Unversehens gerieten die Wandernden in radioaktiveStrichweiten und starben wie die Fliegen. Sie tranken Was-ser aus vorüberfließenden Bächen, bekamen quälendes Er-brechen, wanden sich veitstanzgleich und gingen ein wieschauerlich verrenkte Tiere. Von irgendwoher zogen ihnenSchwaden von süßlichem Leichengestank entgegen. Ei-lends schwenkten sie in eine andere Richtung ab. Auf Sicht-weite tauchte eine halbzerstörte Stadt auf. Seltsam flimmer-ten ihre Ruinen. Kein aufsteigender Rauch, kein fernes Ge-räusch - nichts lebte. Einige hoben den Feldstecher vor dieAugen und sahen zerbröckelte, eisüberzogene Häuser mitmerkwürdig verzogenen, geborstenen Wänden. Die Fen-sterscheiben waren gesprungen. Auf dem Damm waren dieGeleise hochgebogen und frostweiß.»Verwintert!« brummte irgendein Ausschauender undwarnte. Doch in stumpfer Hoffnung auf endliches Unter-kommen trabte der ganze Zug rascher vorwärts. Nach undnach wurde der Boden steinhart.»Verflucht, ist das eine Kälte!« knurrten einige. Auf der dickbereiften, glitschigen Straße standen Autos mit reglosenMenschen darin. Ein Bauernfuhrwerk war da. Der Bauerhockte steif auf dem Bock, die Zügel in den klammen Hän-den, und seine Barthaare sahen aus wie dünne, stahlblauglänzende, verkrümmte Nadeln. Das Pferd an der Deichselhatte den Vorderfuß zum Schritt gekrümmt, aber es rührtesich nicht.»Was ist das?« fragten die Vordersten staunend und hieltenan. Unbeweglich standen Menschen da, noch in der Gesteder Unterhaltung, Kinder, mitten im Lauf erstarrt, alles täu-schend lebendig, aber stumm und festgebannt wie die Sze-nerie eines Panoptikums, auf welche die ewige Sonne unbe-rührt herniederstrahlte. Nur da und dort war eine Figur um-gefallen und zerbrochen. Wie Scherben lagen die vereistenKörperteile auf dem Pflaster.»Zurück! Zurück!« schrien die Vordersten entsetzt, dennder Frost hatte sich schon in sie verbissen. Von blinderFurcht gepackt, jagte der ganze Haufe von dannen. Wer

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nicht mitkam, blieb liegen und war verloren. Erst nach lan-gem Laufen war wieder warmer Tag, und aufatmendwischte sich jeder den rinnenden Schweiß aus dem Gesicht.So zogen sie durch Wüste und Wildnis, durch Tod und Ver-derben, diese Heere der neuen Völkerwanderung, wie lang-sam krabbelnde, dichte, dunkle Herden, unterbrochen vomregellosen Troß der Fahrzeuge. Gestank und Dunst, Staub-wolken und Rabenschwärme, Leichen und wieder Leichenkennzeichneten ihren Weg. Und wohin sie auch stießen,überall glich eine Gegend der anderen an Traurigkeit.Manchmal surrten Flugzeuge über ihnen. Der riesigeSchwarm floß auseinander, alles warf sich zu Boden, dochsie schossen nicht auf sie herab. Behutsam wälzten sich dieLiegenden herum und starrten nach oben. Die silbernen Vö-gel zogen dünne Rauchfäden am Himmelsgewölbe, und imBlau konnten sie entziffern: »Südlich ziehen! Norden Ge-fahr!«»Hm, die Armee!« raunten die Nomaden einander zu.»Wahrscheinlich hocken sie dort und wollen uns los haben!«Dennoch folgten sie dem Rat, denn die da und dort noch in-takt gebliebenen kleineren und größeren Heeresteile, dieman - ganz gleichgültig, wem sie sich zuzählten - kurzer-hand als »Armee« bezeichnete, schienen die einzigen jäm-merlichen Überbleibsel einer gewesenen Ordnung zu sein.Sie hatten sich meist in unwegsame Gebirge zurückgezo-gen, verfügten teilweise noch über ansehnliche Vorräte undnotwendiges Rüstzeug und hielten eiserne Disziplin. Wennauch abgeschnitten und längst aus jeder kriegsmäßigen Ak-tion gedrängt, kamen sie sich noch als Beauftragte irgend-einer Staatsmacht vor, bis sie merkten, daß von alldemnichts mehr existierte, bis jede Funkverbindung abriß odersich gänzlich verwirrte und keine ausgesandten Fliegermehr etwas Derartiges entdecken konnten. Sich selber über-lassen, machten sich diese Kontingente schließlich selbstän-dig.»Unsere Welt ist endgültig zur Wüste geworden«, schreibtein einsichtiger Chronist jener Zeiten. »Zu einer Wüste, diezwar durch die Technik und Forschung völlig erschlossenist, aber dennoch auf lange, lange Zeit eine Wüste bleiben

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