Dracula/Nosferatu

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1 Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Philologie Allgem. und Vergl. Literaturwissenschaft Seminar „Literaturverfilmung“ Wintersemester 2005/06 Dr. Sieghild Bogumil-Notz Dracula – Nosferatu Der Roman von Bram Stoker (1897) im Vergleich mit der filmischen Adaption von Friedrich Wilhelm Murnau (1922) und dem Remake von Werner Herzog (1979) Eine Hausarbeit von Benjamin Hahn

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Vergleichende Hausarbeit zu Bram Stokers "Dracula", Murnaus "Nosferatu" und Herzogs "Nosferatu".

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Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Philologie Allgem. und Vergl. Literaturwissenschaft Seminar „Literaturverfilmung“ Wintersemester 2005/06 Dr. Sieghild Bogumil-Notz

Dracula – Nosferatu

Der Roman von Bram Stoker (1897) im Vergleich mit der filmischen Adaption von Friedrich Wilhelm Murnau (1922) und dem Remake von Werner Herzog (1979)

Eine Hausarbeit von Benjamin Hahn

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Inhaltsverzeichnis: Einleitung: ........................................................................................................................ 2 Vergleich und Interpretationsansätze: .......................................................................... 4 Beweggründe und Deutungsmöglichkeiten: ............................................................... 18 Quellen: .......................................................................................................................... 30 Eidesstattliche Versicherung ........................................................................................ 31

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Einleitung:

Für gewöhnlich versucht eine filmische Adaption inhaltlich möglichst dicht an der

literarischen Vorlage zu bleiben, doch oftmals ist dies aus vielerlei Gründen nicht

möglich sei es die Komplexität der Vorlage, die Weigerung des Autors seinen Roman

verfilmen zu lassen, generelle künstlerische Differenzen zwischen Autor,

Drehbuchautor und Regisseur oder aber auch rechtliche Streitigkeiten um die

Urheberrechte der jeweiligen Vorlage.

Ein Beispiel wie man dennoch einen Film drehen kann, der sich sehr verhältnismäßig

nah an der Vorlage bewegt, lieferten z.B. der amerikanische Regisseur Philipp

Kaufmann bei seiner filmischen Bearbeitung des Romans „Die unerträgliche

Leichtigkeit des Seins“1 von Milan Kundera oder die deutschen Regisseure Volker

Schlöndorff und Margarethe von Trotta mit ihrer Adaption des Romans „Die verlorene

Ehre der Katharina Blum“2 nach dem gleichnamigen Roman von Heinrich Böll.

Gegenstand dieser Untersuchung soll ein Film des deutschen Regisseurs Friedrich

Wilhelm Murnau3 sein, der den Roman „Dracula“ von Bram Stoker unter dem Namen

„Nosferatu – Symphonie des Grauens“ in das Medium des Films übertrug. Als Murnau

zusammen mit dem Autor Henrik Gaalen den Dracula-Stoff im Jahr 1921 für das Kino

adaptieren wollte, verweigerte ihm die Witwe des Autors, Florence Stoker, die Rechte

an der Verfilmung. Da Murnau und Gaalen aber offenbar begeistert von dem Stoff

gewesen sein mussten und Murnau schon zu früherer Zeit Schwierigkeiten mit dem

Urheberrecht einiger anderer Filmvorlagen hatte und so über eine gewisse Routine im

Umgang mit derlei Streitigkeiten verfügte, veränderte er schlicht Teile der Vorlage und

bezeichnete seine Adaption „frei“ auf Motiven des Romans basierend, was sogar die

Produktionsfirma Prana-Film4 dreist in den Vorspann schreiben ließ. Leider reichten die

Veränderungen nicht aus um den Film als eigenständiges und von Stokers Vorlage

genügend abweichendes Werk darstellen zu können und so verbot schließlich ein

1 Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, OT: The unbearable Lightness of Being, USA, 1988 2 Die verlorene Ehre der Katharina Blum, (West-)Deutschland, 1975 3 geboren am 28. Dezember 1888 in Bielefeld als Friedrich Wilhem Plumpe; gibt sich selbst 1912 als Schauspieler den Künstlernamen Murnau. Er stirbt am 11. März 1931 in Santa Monica/Kalifornien an den Folgen eines Autounfalls. 4 Die Prana-Film GmbH war eine Berliner Produktionsfirma, an der als Gesellschafter unter anderem Albin Grau beteiligt war, der als Architekt und Kunstmaler für die Bauten bei „Nosferatu“ zuständig war. Die Prana-Film GmbH machte bereits 1922, kurz nach der Premiere von „Nosferatu“ Konkurs. Unklar ist bisher immer noch, ob es an dem immensen Budget für die Werbung lag, das wohl deutlich höher war als das Budget des Films selbst, oder an dem Rechtsstreit mit der Familie Stoker.

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Gericht die Aufführung und Verbreitung von Murnaus Stummfilm mit der Auflage,

dass alle im Umlauf befindlichen Negative und Kopien verbrannt werden müssten. Zum

Glück konnten einige wenige Negative, die an die Universal-Studios in die USA

verkauft worden waren, gerettet werden.

Im Folgenden wird die Vorlage und ihre früheste filmische Adaption in Bezug auf den

Inhalt miteinander verglichen, denn das Urteil des Gerichts impliziert eine zumindest in

wesentlichen Teilen übereinstimmende Handlung. Zu diesem Vergleich hinzugezogen

wird der Film des deutschen Regisseur Werner Herzog, der 1979 mit Klaus Kinski,

Bruno Ganz und Isabelle Adjani in den Hauptrollen sowohl seine persönliche Adaption

des Dracula-Stoffes als auch ein Remake des ersten „Nosferatu“ drehte.5 Hier ist der

Aspekt interessant, inwiefern Herzog Elemente des Murnau-Films übernimmt und diese

mit Elementen aus dem Roman vermischt.

5 Nosferatu. Phantom der Nacht, (West-)Deutschland/Frankreich, 1979

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Vergleich und Interpretationsansätze:6

Das erste Unterscheidungsmerkmal ist der Handlungsort. Bram Stokers Vorlage spielt

in Withby in der Nähe von London, Murnau verlegt die Handlung in die fiktive Stadt

Wisborg und Herzogs Adaption spielt in Wismar, wo Murnau große Teile seines Films

drehte. Das zweite dem Zuschauer sofort auffallende Unterscheidungsmerkmal ist die

Abänderung der Namen. Während Herzog für seine Adaption die Namen der einzelnen

Charaktere aus dem Roman übernehmen konnte und dies auch zu großen Teilen tat,

musste Murnau diese Namen abändern. So wird bei Murnau aus „Jonathan Harker“

„Hutter“, dessen Vornamen wir über die gesamte Länge des Films nie erfahren. „Mina“

wird bei Murnau zu „Ellen“, „Graf Dracula“ zu „Graf Orlok“, der Makler „Renfield“ zu

„Knock“ und aus „Dr. van Helsing“ wird „Prof. Bulwer“.

Diese Unterscheidungsmerkmale sind allerdings so auffällig und oberflächlich, dass sie

eher von unbedeutender Natur sind und auch in dem Gerichtsstreit um die

Urheberrechte nicht als Mittel der Eigenständigkeit angesehen wurden. Interessant ist

daher die genauere Untersuchung von Abweichungen innerhalb der Geschichte selbst.

Bram Stokers am 26. Mai 1897 erschienener Roman „Dracula“ ist ein Briefroman7, d.h.

die Brief- und Tagebuchform ist die Struktur des Romans von Stoker und damit sein

Hauptmerkmal. Um sich von dieser Struktur zu unterscheiden, verzichtet Murnau fast

vollständig auf Tagebucheinträge und Briefe: Die einzigen Briefe sind ein Brief von

Orlok an Knock und umgekehrt sowie ein Brief, den Hutter an Ellen schreibt, noch

bevor er das Geheimnis um Graf Orlok aufgedeckt hat. Auch findet bei Murnau nur ein

einziges Tagebuch Erwähnung, bei dem es sich um das Logbuch des Kapitäns der

Empusa (bei Herzog: Contama; bei Stoker: Demeter) handelt.

Bei der Betrachtung des ersten Handlungsabschnittes8 werden bereits erste Unterschiede

deutlich. Stoker verwendet für diesen Abschnitt etwa 3,6 % der gesamten Handlung9,

6 Die Einteilung der Handlungsabschnitte wird dem Aktschema des „Nosferatu“-Films von Murnau folgen. Zwar stimmen die einzelnen Akte nicht mit den Kapiteln oder Sinnabschnitten des Romans von Bram Stoker überein, aber als grundlegendes Gerüst zum Vergleich der Inhalte der beiden Filme und des Romans schien mir die Übernahme dieser Einteilung sinnvoll. 7Ein Roman, der seine Geschichte durch die Wiedergabe von fiktiven Briefen, Telegrammen und Tagebucheinträgen erzählt, die so angeordnet worden sind, dass sich aus dieser Struktur ein kontinuierlicher Erzählfluss ergibt, der ebenso im Stande ist Gefühle wie Spannung oder Angst zu generieren wie ein typischer Roman und sich aller Mittel der Narration bedient, also Spannungshöhepunkte, retardierende Momente etc. 8 Jonathan Harkers Reise und die erste Begegnung mit Graf Dracula bilden den ersten Akt des in fünf Akte gegliederten Films von Murnau

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Murnau ganze 23,1%10 und bei Herzog sogar etwa 25%.11 Neben dieser doch sehr

deutlichen Gewichtung bei Murnau und im Herzog’schen Remake sind auch die

inhaltlichen Unterschiede immens.

In Stokers Roman lesen wir die fiktiven Tagebucheinträge des Jonathan Harker, an

denen wir seine Reiseroute durch Europa verfolgen können. Diese Tagebucheinträge

beginnen mit dem Verlassen Münchens und berichten über die Reise über Wien und

Budapest hinweg gen Osten hin. Als er zu einer letzten Übernachtung vor dem

Erreichen Graf Draculas in Bistritz einkehrt, erfährt er in durch einen Brief Draculas,

dass dieser den Wirt angewiesen hat, ihm einen Platz in einer Postkutsche zu

reservieren, die Bistritz am nächsten Tag verlassen und Harker in die Nähe des

Schlosses bringen soll. Dort werde ihn dann eine Kutsche des Grafen abholen. Am

nächsten Morgen versucht die Wirtin vergeblich, ihn von seinem Vorhaben

abzubringen. Als er schon in der Postkutsche sitzt, bemerkt er eine Ansammlung von

Menschen, die ihn neugierig mustert und ihn gegen das Böse zu segnen scheint. Der

Tag verläuft, wie im Brief Draculas beschrieben, und Harker schreibt Notizen zu der

den ganzen Tag dauernden Reise mit der Postkutsche. Am Borgo-Pass zu nächtlicher

Stunde angekommen, wird die Postkutsche von der Kutsche des Grafen eingeholt und

Harker wechselt die Kutschen. Die Fahrt mit der Kutsche des Grafen wird unterbrochen

von merkwürdigen Ereignissen und Eindrücken: Harker fühlt den Kutscher durch Hin-

und Herfahren auf derselben Straße Zeit schinden, Wölfe heulen und belagern

schließlich sogar die Kutsche, blaue Flammen erscheinen, um die der Kutscher seltsam

anmutende Steinformationen legt. Nach einer langen Fahrt erreicht die Kutsche mit

Harker das Schloss und er trifft das erste Mal auf Dracula.

Murnau weicht von Stokers Vorlage schon zu Beginn recht stark ab. Er eröffnet seinen

Film mit Ansichten Wisborgs und wechselt dann zu Ellen und Hutter, die wir für kurze

Zeit in ihrem alltäglichen Zusammenleben beobachten. Schließlich macht sich Hutter

auf um zur Arbeit zu gehen. Von seinem Vorgesetztem, dem Makler Knock, erfährt er

von den Plänen Graf Orloks, sich in Wisborg ein Haus zu suchen. Knock schickt Hutter

auf die Reise zum Grafen, mit der Bitte ihm ein verlassenes und leicht

9 Der deutschen Ausgabe von Bastei Lübbe folgend, die 558 Seiten umfasst, wobei der eigentliche Roman erst auf Seite 7 beginnt. Der erste Handlungsabschnitt endet auf Seite 27 mit der ersten Begegnung mit Graf Dracula. 10 Der rekonstruierten Version von Eureka/ILM folgend, welche die deutschsprachigen Zwischentitel wortgetreu übersetzt. 11 Der englischen Schnittfassung folgend, die etwa 7 Minuten länger ist als die deutsche.

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heruntergekommenes Haus gegenüber Hutters eigenem Haus anzubieten. Hutter verlässt

Wisborg, nachdem er Ellen zu seiner Schwester Ruth gebracht hat. Kurz vor dem

Schloss erreicht Hutter eine Herberge, in der er übernachtet. Als er in der Herberge den

Namen des Grafen erwähnt, reagieren die anderen Gäste mit Entsetzen. Der Wirt gibt

ihm ein Buch über Vampire, dessen erste Seiten Hutter später auf seinem Zimmer liest,

es dann aber spöttisch zur Seite legt. Unterbrochen werden die Szenen in der Herberge

immer wieder durch Schnitte auf eine Hyäne, die durch ein Gebüsch streift. Hutter

wacht am nächsten Morgen auf, wäscht sich, wirft erneut einen Blick auf das Buch, das

er daraufhin einsteckt. Er organisiert für sich selbst eine Mitfahrgelegenheit.

Irgendwann weigert sich der Kutscher dichter an das Schloss heranzufahren und Hutter

muss aussteigen. Nachdem er einen Teil der Strecke gelaufen ist, erreicht ihn die

Kutsche12 des Grafen, die ihn zu dem im Gebirge gelegenen Schloss bringt und ihn vor

dem Tor absetzt. Die Flügel des Tores öffnen sich, Hutter geht hinein und entdeckt Graf

Orlok.13

Herzog beginnt seinen Film mit Bildern von Mumien, die in einer Reihe sitzend

abgefilmt werden, aber in keinem kausalen Zusammenhang mit dem Rest des Films

stehen und auch später keine Erwähnung mehr finden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass

Herzog die Mumien als erstes Darstellung des Todes einsetzt, wie sie sich später auch

noch in anderen Formen14 vorfinden lässt. Ansonsten folgt Herzog aber im

Wesentlichen Murnaus Film, ergänzt ihn allerdings noch um einen Strandspaziergang

von Mina15 und Jonathan, bei dem Mina bereits vorausdeutend über eine innere,

namenlose und todbringende Angst spricht. Auch Harkers Reise mit dem Pferd (und

nicht wie bei Stoker mit dem Zug) verfolgt Herzog länger: Die Szene in der Herberge

12 Diese Kutsche ist vollkommen schwarz gefärbt. Der Kutscher erinnert mehr an eine böse Kreatur mit animalischen Zügen als an einen Menschen. Es folgt ein Trick, der die Kutsche dämonischer erscheinen lässt: Murnau zeigt eine Einstellung der Kutschenfahrt durch einen Wald als Negativ an Stelle des gewöhnlich genutzten Positivs. Die Szene, die nicht viragiert ist, erscheint nun in den Komplementärfarben: Was vorher schwarz war, ist nun weiß. Doch Murnau nutzte für diese Szene eine weiße Kutsche, die nun in diesem Negativ ebenso schwarz erscheint, wie im Positiv der Einstellung zuvor. 13 Auf Grund der mangelnden technischen Möglichkeiten musste Murnau bei Tageslicht drehen, sodass er seinen Grafen Orlok in einer Texttafel sagen lässt, dass um diese Uhrzeit bereits alle Bediensteten zu Bett gegangen seien. Diese Texttafel entspricht einer fast wörtlichen Wiedergabe einer Textstelle des Romans. Die vorliegende Rekonstruktion ist falsch viragiert, also falsch eingefärbt. Sie ist durchgehend in Sepia gefärbt, während Murnaus Film eigentlich in verschiedenen Farbtönen viragiert ist, sodass die blau gefärbten Nachtszenen tatsächlich mehr nach Nacht wirken, als es in der vorliegenden Rekonstruktion den Anschein hat. Auf Grund der ansonsten aber technisch sehr guten Rekonstruktion, greife ich auf sie zurück und eben nicht auf zwar korrekt viragierte, aber nicht-rekonstruierte Fassung. 14 Unter anderem eine Uhr mit einem Skelett als Gong etc. 15 Herzog nennt sein Mina eigentlich Lucy. Aus Gründen der Übersichtlichkeit jedoch, werde ich die Herzog’sche Lucy nach ihrer Vorlage Mina nennen.

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ergänzt Herzog zum einen um ein Gespräch zwischen Harker und Zigeunern, die ihn

vor einer Weiterreise warnen, zum anderen ändert er die Buchübergabe ab: Nicht mehr

der Wirt überreicht Harker das Buch über Vampire, sondern die Wirtin. Dabei hängt

ihm die Wirtin zusätzlich ein Kruzifix um den Hals. Herzog zeigt also in dieser Szene

Elemente sowohl aus Murnaus Film als auch aus dem Roman und schafft so eine gute

Symbiose dreier Versionen eines Stoffes. Die Weiterreise allerdings unterscheidet sich

von den beiden anderen Versionen: Nachdem der Kutscher es ablehnt, Harker ab der

Herberge mitzunehmen, muss Harker zu Fuß weitergehen. 6 Minuten lang stellt Herzog

die Wanderung Harkers durch ein unmenschliches, äußerst wildes und unberührtes

Gebirge dar. Unterstrichen durch die Klänge von Wagners „Rheingold“ und zusammen

mit den grandiosen Naturaufnahmen macht Herzog aus dieser Weiterreise schon gar

eine Passion und schafft es so, das Schloss Draculas und dessen Umgebung stärker zu

mystifizieren und jenseitig erscheinen zu lassen, als es Stoker oder Murnau gelungen

ist. Es überrascht daher auch nicht, dass die Kutsche des Grafen mitten in der Nacht am

Ufer eines Gebirgsflusses, tief unten in einer Schlucht auf Harker trifft und die Kutsche

der Bauweise einer Leichenkutsche entspricht. Dass Herzogs Interesse an Harkers Reise

mit dem Eintreffen der Kutsche und dem Ende seiner passionsartigen

Gebirgswanderung erlischt, beweist der nächste Schnitt, der die Kutsche bereits bei der

Einfahrt in den Innenhof des Schlosses zeigt. Wie bei Stoker erwartet Dracula seinen

Gast Harker an der Tür.

Im zweiten Akt verkürzt Murnau die literarische Vorlage radikal und konzentriert sich

nur auf die wichtigsten Motive. Nach seiner Ankunft im Schloss Graf Orloks isst Hutter

zu Abend, während Orlok den Brief des Maklers Knock liest. Als Hutter sich ob des

Läutens einer Uhr erschrickt, schneidet er sich mit einem Messer in den Finger. Orlok

erhebt sich und will das Blut aus Hutters Finger saugen. Dieser weicht erschrocken und

durch Orlok bedrängt zurück, bis er eine Sitzecke erreicht, in der er sich niederlässt. Der

Graf scheint sich für sein Verhalten entschuldigen zu wollen und rät Hutter sich

schlafen zu legen. Als Hutter am nächsten Morgen erwacht, findet er sich in jener

Sitzecke vor und bemerkt zwei kleine Stiche am Hals. Nach einem ausgiebigen

Frühstück läuft er durch das menschenleere Schloss und schreibt einen Brief an Ellen,

in dem er auch über die Einstiche berichtet, die er für Insektenstiche hält. Er sieht einen

Boten, winkt ihn herbei und gibt ihm den Brief mit. Am Abend bespricht Hutter

Geschäftliches mit Orlok; dabei fällt ein Amulett von Ellen aus den Unterlagen, das der

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Graf freundlich kommentiert. Zurück auf seinem Zimmer fällt Hutter das Buch über

Vampire in die Hand. Als er darin zu lesen beginnt, schlägt die Uhr Mitternacht. Hutter

öffnet seine Tür und schaut in den davor liegende Halle. Am Ende dieser Halle steht

Orlok hochaufgerichtet und bedrohlich wirkend. Hutter schließt die Tür und verkriecht

sich in seinem Bett. Orlok betritt das Zimmer, Hutter fällt in Ohnmacht. Der Film

wechselt zu Ellen und zeigt sie schlafwandelnd. Von ihrem Schwager gerettet, erwacht

sie und ruft nach Hutter.16 Orlok verlässt das Zimmer wieder17 und Ellen sinkt erschöpft

zusammen.

Am nächsten Morgen läuft Hutter erneut durch das Schloss und findet den Sarg von

Orlok. Entsetzt zieht sich Hutter, der in der Burg nun eingeschlossen zu sein scheint, in

sein Zimmer zurück, bis er im Innenhof Geräusche vernimmt. Er blickt aus dem Fenster

und sieht, wie Orlok eine Kutsche mit Särgen belädt und sich zum Schluss selbst in den

obersten Sarg legt, dessen Deckel sich daraufhin eigenständig schließt. Hutter ahnt die

Gefahr für Ellen und fertigt aus Bettlaken ein Seil, mit dem er sich an der Schlosswand

hinunterlässt. Da dass Seil zu kurz ist, lässt er sich das letzte Stück fallen. Als er auf

dem Boden aufkommt, wird er bewusstlos. Der zweite Akt endet mit einer kurzen

Szene, in der die Särge des Grafen auf einem Floß einen wilden Fluss hinunterfahren.

Herzog folgt in seinem Film grob dem Ablauf Murnaus, übernimmt aber die Dialoge

z.T. aus der literarischen Vorlage, so unter anderem das Wolfsgeheul und den darauf

folgenden Kommentar Draculas über die Schönheit dieser Stimmen, die wohl nur von

einem Jäger wirklich geschätzt werden könnte. Herzog übernimmt auch Murnaus

Episode mit dem Schnitt in den Finger, zeigt aber seinen Dracula als deutlich hin- und

hergerissen zwischen dem animalischen Trieb, das Blut trinken zu müssen und der

gesellschaftlichen Etikette.18

Weitere Änderungen: Herzog zeigt Mina, wie sie durch eine Fledermaus geweckt wird

und wie sie später, während Jonathan in sein Tagebuch schreibt, am Strand spazieren

geht. Herzog ersetzt also Hutters Brief an Ellen durch einen Tagebucheintrag Harkers.

Bei der Szene des Vertragsabschlusses orientiert sich Herzog wieder an Murnau,

ergänzt diese Szene aber erneut um Dialoge aus Stokers Roman. Die darauffolgenden

16 Diese Szene kennzeichnet sich durch etliche Cross-Cuts, die eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse verdeutlichen sollen 17 Murnau zeigt nicht explizit, was passiert ist, aber durch geschicktes Schattenspiel und in einen Kontext mit dem Buch über Vampire gesetzt, wird dem Zuschauer subtil vermittelt, was sich wahrscheinlich ereignet haben wird. 18 Diese Szene wirkt in Herzogs Version viel bedrohlicher, was nicht zuletzt auch ein Verdienst des intensiven Spiels des cholerischen Klaus Kinski ist.

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Szenen bis zum Schluss des zweiten Aktes bei Murnau inszeniert Herzog fast exakt

übereinstimmend mit Murnaus Film.

Der gesamte Handlungsstrang des zweiten Aktes ist eine extreme Verkürzung des

Romans von Stoker, der seinen Dracula als einen äußerst gebildeten und freundlichen

Grafen zeichnet, der sich zunächst Harker gegenüber sehr zuvorkommend verhält. Eine

Szene, wie die mit dem Schnitt in den Finger, ist bei Stoker nicht zu finden.

Vergleichbar ist im Höchstfall ein Zwischenfall, bei dem Harker sich mit einem

Rasiermesser schneidet, weil er von Dracula überrascht wird.19 Sowohl Murnau als auch

Herzog verzichten auf die Darstellung Draculas, der sich an der Schlosswand entlang in

Richtung Tal bewegt. Ebenso verzichten beide auf die Erwähnung des Ratschlags

Draculas, die anderen Teile des Schlosses bei Nacht nicht zu betreten. Als Harker in

Stokers Roman diesen Ratschlag missachtet, trifft er auf drei Frauen, offenkundig

Draculas Bräute, die sich über Harker hermachen wollen, aber in letzter Sekunde von

Dracula daran gehindert werden. Die beiden Filmemacher verkürzen Harkers Aufenthalt

in dem Schloss auf etwa drei Tage, während Harker in der Vorlage beinahe zwei

Monate in dem Schloss gefangen ist und deshalb auch mehr Zeit hat, dass Schloss

genauer zu erkunden, als es ihm in den filmischen Adaptionen möglich ist. Ein weiterer

Effekt dieser Verkürzung ist das Wegfallen dreier Briefe.20 Auch hat Murnau die

Zigeuner nicht in seine Adaption übernommen, die für Dracula arbeiten und ihn

letztendlich aus dem Schloss transportieren. Herzog behält zumindest als Reminiszenz

an diese Zigeuner das Motiv eines Zigeunerjungen bei, der im Innenhof des Schlosses

Geige spielt.

Nun folgt in Murnaus Film ein eklatanter Bruch mit der Erzählweise und dem Inhalt des

Buches. Bram Stoker beendet die erste Erzählung aus der Sichtweise Harkers mit

dessen Plänen das Schloss verlassen zu wollen, schreibt allerdings nicht, ob ihm dies

gelingt21, sondern wendet sich Mina zu und erzählt an Hand eines fiktiven

Briefwechsels zwischen Mina und Lucy und Tagebucheinträgen , was dieser in

Jonathan Harkers Abwesenheit widerfährt. Der Leser erfährt, dass Lucy drei

Heiratsanträge gemacht wurden, derer zwei sie abweisen musste. Er erfährt, dass Mina

19 Harker konzentriert sich während der Rasur auf sein Spiegelbild und erschrickt, als Dracula plötzlich hinter ihm steht, ohne dass ihn Harker im Spiegel den Raum hatte betreten sehen. 20 Harker wird von Dracula befohlen, drei Briefe zu schreiben, um Mina und seinen Arbeitgeber über seinen wahren Verbleib zu täuschen 21 Im Gegensatz zu den beiden filmischen Adaptionen, die Harkers/Hutters Flucht darstellen und die Frage nach dem Gelingen der Flucht durch einen vom Sprung in die Tiefe erschöpften und entkräfteten Zusammenbruch Harker/Hutters stellen.

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ihre gute Freundin Lucy besuchen will und nicht, wie es die beiden filmischen

Adaptionen darstellen, von Jonathan der Obhut von Lucy und ihrem Ehemann

überlassen wird. Der Roman stellt dann ausführlich das Leben Minas bei Lucy in dem

kleinen Hafenstädtchen Withby dar und wird immer wieder unterbrochen von den

Tagebucheinträgen Dr. Sewards, in dessen Behandlung sich der Makler und Vorgesetzte

von Harker, Renfield, befindet und dessen geistigen Verfall er beobachtet. Murnau

thematisiert dies nur kurz, indem er Knocks zweifelhafte Vorliebe für Fliegen und

Spinnen zeigt, ohne dabei allerdings so ausführlich zu werden wie Stoker und ohne Dr.

Seward, der Knock/Renfield betreut, näher einzuführen bzw. seine Nähe zu den anderen

Protagonisten zu erläutern. An dieser Stelle führt Murnau bereits „Prof. Bulwer“ ein,

der bei Stoker unter dem Namen „van Helsing“ firmiert und dort erst später in

Erscheinung tritt. Bulwer erklärt seinen Studenten, wie auch die einfachsten und

unscheinbarsten Wesen, wie die Venusfliegenfalle oder ein Polyp, animalisch und für

einige Arten lebensgefährlich reagieren können.

Das Hauptaugenmerk Stokers liegt in diesem Teil der Handlung auf der Darstellung von

Minas Charakter und ihrer sehr nachdenklichen Art, die sich unter anderem in einem

gesteigerten Interesse für die Geschichten eines alten Seefahrers manifestiert, den Mina

und Lucy auf dem Friedhof von Withby treffen. Auch dies thematisiert Murnau nur

ganz kurz und eher beiläufig, indem er eine nachdenkliche Ellen am Strand zeigt, die

auf eine Nachricht Hutters wartet. Darüber hinaus liegt das Augenmerk Stokers in der

Darstellung Lucys und ihrer geheimnisvollen Krankheit, von welcher sie nach Anlanden

des Geisterschiffes „Demeter“ heimgesucht wird.

Die Episode mit dem Schiff findet sich nun wiederum in den beiden filmischen

Adaptionen. Eine besonders wichtige Differenz ist die Einarbeitung des Logbuchs des

Kapitäns in die Handlung. Stoker stellt diese in seinem Roman hinter einen

Zeitungsbericht über das Anlanden des Schiffes, erzählt also rückblickend über die

Überfahrt, während Murnau eben jene Überfahrt und die passenden Logbuch-Einträge

in der chronologisch richtigen Reihenfolge zeigt.

Die Einarbeitung der Überfahrt in den korrekten zeitlichen Ablauf der Handlung ist in

Murnaus Film eine logische Notwendigkeit. Die Reduktion seiner Handlung auf

wesentliche, aber quantitativ geringe Aspekte der literarischen Vorlage, zwingen

Murnau zu einer logischeren Abfolge in der Beschreibung der Ereignisse, will er einer

extremen Sprunghaftigkeit seiner Erzählung entgegenwirken. Murnau reduziert seinen

Film auf zwei Haupthandlungsorte: Wisborg und das Schloss Orloks. Diese beiden Orte

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verbindet er mit jeweils durch das Motiv einer Reise: Reist zu Beginn des Films noch

Hutter von Wisborg in die Karpaten, so konzentriert sich der Film in der zweiten,

dargestellten Reise auf die Reise Orloks per Schiff nach Wisborg. Murnau kommt dabei

der Umstand zu Gute, dass diese Überreise in der literarischen Vorlage eine kurze,

eigenständige Horror-Episode ist, die sich in die Gesamthandlung einfügt.22 Murnau

übernimmt diese Episode als ein chronologisch korrektes Handlungselement und negiert

dadurch den Charakter der Beiläufigkeit, den dieses Element in seiner

Episodenhaftigkeit bei Stoker hat.

Murnau übernimmt zwar den krankheitsbedingten Aufenthalt Hutters/Harkers in einem

Kloster, verzichtet allerdings auch hier wieder auf wesentliche Merkmale der

Stoker’schen Handlung, so z.B. darauf, dass Mina einen Brief von einer

Ordensschwester erhält, zu ihrem kranken Mann nach Budapest reist, beide dort auf der

Krankenstation heiraten, Harker seiner Frau als Zeichen des Vertrauens sein Tagebuch

gibt, welches diese als Hochzeitsgeschenk ungelesen versiegelt und weglegt.

Stattdessen zeigt Murnau einen Hutter/Harker, der aus Angst um seine Frau

eigenmächtig durch die Wälder Europas zurück nach Wisborg reist, wo seine Frau

immer noch auf ihn wartet. Durch diese Abänderung auf inhaltlicher Ebene, schafft sich

Murnau eine andere Konnotation der Überfahrt als Stoker.

Die Überfahrt, bei Stoker eher nur schaurige Nebenepisode (s.o.), ist in Murnaus Film

ein wichtiges Handlungselement: Durch Cross-Cuts, welche die Gleichzeitigkeit von

Hutters und Orlofs Reise verdeutlichen sollen, schafft Murnau das Gefühl eines

Wettrennens. In diesem Wettkampf zwischen dem Guten und dem Bösen geht es zum

einen um Ellen und ihre körperliche Unversertheit, zum anderen aber auch um die

Bedrohung Wisborgs durch die Pest: In einer Zwischensequenz liest der in der

Irrenanstalt sitzende Renfield/Knock über den Ausbruch der Pest in Osteuropa und im

Speziellen in der Hafenstadt Varna. Da Murnau bereits zuvor in seinem Film das

Verladen der Särge von Orlok und deren Inhalt, nämlich Erde und Ratten, gezeigt hat,

kann der Zuschauer ganz leicht eine Verbindung herstellen und assoziiert von nun an

mit Orlok auch die Gefahr der Pest. Hutters Wettrennen mit Orlok mag für ihn also

vorrangig private Ziele haben, der Zuschauer allerdings weiß längst, dass die Gefahr

viel elementarer ist und viel mehr Menschen betreffen könnte.

22 Bei Stoker die Wiedergabe des Logbuchs und somit schon bereits geschehener Ereignisse, die sich in den Kontext der gesamten Handlung als eine Art kleines Puzzle-Stück fügen.

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Diese Veränderung schafft Legitimation für die nachfolgenden Änderungen. Statt sich

nun also im Zwang der literarischen Vorlage zu befinden, schafft er sich inhaltliche

Freiräume und definiert gleich das Ziel, das von nun an Hutters Bemühungen haben

wird: Der Schutz seiner Frau und der Stadt vor den Gefahren des Vampirs. Dieses Ziel

hat zwar auch Stokers Held, aber im Gegensatz zum Film definiert Stoker dieses Ziel

nicht so klar. Dem Leser des Romans ist die Gefahr durch Dracula zwar durchaus

bewusst, sie ist aber dennoch nicht so präsent wie in der filmischen Adaption. Bei

Stoker ist zu diesem Zeitpunkt der Handlung noch nicht feststellbar, in welche Richtung

sich der Roman final entwickeln wird, was vor allem mit der immer wieder

vorkommenden Einführung bis dato unbekannter Charaktere zusammenhängt. Murnaus

Film hingegen, umreißt bereits zu diesem Zeitpunkt das Szenario des Finales, das nur

eine kleine Variation der jetzigen Konstellation sein kann. Die Einführung eines neuen

Charakters oder eines zu langen, retardierenden Momentes würden mit der bis zu

diesem Zeitpunkt sehr konsequent verfolgten Erzählweise brechen und dadurch das

Vorangegangene ad absurdum führen. Während also Stoker die strukturelle

Episodenhaftigkeit eines Briefromans auch auf inhaltlicher Ebene fortführt, wendet

Murnau eine gänzlich andere und weniger komplexe Erzählstruktur an, die sich in

vielen seiner Filme wiederfinden lässt und bei der es sich nicht um eine zwangsläufig

medial bedingte, sondern eher persönlich-präferierte Erzählweise handelt, wie z.B. die

in ihrer Erzählstruktur deutlich komplexeren Filme von Fritz Lang23 aus derselben Zeit

eindrucksvoll zeigen.

Während also Stokers Roman zu diesem Zeitpunkt der Handlung noch allen

Möglichkeiten gegenüber offen ist, ist der Rahmen der möglichen Storywendungen und

Retardationen in Murnaus Adaption deutlich eingeschränkter.

Trotz dieser enormen Abweichung, übernimmt Murnau erneut kleinere

Handlungselemente, so z.B. das Motiv des Schlafwandelns. Ellen irrt durch die

Wohnung ihrer Freundin und gerät schließlich auf den Balkon, wo sie die inzwischen

aufgewachte Freundin vor Schlimmeren bewahrt. Murnau übernimmt zwar das Motiv,

wandelt es aber um: Die literarische Vorlage spricht von Lucy, die umherwandert und

dann von Mina gerettet wird, Murnau dreht diese Konstellation um. In dieser Szene

greift er erneut Ellens Ahnung auf: Als ihr Verlobter von Orlok gebissen wurde, stellte

23 Ebenfalls im Jahr der Entstehung von „Nosferatu“ drehte Fritz Lang seinen Stummfilm „Dr. Mabuse, der Spieler“. Ein Zwei-Teiler, dessen Gesamtlaufzeit ca. 4 ½ Stunden beträgt, und der in seiner extrem verschachtelten und sehr komplexen Erzählweise verdeutlicht, dass das Medium Film keiner Vereinfachung auf der erzählerischen Ebene bedarf.

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Murnau in einem Cross-Cut zwei Nahaufnahmen von Ellen und Orlok gegenüber.

Durch einen sehr intelligent gesetzten Schnitt eines Blickes Orloks weg von Hutter hin

zur Tür und des Gesichts von Ellen, entsteht der Eindruck einer Schuss-Gegenschuss-

Konstellation, wie sie bei einem Dialog verwendet wird. Murnau suggeriert durch

diesen Schnitt, dass beide geografisch von einander weit entfernte Personen, sich

dennoch sehen oder zumindest spüren könnten. Diese Ahnung Ellens also greift Murnau

in der Schlafwandel-Szene erneut auf, indem er Ellen sagen lässt, dass „er“ komme und

sie zu „ihm“ hinmüsse.

Nachdem das Schiff im Hafen anlandet, gelingt Renfield/Knock, ähnlich wie in Stokers

Roman, die Flucht aus der Irrenanstalt. Derweil entlädt Orlok persönlich das Schiff und

schafft eigenhändig seinen Sarg in sein neues Domizil, während Hutter zu Hause bei

Ellen ankommt. Die Ratten, die mit ihm gereist sind, verteilen sich in der Stadt. Das

menschenleere Schiff wird durch Beamte der Stadt überprüft, die Leiche des Kapitäns

untersucht und das Logbuch gelesen. Eine Notiz im Logbuch über den Verdacht auf

Pest, lässt die Beamten in Sorge geraten, die Bevölkerung wird gewarnt.

Herzog folgt zum Teil der Vorlage Murnaus. Auch er zeigt, wie Hutter/Harker für kurze

Zeit als Kranker von einer Ordensschwester und einigen Bauern behandelt wird und

dann auf eigenes Verlangen die Rückreise antritt. In Herzogs Version ist Jonathan

Harker deutlich kränker, als in Murnaus Film. Seine Stimme ist brüchig, sein Gesicht

eingefallen und schneeweiß.24 Auch die Szenen mit Renfield/Knock folgen der Vorlage

Murnaus, wenn auch unbedeutend länger. Wo Herzog jedoch von Murnaus Adaption

abweicht, übernimmt er nicht, wie in vorangegangenen Szenen, Elemente aus der

literarischen Vorlage, sondern schafft sich eine eigene und autonome Adaption: Mina

erhält von Jonathan keinen Brief und beginnt zu spüren, dass etwas nicht in Ordnung

ist. Mit der Absicht nach Transsylvanien zu reisen, besucht sie Renfield in der

Irrenanstalt, erfährt von diesem jedoch nichts. Herzog kann so auf die Darstellung des

Schlafwandelns und des undefinierbaren Gefühls Minas verzichten und macht ihre

Besorgnis nachvollziehbarer.

Nach dem Besuch Minas gelangt Renfield an eine Zeitung und liest von dem Ausbruch

der Pest in der Hafenstadt Varna. Herzog folgt ab hier wieder Murnau, wenn auch die

24 Dass Harker/Hutter in Murnaus Adaption nicht so krank dargestellt wird, ist zum einen bedingt durch die Grenzen des Schwarz-Weiß-Stummfilms, zum anderen aber auch von der unterschiedlichen Definition der Auswirkung des Vampirbisses, die gegen Ende der jeweiligen Filme eine große Rolle spielen wird.

Page 15: Dracula/Nosferatu

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Überfahrt deutlich verkürzt und auf einige wenige Szenen reduziert ist. Herzog arbeitet

den Charakter des Wettrennens noch deutlicher heraus als Murnau, indem er die

Schiffsepisode auf das Allernötigste, nämlich Nosferatus Aufwachen und

Nahrungssuche in der Nacht und den Tod des Kapitäns, verkürzt und die Cross-Cuts

zwischen Harkers und Nosferatus Reise um Aufnahmen von Mina erweitert, die vom

Fenster aus auf den Kanal blickt und die Schiffe beobachtet.

Das Anlanden und die darauf folgende Untersuchung folgen bei Herzog dem Verlauf

von Murnaus Film, doch Herzog verzichtet darauf, seinen Renfield entfliehen zu lassen.

Stattdessen inszeniert er die Untersuchung des Schiffes länger und verweist deutlicher

auf die Ratten als Überträger der Pest.

Der fünfte und finale Akt des Murnau’schen Films ist eine völlige Loslösung von der

literarischen Vorlage. Murnau und Gaalen kürzen die Vorlage um stolze 72%25 des

gesamten Inhalts und übernehmen nicht einmal mehr einzelne Motive aus dem Roman.

Während im Roman Lucy zum Vampir wird26 und sich die Protagonisten des Romans

aus Rache für das erfahrene Leid zusammentun und letztendlich Dracula bis in die

Karpaten zu seinem Schloss verfolgen, wo sie ihn durch Abschlagen des Kopfes27 töten

und somit das Übel des Vampirs vernichten, geschieht im Film Folgendes: In Wisborg

ist die Pest ausgebrochen. Beamte der Stadt ziehen von Haus zu Haus und machen für

jeden Pest-Toten einen Strich an die Tür. Sargträger holen die Leichen aus den Häusern

und schließen sich bald zu einer düsteren Prozession zusammen, die sich einem

Lindwurm gleich, ihren Weg durch die Stadt bahnt.. Zur selben Zeit entdeckt Ellen in

Hutters Sachen das Buch über Vampire und entdeckt, dass es gegen den Vampir

„keine andere Rettung [gebe], es sey denn, daß ein gar sündlos Weyb dem Vampyre den ersten Schrey des Hahnes vergessen mache. Sie gäbe ihm sonder Zwange ihr Blut.“28

Nachdem immer mehr Menschen der geheimnisvollen Pest zum Opfer gefallen sind,

kann Ellen ihre Ahnungen richtig deuten. Sie versteht, dass der ihnen

gegenüberwohnende Orlok für den Ausbruch der Pest verantwortlich ist.

25 Eine explizite Nacherzählung der fehlenden Handlung ist für den Vergleich mit dem Roman eigentlich nötig. Da diese Wiedergabe allerdings recht lang ausfallen würde, sei einzig das Finale des Roman kurz umrissen. 26 Die zum Vampir gewordene Lucy wird auf Anraten Dr. van Helsings getötet. 27 Der Roman nennt das Pfählen des Herzens und das Abschlagen des Kopfes als einzige Möglichkeit, einen Vampir zu töten. 28 Texttafel, zitiert nach: Prinzler, 2003, S. 134

Page 16: Dracula/Nosferatu

15

Um die Spannung im finalen Akt zu erhöhen, fügt Murnau eine weitere Episode ein, die

er in den letzten Minuten des Films geschickt zwischen Ellens Opfergang einbindet. Die

Nachricht von der Flucht Knocks aus der Irrenanstalt hat sich inzwischen

herumgesprochen und in ihrer Not und Angst machen die Bürger Knock zu ihrem

Sündenbock und beginnen ihn zu suchen. Nachdem sie den wahnsinnigen und

verwirrten Menschen gefunden haben, beginnen sie ihn zu verfolgen. Murnau inszeniert

die Verfolgung Knocks durch die Meute aufgebrachter Bürger zum Teil recht ironisch

und gibt ihr so den Charakter einer vorsichtigen Kritik an der Sündenbock-Mentalität

der Menschen, welche generell Schuld nicht bei sich selbst, sondern bei anderen suchen.

Die Verfolgung Knocks und der Opfergang Ellens, die sich bei Anbruch der Nacht

Nosferatu förmlich am geöffneten Fenster präsentiert, verlaufen parallel und sind

intelligent ineinander geschnitten. Beide Geschichten werden in jeder Szene immer nur

so weit erzählt, wie es zum Verständnis des Geschehens notwendig ist. Murnau lässt

viele seiner Szenen im fünften Akt offen enden. Außerdem nutzt er das Schattenspiel29:

Kein physisch greifbarer Nosferatu erklimmt die Stufen zu Ellens Zimmer und öffnet

die Tür, sondern nur ein Schatten. Die Gefahr ist körperlos, transzendental und gerade

dadurch noch umso grauenhafter. Murnau schafft es mit einfachen Mitteln, dem Schnitt

im richtigen Moment und dem Spiel mit Schatten, eine wirkungsvolle Atmosphäre der

Spannung zu kreieren, die sich im Moment des Finales langsam auflöst: Während

Hutter zu Bulwer geeilt ist und Nosferatu von Ellens Blut trinkt, erfährt der Zuschauer,

dass Knock gefangen wurde und unverletzt geblieben ist. Zur selben Zeit ertönt ein

Hahnenschrei und das erste natürliche Licht des Tages beginnt die Stadt zu erhellen.

Orlok hat den richtigen Moment zur Flucht verpasst und versucht noch durch den

Halbschatten zu entkommen. Doch das Sonnenlicht steht schon zu hoch am Himmel.

Als es auf ihn fällt, zerfällt er zu Staub. Mit seinem Tod endet auch die Pest und

jegliche Gefahr, die mit Orlok über Wisborg gekommen war.

Herzog folgt zum Teil dem Verlauf der Handlung der Vorgabe durch Murnau, arbeitet

einige Aspekte von Murnau deutlicher aus und ändert große Teile der Handlung so ab,

dass er eine eigene, autonome Adaption schafft. So zeigt er zum Beispiel deutlicher die

Flut an Ratten, die mit Dracula nach Wismar gekommen ist und inszeniert den

29 Die Arbeit mit Schattenspielen als Zeichen dämonischer Transzendenz lässt sich auch in späteren Werken Murnaus nachweisen, so z.B. in „Phantom“ (ebenfalls 1922) und „Faust“ (1926). Die raffinierten Schattenspiele in Francis Ford Coppolas Dracula-Adaption von 1992 sind eine Hommage an diese beeindruckende Technik Murnaus.

Page 17: Dracula/Nosferatu

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Ausbruch der Pest deutlich düsterer und apokalyptischer als Murnau, was sich vor allem

in dieser, recht späten Szene des Films manifestiert: Auf dem Marktplatz, wo sich

bereits die Särge stapeln, ist die Anarchie ausgebrochen und die noch lebenden

Menschen feiern ein letztes Festmahl mit Tanz und Musik zwischen all den Toten und

den Massen von Ratten. Auch inszeniert Herzog den Einzug Draculas in sein neues

Domizil deutlich ruhiger und nutzt eine poetischere Bildersprache. Einer der größten

Unterschiede zu Murnaus Film ist jedoch die Zeichnung Jonathan Harkers im fünften

Akt. Scheint Harker/Hutter in Murnaus Adaption vollkommen regeneriert von dem Biss

Orloks/Draculas, so ist Harker bei Herzog deutlich von den Nachwirkungen des Bisses

gekennzeichnet. Fiebrig, blass und schwach wird er von einem Kutscher nach Hause

gebracht, wo er seine Frau Mina nicht erkennt. Auch leidet er unter zunehmender

Lichtempfindlichkeit.

Eine weitere inhaltlich Abänderung ist ein Besuch Draculas bei Mina, wo er sie zu

erpressen versucht30 Doch Mina lehnt ab und weist Dracula zurück. Sie liest das Buch

über Vampire und erfährt dieselben Informationen wie Ellen in Murnaus Film.31 Als sie

begreift, was mit der Stadt und Jonathan passiert, versucht sie sich Gehör zu

verschaffen, doch niemand will ihr zuhören oder glauben. Sie beschließt sich selbst für

die Stadt und ihren Mann zu opfern, und folgt somit der Ellen in Murnaus Film, wenn

auch mit deutlich mehr Wissen ausgestattet und als deutlich emanzipiertere Frau. Stand

bei Murnau eher noch das Motiv des Opferganges als Zeichen der Liebe im

Mittelpunkt, so verschiebt sich bei Herzog das Motiv leicht hin zur Pflicht gegenüber

der Gesellschaft: Herzogs Mina opfert sich auch für die Erlösung Jonathans, doch an

erster Stelle steht der Versuch den Niedergang der Gesellschaft durch die

Auswirkungen der Pest aufzuhalten. Murnaus Film enthält dieses Motiv durchaus, doch

Herzog arbeitet es deutlicher heraus.

Wie bei Murnau und Stoker entflieht Knock/Renfield, doch im Gegensatz zu den beiden

Vorlagen gelangt Renfield zu Dracula, der, ob der Unterwürfigkeit Renfields

angewidert, ihm befiehlt, nach Riga zu gehen um mit den Ratten die Pest noch weiter zu

verbreiten. Herzog verzichtet auf die spannende Verfolgungsjagd im fünften Akt zu

Gunsten einer deutlicheren Herausarbeitung der Beziehung und der Zeichnung der

einzelnen Charaktere. So lässt Herzog seine Mina nach dem Sarg Draculas suchen, als

30 Dracula erklärt Mina, dass Jonathan gerettet werden könne, wenn sich Mina dazu entschließe, mit ihm mitzukommen und so das Leid des einsamen Lebens zu beenden, das Draculas Unsterblichkeit mit sich führt. 31 Herzog fügt noch hinzu, dass ein Vampir die Stelle, an der eine geweihte Hostie liegt, nicht überschreiten oder betreten kann

Page 18: Dracula/Nosferatu

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dieser zu nächtlicher Stunde auf der Suche nach Nahrung ist. Als sie den Sarg gefunden

hat, streut sie eine zerriebene Hostie in den Sarg, sodass Dracula sich nicht mehr in

diesen legen kann. Letzte Gewissheit über die Natur Draculas als die eines Vampirs,

erhält Mina, als sie vom Tode Lucys32 erfährt, den Dr. van Helsing nicht der Pest

zuschreibt. Murnau folgend, opfert sich auch die Herzog’sche Mina dem Vampir und

hält ihn so lange bei sich, bis die Sonne aufgeht. Als das Licht der Sonne Dracula trifft,

sinkt er röchelnd zusammen und stirbt.

Doch Herzogs Film endet nicht so versöhnlich wie Murnaus Adaption: Dr. van Helsing

findet die durch ihr Opfer verstorbene Mina und Dracula und beschließt, diesen zu

pfählen um dem Spuk ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Jonathan, inzwischen selbst

Vampir, kann nicht eingreifen, da Mina ihn mit Hilfe von Hostien in einer Ecke des

Zimmers festgesetzt hat. Sein wildes Geschrei nach Hilfe allerdings bleibt nicht

ungehört. Einige Beamte stürmen das Haus und nehmen Dr. van Helsing mit sich.

Jonathan weist ein Dienstmädchen an, den Kreis aus „Staub“ wegzufegen. Als sie dies

getan hat und er wieder frei ist, weist er sie an, das Schlafzimmer, in dem noch immer

Mina und der gepfählte Dracula liegen, bis zum Eintreffen der Polizei zu versiegeln und

ihm ein Pferd zu bringen. Der alte Vampir ist tot, der neue Vampir lebt und reitet in die

Ferne, neuen Schrecken zu verbreiten.

32 Lucy heißt bei Herzog eigentlich Mina, aber auf Grund der Übersichtlichkeit sei sie ihrem literarischen Vorbild nach „Lucy“ genannt.

Page 19: Dracula/Nosferatu

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Beweggründe und Deutungsmöglichkeiten:

Über die Gründe für Murnaus und Gaalens Entscheidung, die literarische Vorlage so

enorm zu kürzen und inhaltlich abzuwandeln, kann auf Grund fehlender Quellen nur

gemutmaßt werden.; allerdings können einige Faktoren ausgeschlossen werden: Zwar

war die Kamera zu Beginn der 1920er Jahre noch statisch, also Kamerafahrten noch

gänzlich unbekannt, aber technisch war der Film in den Bereichen Effekt, Kulisse und

Kostüm dann doch bereits schon so weit entwickelt, dass eine genaue Umsetzung des

Romans im Medium Film möglich gewesen wäre. Bestes Beispiel für die technische

Machbarkeit einer aufwändigen Erzählung ist Fritz Langs „Dr. Mabuse, der Spieler“,

nach dem gleichnamigen Roman von Norbert Jaques: Der wegen seiner Länge von 470

Minuten in zwei Teile33 aufgeteilte Stummfilm, ist ein Meisterwerk der Tricktechnik

und erzählerischen Dichte bei einem Maximum an Nebenhandlungen und

Erzählsträngen und bewies, dass auch die Adaption langer und komplexer Romane

möglich ist. Eine Begrenzung auf Grund eines eher geringen Budgets scheint zwar

durchaus wahrscheinlich, jedoch widerspricht dieser Möglichkeit die Tatsache, dass die

Prana-Film für die Werbung mehr Geld ausgegeben hat als für den Film selbst, was zu

jener Zeit noch recht unüblich war. Es kann also zunächst kein Mangel an Finanzmitteln

bestanden haben. Die Prana-Film hätte Murnau mit einer größeren Geldsumme

ausstatten können, als das tatsächliche Budget betrug. Verbleibt also nur noch eine

bewusste Abänderung des Inhalts als letzte mögliche Erklärung.

Um diese Möglichkeit zu verstehen, muss man sich bewusst werden, dass „Nosferatu“

ein expressionistischer Film der 1920er Jahre ist und in dieser Form Produkt sowohl

dieser Kunstrichtung als auch Ergebnis der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen

Umstände der 1920er Jahre in Deutschland ist.

Der Expressionismus war eine Stilrichtung innerhalb der Kunst des frühen 20.

Jahrhunderts. Anders, als zum Beispiel im Impressionismus oder dem Naturalismus,

stand nicht die Wiedergabe der Natur oder die Darstellung der äußeren Erscheinung der

Dinge, sprich eine möglichst objektive Wiedergabe der Realität im Vordergrund,

sondern die Wiedergabe einer Seelenerfahrung, einer subjektiven Wiedergabe der

Realität, ein Ausdruck des Empfindens realer Begebenheiten. Die Kunst sollte

Sichtbares nicht wiedergeben, sondern Emotionen, Gedanken und unterbewusste

33 „Dr. Mabuse, Erster Teil: Der große Spieler – Ein Bild der Zeit“, „Dr. Mabuse, Zweiter Teil: Inferno – Ein Spiel von Menschen unserer Zeit“, Deutschland, 1922. Beide Teile hatten im Abstand weniger Tage Premiere in Berlin.

Page 20: Dracula/Nosferatu

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Empfindungen sichtbar machen. Dies geschah oftmals durch den Einsatz

ausdrucksstarker Farbkompositionen, Licht- und Schattenspielen und oftmals verzerrten

Formen, die keine klare Raum- oder Körperstruktur erkennen ließen. Mit dem Tod von

Franz Marc im Jahre 1916 beginnt das Ende des Expressionismus in der bildenden

Kunst und neue Formalisten und Strukturtheoretiker wie das von Walter Gropius

gegründete „Bauhaus“ bilden sich heraus.

Der Expressionismus innerhalb der bildenden Kunst hatte auch Einfluss auf andere

Kunstformen, so zum Beispiel auch auf die Literatur, wo allerdings der

Expressionismus mit der Gründung von Hugo Balls „Cabaret Voltaire“ im Jahr 1916

und der daraus folgenden Dada-Bewegung ebenfalls durch eine deutlich theoretischere

Kunstform abgelöst wurde. Der Krieg, der neben der Großstadt und der (Zukunfts-

)Angst zentrales Thema expressionistischer Literatur war, war 1914 Realität geworden.

Die Auswirkungen des Kriegsalltags war eine Beschäftigung mit Sprache und Identität

auf deutlich theoretischer Ebene. Der literarische Expressionismus nicht mehr en vogue.

Anders verhielt es sich jedoch in einer weiteren Kunstform, dem Film. Für das

Verständnis, wie sich der Expressionismus im Film etablieren konnte, ist die Kenntnis

über die Geschichte des deutschen Films ab 1910 notwendig, denn erst mit Ende des

ersten Weltkrieges erlebte der Kunst-Film in Deutschland eine neue Blüte und konnte

den gesellschaftlichen Diskurs jener Zeit überwinden, welcher dem Film innerhalb der

Kunst zunächst eine unbedeutende Rolle zugesprochen hatte: War Film zuvor fast

ausschließlich für dokumentarische Zwecke genutzt worden, etablierte sich erst im

Nachkriegs-Deutschland der Weimarer Republik eine Mainstream-Kultur der

filmischen Fiktion, wie sie schon längst aus England, Frankreich und den USA bekannt

war.

Filme mit fiktiver Handlung waren zwar bereits im Deutschland der 1910er Jahre nicht

unbekannt, aber sie waren, gemessen an dem Ausstoß dokumentarischer Filme, nicht so

stark vertreten wie in den 1920er Jahren: Gut 90% der nicht-dokumentarischen Filme,

die im Jahr 1910 gezeigt wurden, stammten aus Frankreich. Verantwortlich für diese

Situation war vor allem der gesellschaftliche Diskurs jener Zeit, der über Kunst und ihre

Inhalte geführt wurde. Die in den USA recht bekannte Kultur der Pulp-Literatur34 stieß

vor allem in Deutschland auf heftige Kritik und Unverständnis und löste eine

34 „Schundliteratur“: Horror- und Fantasy-Geschichten, die häufig in kleinen Heften und als Kurzgeschichten publiziert wurden. Ein bekannter Vertreter dieses Genres war Howard Phillips Lovecraft.

Page 21: Dracula/Nosferatu

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Diskussion aus, in die später auch der Film integriert wurde und in deren Zuge die aus

Frankreich importierten Filme mit der amerikanischen Pulp-Literatur und dem daraus

resultierenden Pulp-Kino gleichgesetzt wurden.35

„Denn das Lichtspiel jener Zeit war vielfach nur eine Verfilmung jener Zehnpfennighefte, ein bildmäßiges Diktat ihres Inhalts, durch die tatsächliche Abbildung der Handlung ungleich wirkungsvoller. (...) Die pseudo-literarische Dutzendware, die dem primitiven Verlangen der Massen entsprach, findet ihre Ergänzung im Kino-Topp: Der Film übertrug nur ins Bildhafte, was als Handlungsstoff im Schrifttum längst vorhanden war.“36

Die Ablehnung gegenüber dem fiktionalen Film durch Kritiker stand dabei im scharfen

Gegensatz zu dem Geschmack des Publikums, welches Interesse an diesen

„Schundfilmen“ gefunden hatte: „Schundroman und Schundfilm hätten nie eine solche

Verbreitung gefunden, wenn das Geschäft sich nicht tatsächlich gelohnt hätte. Die Ware

wurde abgesetzt, weil ein Verlangen da war..“37

Dabei muss allerdings bedacht werden, dass der Film erst 1894/95 erfunden wurde. Das

Medium war noch sehr jung und die Produktion eines Films muss eher als ein

kostspieliges Experiment bezeichnet werden und wurde so auch in der Gesellschaft

wahrgenommen: Es fehlte noch das Verständnis des Films als eigenständige Kunstform.

Es erscheint deshalb logisch, dass sich die frühen fiktionalen Filme an

publikumswirksamen und dennoch günstig zu produzierenden Stoffen orientierten.

Diese äußere Bedingung wurde jedoch im Diskurs jener Zeit kaum beachtet.38

Dieser Diskurs änderte sich erst mit der Gründung des ersten großen Filmateliers in

Potsdam-Babelsberg vor den Toren Berlins, als man auch in Deutschland das finanzielle

Potential des jungen Mediums erkannte und für sich nutzen wollte. Bereits 1912

entstanden hier erste Spielfilme, die jedoch einem hohen Unterhaltungswert dienten,

statt ausgereifte Filmkunst zu betreiben.39 Ab 1914 und über das Ende des ersten

Weltkrieges hinaus dominierten historisierende Märchenfilme, Abenteuerfilme und

35 Viele französische Filme basierten auf literarischen Vorlagen und Theaterstücken. Nicht wenige Kritiker jener Zeit sahen durch die Verfilmung die jeweilige Vorlage diskreditiert. 36 Dieses Zitat von Walter Panofsky stammt zwar aus dem Jahr 1940, bezieht sich aber auf den Film der 1910er Jahre in Deutschland. Zitiert nach: Paech, 1997, S.89-90 37 zitiert nach: Paech, 1997, S.90 38 Dieser Diskurs kann durchaus als ein deutsches Phänomen bezeichnet werden: In Frankreich erkannte man bereits um 1912 die Vorteile einer Literaturverfilmung als eine Art Bildungsanstalt, weil sie wie ein „lebendiges, illustriertes Buch“ wirke und so für „die [häufig analphabetischen] Leute aus dem Volke sehr wesentlich“ sei. (zitiert nach Paech, 1997, S.91) 39 Dennoch aber versuchten die Produzenten jener Tage eine Art Gegenbewegung zu den „Schundfilmen“ zu starten, indem sie ihre Filme besser produzierten und thematisch gesellschaftskonformer gestalteten. Paech führt dies vor allem auf den Konkurrenzgedanken zurück: Die besser produzierten Filme sollten eine anspruchsvollere Konkurrenz zu den amerikanischen und französischen Pulp-Filmen darstellen und so auch eine neue, vor allem bürgerliche Zuschauerschicht etablieren.

Page 22: Dracula/Nosferatu

21

seichte Unterhaltungsfilme40, die Ablenkung zum brutalen Kriegsalltag sein bzw.

später die Schmach der Kriegsniederlage und des Versailler Vertrages vergessen

machen sollten. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass ausgerechnet General

Ludendorff Gründervater der „Universum Film Aktiengesellschaft“, kurz „Ufa“ war.

Die 1917 gegründete Ufa stellte den Zusammenschluss mehrerer kleiner

Filmproduktionsfirmen dar und war zu einem Drittel in staatlicher Hand. Mit

Kriegsende übernahm die Deutsche Bank die staatlichen Anteile. Dort erkannte man

den Nutzen einer Doppelstrategie: Nach Kriegsende erfuhr die Sehnsucht nach der

heilen Welt einen enormen Aufwind und die entsprechenden Filmen waren gut besuchte

Kassenschlager. Der so erwirtschaftete Gewinn wurde zum einen für Filme gleichen

Sujets verwendet, zum anderen aber auch in den sogenannten Kunst-Film gesteckt um

so neben den gewinnbringenden Filmen eben auch solche zu produzieren, die für

internationale Reputation sorgten.41

Die Folge dieser Zugeständnisse an den Kunst- und Experimentalfilm war eine

zunehmende Beschäftigung mit Wirkungs- und Narrationstheorien innerhalb der

Literatur, sowohl Prosa, als auch Drama, die dann mit Kunst- und bildästhetischen

Theorien vermischt auf den Film angewandt wurden und so eine Ergänzung zu der

bisherigen Filmtheorie darstellte.42 Unter dem Eindruck der Kriegsschrecken und

beeinflusst durch die mangelnde Aufarbeitung des Krieges im Unterhaltungskino,

erkannten viele Regisseure die Vorteile spezieller Kunst-Stile, vor allem die des

Expressionismus, der eben das subjektive Empfinden sichtbar machen sollte und so dem

scheinbar Unbeschreiblichen ein Gesicht verleihen sollte. War also der Expressionismus

in bildender Kunst und Literatur schon beinahe überholt, so erlebte er im Film zu

Beginn der 20er Jahre als Erweiterung der bisher bekannten Stilarten eine neue

Blütezeit. Der filmische Expressionismus zeichnete sich dabei vor allem durch bizarre

und irreale Kulissen, eine ungewöhnliche Maske und Kostümierung, Licht- und

Schattenspiele und nicht zuletzt durch ein Sujet aus, das vorrangig Schauergestalten und 40 vorrangig Tanz- und Musikfilme sowie vereinzelt Slapstick-Filme 41 Zeitgleich wurde das Importverbot für ausländische Filme, dass während des ersten Weltkrieges verhängt worden war, gegen eine Einfuhrquote ersetzt. Diese Öffnung des deutschen Marktes galt bei den Siegermächten als positives Signal und so reagierten viele Staaten mit der Wiederaufnahme des Imports deutscher Filme. 42 Nahezu alle künstlerisch höherwertigen Filme (also alles außerhalb des Slapstick- und Tanzfilm-Genre) basierten auf literarischen Vorlagen. Dabei stellten erstaunlich viele Filme Adaptionen bekannter Theaterstücke dar. Die Ursache hierfür mag vor allem in der Struktur eines Dramas liegen, das formal einem Drehbuch sehr ähnlich ist. Zum anderen mag auch die Möglichkeit des bloßen Abfilmens der Handlung auf der Bühne und die vergleichsweise einfache Erweiterung dieses Abfilmens um eine filmische und bildkompositorisch geschicktere Inszenierung eine Rolle gespielt haben.

Page 23: Dracula/Nosferatu

22

Fremdbestimmung in den Vordergrund stellte. Frühe Meisterwerke dieser

expressionistischen Filmkunst sind Robert Wienes „Das Kabinett des Dr. Caligari“43

und Paul Wegeners „Der Golem: Wie er in die Welt kam“.44 Im Zuge der immer größer

werdenden Akzeptanz gegenüber dem Kunstfilm und beeinflusst durch den Erfolg der

„Ufa“ und der Filmstudios Babelsberg, entstanden rund um Berlin viele kleinere

Filmateliers, die von mehr oder weniger erfolgreichen Produktionsfirmen betrieben

wurden. Eines dieser Studios war das Jofa-Atelier, das Atelier der „Johannisthaler

Filmanstalten“, im Süd-Osten Berlins. Die „Jofa“ entwickelte sich zu Beginn der 20er

Jahre zu dem erfolgreichsten deutschen Filmstudio neben den Babelsberger Studios. Die

Prana-Film hatte einen Vertrag mit der „Jofa“ geschlossen und so drehte Murnau die

Interieurs seines „Nosferatu“ in den Filmateliers in Johannisthal. Damit betrat Murnau

in den Jofa-Ateliers künstlerisches Neuland, denn nahezu alle Filme des deutschen

Expressionismus waren in den Studios der Ufa gedreht und auch sein Architekt Albin

Grau hatte wenig Vorkenntnisse, war er doch zu Beginn der 20er Jahre als Gestalter von

Werbeplakaten bekannt geworden. Dennoch aber gelang es Murnau, dessen zehnter

Film „Nosferatu“ war und der bereits bei seinem zweiten Film mit „Caligari“-Schöpfer

Robert Wiene zusammengearbeitet hatte45, ein expressionistisches Meisterwerk zu

drehen.

Der Expressionismus bei Murnau äußert sich vor allem durch das Spiel mit Licht und

Schatten. Besonders eindrucksvoll nutzte er diese Mittel in „Nosferatu“: Neben den

offenkundigen Schattenspielen während des Filmfinales gibt es auch weniger

offensichtliche Schattenspiele, die erst im Vergleich der realen Drehorte und ihrer

Darstellung im Film erkannt werden können. Die Szene der ersten Begegnung zwischen

Hutter und Orlok zeigt mehrere Torbögen, zwischen denen das (Mond-)Licht

hereinstrahlt. Der äußere dieser Torbögen ist nicht real und erst später bei der Kopie der

43Das Kabinett des Doktor Caligari, Deutschland, 1920. Besonders „Dr. Caligari“ ist inzwischen zum Inbegriff des expressionistischen deutschen Films geworden. In keinem anderen Film findet man alle Merkmale des expressionistischen Films so explizit dargestellt wie in diesem. Besonders deutlich wird an „Dr. Caligari“ jedoch die Programmatik des expressionistischen Films, nämlich die Aufarbeitung des geisterhaften Grauens des Krieges durch komplexe Metaphern: Ein verrückter Arzt hypnotisiert einen seiner Patienten um so eine Frau zu rauben und ihr die Unschuld zu stehlen. Der Plan misslingt, am Ende bleibt die Niederlage. Dies alles geschieht in einer surrealen Welt, in der die Menschen nur noch Staffage für das Spiel eines Geisteskranken sind. Das Drehbuch schrieb Carl Mayer, der später eng mit Murnau zusammenarbeitete. 44 Der Golem, wie er in die Welt kam, Deutschland, 1920. Paul Wegeners Neuverfilmung seines eigenen Films „Der Golem“ von 1915. Die Originalversion gilt als verschollen. Das Drehbuch schrieben der Nosferatu-Co-Autor Hernik Gaalen und der österreichische Schriftsteller Gustav Meyrink, auf dessen gleichnamigen Roman der Film basierte. 45 Satanas, Deutschland, 1919/20. Robert Wiene ist für die „Künstlerische Oberleitung“ zuständig.

Page 24: Dracula/Nosferatu

23

Negative durch eine technische Manipulation hinzugefügt worden. Durch das

Hinzufügen dieses äußeren Torbogens schafft Murnau beinahe konzentrische Kreise aus

Licht und Schatten, welche die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den exakt in der

Bildmitte stehenden Orlok lenken. Hutter, der einen kleinen Aufstieg bewältigen muss,

wirkt in dieser Szene kleiner als Orlok und wirkt, da er sich nicht im Zentrum des

Bildes befindet, wie ein Eindringling, ein Störfaktor, der die ästhetische

Gesamtkomposition des Bildes stört. Murnau baut innerhalb dieser Einstellung einen

kurzen Moment der Spannung auf, denn Hutter ist ein Eindringling in die Welt Orloks,

der eine perfekte (bildästhetische) Symbiose mit seinem Schloss darstellt und so die bis

dato herrschende Ordnung zerstört. Auch in der nächsten Einstellung schuf Murnau

künstlich und erst später durch eine technische Manipulation eine dunkle, schattige

Wand mehr. Erneut wird so die Aufmerksamkeit auf das Aufeinandertreffen gelenkt

und der Zuschauer erwartet mit Neugier und Spannung die Reaktion Orloks auf diesen

Eindringling. Diese Art der Bildkomposition und des Spiels von Licht und Schatten sind

typische Elemente des expressionistischen Films, in dessen Tradition „Nosferatu“ also

gestellt werden kann.

Für das Verständnis des Inhalts und somit auch für die Abwandlung der Handlung der

literarischen Vorlage ist das Wissen um das Wesen des expressionistischen Films

existentiell, denn somit eröffnet sich auch die Deutungsmöglichkeit hin zu einer

spannungsreichen Meditation über das Wesen des Krieges, dessen Schrecken den

expressionistischen Film weniger im Sujet als mehr im Ausdruck bestimmten. Diese

Deutung von Murnaus Dracula-Adaption auf Basis der Programmatik des

expressionistischen Films wird gestützt durch ein Zitat von Albin Grau:

„Der Schrecken des Krieges ist aus den Augen der Menschen gewichen; aber es ist etwas zu rückgeblieben, die Sehnsucht, zu begreifen, wenn auch oft nur unbewusst, was hinter diesem ungeheueren Geschehnis liegt, was daherbrauste wie ein kosmischer Vampir“46

Grau sieht also in dem von ihm mitproduzierten „Nosferatu“ auch eine

Auseinandersetzung mit dem Wesen des Weltkrieges, dessen Folgen auch vier Jahre

nach Kriegsende noch deutlich zu spüren waren. Während sich die Weimarer

Gesellschaft in Nachtclubs, Bars und Kabaretts von dem Drang einer zwingend

notwendigen Auseinandersetzung mit sich und dem Krieg ablenkte, versuchte die Kunst

diese Aufarbeitung zu leisten, wenn auch niemals so offensiv, wie die Kunst der 60er

und 70er Jahre den zweiten Weltkrieg aufarbeiten sollte. Innerhalb dieses Versuchs, den

46 Zitiert nach Prinzler, 2003, S.135

Page 25: Dracula/Nosferatu

24

Krieg in Gestalt des geisterhaften Nosferatu zu personifizieren, scheint die Abweichung

auf inhaltlicher Ebene zunehmend legitimer. Stokers Roman zeigt zwar stellenweise

Züge einer Gesellschaftskritik, ist aber hauptsächlich unterhaltsamer Schauerroman.47

Murnau und sein Autor Gaalen verleihen der Geschichte und den Charakteren eine

immense Tiefe. Besonders deutlich wird dies in der Figur des Dracula/Orlok, der zwar

in Murnaus Adaption zunächst wesentlich oberflächlicher gezeichnet erscheint als in

Stokers Vorlage, aber bei genauerer Betrachtung schnell an Tiefe und

Deutungsmöglichkeiten gewinnt.

Bram Stoker bleibt in der Charakterzeichnung Draculas recht oberflächlich. Der Leser

erfährt keine wirklichen Details und auch in der Meta-Ebene reduziert sich die Aussage

auf eine Art alten Lüstling, der als gerissen und böse dargestellt wird, doch eine tiefer

gehende Charakterzeichnung ist nicht vorhanden. Zwar folgt Murnau grob auch dieser

Zeichnung, doch letztendlich konnotiert er den Charakter Draculas anders: Der Dracula

bei Stoker ist ein Mensch mit übernatürlichen Fähigkeiten. Er ist ein eloquenter und

gebildeter, äußerlich scheinbar alter Mann, der zwar über die Fähigkeit verfügt sich in

andere Wesen zu verwandeln und der Physik zu trotzen, dennoch scheint er immer noch

Mensch zu sein. Stoker bleibt in seiner Darstellung Draculas zu undifferenziert, sodass

sich der Leser die Figur Draculas nicht als Monster vorstellen kann, sondern als Mensch

mit monströsen Fähigkeiten. Murnau bricht mit dieser Darstellung Draculas und stellt

„Orlok“ erstmalig in der Dracula-Rezeption als Monster dar. Äußerlich manifestiert sich

das Monster in der großen und dürren Gestalt, dem beinahe V-förmigen Kopf, den

spitzen Ohren, den spitzen Vorderzähnen48, den langen und spitzen Fingern und

letztendlich in den langsamen, fast schleichenden Bewegungsabläufen. Schon äußerlich

zeigt Murnau also, dass sein Dracula/Orlok nicht mehr viel mit einem Menschen

gemein hat, doch auch darüber hinaus spricht Murnau Orlok jede Humanität ab: Orlok

ist in nur drei Dialoge involviert49 und obwohl er lesen und schreiben kann wirkt er

ungebildet: Seine Burg verfügt nur über das notwendigste Inventar, eine Bibliothek wie

sie Stoker als Handlungsort innerhalb des Schlosses nutzt, gibt es nicht. Auch ist

Murnaus Orlok stärker triebgesteuert und agiert nicht rational, weshalb er letztendlich

47 Stoker selbst hielt wenige Tage vor der Romanveröffentlichung eine dramatische Lesung unter dem Titel „Dracula, or the Un-Dead“ im Royal Lyceum Theatre, welches zu jener Zeit vor allem unterhaltsame Stücke im Repertoire hatte. 48 Die Vorderzähne erinnern an Rattenzähne. 49 Die drei Dialoge sind Dialoge zwischen Orlok und Hutter. Jede andere Form der Kommunikation geschieht nicht mit Worten, sondern mit Gestik und Mimik. Diese Art der Darstellung der zwischenmenschlichen Kommunikation nutzte Murnau gerne und führte sie später sogar ins Extrem: Sein Film „Der letzte Mann“ von 1924 verzichtet bis auf eine Stelle gänzlich auf Zwischentitel.

Page 26: Dracula/Nosferatu

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auch von Ellen besiegt werden kann. Murnaus Orlok ist ein Monster, dabei jedoch

weniger ein animalisches Wesen, als eher die Personifizierung einer grauenhaften,

transzendentalen Macht. Doch auch in dieser Personifikation bleibt diese fast nicht

greifbare Macht ohne erkennbare Züge von Menschlichkeit und versucht nur

menschliche Eigenschaften zu kopieren, kann dabei aber nur kurzzeitig über seine

wahre Natur hinwegtäuschen.

Vor allem in der Darstellung seines Draculas stellt sich Murnau in eine Reihe mit

anderen großen Regisseuren seiner Zeit. Von Robert Wiene, über Paul Wegener, hin zu

Fritz Lang: Hauptmotiv des expressionistischen Films jener Zeit war die

Personifizierung des Schreckens, das Sichtbarmachen einer scheinbar unverständlichen

Kraft, die das Böse im Menschen und in der Welt evoziert und somit Auslöser wie auch

Mittel des Krieges ist. Der Eindruck der Brutalität des Krieges manifestiert sich deshalb

auch nicht nur in der visuellen Umsetzung, welche die Expression von Gefühlen in den

Vordergrund rückt, sondern auch in der Zeichnung des Antagonisten als dem Menschen

ähnliches Wesen bar jeder Humanität: Das personifizierte Böse par excellence, welches

eben auch Murnau zum Thema seines Films macht und gekonnt in der Figur Orloks,

herausarbeitet. So sagt dann auch der Journalist und Drehbuchautor David Pririe über

Murnaus Adaption: „ Fast alle, die „Nosferatu“ gesehen haben, stimmen anscheinend

ungeachtet ihrer Meinung über den Film darin überein, dass seine Stärke in der Figur

des Vampirs liegt“.50

Doch die Konzentration auf Orlok/Dracula als das absolut Böse bedingt wiederum die

Kürzung der Handlung. Gemessen an der vielschichtigen Erzählweise der literarischen

Vorlage musste diese Kürzung radikal ausfallen oder Murnau hätte Abstriche bei der

Darstellung seines Orlok/Dracula machen müssen. Dass er sich letztendlich doch für

seine Interpretation des Vampirs und sich gegen eine exakte Umsetzung Stokers

Vorlage entschieden hat, macht diesen Film zu einem eigenständigen und genialen

Werk, das als Adaption gleichberechtigt neben Stokers Vorlage stehen kann.

Einziger Wermutstropfen scheint das versöhnliche Ende zu sein: Um Orlok aufzuhalten,

opfert sich Ellen. Doch als Orlok im Strahl der Morgensonne stirbt, wendet sich alles

zum Guten. Ellen lebt und die Pest wütet nicht mehr. 51 Doch im Kontext mit der

Darstellung Orloks als das absolut Böse, genauer gesagt der Krieg, gewinnt dieses Ende

50 Zitiert nach Borrmann, 2002, S. 281 51 Murnau orientiert sich dann doch noch einmal an der literarischen Vorlage und schafft ein ebenso glückliches und friedvolles Ende wie Stoker in seinem Roman.

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an Qualität und Aussage: Nur wer das Wesen des Krieges erkennt und sich couragiert

gegen den Krieg wendet, wird ihn auch verhindern können. Insofern transportiert das

Ende eine recht humanistische Botschaft, die dem inhumanen Schrecken des Vampirs

gegen- übersteht: Errettung kann es nur durch ein couragiertes Handeln geben. Dabei

muss die Courage sogar so altruistisch sein, dass sie auch vor der Gefahr der

Selbstaufgabe nicht Halt machen darf.

Es erscheint schon ein bisschen ironisch, dass ausgerechnet Herzogs Adaption die

Genialität des Murnau’schen Films beweist und dabei aufzeigt, dass Murnaus Film nur

innerhalb des Entstehungszeitraums und der formalen Bedingungen des

expressionistischen Films als legitime Adaption gelten kann.

Herzogs Film ist dreierlei: Hommage an die literarische Vorlage, bekundet durch die

Übernahme einiger Elemente aus der literarischen Vorlage in Erweiterung zu den durch

Murnaus Vorlage vorgegeben Elementen; Hommage an den Film von Murnau,

bekundet durch die Tatsache, dass es sich bei Herzogs Adaption um ein Remake des

Films von 1922 handelt, und letztendlich der Versuch, Murnaus Meditation über den

Krieg in eine Meditation über den Terrorismus zu wandeln, beeinflusst durch den Terror

im „Deutschen Herbst“ 1977 und versehen mit einem pessimistischen Ende, das sich in

der Welt nach „9/11“ nur zu oft bestätigen lässt: Minas altruistische Selbstaufgabe

beendet zwar das Leben Draculas, doch der Vampir lebt in Jonathan weiter. Das Virus

des Terrorismus kann nicht aufgehalten werden: Es lebt unermüdlich fort.

Doch Herzog scheitert an diesem hehren Ziel. Sein Film bleibt merkwürdig farblos und

blass. Zu stark hält er sich zunächst an Murnaus Vorlage, welcher er in einigen

Einstellungen beinahe sklavisch folgt.52

Als Hommage an Stoker und Murnau recht gelungen, zeigt Herzogs „Nosferatu“ sehr

gutes filmisches und schauspielerisches Können, doch er scheitert als legitime und

eigenständige Adaption des Dracula-Stoffes. Als Adaption ist dieser Film überflüssig:

Zu wenig eigenständig und das Fehlen eben jeder Legitimation für die Änderungen an

der Vorlage, die er von Murnau übernimmt: die Kopie einer Aussage hat keinen

sinnvollen Nutzen, wenn die Aussage zum einen heute noch Aussagekraft hat, zum

anderen die kopierte Aussage in keiner eigenen Sprache wiedergegeben wird, sondern

52 Dass dies scheitern muss, liegt auf der Hand. Gus van Sants 1:1 Remake von Alfred Hitchcocks „Psycho“ (USA, 1998) war derselbe Film, nur in Farbe und mit anderen Darstellern gedreht und somit komplett überflüssig und sinnfrei. Ähnliches geschieht nun auch hier: Murnaus Film um Farbe, Ton und kleinere Handlungsaspekte erweitert, aber zu sehr ohne die notwendige Eigenständigkeit.

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sich die Kopie sogar der Sprache des Vorbildes bedient und diese Sprache nicht auf ein

neues Sprachsystem übertragen kann. Herzogs Film ist an und für sich ein exzellenter

Film, doch er folgt Murnau viel zu deutlich und erzählt die gleiche Geschichte in

beinahe gleichen Bildern, richtet sich aber formal nicht mehr nach den Merkmalen des

expressionistischen Films, sondern nach denen des deutschen Autorenkinos der 1970er

Jahre.

Gerade durch die Tatsache, dass Murnaus Adaption im Kontext der Entstehungszeit und

des zu Grunde liegenden Kunststils eine eigenständige, von der literarischen Vorlage

emanzipierte Aussage generiert, die er durch die Abwandlung einiger Motive der

literarischen Vorlage herleitet und eben selbst benennt, während Herzogs Adaption auf

Murnaus Sprache und Metaphern zurückgreift, um beinahe dieselbe Aussage, nur

variiert durch einen etwas anderem Aussagewert zu postulieren, wird Murnaus Film als

gelungene und akzeptable Adaption legitimiert, während Herzogs Film als illegitim

erscheint.

Herzog bezieht sich in seinem Film auf die Struktur und die Formalität des Films von

Murnau und versucht diese auf ein anderes formales System zu übertragen, missachtet

dabei jedoch völlig, dass Murnaus Film sich eben nur durch die Formalität des

expressionistischen Films legitimiert. Die Übertragung der formalen Bedingungen des

expressionistischen Film in den deutschen Autorenfilm der 1970er Jahre kann aber auch

deshalb nicht funktionieren, weil sich Herzog in der Mise en Scène seines Films zu

sehr am formalen Diskurs eben jenes Autorenkinos orientiert, das auf eine realistischere

Darstellung setzte, als auf eine künstliche und stark konstruierte Mise en Scène.

Gerade die Zeit, in der Murnau lebt, und die Freiheiten, die jungen Film-Künstlern zu

Beginn der 1920er Jahre gestattet werden, bedingen eine Reduktion des Dracula-Stoffes

hin zur absoluten Konzentration auf die expressive Darstellung einer nahezu

unbeschreiblichen Angst und inneren Gefühlswelt. Die große Qualität der

Murnau’schen Adaption liegt deshalb vor allem auch in der dezidierten

Sichtbarmachung der sonst unsichtbaren Gefühlswelten der Protagonisten, die eben im

Roman auch nur dort eine Rolle spielen, wo sie der Handlung neue Schaurigkeit

verleihen sollen. Dass sich diese Reduktion aber auch nur auf Grund des Verharrens in

den Formalien des filmischen Expressionismus und des Diskurses über den Film als

neues Medium der Kunst, gleichwertig neben Literatur und bildender Kunst,

legitimieren konnte, wurde von Herzog in seinem Remake nicht beachtet. Die

Gratwanderung zwischen dem Stil des Autorenkinos der 1970er Jahre und dem des

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expressionistischen Kinos der „Goldenen Zwanziger“ entbehrt nicht eines gewissen

Schauwerts, kann aber die enorme Reduktion der Geschichte eben nicht mehr strukturell

begründen und ist somit als legitime Adaption des Dracula-Stoffes gescheitert. Jedoch

gerade dieses Scheitern ist ein enorm wichtiger Beweis für die Qualität, die Genialität

und die Legitimität der Dracula-Adaption von Friedrich Wilhelm Murnau, die den

Roman in ausdrucksstarke Bilder umsetzt und somit der formalen Vorgaben des

expressionistischen Films folgt. Der expressionistische Film der 1920er Jahre war der

Gegenentwurf zum Naturalismus und Realismus der Fotografie und nutzte dabei eine

hochgradig artifizielle, verfremdete und stilisierte Mise en Scène um unter die

Oberfläche der Dinge zu schauen. Insofern war es innerhalb der Vorgaben des

expressionistischen Films legitim, die Adaption literarischer Stoffe nicht realistisch

umzusetzen, sondern durch die bewusste Verfremdung eine Reflexion über die

dargestellten Dinge selbst zu zeigen.53

Daher kann nun also gesagt werden, dass die verschobene Konnotation und Deutung der

Dracula-Figur die extremen inhaltlichen und die formalen Bedingungen des

expressionistischen Films die bildgestalterischen und interpretatorischen Änderungen

legitimieren. Ein Faktum, das dann auch letztendlich durch das Gerichtsurteil gegen

Murnau unterstrichen wird: Obwohl Gaalen und Murnau massive Kürzungen und

Änderungen unternommen haben, so übernehmen sie dennoch die Grundgeschichte um

das transzendentale Böse, das sich dann in der Gestalt des Dracula/Orlok manifestiert

und personifiziert. In diesem Sinne ist das Urteil gerechtfertigt, wenn auch die Strafe

weitaus weniger drakonisch hätte ausfallen können – ein Glück, dass einige Negative

doch gerettet werden konnten.

Abschließend kann deshalb festgehalten werden: Bei der Betrachtung einer

Literaturverfilmung sollte nicht allein die Genauigkeit der Verfilmung einer Handlung

als Beurteilungskriterium im Vordergrund stehen, sondern auch die Art und Weise, wie

Motive aus einer literarischen Vorlage interpretiert und diese dann im Medium Film

durch Bildkomposition inszeniert werden und unter Umständen eine Umdeutung

erfahren. Ein Film kann nie die Qualität eines Buches erreichen, ein Film kann aber

durch die Arbeit mit der literarischen Vorlage selber eine hohe Qualität erreichen und

53 Diese Legitimität erlangt der expressionistische Film eben auch da, wo er phantastische Literatur bearbeitet, denn die eine genaue Umsetzung der Bildwelten wäre immer noch eine realistische Umsetzung der fiktiven Welt mit ihren eigenen Regeln, die eben auch der non-fiktiven Realität widersprechen können.

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den Deutungshorizont eines Romans erweitern, gleichsam eine Situation der

Wechselwirkung schaffen, die Gewinner auf beiden Seiten hat: Das Buch gibt ein gutes

und spannendes Sujet, eine trickreiche Narration usw., der Film gibt für diese Vorlage

eben auch durch die inhaltliche Reduktion eine Konzentration auf bestimmte Aspekte

und somit neue Interpretationsmöglichkeiten und erweitert so den Deutungshorizont der

literarischen Vorlage.

Page 31: Dracula/Nosferatu

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Quellen:

- Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens: Friedrich Wilhelm Murnau,

Deutschland, 1922. DVD, Eureka Video, Großbritannien, 2000

- Nosferatu. The Vampyre (internationale Schnittfassung): Werner Herzog,

Deutschland, 1979. DVD, Anchor Bay Entertainment, Großbritannien, 2001

- Nosferatu. Phantom der Nacht (dt. Schnittfassung): Werner Herzog,

Deutschland, 1979. DVD, Arthaus/Kinowelt, Deutschland, 2003

- NosferaTour (Vergleich Filmversion, realer Drehort), auf: „Nosferatu“, Eureka

Video, Großbritannien, 2000

- A visual Legacy, auf: „Nosferatu“, Eureka Video, Großbritannien, 2000

- Audiokommentar von Laurenz Straub und Werner Herzog, auf: Nosferatu.

Phantom der Nacht, DVD, Arthaus/Kinowelt, 2003

- http://retro-park.de/download/pdf/Das_Dokument_des_Grauens_009.pdf

(05.04.2006)

- http://retro-park.de/download/pdf/Das_Dokument_des_Grauens_012.pdf

(05.04.2006)

- http://retro-park.de/download/pdf/Das_Dokument_des_Grauens_016.pdf

(05.04.2006)

- www.imdb.com (06.04.2006)

- Nosferatu, in: Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Film, hrsg.

von Hans Helmut Prinzler, Berlin, Bertz Verlag, 2003, S. 129-136

- Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens, Loy Arnold, Michael Farin, Hans

Schmid, München, Belleville Verlag, 2000

- Dracula, Bram Stoker, London, Penguin Books, 1994

- Dracula, Bram Stoker, übersetzt von Bernhard Willms, Bergisch-Gladbach,

Verlagsgruppe Lübbe, 1993

- Der Filmvampir als Kassenmagnet, in: Vampirismus oder die Sehnsucht nach

Unsterblichkeit, Norbert Borrmann, München, Eugen Diederichs Verlag, 2002,

S.265-277

- Gesichter des Schreckens: Die Filmphysiognomien Draculas, in: Vampirismus

oder die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, Norbert Borrmann, München, Eugen

Diederichs Verlag, 2002, S.278-286

- Literatur und Film, Joachim Paech, Stuttgart, Weimar, Verlag J.B. Metzler, 2.

Auflage, 1997

Page 32: Dracula/Nosferatu

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Eidesstattliche Versicherung

Hiermit versichere ich an Eides statt, daß ich die vorliegende Arbeit

selbständig angefertigt, außer den im Quellen- und Literaturverzeichnis sowie

den Anmerkungen genannten Hilfsmitteln keine weiteren benutzt und alle

Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinn nach

entnommen sind, unter Angabe der Quellen als Entlehnung kenntlich gemacht

habe.

Unterschrift & Datum: _______________________________________