Dürer – zusammen gepuzzelt · von Albrecht Dürer zusammen. Dane-ben öffnete die Ausstellung...

12
POINTIERT Russlanddeutsche Brückenschläger W ie kann ein Deut- scher einen Russen ansprechen, damit dieser ihn auf An- hieb versteht? Und wie kann er die russische Antwort so dechiff- rieren, dass er sie sofort korrekt einordnen kann? „Wenn ich meine russische As- sistentin bitte, in einer Präsen- tation auch nur eine Kleinigkeit nachzubessern, ist sie gleich den Tränen nahe“, beichtete mir neu- lich ein verzweifelter deutscher Manager. Der Mann hatte sämt- liche Knigge-Formulierungen durch. Vergebens: Seine Worte gerieten stets ins falsche Ohr. Denn den wohlgemeinten deut- schen Rat fasste die russische Assistentin als harsche Kritik auf, sie würde ihren Job schlecht machen. Der Manager hätte ein- fach sagen müssen: „Ich bin be- geistert, wie schön Sie ihren Job machen, aber auf eine Stelle müs- sen Sie noch mal schauen.“ Wenn die „männliche“ deutsche Mentalität auf die „weibliche“ russische stößt, wird das Einfa- che stets endlos verkompliziert. Deshalb: Wenn Deutsche und Russen in einer Diskussion – ob in der Wirtschaft, in der Po- litik oder im Alltag – partout nicht mehr weiterwissen, ein- fach einen Russlanddeutschen dazwischenschalten. Er kann die Brücke viel besser schlagen, fühlt er sich doch in beiden Men- talitäten zu Hause. Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR Wie es sich anfühlt, im Müll zu versinken, davon können die Bür- ger des ehemaligen Ostblocks er- zählen: Nach Jahrzehnten im So- zialismus lernten sie das Konsu- mieren im Eilverfahren. Und ver- gaßen dabei das Recyceln. Die Folge: riesige, oft illegale Müll- halden. Eine russische Initiative will das ganze Land an einem Tag aufräumen – und das Bewusst- sein der Menschen verändern. SEITE 8 Nein, Wladimir Putin und Joachim Gauck kamen nicht wie geplant zur Eröffnung des Deutschlandjahres in Russland nach Moskau. Die beiden haben sich aus vielerlei Gründen wenig zu sagen. Aber das gemeinsame Kul- turjahr hat auch ohne sie erfolgreich angefangen. Auf dem Bild: der Auf- takt auf dem Manegenplatz. Hunder- te Moskauer und Touristen setzten mehrere Stunden lang das in 1023 Teile zerlegte „Selbstbildnis im Pelzrock“ von Albrecht Dürer zusammen. Dane- ben öffnete die Ausstellung „Russen und Deutsche – 1000 Jahre Geschich- te und Kultur“ ihre Tore. Sie wird ab dem 5. Oktober in Berlin zu sehen sein. Entmüllt das Bewusstsein 120 Mann aus Moskau fliegen heimlich in die Kaukasusrepu- blik Kabardino-Balkarien und nehmen mehrere hohe Beamte aus dem Umfeld des Präsidenten unter Korruptionsverdacht fest. Wie der neue Innenminister Kolokolzew sonst noch Flagge zeigt. Von München bis China per Zug in 23 Tagen? Klingt wenig beein- druckend, aber mit dem Schiff brauchen Güter doppelt so lange. Wie die russische Eisenbahn RZD zusammen mit der EU und der Deutschen Bahn den Korridor EU-China entwickeln will. SEITE 2 SEITE 4 Aufgeflogen Auf neue Gleise Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich. www.russland-heute.de Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Soziologe Gudkow sieht das Land im Wandel. SEITE 3 Mehr wagen Warum Krawalle zwischen polnischen und russischen Hooligans wie bei der Fußball-EM nicht auszuschließen sind. SEITE 10 Zu erwarten SEITE 12 Mittwoch, 4. Juli 2012 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Vielen fällt beim Stichwort „Russlanddeutsche“ wenig Positives ein: Jugend- kriminalität, Drogen, Gewalt. Dabei haben jene zweieinhalb Millionen Einwan- derer aus der ehemaligen Sowjetunion über die letzten Jahre große Integra- tionsfortschritte gemacht. Sagt zumindest der Kriminologe Christian Pfeiffer. Über das Gestern und Heute der Russlanddeutschen. SEITEN 6, 7, 10 WIRTSCHAFT SEITE 5 REISEN SEITE 9 FEUILLETON SEITE 11 WIRTSCHAFT SEITE 5 Regionen MAN baut LKWs in Petersburg Energie Russland setzt auf Kernkraft Nowgorod Die ältes- te Stadt des Landes Repino Zu Besuch beim großen Maler INHALT RUSSLANDDEUTSCHE AUSGEWANDERT, TOLERIERT, VERTRIEBEN, ZURÜCKGEKEHRT THEMA DES MONATS Dürer – zusammen gepuzzelt Hat das Sagen Die Schwester von Michail Prochorow ITAR-TASS ITAR-TASS PRESSEBILD © RIA NOVOSTI PHOTOXPRESS

Transcript of Dürer – zusammen gepuzzelt · von Albrecht Dürer zusammen. Dane-ben öffnete die Ausstellung...

POINTIERT

Russlanddeutsche

Brückenschläger

Wie kann ein Deut-scher einen Russenansprechen, damitdieser ihn auf An-

hieb versteht? Und wie kann erdie russische Antwort so dechiff-rieren, dass er sie sofort korrekteinordnen kann? „Wenn ich meine russische As-sistentin bitte, in einer Präsen-tation auch nur eine Kleinigkeitnachzubessern, ist sie gleich denTränen nahe“, beichtete mir neu-lich ein verzweifelter deutscherManager. Der Mann hatte sämt-liche Knigge-Formulierungendurch. Vergebens: Seine Wortegerieten stets ins falsche Ohr.Denn den wohlgemeinten deut-schen Rat fasste die russischeAssistentin als harsche Kritikauf, sie würde ihren Job schlechtmachen. Der Manager hätte ein-fach sagen müssen: „Ich bin be-geistert, wie schön Sie ihren Jobmachen, aber auf eine Stelle müs-sen Sie noch mal schauen.“ Wenn die „männliche“ deutscheMentalität auf die „weibliche“russische stößt, wird das Einfa-che stets endlos verkompliziert.Deshalb: Wenn Deutsche undRussen in einer Diskussion –ob in der Wirtschaft, in der Po-litik oder im Alltag – partoutnicht mehr weiterwissen, ein-fach einen Russlanddeutschendazwischenschalten. Er kanndie Brücke viel besser schlagen,fühlt er sich doch in beiden Men-talitäten zu Hause.

Alexej

KnelzCHEFREDAKTEUR

Wie es sich anfühlt, im Müll zu versinken, davon können die Bür-ger des ehemaligen Ostblocks er-zählen: Nach Jahrzehnten im So-zialismus lernten sie das Konsu-mieren im Eilverfahren. Und ver-gaßen dabei das Recyceln. Die Folge: riesige, oft illegale Müll-halden. Eine russische Initiative will das ganze Land an einem Tag aufräumen – und das Bewusst-sein der Menschen verändern.

SEITE 8

Nein, Wladimir Putin und Joachim Gauck kamen nicht wie geplant zur Eröffnung des Deutschlandjahres in Russland nach Moskau. Die beiden haben sich aus vielerlei Gründen wenig zu sagen. Aber das gemeinsame Kul-

turjahr hat auch ohne sie erfolgreich angefangen. Auf dem Bild: der Auf-takt auf dem Manegenplatz. Hunder-te Moskauer und Touristen setzten mehrere Stunden lang das in 1023 Teile zerlegte „Selbstbildnis im Pelzrock“

von Albrecht Dürer zusammen. Dane-ben öffnete die Ausstellung „Russen und Deutsche – 1000 Jahre Geschich-te und Kultur“ ihre Tore. Sie wird ab dem 5. Oktober in Berlin zu sehen sein.

Entmüllt das Bewusstsein

120 Mann aus Moskau fliegen heimlich in die Kaukasusrepu-blik Kabardino-Balkarien und nehmen mehrere hohe Beamte aus dem Umfeld des Präsidenten unter Korruptionsverdacht fest. Wie der neue Innenminister Kolokolzew sonst noch Flagge zeigt.

Von München bis China per Zug in 23 Tagen? Klingt wenig beein-druckend, aber mit dem Schiff brauchen Güter doppelt so lange. Wie die russische Eisenbahn RZD zusammen mit der EU und der Deutschen Bahn den Korridor EU-China entwickeln will.

SEITE 2

SEITE 4

Aufgeflogen

Auf neue Gleise

Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich.

www.russland-heute.deEin Projekt vonRUSSIA BEYOND

THE HEADLINES

Soziologe Gudkow sieht das Land im Wandel.

SEITE 3

Mehr wagen

Warum Krawalle zwischen polnischen und russischen Hooligans wie bei der Fußball-EM nicht auszuschließen sind.

SEITE 10

Zu erwarten

SEITE 12

Mittwoch, 4. Juli 2012 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in:

Vielen fällt beim Stichwort „Russlanddeutsche“ wenig Positives ein: Jugend-kriminalität, Drogen, Gewalt. Dabei haben jene zweieinhalb Millionen Einwan-derer aus der ehemaligen Sowjetunion über die letzten Jahre große Integra-tionsfortschritte gemacht. Sagt zumindest der Kriminologe Christian Pfeiffer. Über das Gestern und Heute der Russlanddeutschen. SEITEN 6, 7, 10

WIRTSCHAFT SEITE 5

REISEN SEITE 9

FEUILLETON SEITE 11

WIRTSCHAFT SEITE 5

Regionen MAN baut

LKWs in Petersburg

Energie Russland

setzt auf Kernkraft

Nowgorod Die ältes-

te Stadt des Landes

Repino Zu Besuch

beim großen Maler

INHALT

RUSSLANDDEUTSCHEAUSGEWANDERT, TOLERIERT, VERTRIEBEN, ZURÜCKGEKEHRT

THEMA DES MONATS

Dürer – zusammen gepuzzelt

Hat das Sagen

Die Schwester von Michail Prochorow

ITA

R-T

AS

S

ITA

R-T

AS

SP

RE

SS

EB

ILD

© RIA NOVOSTI

PH

OT

OX

PR

ES

S

2 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUPolitik

MAXIM MARTEMJANOWRUSSKIJ REPORTER

Die Nordkaukasusrepublik

Kabardino-Balkarien hat den

Verwaltungschef, einen Minister

und dessen Vize verloren. Hinter

dem Paukenschlag steht offen-

bar der neue Innenminister.

Es ist wie in einem Hollywood-streifen: Spät in der Nacht landet eine Illjuschin des Innenministe-riums auf dem Flugplatz Mosdok in Nordossetien. Die wenigen Flughafenmitarbeiter sind wohl die einzigen Offiziellen in der Re-gion, die über den Sonderfl ug in-formiert sind. An Bord der Ma-schine – 120 Mann: Kriminalis-ten, ranghohe Ermittlungsbeamte und Milizen der Spezialeinheit „Rys“ (Luchs). Mit Zivilbussen fahren sie nach Naltschik, Haupt-stadt der benachbarten Republik Kabardino-Balkarien. Denn die Operation ist geheim.Der Plan geht auf: In nur weni-gen Stunden verhaften die Spe-zialisten aus Moskau den Leiter der Präsidialverwaltung Wladi-mir Schamborow, den Minister für Staatseigentum und Boden-ressourcen Chabdulsalam Ligi-dow, seinen Vize Ruslan Scham-borow sowie die Modedesignerin Madina Chasukowa – Schwäge-rin des Republikpräsidenten. Noch am Abend werden die Inhaftier-ten nach Moskau gefl ogen.„Ich bin ein kreativer Mensch, des-halb weiß ich überhaupt nicht, um was es geht. Ich sollte alle Ge-schäfte über einen Beamten ab-wickeln, das tat ich dann auch. Warum soll ich einer Amtsperson, die mir versichert, die Sache sei legal, misstrauen?“, fragt Chasu-kowa unschuldig in einem Hotel-zimmer, wo sie die Ermittler vom Innenministerium einquartiert haben und jetzt überwachen. Die Blauäugigkeit nehmen sie Cha-sukowa nicht ab. Ihre Version: Chasukowa wollte sich das ma-rode Philharmoniegebäude von Naltschik samt Grundstück ille-gal aneignen, um dort ein Muse-um und Atelier für adygeische Nationaltrachten einzurichten.

Günstiges StaatseigentumChasukowa soll sich mit diesem Wunsch an die Gattin des Repu-blikpräsidenten gewandt haben. Diese wandte sich an Wladimir Schamborow. Der Verwaltungs-chef reichte die dubiose Bitte an seinen jüngeren Bruder und Vize-minister für Staatseigentum Rus-lan Schamborow weiter, der das Komplott eingefädelt haben soll – nämlich die abbruchreife Phil-harmonie aus dem Besitz des re-publikanischen Kulturministeri-ums an eine private Firma zu überschreiben. Das ebnete den Weg für Chasukowa. Sie erwarb Gebäude und angrenzendes Land für weniger als 30 000 Euro – ohne die in solchen Fällen vorgeschrie-bene Auktion. Laut Grundbuch-eintrag ist die Immobilie über 800 000 Euro wert. Die Affäre fl og auf, weil die De-signerin mit den Beamten am Te-

Innenminister bekämpft Klanwirtschaft im Kaukasus

Kampf gegen Korruption Sondereinheit aus Moskau verhaftet Regierungsbeamte der Republik Kabardino-Balkarien

Vorläufig hinter Gittern: der Verwaltungschef von Kabardino-Balkarien vor einem Moskauer Gericht

lefon verhandelte. Die abgehörten Gespräche sind nun das schwer-wiegendste Beweisstück.

Alles in der Hand eines KlansIn Kabardino-Balkarien wertet man die Verhaftungen als Schlag gegen den Präsidenten Arsen Ka-nokow – einen Geschäftsmann, der mehrere Konsumpaläste in

Interna vertrauter Experte, dernicht genannt werden will. Arsan Kanokow hat die Verhaf-tungen indes gelassen aufgenom-men. Als er erfährt, dass die Ak-tionen aus Moskau kommen,ordnet er an, mit den Ermittlernzu kooperieren.

Wem nützt die Aktion?In Russland sind derweil Diskus-sionen darüber entbrannt, wergenau hinter der Operation stehe.Die Ermittler machen deutlich,dass die Anweisungen von höchs-ter Stelle ergangen seien. Und ob-wohl die Unterschrift des neuenInnenministers Wladimir Kolo-kolzew nirgendwo auf den Ein-satzpapieren stehe, hätte niemandanderes eine derartige Operationeinleiten können.Kolokolzews Image kann der auf-sehenerregende Fall nur nützlichsein. Doch warum richtete er sei-nen ersten Schlag ausgerechnetgegen Kabardino-Balkarien, zu-mal es sich angesichts der alltäg-lichen Korruption im ganzen Landfast schon um eine belanglose Af-färe handelt?„Das ist übliche Praxis: Die loka-len Behörden hatten uns den Fallübergeben, und weil hohe Beam-te involviert sind, beschlossen wirvon der föderalen Ebene direkteinzugreifen“, erklärt AndrejPiliptschuk, Pressesprecher derAbteilung für Wirtschaftssicher-heit im Innenministerium. „Sonsthätten diese Amtspersonen enor-men Druck auf die regionalen Un-tersuchungsbeamten ausübenkönnen.“Kanokow hingegen behauptet,dass der Druck von Moskau aus-gehe: So soll der Leiter der Ab-teilung für den Kampf gegenExtremismus im russischen In-nenministerium ein potenziellerAnwärter auf den Präsidenten-posten der Republik sein.In jedem Fall aber ist Kanokowinfolge des entfachten Korrup-tionsskandals ins Wanken gera-ten. Und das föderale Innenmi-nisterium hat in der Partie gegendie republikanischen Klans all-em Anschein nach noch ein paarTrümpfe im Ärmel: „Während derUntersuchung zu diesem Fallhaben wir die weniger relevan-ten Affären ausgeblendet. Abernur vorläufi g“, erklärte Presse-sprecher Andrej Piliptschuk. Obnoch viele eingeblendet werdenkönnen? „Sehr viele. Und wir wer-den weitermachen.“

Die ungekürzte Fassung diesesBeitrags erschien im Magazin

Russkij Reporter

Hohe Erwartungen an den neuen Mann

Während seiner acht Jahre im Amt konnte er die Korruption unter den Polizisten nicht eindämmen, und die groß angekündigte Polizeireform blieb ohne sichtbare Folgen. Der 51-jährige Kolokolzew stammt aus einer Arbei-terfamilie und hat sich über die Jahr-zehnte hochgearbeitet. Kurz nach sei-nem Amtsantritt wurde deutlich, dass der Neue nicht weitermachen will wie bisher: Aus dem Innenministerium wurden innerhalb von wenigen Tagen mehrere hohe Beamte entlassen, die für das Scheitern der Polizeireform verantwortlich gemacht werden.

KOMMENTAR

Der Beginn einer „richtigen“ Reform?

Die ganze Geschichte mit dem Immo-bilienskandal um die baufällige Phil-harmonie und den Praktiken von Prä-sident Arsen Kanokow ist umstritten: Zwar liegen auf offizieller Ebene keine eindeutigen Belege für Korruption vor. Es ist allerdings bekannt, dass Kano-kows Konzern Sindika sich durch den Handel mit illegalem Alkohol einen Namen gemacht hat. Allein diese Tat-sache – auch wenn sie noch auf Spe-kulationen beruht – wäre für eine

Kirill

KabanowSICHERHEITSEXPERTE

Operation dieses Ausmaßes ausrei-chend gewesen. Der Einsatzbefehl muss von ganz oben gekommen sein, weil es vorläufig keine anderen Hand-lungsebenen gibt: Erst im Mai hatten Präsident Putin und der neue Innen-minister Kolokolzew viele Schlüssel-positionen im Innenministerium neu besetzt – und zwar mit Kritikern der eigentlich gescheiterten Polizeireform, die Dmitri Medwedjew initiiert hatte. Kolokolzew ist ein Mann, der die Kor-ruption als eine Krankheit betrachtet – aber als eine heilbare. Und wenn man sich den Fall von Kabardino-Balkarien vor Augen hält, wird klar, dass er es

wirklich ernst meint: Eine solche Ope-ration auf Provinzebene ist die erste in seiner Laufbahn. Sie verlangt Professi-onalität, zahlreiche Kompetenzen und einiges an persönlichem Mut, ist doch der Druck auch innerhalb des Ministe-riums bei solchen Fällen groß.Vielleicht wird das ein Präzedenzfall für andere russische Republiken, in denen die Korruption besonders hoch ist – namentlich im Nordkaukasus. Da-mit wir jedoch von einer Reform spre-chen können, müssen weitere Schritte unternommen werden – vor allem ge-gen Kanokow, den Präsidenten der Republik Kabardino-Balkarien.

Der Sicherheitsexperte Kirill Kabanow leitet das Nationale Antikorruptionskomitee.

Ein neues Gesetz, das die Versamm-lungsfreiheit einschränkt, Hausdurchsu-chungen bei Oppositionellen im Vorfeld des „Marsches der Millionen“ – alles sieht danach aus, als wolle der Kreml nun mit den Protestierenden kurzen Prozess machen. Aber warum wird das neue Gesetz bisher nicht angewendet?

IM BLICKPUNKT

Lesen Sie den Beitrag aufwww.russland-heute.de

Die Erwartungen an den neuen russi-schen Innenminister Wladimir Kolo-kolzew sind hoch. Denn sein Vorgän-ger Raschid Nurgalijew gilt in den Au-gen der Öffentlichkeit als gescheitert:

Moskau sowie eine Bank besitzt und die Republik seit sechs Jah-ren regiert. „Wie schon der große Stratege Alexander Suworow einst sagte: ‚Jeden Quartiermeister, der sei-nen Posten länger als sechs Mo-nate besetzt, darf man getrost ohne Anklage und Verfahren er-schießen‘“, witzelt der Vorsitzen-

de der regierungsunabhängigen Organisation „Adyga-Chasse“ Ib-rahim Jaganow. „In weniger als sieben Jahren hat dieser Mann seine ganze Familie an die Macht-spitze gehievt.“Böse Zungen behaupten, in Nalt-schik gebe es genau ein einziges Haus, das noch nicht im Besitz des Präsidentenklans sei – der Sitz der republikanischen Regierung. Die wirtschaftlich lukrativsten

Immobilien gehörten längst den Firmen der Familie. Und der Bo-den drumherum: „Kanokow hat hier viel Land gekauft – genau wie seine Konkurrenten. Weil land-wirtschaftliche Nutzfl ächen im Kaukasus eine vorzügliche Ein-nahmequelle sind, und weil sie aus dem föderalen Haushalt subven-tioniert werden“, erklärt ein mit

In weniger als sieben Jahren hat das Republik-oberhaupt seinen ganzen Familienklan an die Machtspitze gehievt.

© A

ND

RE

J S

TE

NIN

_R

IA N

OV

OS

TI

© S

ER

GE

J G

UN

EJE

W_

RIA

NO

VO

ST

I

KO

MM

ER

SA

NT

3RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Politik

NATALJA BASCHLYKOWAKOMMERSANT-WLAST

Der Soziologe Lew Gudkow,

Direktor des unabhängigen

Meinungsforschungsinstituts

Lewada-Zentrum über die

Chancen neuer Parteien und die

Zukunft der „Partei der Macht“.

„Die Bürger wollen echte Parteien“

IM GESPRÄCH

Gibt es in der russischen Gesell-

schaft den Wunsch, das Partei-

ensystem zu reformieren?

Ja, er ist bislang nur nicht klar artikuliert. Er wird getrieben von der Empörung über die politische Elite und der Protestbewegung. Die Demonstranten erwarten, dass die Konsolidierung der demokra-tischen Kräfte auf einer breiten Basis unmittelbar bevorsteht.

Die Ergebnisse Ihrer Umfragen

sagen aber etwas anderes: Über

die Hälfte der Bürger will keine

neuen Parteien, 66 Prozent glau-

ben gar, dass Russland weniger

Parteien braucht, nämlich drei.

Das sind die konservativen Putin-Anhänger, die der Stabilität das Wort reden. Ich spreche jedoch vom anderen Teil der Gesellschaft, der auf Veränderungen drängt und mit der Protestbewegung sympa-thisiert. Er hat mit bis zu 30 Pro-zent eine solide Basis in der Bevölkerung erreicht. Diese Men-schen wollen Veränderung, ma-chen sich seit zwei Jahren für Reformen stark und gehen gegen Putin auf die Straße, wenn auch aus unterschiedlichen ideologi-schen Motiven. Diese Gruppen könnten eine große Koalition oder eine neue Partei unterstützen.

Wovor fürchtet sich die passive

Mehrheit? Vor der Demokratie?

Oder ist sie einfach nur politisch

desinteressiert?

Die überwältigende Mehrheit empfi ndet Abneigung gegen die Politik: 60 Prozent öden Gesprä-che über Politik an, sie wollen sich nicht politisch engagieren. Das ist die dominierende Stimmung, die sich die Regierung zunutze macht. Unsere Machtelite hält ihre Posi-tion stabil, indem sie eine Atmos-phäre vermeintlicher Alternativ-losigkeit erzeugt. Über 80 Prozent der Bürger glauben, politische Entscheidungen nicht beeinfl us-sen zu können. Dennoch würden fast 30 Prozent eine neue, „echte“ Partei unterstützen.

Kann man denn diese träge Masse

wachrütteln?

Ja, durch eine Wirtschaftskrise. Doch auch in den letzten, stabi-len Jahren hat sich eine soziale Schicht herausgebildet, die mit der heutigen Regierung unzufrieden ist. Sie setzt sich aus Besserver-dienenden zusammen, die unab-hängig vom Staat wirtschaften und ihre eigenen Ideen verwirk-lichen wollen. Sie verlangen mehr Respekt und wollen ihre Interes-sen auch in der Politik vertreten. Diese Schicht wird weiter wach-sen, ihre Forderungen werden immer lauter.

Über 160 neue Parteien wollen

sich registrieren lassen. Wie schät-

zen Sie ihre Chancen ein?

Die Mehrheit von ihnen wird ein Schattendasein fristen, weil sie

im russischen Fernsehen sicher nicht repräsentativ dargestellt werden. Man wird diese Parteien dort mit Ironie oder mit negativer Wertung bedenken.

Wie viele von ihnen können real

irgendetwas bewegen?

Anfang der 90er gab es über 120 Parteien, 14 schafften es in die Wählerlisten. Das ist das Limit, mehr kann die öffentliche Mei-nung nicht aufnehmen. In der Re-alität werden sich wahrscheinlich noch weniger durchsetzen, ich rechne mit fünf bis sieben. Ihr Er-folg wird jedoch davon abhängen, inwieweit sie ein attraktives Pro-gramm aufstellen und ob sie Zu-gang zu den Medien haben: Ohne Fernsehen, nur durch das Inter-net und die unabhängige Presse, kommen sie nicht weit.

Wie unterscheidet sich die Par-

teienlandschaft Anfang der 90er-

Jahre von der heutigen?

Es gibt einen wesentlichen Unter-schied: Die Parteien der 1990er waren aus den Trümmern der Sowjetnomenklatura entstanden. Mit Parteien im westlichen Sinne hatten sie nichts zu tun. Es waren Fragmente alter Staatsstruktu-ren, die mit der Machtelite ver-

fl ochten waren. In dieser Situati-on führte die regierende Partei unter Boris Jelzin Scheingefech-te mit der „Verliererpartei“ der Sowjetnomenklatura, nämlich den Kommunisten. Heute ist die Situation eine ande-re: Die Bürger fordern echte Par-teien im westlichen Sinne. Das heißt, diese sollen nicht wie Eini-ges Russland hierarchisch von oben gesteuert, sondern von einer breiten Bevölkerungsschicht ge-tragen sein.

Wer sind die Wähler der neuen

Parteien?

Die Großstädter: Sie sind die Basis für die Modernisierung und sozi-ale Veränderung, die Träger einer neuen Mentalität, sie haben sich in den letzten Jahren zunehmend Gehör verschafft, sie fordern Re-formen. Die gegenwärtige Regie-rung Russlands bietet ihnen keine wirkliche Entwicklungsperspek-tive. Daher sind sie unzufrieden und werden in dieser Hinsicht keine Kompromissbereitschaft zeigen. Allerdings verfügt das Regime heute über bedeutende Ressour-cen und seine soziale Basis – näm-lich das industrielle Russland. Das sind die Einwohner der kleinen und mittleren Städte, Mitarbeiter der staatlichen Betriebe, Ange-stellte im öffentlichen Dienst, Rentner. Diese Menschen wollen aus der Tradition heraus keine Veränderungen. Sie verklären noch immer die Vergangenheit, und die altgewohnte Planwirt-schaft ist für sie das Modell, das ihren Vorstellungen von staatli-cher Ordnung und ihren politi-schen Bedürfnissen am ehesten entspricht.

Haben die neuen Parteien eine

Chance, den alten Wählerstim-

men abzunehmen?

Die neuen Parteien sind zu breit gefächert, das Programm der meisten ist zu „exotisch“. Diese marginalen Parteien werden kaum Wählerstimmen sammeln können. Die Nationalisten etwa dürften höchstens zwei bis vier Prozent erreichen. Eine „richtige“ Partei muss aber auf fünf bis sieben Pro-zent kommen – das ist ungefähr so viel, wie Michail Prochorow bei den Präsidentschaftswahlen ein-sammelte. Sollte er seine politi-sche Karriere weiter vorantreiben, könnte er schon jetzt auf eine Wählerbasis von acht Prozent zu-rückgreifen. Sein Potenzial wären 18 Prozent.

Wie aussichtsreich ist da der

konservative Tenor der Staats-

partei von der „Wahrung der po-

litischen Stabilität“?

Stabilität wird es sicher nicht geben, weil die Regierung schon jetzt immer mehr Vertrauen in der Bevölkerung einbüßt. Dieser Pro-zess konnte für die Dauer des Wahlkampfs zwar durch media-len Wirbel und Finanzspritzen ins Sozialwesen unterbrochen wer-den. Die Aktien der Regierung sin-ken aber weiter: Korruption, Amtsmissbrauch und verfälschte Berichterstattung bleiben in den Köpfen hängen.

Wird die Parteienreform dieses

Misstrauen auflösen können?

Nein. Ideologisch wird die Reform zahnlos bleiben. Die Regierung kopiert und imitiert Aktionen der Opposition: hier eine Protestver-anstaltung der Opposition, dort eine Pro-Putin-Kundgebung. Auf

lange Sicht ist diese Taktik in-effizient, einen Zerfall kann manso nicht aufhalten, allenfallshinauszögern. Die Machtspitzescheint derzeit keine Ideen für eineneue Strategie zu haben. Aberauch zu radikalen Mitteln bei derUnterdrückung der Oppositionwird sie nicht greifen.

Welche Perspektiven hat Einiges

Russland unter der Führung von

Medwedjew?

Die Partei wird weiterhin an Po-pularität einbüßen. Wir haben esaber längst nicht mit „Ruinen derMachtpartei“ zu tun, wie viele be-haupten: Einiges Russland verfügtimmer noch über bedeutende Res-sourcen. Und auch wenn es anPopularität verliert, bleibt es trotz-dem ein machtvolles Instrumentder Regierung.

Wann ist mit grundsätzlichen

Veränderungen zu rechnen?

Ganz offensichtlich ist in den rus-sischen Regionen der Ruf nacheiner anderen Politik laut gewor-den. Dort haben sich neue Inter-essengruppen gebildet, die sichpolitisch engagieren wollen. VieleGouverneure sind auch zu echtenWahlen bereit. Sie wollen die In-teressen ihrer eigenen Bürger ver-treten, nicht die der föderalen Re-gierung. Insofern beobachten wireine prekäre Situation, in der vieleSeiten unzufrieden sind. Offen-sichtlich ist die Zeit reif für Ver-änderungen, auch wenn derenKonturen noch nicht klar zu er-kennen sind.

Die ungekürzte Fassung diesesBeitrags erschien im

unabhängigen MagazinKommersant-Wlast

Wie viele Parteien braucht Russland?

Die Parteienreform im Überblick

Als einer seiner letzten Amtshandlun-gen unterschrieb Präsident Dmitri Medwedjew das neue Parteiengesetz. Wichtigste Neuerung: Statt wie bisher 40�000 benötigt eine Partei nur noch 500 Mitglieder, um registriert zu wer-den. Die Republikanische Partei des Liberalen Wladimir Ryschkow gehörte zu den ersten, die von dem Gesetz profitierten. Sie wurde Anfang Mai registriert. Allerdings warnen Politolo-gen vor einer „Weimarisierung“ der politischen Landschaft: Unter Putin

war die Zahl der Parteien auf sieben gesunken, seit Inkrafttreten der Geset-zesänderung sind es 21 geworden. Und im Justizministerium warten der-zeit noch 177 Registrierungsanträge auf ihre Bearbeitung. Wladimir Schiri-nowski, Chef der altgedienten Liberal-Demokratischen Partei, ist unzufrie-den mit dem neuen Gesetz. Die große Anzahl der Parteien führe zu chaoti-schen Verhältnissen bei den Wahlvor-bereitungen – und zu einer Desorien-tierung der Wähler.

Das Lewada-Zentrum gehört zu den größten Meinungsforschungsinstituten Russlands und gilt als politisch unab-hängig. Benannt ist es nach seinem Gründer Juri Lewada (1930-2006).

INFO

Juri Lewada

KO

MM

ER

SA

NT

4 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUWirtschaft

WIRTSCHAFTS-

KALENDER

SEMINAR

STEUERN, BUCHHALTUNG UND

CONTROLLING IN RUSSLAND

6. JULI, STUTTGART, IHK

An Beispielen aus der Praxis werden folgende Fragen erläutert: Wann ent-steht eine steuerliche Betriebsstätte, wie sieht das Doppelbesteuerungsab-kommen zwischen Russland und Deutschland aus, wie unterscheidet sich das Steuerrecht der Länder?

stuttgart.ihk24.de ›

INFORMATION

RUSSLAND FÜR DEN

MITTELSTAND

19. JULI, PFORZHEIM, IHK

Erfahrene Russlandinsider zeigen in einer halbtägigen Veranstaltung die Chancen einer deutsch-russischen Zusammenarbeit auf – ein Gedanken-austausch und Informationen aus ers-ter Hand zu aktuellen Entwicklungen im Russlandgeschäft.

nordschwarzwald.ihk24.de ›

MESSE

AGRORUS

27. AUGUST-2. SEPTEMBER, ST. PETERS-

BURG, MESSEGELÄNDE LENEXPO

Die „Grüne Woche“ St. Petersburgs: An die großen Landwirtschaftsmessen wie den „Goldenen Herbst“ in Moskau reicht die St. Petersburger Messe „Ag-rorus“ zwar nicht heran, aber immer-hin kamen im letzten Jahr 1500 Aus-steller und 140�000 Besucher.

agrorus.lenexpo.ru/en/ ›

TRAINING

INTERKULTURELLE

AUSLANDSVORBEREITUNG

10.-12. SEPTEMBER, BAD HONNEF, HOTEL

SEMINARIS

Mit einem deutschen und einem russischen Trainer lernen die Teilneh-mer, kulturelle Unterschiede in Denk- und Verhaltensmustern in den Berei-chen zu erkennen, die für das Leben und Arbeiten in Russland wichtig sind.

ifim.de ›

LESEN SIE MEHR ÜBER DIE

RUSSISCHE WIRTSCHAFT AUF

RUSSLAND-HEUTE.DE

AKTUELL

Immer mehr russische Bürgerwollen wissen, was mit ihrenSteuergeldern passiert. DieserMeinung ist Präsidentenberate-rin Elwira Nabiullina, bis vorKurzem Ministerin für wirt-schaftliche Entwicklung. Die Po-litik müsse ihnen deshalb mehrBeteiligung einräumen – und fürmehr Transparenz sorgen.

55 Prozent der Russen sind über-zeugt, dass ihr Land keinem an-deren ähnelt. Das ergab eine Um-frage des Meinungsforschungs-instituts WZIOM. Unter denmöglichen Vorbildern steht je-doch Deutschland an erster Stel-le: Zwölf Prozent der Befragtenwollen, dass Russland sich nachdeutschem Vorbild entwickelnmöge. Etwa vier Prozent sehenin den USA oder der Schweiz einVorbild. Nur ein Prozent wünschtsich die Sowjetunion zurück.

Bürger fordern

mehr Transparenz

Russland ist

einfach einmalig

Seit dem 8. Juni besteht zwischendem Fährhafen Sassnitz auf derInsel Rügen und dem neuen rus-sischen Seehafen Ust-Luga beiSt. Petersburg eine regelmäßigeFährverbindung für den Güter-verkehr. Von Sassnitz-Mukranwerden unter anderem die Desi-ro-Regionalzüge nach Russlandverschifft.

Der größte russische VerlagEksmo will offenbar seinen wich-tigsten Konkurrenten AST auf-kaufen. Laut russischen Medienlaufen derzeit Verhandlungen:Die Kaufsumme soll bei 400 Mil-lionen Dollar liegen, der Markt-anteil des neuen Verlagsriesenläge bei 20 Prozent.

Die älteste russische Stadt We-liki Nowgorod zieht immer mehrTouristen an: 2011 zählte dieStadt 307 915 Übernachtungen,über 50 000 mehr als im Vorkri-senjahr 2007. Allerdings stammtder Großteil der Touristen ausRussland: Nur ein Zehntel derGäste sind Ausländer.

In 38 Stunden

nach Petersburg

Ein neuer Riese auf

dem Buchmarkt

Mehr Touristen

nach Nowgorod

Logistik Die russische Eisenbahn denkt über einen Transportkorridor Europa-China nach

SEBASTIAN BECKERFÜR RUSSLAND HEUTE

2016 könnte China die USA als

größte Wirtschaftsmacht

ablösen. Russland will deshalb

die Bahnstrecke nach China

ausbauen. Die EU und die

Deutsche Bahn sind dabei.

Die russische Eisenbahn RZD – eines der weltweit größten Bahn-unternehmen – steht vor einem massiven Umbau: Der Konzern will den interkontinentalen Frachtgutverkehr stärken. „Für uns ist insbesondere der Korridor von der EU über Russland bis an den Pazifi k wichtig“, betonte der Vorstandsvorsitzende Wladimir Jakunin auf der Fachtagung „Strategische Partnerschaft 1520“ Anfang Juni in Sotschi. Es gehe darum, eine rentable und sichere Alternative zum Seeweg zu fi n-den, über den bislang rund 95 Pro-zent aller Waren von Asien nach Europa befördert werden.

Europa-Asien-KorridorDer Hintergrund: Für viele Un-ternehmen ist China die zukünf-tige globale Wirtschaftssuper-macht. Nach einer Prognose des Internationalen Währungsfonds IWF vom vergangenen Jahr wird das Land schon 2016 die USA vom ersten Platz verdrängen. Dem schnellen Transport von Gütern aus Europa nach Asien kommt damit eine neue, immens wichti-ge Bedeutung zu. An diesem lu-krativen Geschäft will die RZD teilhaben: Denn ein Großteil der Strecke führt durch Russland.

RZD hat bis Ende Mai seine Frachtgutzahlen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 3,6 Prozent auf 522,2 Millionen Tonnen er-höht. Zum Vergleich: DB Schen-ker Rail, der größte Bahndienst-leister für Frachtgut in Europa, hat im ersten Quartal 2012 einen Rückgang von vier Prozent hin-nehmen müssen. Jakunin machte keine Prognosen, wie sich die bis-herigen Volumina durch den neuen Europa-Asien-Korridor erhöhen könnten. Auch der stellvertretende Präsi-dent der EU-Kommission, Siim Kallas, äußerte sich optimistisch zur Zukunft der Strecke: „Die Transsibirische Eisenbahn ist eine wichtige Verkehrsader, um den Warenaustausch noch weiter vo-ranzutreiben.“ Allerdings fordert er für ein Funktionieren des Kor-ridors eine zweispurige Bahn, die vollständig elektrifi ziert ist. Die beteiligten Länder, so Kallas, müssten einheitliche Regeln für die Verkehrssicherheit und tech-nische Standards entwickeln sowie die Rechtssysteme aufein-ander abstimmen.

Große Pläne für die SchieneIn den Zukunftsplanungen der EU spielt die Bahn eine wichtige Rolle. Nach dem Weißbuch der EU aus dem Jahr 2011 soll bis 2050 etwa 50 Prozent des derzeitigen Ver-kehrs auf Europas Straßen unter anderem auf die Schiene verla-gert werden. Auch weltweit wächst die Bedeutung der Bahn. Bis 2030 wird der Gesamtumsatz aller Transportmittel bei elf Billionen

Europa – Asien mit dem ZugEuropa – Asien mit dem ZugDollar liegen. Ein Viertel davon werden die Bahnen generieren, so die Fachleute. Russland, das über ein großes Netz verfügt, hat ein gehobenes Interesse, es auszubau-en. Das Besondere daran: Die Rus-sen fahren auf einer Spurweite von 1520 Millimetern, die West-europäer haben 85 Millimeter weniger.

Siemens-Züge für SotschiDie Deutschen engagieren sich be-reits jetzt schon stark auf dem Schienensektor. Die DB Schen-ker Rail etwa beliefert von Deutschland aus eine BMW-Nie-derlassung in China. Die Züge legen die Strecke von 11 000 Ki-lometern in 23 Tagen zurück. Auf dem Seeweg, der doppelt so lang ist, benötigt die Fracht 46 Tage – also auch die doppelte Zeit. „Diese Bahnstrecke muss auch in der Hälfte der Zeit machbar sein“, for-derte in Sotschi Bundesverkehrs-minister Peter Ramsauer. Er setz-te sich unter anderem für einen einheitlichen Frachtbrief ein, der in sämtlichen Transitländern gel-ten soll. „Wir unterstützen diese Projekte und setzen auf Globali-sierung“, betonte der Minister. Eine Absage erteilte er gleichzei-tig der von manchen Politikern geforderten Rückkehr zu regio-nalen Transporträumen. Die Stärkung des Frachtgutge-schäfts ist aber nur ein Teil der Gesamtstrategie der russischen Eisenbahn. Das Unternehmen will ebenso den Service beim Passa-gierangebot verbessern. Dazu ge-hört die Fertigung hochmoderner

85 Millimeter, die

richtig Zeit kosten

In Russland, den anderen GUS-Staa-ten sowie in Finnland fahren die Züge auf Gleisen, die eine Breite von 1520 Millimetern haben – also 85 Millimeter breiter sind als in Westeuropa. Das Zarenreich wollte im 19. Jahrhundert verhindern, dass ausländische Mächte das Land auf dem Schienenweg an-greifen. Inzwischen gibt es unter-schiedliche technische Systeme an den Übergängen, wo Radsätze oder Drehgestelle gewechselt werden kön-nen. Doch der Ausbau dauert – und die Bahnen verlieren Zeit und Geld.

Züge und Waggons, die die Rus-sen gemeinsam mit Siemens herstellen. Im vergangenen Jahr haben die Partner den Ausbau der Produk-tion durch Investitionen in Höhe von mehreren 100 Millionen Euro angekündigt. Siemens wird unter anderem Regionalzüge für Sot-schi liefern.

Güterbahnhof Sljudjanka: Die

Station liegt auf halber Stre-

cke nach China am Baikal-See.LO

RI/L

EG

ION

ME

DIA

PR

ES

SE

BIL

D

5RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Wirtschaft

Aufbruchsstimmung vor Olympia 2014

JEWGENIJ PROLYGINRUSSLAND HEUTE

Der Markt für Lastwagen

wächst, MAN baut ein neues

Werk in St. Petersburg – und

zieht damit mit den über 700

deutschen Firmen gleich, die in

der Region angesiedelt sind.

jekt Symbolwert für eine noch en-gere Zusammenarbeit zwischen dem Freistaat Bayern und St. Pe-tersburg. Poltawtschenko hat ei-gens einen Minister abgeordnet, der für das Projekt von MAN ver-antwortlich zeichnet.Der bayrische Hersteller will seine Position auf dem russischen Markt festigen. Dieser ist seit Ende der Wirtschaftskrise förmlich explo-diert: 2011 wurden in der Klasse der 14- bis 40-Tonner knapp 97 000 Lastwagen verkauft, fast dop-pelt so viele wie 2010. Zweistellig wuchs auch der Absatz leichter LKWs und Busse.25 Millionen Euro will der LKW-Produzent ins neue Werk inves-tieren, etwa 100 Mitarbeiter sol-len in der ersten Phase mindes-tens 6000 LKWs produzieren.

Wenn der Münchner Lkw- und Dieselmotorenhersteller MAN im Oktober eine Niederlassung für schwere LKWs in der Nähe von St. Petersburg eröffnet, wird neben dem Petersburger Gouver-neur auch der bayrische Minis-terpräsident Horst Seehofer an-wesend sein. Das Werk ist wichtig für alle Be-teiligten. Für den erst im letzten Jahr ins Amt gekommenen Geor-gi Poltawtschenko hat das Pro-

In Zukunft rollen MAN-Brummis

aus Petersburg durch Russland.

Deutsche Lastwagen aus russischer Produktion

Regionen In St. Petersburg wird demnächst ein MAN-Werk eröffnet

ZAHLEN

4,6 Milliarden Dollar be-trug der Warenumsatz zwischen Deutschland

und St. Petersburg im letzten Jahr. Rund um die Stadt sind über 700 Fir-men mit deutschem Kapital ansässig.

„Für St. Petersburg sprechen vor allem die günstige Infrastruktur und die sich gut entwickelnde Automobilindustrie“, sagte Lars Himmer, Geschäftsführer von MAN Truck & Bus Production RUS. MAN baut seine Niederlas-sung im Industriepark „Schuscha-ry“ – dort stehen schon heute die Fertigungshallen von Toyota, Ge-

staatliche Programm zur Förde-rung des Gesundheitswesens aktiv.Im Mai besiegelte die Inter Medi-cal Medizintechnik eine Koope-ration mit dem PetersburgerUnternehmen Elektron: Die Fir-men sind auf die Herstellung vonmedizinischen Diagnosegerätenspezialisiert, die auf Nukleartech-nik basieren. Die Investitionen be-laufen sich auf drei MillionenEuro.In St. Petersburg sind derzeit über700 Firmen mit deutschem Kapi-tal ansässig. Poltawtschenko sähejedoch gerne noch mehr deutscheUnternehmen vor Ort. Deshalbunterzeichneten er und Seehoferim Mai ein Protokoll über die Zu-sammenarbeit zwischen dem Frei-staat und St. Petersburg. Der Gou-verneur wurde gleich konkret: Beider Besichtigung des BMW-Werksbot er Vorstand Harald Krügerseine Unterstützung für Investi-tionsprojekte in St. Petersburg an.Zudem traf er sich mit RobertBartl, Leiter des Clusters Ener-gietechnik bei „Bayern Innova-tiv“, der den Gouverneur durchdas Medical Valley EuropäischeMetropolregion Nürnberg (EMN)führte.

ANDREJ RESNITSCHENKOFÜR RUSSLAND HEUTE

Russland exportiert mehr als

nur Gas und Öl: Auch nach

Fukushima sind seine Atom-

kraftwerke gefragt. Zusätzlich

will Rosatom auch in erneuer-

bare Energien investieren.

dern wie Bangladesch, wo rund 150 Millionen Menschen auf engem Raum leben und keine erneuer-baren Energiequellen erschließ-bar seien, komme für die stabile Stromerzeugung nur ein Atom-kraftwerk in Frage. Diese Märkte will Russland mit seinem Atommonopolisten Rosa-tom bedienen: Das Staatsunter-nehmen hat geplant, weiterhin weltweit AKWs der Generation 3+ zu bauen. Diese sollen sämtlichen aktuellen Sicherheitsstandards entsprechen und das Kraftwerk selbst gegen stärkste Erdbeben, Tsunamis und Stromausfälle sichern können. Momentan baut der Nuklearriese neun Reaktoren in Russland und 21 im Ausland. Auch in China entstehen zur Zeit durch zwei staatliche Nuklear-konzerne 25 neue Reaktoren.Trotz negativer Prognosen für die Atomenergie blickt der russische Atomkonzern optimistisch in die Zukunft. „Diese Aufträge sind

Nach der Havarie im Atomkraft-werk von Fukushima haben viele Länder den Ausstieg aus der Atomenergie angekündigt – allen voran Deutschland. Doch die Mehrheit der Staaten, die sich für die Atomenergie entschieden hat-ten, ist von ihren Plänen nicht abgewichen und will diese auch weiterentwickeln.„Selbst bei maximaler Unterstüt-zung durch den Staat, Einführung ,grüner Tarife‘ und Milliardenin-vestitionen kommt der Strom aus erneuerbaren Energiequellen den Endverbraucher sehr teuer zu ste-hen“, sagt Sergej Nikonow, unab-hängiger Energieexperte. In Län-

eine Konsequenz aus dem wach-senden Vertrauen gegenüber rus-sischen Nukleartechnologien im In- und Ausland“, sagte Rosatom-Chef Sergej Kirijenko auf dem in-ternationalen Forum Atomexpo 2012 Anfang Juni in Moskau, an

dem über 1300 Experten aus 53 Ländern teilnahmen. Die Kern-kraft sei weiterhin die günstigste Art, Strom zu erzeugen.

Von wegen günstiges AtomDem widerspricht allerdings Iwan Blokow, Leiter von Greenpeace Russland: „Die Wirtschaftlichkeit alternativer Energiequellen wird sich schon bald an jene von Atom-

kraftwerken und konventionellen Energiegewinnungsmethoden an-gleichen“, sagt der Experte. So kosteten derzeit ein Kilowatt Strom, das aus Windenergie ge-wonnen wird, etwa 1,50 Euro, ein Kilowatt aus der Solarenergie bald sogar nur noch 75 Cent.

Erneuerbare Energie als sinnvolle ErgänzungTrotz allem Optimismus gegen-über der Atomenergie sind die Zei-chen der Zeit auch bei Rosatom angekommen. Russische Wissen-schaftler setzen sich seit Jahren mit alternativen Energiequellen auseinander: So gründete Rosa-tom 2011 WetroOGK, eine Firma, die Kompetenzen im Bereich der Windenergie entwickeln soll. Und auf der Atomexpo 2012 sagte Ale-xander Lokschin, Vizechef von Rosatom, dass die Agentur sich demnächst auch an der Herstel-lung von Windrädern beteiligen wolle.

„Die Windkraft soll jedoch nichtdie Kernenergie ersetzen, sondernsie nachhaltig ergänzen und damiteinen diversifizierten Energie-haushalt bilden“, betonte Lok-schin. Erneuerbare Energiequel-len würden darin durchaus ihrenPlatz einnehmen, gleichzeitigentwickelten russische Nuklear-forscher neue AKWs der Genera-tion 4.

Gesetzgeber erschwert Ent-wicklung grüner EnergienDie Entwicklung sauberer Ener-giegewinnung wird in Russlandjedoch dadurch erschwert, dasses bei den erneuerbaren Energie-quellen noch keine Tarifregulie-rungen gibt. Sollte dieses Pro-blem gelöst werden, könnte es inRussland zu einem Boom „grünerEnergie“ kommen: Schon heutegibt es viele Firmen im Land, dienicht nur mit der Windenergieexperimentieren, sondern auchBiogaskraftwerke und die Solar-energie vorantreiben.

Andrej Resnitschenko ist führender Energieexperte. Er schreibt für die Presse-agentur RIA Novosti.

Atomkraftwerke für den ExportKernenergie Russland setzt in der Energiefrage weiterhin auf den Bau von Atomkraftwerken – und Windkraftanlagen

„Die Windkraft soll die Kernenergie ergänzen und mit ihr einen diversifizierten Energiehaushalt bilden.“

neral Motors und Magna Inter-national. Und seit diesem Jahr ist der wie MAN zum VW-Konzern gehörende LKW-Produzent Sca-nia dazugekommen.Die Region St. Petersburg lockt deutsche Investoren auch mit dem Cluster Medizintechnik an: So ist die Roesys GmbH seit 1998 in Russland als Zulieferer für das

Russia Beyond the Headlines ist offizieller Medienpartner des Wirtschaftsforums Sotschi-2012

Vom 20. bis 23. September

geht es auf dem Internationa-

len Investitionsforum in Sotschi

zum zehnten Mal um interes-

sante Investitionsprojekte im

Süden Russlands. Mehr Info:

www.forumkuban.com

Warum nehmen Sie am Investi-

tionsforum Sotschi-2012 teil?

Für uns als Hersteller von Dach- und Wandsystemen aus Alumini-um ist es wichtig, auf dem Forum Informationen über zukünftige Projekte zu bekommen und in Kontakt mit den Bauherren zu treten. Neben interessanten Marktchancen bietet das Forum die Möglichkeit, Gespräche in kleinen Kreisen und lockerer At-mosphäre zu führen und somit im Austausch mit wichtigen Entschei-dungsträgern zu stehen.

Welche einzelnen Punkte inter-

essieren Sie beim diesjährigen

Programm besonders?

Ausschlaggebend für die Teilnah-me sind nicht einzelne Programm-punkte. Uns ist wichtig zu sehen, ob Projekte realisiert wurden.

Welche Erwartungen haben Sie an

das Forum 2012?

Die wirtschaftliche Aufbruchs-stimmung in Russland ist allge-genwärtig. Russland ist ein luk-ratives Geschäftsfeld. Allerdings erwarten wir eher langfristige Erfolge, da die Umsetzung von Projekten oft drei bis fünf Jahre dauert. Und das Forum ist eine

IN EIGENER SACHE INVESTITIONSFORUM

wichtige Plattform, um mit Ent-scheidern und Architekten vor Ort in Kontakt zu treten, die an unseren drei olympischen Pro-jekten beteiligt sind.

Christoph Schmidt ist Sales Director Export bei Kalzip.

PH

OT

OX

PR

ES

S

PR

ES

SE

BIL

D (3

)

6 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUThema des Monats

HALBSTADT – EINE DEUTSCHE INSEL IN RUSSLAND

IN DEUTSCHLAND NENNT MAN SIE „RUSSEN“, IN RUSSLAND

„DEUTSCHE“ - EINE BEVÖLKERUNG ZWISCHEN DEN STÜHLEN

RUSSLANDDEUTSCHE IN RUSSLAND

DIANA LAARZFÜR RUSSLAND HEUTE

Ein Fest am Fuße des Altais.

Auf Spitzendeckchen liegen

Ribbelkuchen und Strudel, die

Familien tragen Schwarzwald-

trachten. Verkehrte Welt? Nein,

eine deutsche Insel in Russland.

Das Fest steigt im deutschen Na-tionalbezirk Halbstadt, hier woh-nen Nachfahren jener Deutschen, die auf Einladung Katharinas der Großen Ende des 18. Jahrhunderts gen Osten zogen. Gut 20 Jahre ist der Bezirk nun alt, und nicht nur die Bewohner staunen, wie sich ihr Fleckchen Deutschland in dieser Zeit entwi-ckelt hat. Auch die Gäste sind voll des Lobes. Heiko Kümmel vom Partnerlandkreis Schmalkalden-Meiningen (Thüringen) ist nach 15 Jahren mal wieder zu Besuch. „Wir würden wahrscheinlich nicht mal ein Fünftel der Kinder von Halbstadt zusammenbringen“, sagt er mit Blick auf die toben-de Schar um ihn herum. „Die Menschen sind offener, aufge-schlossener als vor einigen Jah-ren. Es ist Bewusstsein da, und auch Stolz.“

Stolz sind sie vor allem auf ihre Geschichte. Genau genommen ist der Bezirk nämlich schon viel älter als 20 Jahre. Die ersten deutschen Siedlungen im Altai entstanden Ende des 19. Jahrhunderts. 1927 wurde der Nationalbezirk gegrün-det – mit Halbstadt im Zentrum. Im Gebiet lebten 13 155 Menschen, 96 Prozent von ihnen waren Deut-sche. 1938, unter Stalin, wurde der Bezirk aufgelöst und erst 1991 beinahe in seinen ursprünglichen Grenzen neu gegründet. Heute umfasst er 16 Dörfer mit 22 000 Einwohnern, darunter etwa 10 000 Angehörige der deutschen Min-derheit – und Frauen wie die 52-jährige Valentina Stier. Die antwortet auf die Frage, was für sie Heimat sei: „Heimat ist für mich die deutsche Sprache, die Sprache meiner Vorfahren.“

Plattdeutsch im AltaiWenn Valentina Stier mit ihrem Mann spricht, dann benutzt sie die konservierte Form eines alten plattdeutschen Dialekts. Eine Ge-heimsprache. Der Sohn und die Tochter, die jeden Sonntag mit den Enkelkindern zu Besuch kommen, verstehen davon nur einzelne Fet-

Die Deutschbalten kamen im 12. Jahr-hundert, später standen sie im Dienste des Zaren – bis zur Oktoberrevolution. Eine weitere deutsche Bevölkerungs-gruppe lebt im Süden des ehemaligen Zarenreichs: In der Ukraine sind es die Schwarzmeerdeutschen, die ihre Traditi-onen weiter pflegen – auch wenn es immer weniger gibt, die sie verstehen.

IM BLICKPUNKT

Lesen Sie die Beiträge aufwww.russland-heute.de

zen. „Ich bin eine Plaudertasche“, gesteht Valentina Stier lachend. Und am liebsten plaudert sie auf Deutsch. Am schwerfälligen Gang der Russlanddeutschen sieht man, dass sie ihr Leben lang in der Landwirtschaft geschuftet hat. Das Gesicht allerdings, umrahmt von kurzen grauen Haaren, trägt die Züge eines Lausemädchens.

Nach der Perestroika hätte Valen-tina Stier dem Strom der Aussied-ler folgen und nach Deutschland ziehen können. Ihr zweiter Sohn wohnt nun schon seit vielen Jah-ren dort. Der Wunsch war da, daran erinnert sie sich. „Aber ich war in meinem Leben noch nie woanders. Ich bin nicht ausge-wandert, weil ich auf diesen Ort nicht verzichten kann. Ich bleibe hier.“ Ihre kulturellen Werte hal-ten die Halbstädter auch fern von Deutschland hoch. In manch

einem Vorgarten steht ein Gar-tenzwerg. Weihnachten und Os-tern wird jeweils zweimal gefei-ert. Einmal auf Deutsch, einmal auf Russisch. Das Leben in zwei Welten hat also durchaus seine Vorteile. Mit fi nanzieller Hilfe aus Russ-land und Deutschland ist der Na-tionalbezirk in den vergangenen Jahren zu einer Art Vorzeigekreis im Altai-Gebiet geworden. Die landwirtschaftliche Produktivi-tät ist bedeutend höher als bei den Nachbarn, 1995 haben sich elf Kol-chosen zur GmbH „Brücke“ zu-sammengeschlossen. Die deutsche Regierung half vor allem in den Anfangsjahren bei den Aufbau-arbeiten, der Rekonstruktion des Stromnetzes, der Versorgung mit Medikamenten, der Verbesserung des Deutschunterrichts und der Eliteförderung. Aus dem Kreml fl ießt Geld für die Erweiterung der Schule, den Bau von neuen Einfamilienhäusern, die Ausbesserung der Straßen und eine Generalüberholung der Was-serversorgung. Für die Berliner Ministerien geht es darum, den Russlanddeutschen in Russland gute Lebensbedingungen zu schaf-fen, für die Moskauer Regierung ist die Förderung von Halbstadt Teil der Minderheitenpolitik. Längst nicht alles ist perfekt in Halbstadt. Noch immer ziehen Leistungsträger gen Deutschland, und die Wirtschaft kann dies nur schwer verkraften. Die jüngere Generation entfernt sich immer mehr vom deutschen Erbe, nur wenige sprechen Deutsch. Trotz-dem übt der Ort auf seine aktu-ellen und ehemaligen Bewohner einen unübersehbaren Reiz aus. Wenn im Sommer gefeiert wird, wenn Ribbelkuchen verkauft wird,

die deutschen Lieder erklingenund die Trachten aus den Schrän-ken gekramt werden, dann wer-den einige Gäste mit besonderslautem „Hallo“ begrüßt. Es sind die Rückkehrer ausDeutschland. Menschen, die schonseit mehr als zehn Jahren inHamm oder Soest wohnen. JedenSommer packen sie den Koffer-raum ihres Wagen voll, setzen sichhinters Steuer und fahren meh-rere Tage lang für die Sommer-ferien in die alte russische Hei-mat. „Halbstadt bedeutet für michFreiheit. Hier kann ich angeln,Lagerfeuer machen und Fahrradfahren, wo immer ich möchte“,sagt Urlauber Sergej Ulrich.Deutschland habe aber natürlichauch seine Vorteile. Der größte:„In Hamm gibt es keine Mücken,hier sind sie eine Plage.“

„Halbstadt bedeutet für mich Freiheit. Hier kann ich angeln, Lagerfeuer machen und Fahrrad fahren, wo ich möchte.“

7RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Thema des Monats

NATALJA SCHWABAUERRUSSLAND HEUTE

Nach Kriegsbeginn wurden die

Russlanddeutschen zwangsweise

von der Wolga in den Ural

umgesiedelt. Die Männer

mussten in die Arbeitsarmee.

Viele kehrten nicht zurück.

Die dunkelste Stunde der Sowjetdeutschen

gezogen, dann reichten die Res-sourcen nicht mehr aus und In-valide, Frauen und Jugendliche wurden mobilisiert“, erzählt Ar-kadij Anton. Er wurde mit 15 Jah-ren eingezogen. „In der Regel wur-den wir für körperlich schwere Arbeiten eingesetzt: Bäume fäl-len, Kohle schaufeln, Steine aus Kiesgruben karren.“Die Mobilisierten galten zwar nicht als Häftlinge, mussten aber wie diese hinter Stacheldraht in Baracken hausen, eine Person auf anderthalb Quadratmetern Flä-che. Zur Arbeit eskortierte sie eine Wachmannschaft. Aufgestanden wurde um fünf, Appell war um sechs, von 7.00 bis 19.00 Uhr Ar-beitsdienst. Aus den Erinnerun-gen des Arbeitssoldaten Roman Bauer: „Wir verluden Sand in Waggons für das Betonwerk. An

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die deutsche Minderheit eine der zahlenstärksten in der Sow-jetunion. 1924 billigten die Bol-schewiken gar die Gründung einer „Autonomen Republik der Wol-gadeutschen“, was allerdings die späteren Repressalien gegenüber den sowjetischen Deutschen nicht verhinderte. Am 28. August 1941 legte der Oberste Sowjet den Erlass „Über die Umsiedlung der Deutschen aus der Wolgaregion“ vor. Die Stra-tegie der Behörden: Angeblich hatte man in diesem Volk Tau-sende Saboteure und Spione ent-larvt. Im Herbst wurden 433 000 Menschen in den Ural, nach Si-birien und Kasachstan deportiert. Den einen ließ man nicht einmal Zeit, ihre Koffer zu packen, an-dere konnten immerhin Lebens-mittel für unterwegs, Kleidung und Haushaltsgerät mitnehmen.Auf den weiten Weg ging es im Eisenbahnwaggon oder im Schleppkahn. Viele starben be-reits während der Reise. Die Überlebenden hatten sich noch nicht eingerichtet, als im Januar 1942 ein neuer Erlass die Einbe-rufung in die Arbeitsarmee an-ordnete. „Zuerst haben sie nur die Männer von 17 bis 50 Jahren ein-

Archivarbeit gegen das Vergessen: Professor Viktor Kirillow

einem Tag schaufelten wir 36,5 Kubikmeter, jeder Kubikmeter wog 1800 Kilogramm, insgesamt also 66 Tonnen. Dafür bekamen wir pro Tag 300 Gramm Brot und eine Schüssel Erbsen.“ Nicht besser erging es den Frau-en. Aus den Erinnerungen einer Deutschen aus Nischni Tagil: „Der Kolchos-Vorsitzende jagte uns aus dem Dorf. Meine Schwester Emma mit ihren drei Kindern und noch eine weitere Frau, die fünf Kin-der hatte, gingen in den Wald, bau-ten sich aus Zweigen Hütten und bedeckten sie mit einer Grasnar-be. Tagsüber suchten die Mütter nach Essbarem: Weizen- oder Rog-genähren, gefrorene Kartoffeln vom Feld, Brennnesseln. Wenn sie jemandem über den Weg liefen, nahm man ihnen alles ab. Eines Tages kehrte Emma vom Feld zu-

jenen Russlanddeutschen weniger soziale Unterstützung gewährt, die in mehrheitlich russland-deutsch besiedelte Gebiete zogen. Unter anderem so gelang es, das Problem der „russischen Enkla-ven“, in denen die Russlanddeut-schen in trotziger Abgeschottet-heit lebten, zu lösen.

Die meisten Russlanddeutschen

kamen in den 90er-Jahren nach

Deutschland. Sind Jugendliche,

die hier geboren sind, leichter

zu integrieren?

Je älter ein Jugendlicher bei der Einwanderung ist, desto größer die Probleme. Besonders wichtig ist, wo er die Kindergartenjahre verbracht hat: Wenn ein Kind mit Max und Moritz aufwächst, lernt es auch die deutsche Sprache im Handumdrehen.

Ein großes Problem ist Ihren Stu-

dien zufolge die Gewalt in der

Familie, die Jugendliche dann

nach außen tragen.

Auch da konnten wir eine sehr positive Entwicklung feststellen: Laut einer Umfrage aus dem letz-ten Jahr wurden 16- bis 20-jäh-rige Migranten in ihrer Jugend weniger geschlagen als die 21- bis 30-jährigen, erst recht im Ver-gleich zu den heute 31- bis 40-jäh-rigen. Diese Tendenz gibt es auch in deutschen Familien.

Die Russlanddeutschen – eine Pro-blemgruppe? Kriminologe Chris-tian Pfeiffer erklärt, warum es gerade bei der Integration dieser Gruppe große Fortschritte gibt.

Vor zehn Jahren las man stän-

dig von Problemen mit Russland-

deutschen: Schlägereien, Drogen,

Kriminalität. Wo stehen die Russ-

landdeutschen im Jahr 2012?

In einer bundesweiten Studie konnten wir 2009 deutliche Fort-schritte bei der schulischen In-tegration von Jugendlichen mit russlanddeutschem Hintergrund feststellen. Ende der 90er-Jahre gingen nur zwöf Prozent von ihnen auf ein Gymnasium, nun sind es doppelt so viele. Auch andere Integrationsindikatoren sind deut-lich besser: Die Mehrheit der 15-Jährigen spricht gut Deutsch, fühlt sich als Deutsche/r und hat deutsche Freunde. Die heutigen Problemgruppen stammen eher aus dem früheren Jugoslawien oder haben einen türkischen und arabischen Hintergrund.

Warum entwickelt sich die Inte-

gration gerade hier so positiv?

Das wurde auch mit staatlichen Fördermaßnahmen erreicht, etwa mit Sprachtests und -kursen vor Beginn der Grundschule, aber auch mit Gesetzen: Ende der 90er wurde ein Gesetz erlassen, das

Prof. Dr. Christian Pfeiffer, Leiter

des Kriminologischen Instituts

Niedersachsen

Wieder eingedeutscht mit Max und Moritz

IM GESPRÄCH

Woher kommt dieser Wandel?

Insgesamt ist die Gewalt in Fa-milien, die in Deutschland leben,rückläufi g. Auch das hat mit einemGesetz zu tun: Seit 2002 darf diePolizei ein prügelndes Familien-mitglied für 14 Tage aus der Fa-milie entfernen, ein Gericht kannbis zu einem halben Jahr verlän-gern. So haben die Familien mehrSpielraum. Speziell bei den Russ-landdeutschen kommt die besse-re Arbeitssituation der Elternhinzu: Wichtige Gründe für Ge-walt in Familien sind Alkohol undArbeitslosigkeit. Früher gab es inder Gruppe der Russlanddeut-schen Arbeitslosenquoten von 25Prozent, heute sind die Eltern we-sentlich besser in das Arbeitsle-ben integriert.

Das Gespräch führteMoritz Gathmann

rück und fand ihre Tochter tot auf.Vor Hunger hatte sie sich die Fin-gerkuppen abgebissen.“ 1946 wurde die Arbeitsarmee auf-gelöst, die Deutschen aber ließman dort, wohin man sie umge-siedelt hatte, in der Nähe der Fa-briken. Einmal im Monat muss-ten sie sich in der Kommandan-tur melden. Wer fl oh, riskierte 20Jahre Strafl ager. Einen Personal-ausweis erhielten sie erst wiederab 1955. Die meisten Beschränkungenwurden nach Stalins Tod zurück-genommen, doch noch bis 1972hatten die Umgesiedelten keinRecht auf die Rückkehr an ihrealten Wohnorte. Viele hatten sichauch so an den Ural gewöhnt, dasssie nicht mehr zurück wollten. Ende der 90er-Jahre, nach Ver-abschiedung des Gesetzes über dieWiedergutmachung gegenüber Re-pressionsopfern, wurde in NischniTagil das erste Denkmal für diesowjetischen Deutschen errichtet.„Anfangs war die Resonanz nichtgroß, aber vor ein paar Jahren er-hielten wir plötzlich Post von Kin-dern und Enkeln der Arbeitssol-daten. Die bringen zwar die Be-zeichnungen und Ereignissemanchmal etwas durcheinander,aber das Interesse an der Vergan-genheit ist noch immer groß“, sagtder Leiter der Labors für Ge-schichtsinformatik, Professor Vik-tor Kirillow.

Anfragen zu den Arbeitssoldaten kannman an das Labor für Geschichts-informatik in Nischni Tagil richten

[email protected]

CHRONIK

Die Deutschen in Russland - 350 Jahre bewegte Geschichte

1762 • Die „deutsche“ Zarin Kathari-na II. erlässt ein Manifest, in dem sie Ausländer nach Russland einlädt – das Reich will so ungenutzte Landflä-chen erschließen. Rund 25 000 Deut-sche siedeln in den Wolgagebieten.

1924 • Die Republik der Wolgadeut-schen wird gegründet – nachdem die Russlanddeutschen im Ersten Welt-krieg ihre Siedlungsgebiete innerhalb eines 150 Kilometer breiten Grenz-streifens verlassen mussten.

1800 • Nach einer Reihe von Missern-ten können sich die Kolonien selbst verwalten. Die Landwirtschaft floriert und die Zahl der Wolgadeutschen verdoppelt sich. Sie integrieren sich und dürfen Wehrdienst leisten.

1871 • Nach dem verlorenen Krim-krieg verlieren auch die Kolonien ihre Privilegien; im Anschluss an den Berliner Kongress verbietet 1887 ein Erlass des Zaren Deutschen, weiterhin Land in Russland zu erwerben.

1941 • Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wird den Wolgadeut-schen Kollaboration mit dem Feind vorgeworfen, die Republik aufgelöst. Fast 900�000 Menschen kommen in „Arbeitsarmeen“, 45�000 sterben.

1990er • Erst 1955 werden sie amnes-tiert und können ihre Wohnorte ver-lassen. 1990 beginnt eine Auswan-derungswelle: Bis heute sind etwa 2,5 Millionen Russlanddeutsche in die Bundesrepublik gekommen.

„Ich lebe, und

auch ihr wer-

det leben.“

Das Mahnmal

des österreichi-

schen Architek-

ten Vinzenz

Schreiber in

Tscheljabinsk

erinnert an je-

ne Russland-

deutschen, die

in den 1940er-

Jahren in

sowjetischen

Arbeitslagern

umkamen.

Wie daheim im Schwarzwald:

Volksfest im russlanddeut-

schen Halbstadt im Altai

DIA

NA

LA

AR

Z(2

)

PR

ES

SE

BIL

D

DP

A/V

OS

TO

CK

-PH

OT

O

ITA

R-T

AS

S

8 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUGesellschaft

Umwelt Wie sich eine Bewegung dafür einsetzt, dass weniger weggeworfen und mehr Müll getrennt wird

PAULINE TILLMANNFÜR RUSSLAND HEUTE

In Russland ist Mülltrennung ein

Fremdwort. Doch es gibt Anzei-

chen für ein neues Umweltbe-

wusstsein: Die Initiative musora.

bolshe.net will gar an einem

Tag das ganze Land aufräumen.

Während andere an paar freie Tage genießen, brüten Umwelt-aktivisten über einem logistischen Problem gigantischen Ausmaßes. Am 15. September sollen Hundert-tausende Freiwillige Müll sam-meln. Unter dem Motto „Sdela-jem 2012“ – zu Deutsch „Machen wir!“ – fi ndet die größte Säube-rungsaktion in der Geschichte Russlands statt. Der Tag ist Teil einer weltweiten Müllkampagne, die vor vier Jahren in Estland ihren Anfang nahm. Federfüh-rend in Russland ist die Initiative musora.bolshe.net“ (kein.Müll.mehr), die sich selber als „positiv-kreativ-ökologische“ Bewegung bezeichnet.

Das Bewusstsein verändernAnfang Juni trafen sich die regio-nalen Koordinatoren in dem klei-nen Ort Orechowo, 70 Kilometer nördlich von St. Petersburg, tauschten sich mit anderen Akti-visten aus, wie man so eine große Aktion organisieren kann, wie man Freiwillige gewinnt und wie man mit den Behörden umgeht.Manche Teilnehmer haben eine lange Anreise hinter sich – wie die 29-jährige Anastasija Male-nina. Sie kommt aus Ufa, Haupt-stadt der Republik Baschkortos-

Weg mit der Wegwerfmentalität

JELENA SCHIPILOWAFÜR RUSSLAND HEUTE

Russische Wissenschaftler

haben ein umweltfreundliches

und wirtschaftliches Verfahren

zur Müllverarbeitung entwickelt.

Aber den zuständigen Behörden

kommen Müllhalden billiger.

Geld, das ganz und gar nicht stinkt

der Bau neuer Anlagen verboten – die Reinigung der Luft von den Verbrennungsprodukten ist zu teuer.„Auch moderne Anlagen verbren-nen den Müll bei rund 600 Grad. Trotz Filter breiten sich die schäd-lichen Verbrennungssubstanzen (Furane und Dioxine) im Umkreis von 20 Kilometern aus, die An-zahl der Krebserkrankungen ist in diesen Gebieten um ein Viel-faches höher“, erzählt Igor Lasa-rew, Vizechef von Plasma HIT. Sein Unternehmen entwickelt und produziert Anlagen zur Müllver-arbeitung, die mit alternativen Niederdruckplasmaverfahren ar-beiten. Die Abfälle kommen in bis

Pro Jahr fallen in Russland un-gefähr 40 Millionen Tonnen Müll an – das sind 285 Kilogramm pro Kopf (zum Vergleich: Ein Deut-scher produziert etwa 583 Kilo Müll im Jahr). Zehn Prozent der Abfälle kommen aus Moskau, wo vier Müllverbrennungsanlagen stehen. Obwohl sie nur ein Vier-tel der Abfälle beseitigen, wurde

Philipp Rutberg entwickelte das neue Verfahren zur Müllbeseitigung.

Fröhliches Plastikflaschenstampfen: junge Umweltaktivisten von

musora.bolshe.net bei einer Müllsammelaktion in Moskau

zu 1500 Grad heiße Öfen. Bei die-ser Temperatur werden sie in ihre Moleküle zersetzt und verwandeln sich in ein harmloses Gas. Posi-tiver Nebeneffekt der Plasmaver-brennung ist die Energieerzeu-gung: Die auf 12 000 Tonnen Müll pro Jahr ausgelegte Anlage gene-riert vier Megawatt Strom, wobei die Hälfe von der Anlage selbst aufgebraucht und der Rest ins öf-fentliche Netz eingespeist wird.

Innovation aus der SowjetzeitDas Verfahren ist nicht neu. Be-reits Anfang der 1970er-Jahre kamen Wissenschaftler vom Ins-titut für Elektrophysik der Rus-sischen Akademie der Wissen-schaften unter der Leitung von Philipp Rutberg darauf, als sie nach Möglichkeiten suchten, bio-logische Kampfstoffe und Gift-müll gefahrlos zu entsorgen. Letz-tes Jahr gründeten Rutberg und seine Sponsoren Plasma HIT, das die Exklusivrechte am Vertrieb dieser Technologie in Russland und den GUS-Staaten inne hat. Mit Rutbergs Technik läuft be-reits eine Anlage in der Nähe von St. Petersburg, zwei weitere wer-den bei Smolensk und auf dem Gelände des Innovationszentrums Skolkowo gebaut, wo das Unter-nehmen auch seinen Sitz hat. Künftig soll der gesamte Energie-bedarf der Forschungsstadt von einer Plasmaschmelzanlage von

ZAHL

285 Kilogramm Müll fallen in Russland pro Kopf und Jahr

an. In Deutschland waren es 2010 583 Kilogramm. Allerdings wird der Groß-teil davon dort recycelt.

etwa vier Megawatt Leistung ge-deckt werden.

Umweltfreundlich und lukrativEine solche Anlage kostet etwa sieben Millionen Euro, eine kon-ventionelle das Fünfzehnfache – bei gleicher Leistung. Dennoch stößt die neue Technologie kaum auf Interesse: „Es gibt bei uns ein-fach zu viele Flächen, die für Müll-halden freigegeben wurden. Die Abfälle zu verbuddeln bleibt lei-der die billigste Variante der Ent-sorgung“, sagt Lasarew, der von den Regionalbehörden etliche Ab-sagen erteilt bekam. Unterirdische Müllager sind in Russland weit verbreitet. Allein im Moskauer Umland gibt es zwölf Großdeponien mit einer Gesamt-fl äche von ungefähr 600 Hektar. Die Kapazität einer Deponie von 50 bis 60 Hektar reicht hier in der Regel drei bis vier Jahre. „Die Entscheider scheint es nicht zu interessieren, dass sich im Laufe der nächsten 70 Jahre die-sen Deponien niemand nähern, geschweige denn in deren Umfeld wohnen kann, ohne Schaden zu nehmen“, sagt Lasarew. Dennoch: Um nicht irgendwann im Müll zu ersticken, müssen die russischen Politiker sich neue Ent-sorgungskonzepte einfallen las-sen – wenn sie denn endlich von umweltbewussteren Bürgern dazu getrieben werden.

Ab und an gibt es Initiativen, auchin St. Petersburg, aber die meis-ten scheitern. Und so landet derMüll doch wieder auf der riesi-gen Halde. Eine davon befi ndet

Eine Müllkippe so groß wie 200Fußballfelder sich im Norden von St. Petersburg,die „Sewernaja Swalka“ ist diezweitgrößte Müllhalde der Fünf-Millionen-Metropole. Sie hat eineFläche von anderthalb Quadrat-kilometern und ist so hoch wieein zehnstöckiges Haus. Eigent-lich ist sie bereits seit Jahren völ-lig ausgelastet. Aber weil esschwierig ist, neue Flächen zu fi n-den, lädt die Stadt den Müll wei-ter dort ab. Biomüll mischt sichmit Plastik, alten Reifen, Karto-nagen, Batterien und Altglas zueiner bunten, übel riechendenMasse. Andrej Schpartko sagt:„Die Wegwerfmentalität der Rus-sen hat damit zu tun, dass dasLand groß ist. Wenn man seinenAbfall einfach fünf Kilometer ent-fernt entsorgt, hat man das schnellwieder vergessen. Und viele wis-sen nicht, was damit weiter pas-siert.“ Während der Sowjetzeitwar das zum Teil anders. Glas undPapier wurden getrennt und wei-terverarbeitet, es gab weniger Ver-packungen. „Heute ist alles drei-fach verpackt – und die Russenkonsumieren wie wild.“Ein Teil der Müllhalden ist ille-gal und entzieht sich so staatli-cher Kontrollen. Umweltorgani-sationen schätzen, dass es davonim Land mehrere zehntausendgibt. Sie sind von vielen Menschenbevölkert, auf der Suche nach wie-derverwendbarem Abfall.Aktivistin Malenina fi ndet in ihrerRegion nicht wenig Freiwillige.Das hat auch damit zu tun, dassschon früher angepackt wurde,wenn es darum ging, seine Um-welt sauber zu halten. Bis heutefi nden die aus der Sowjetzeit stam-menden „Subbotniks“ statt, einalljährlicher Frühjahrsputz, zudem Bürger und Politiker gemein-sam losziehen. Der große Unter-schied zu musora.bolshe.net: DieAktion ist nur einmal im Jahr, undder Müll wird nicht getrennt. Die 29-Jährige sagt, das Engage-ment der Menschen mache ihrMut, aber die Arbeit mit Behör-den und Abgeordneten sei nachwie vor schwierig. „Es ist so wieimmer. Es wird viel geredet, aberwenig getan. Auch Präsident Wla-dimir Putin hat letztes Jahr ge-sagt, musora.bolshe.net sei einesinnvolle Sache.“ Mit diesem Zu-geständnis werben die Aktivistenjetzt, vor allem bei Offiziellen,wenn es um den großen Tag am15. September geht. „Wir müssen selber etwas dafürtun, dass dieses Leben angeneh-mer wird“, meint GründervaterDennis Stark. „Bis es zur Müll-trennung kommt, werden weiterefünf bis zehn Jahre vergehen.“ Vorallem müsse mehr Aufklärung be-trieben werden. Wenn das ge-schafft sei, werde er sich um an-dere Probleme kümmern, um ver-schmutztes Trinkwasser – oderden Ausbau von Fahrradwegen.

Mehr Infos unterwww.musora.bolshe.net

www.letsdoitworld.org

tan, und hat mehrere Tage im Zug verbracht. Mit dabei ist auch Den-nis Stark, Gründer von musora.bolshe.net, ein sportlicher Mitt-dreißiger mit hellwachen, blauen Augen. Immer wieder treten Teil-nehmer an ihn heran, um sich Rat zu holen. Fragt man ihn nach den Anfängen, sagt er: „Ich habe das Projekt ins Leben gerufen, weil ich das Gefühl hatte, bis dahin nichts Sinnvolles für den Plane-ten getan zu haben.“Inzwischen gibt es russlandweit 200 aktive Mitglieder, die Müll sammeln oder Freiwillige mit Handschuhen und Müllbeuteln ausstatten, über soziale Netzwer-ke Aktionen organisieren und lo-kale Sponsoren suchen. Der Müll wird dann sortiert und abtrans-portiert. Darin ist die Gruppe be-sonders progressiv, denn Mülltren-nung gibt es in Russland bislang kaum. „Wir haben kein System, das es ermöglicht, den Abfall wirt-schaftlich zu trennen“, sagt Ak-tivist Andrej Schpartko, „man kann natürlich verschiedenfarbi-ge Container aufstellen, aber man muss sie auch leeren und den In-halt weiterverarbeiten.“

PR

ES

SE

BIL

D

PR

ES

SE

BIL

DIT

AR

-TA

SS

9RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Reisen

Hier könnte eine

Anzeige stehen.

Ihre.

Anzeigenannahme+7 495 775 31 14

[email protected]

russland-heute.de/abo

Newsletter

Entdecken Sie Russland von einer neuen Seite

Jede Woche die besten Geschichten. Kostenlos auf

www.german.ruvr.ru

hört…

Die Frequenzen finden Sie auf

Radio

Stimme Russlands

Buntes Russland:Das Bild des Tages

auf Facebook

www.facebook.com/RusslandHeute

ARINA POPOWAFÜR RUSSLAND HEUTE

2012 feiert Russland sein

1150-jähriges Bestehen – und

alles begann in Nowgorod.

Aus der Wiege Russlands ist

über die Jahrhunderte ein

Provinzstädtchen geworden.

das Stadtbild eingepasst und in einen Park verwandelt. Heutzu-tage verabreden sich die Bewoh-ner hier zu Rendezvous. Dass das historische Zentrum sei-nes geliebten Nowgorods, anders als das von Moskau oder Kasan, nicht zur Regierungsresidenz wurde, reizt den 52-jährigen His-toriker. Bis heute betrachtet er die Mauern des Kremls jeden Tag aufs Neue mit Erstaunen. „Neapel, Karthago, New York, Nowgorod … all diese Bezeich-nungen bedeuten „Neue Stadt“, erklärt er Petersburger Touristen, und erfüllt mit seinem tiefen Bass die Stille des Provinzkremls. „In Weliki Nowgorod gibt es 37 Denk-mäler, die zum UNESCO-Welt-kulturerbe gehören – in Rom sind es 32, in St. Petersburg sechs und in Moskau vier ...“. Seine Führung beginnt Warnajew immer an der Sophienkathedrale: Das Gottes-haus, das 989 zunächst aus Holz gebaut wurde, symbolisiert den

Seit 25 Jahren geht Wladimir Warnajew nun schon in den Kreml zur Arbeit. Täglich. Für Politik jedoch hatte er nie etwas übrig. Zumal hinter den Mauern dieser Festung in Nowgorod schon gute sechs Jahrhunderte keine wichti-gen Staatsgeschäfte mehr getätigt werden. Seit dem Tag, als Iwan der Schreckliche Weliki Nowgo-rod der Herrschaft Moskaus un-terstellte, verlor die am Wolchow gelegene Stadt den Status einer unabhängigen Republik.Die aus Ziegelsteinen errichtete Festung, die aus der Ferne den Eindruck einer furchteinfl ößen-den Bastion erweckt, hat sich in

Das internationale Volkskunstfestival „Sadko“ findet im Juni statt ..., ... die historische Nachstellung der Bogatyr-Schlachten im August.

Der Jaroslaw-Hof bildet einen Komplex von Baudenkmälern aus dem 12. bis 18. Jahrhundert; die Nikolaus-Kathedrale wurde 1136 erbaut.

Weliki Nowgorod – Neustadt am Wolchow

Jubiläum Weliki Nowgorod, gelegen zwischen Moskau und St. Petersburg, gilt als die Wiege des russischen Staats

1862 wurde das Denkmal errich-tet, tausend Jahre nach der Beru-fung Ruriks zum Herrscher über Nowgorod. Das Jubiläum war der Beginn eines wiedererwachenden Interesses an der Stadt, die sich nach ihrer Einverleibung durch Moskau langsam in eine unbe-deutende Provinzstadt verwan-delt hatte. Zur Einweihung reiste Zar Alexander II. persönlich an. Und mit dem wachsenden Inter-esse der Gesellschaft an der eige-nen Geschichte rückte Nowgorod in den Fokus von Historikern und Kunstwissenschaftlern.

In diesem Jahr steht wieder einJubiläum an: Mit großem Pompfeiert Russland in Weliki Nowgo-rod sein 1150-jähriges Bestehen.In den vergangenen Jahren hat esdie Stadt mit Geschick geschafft,ein touristisches Konzept zu ent-wickeln: Man kann sich an Aus-grabungen bei der ehemaligenTroizki-Kathedrale beteiligen undhistorisch wertlose Funde als An-denken mitnehmen. In den Mau-ern des Desjatinenklosters wirdPorzellan gebrannt, und Touris-ten können Handwerkern bei derArbeit zusehen. Im Sommer wirdin den Mauern des Kremls einTheaterstück über Onphim, einenJungen aus dem Mittelalter,gezeigt. Allerdings fehlt Nowgorod dastypisch mittelalterliche Flair, dennKatharina die Große gab der Stadteine rechtwinklige Straßenfüh-rung. Jahrhunderte später wurdedas architektonische Gleich-gewicht durch die Sowjetbauwer-ke zerstört. Auf dem zentralenPlatz unweit des Kremls zeigt dieschwere Bronzehand des Lenin-Denkmals auf das Gebäude derBezirksverwaltung. Der Platzheißt „Siegesplatz“, trägt abergleichzeitig seinen historischenNamen: Sophienplatz. Vor zwan-zig Jahren war Nowgorod eine derersten Städte, die zu ihren histo-rischen Straßennamen zurück-kehrten. Als Kompromiss behiel-ten aber viele Straßen auch denalten Namen. „In dieser Stadt hatman immer schon die Meinunganderer respektiert“, sagt Warna-jew. „Und das Lenin-Denkmal ...Soll es doch stehen bleiben. Es istschließlich auch ein Teil unsererVergangenheit.“

Anreise Nach Weliki Nowgorod gelangt man entweder mit dem Nachtzug von Moskau

(acht Stunden). Von St. Petersburg sind es mit der „Elektritschka“ (Regionalbahn) oder dem Bus über Land drei Stunden.

UnterkunftInternationalen Standard bie-tet das Park Inn am Ufer des Flusses Wolchow (www.park-

inn.ru/hotel-velikynovgorod; ab 75 Euro). Direkt am Kreml gibt es eine Reihe von günstigen Hotels mit zwei oder drei Sternen.

Essen & Trinken Im Restaurant des Hotels Wol-chow am Kreml werden russi-sche und europäische Speisen

serviert (www.hotel-volkhov.ru). Eine kulinarische Reise ins Russland des 19. Jahrhunderts bietet das Dom Berga (www.domberga.ru).

Als älteste Stadt Russlands – die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 859 – wird Weliki Nowgo-rod vom 21. bis 23. September im Zentrum einer russlandweiten Feier stehen: Das Land begeht das 1150-jäh-rige Jubiläum seiner Staatswerdung. Höhepunkt der Feiern ist eine Darstel-lung der vergangenen 1150 Jahre rus-sischer Geschichte im Nowgoroder Kreml. Mehr Informationen auf www.visitnovgorod.de

JUBILÄUMSFEIER

1150 Jahre Geschichte

Anschluss der Rus an die christ-liche Welt. Gegenüber wurde vor 150 Jahren ein weiteres Wahrzei-chen errichtet: das Monument „Russlands Jahrtausend“. Auf den drei Ebenen des glocken-förmigen Denkmals sind 129 Figuren zu sehen, die die ersten zehn Jahrhunderte des russischen Staates symbolisieren: Feldher-ren, Schriftsteller, Zaren. Einer fehlt: Iwan der Schreckliche. Zu viel Leid brachte er 1570 über die Stadt, als er in fünf Wochen Tau-sende Nowgoroder hinrichten ließ.

© K

ON

STA

NT

IN T

SC

HA

LA

BO

W_

RIA

NO

VO

ST

I © K

ON

STA

NT

IN T

SC

HA

LA

BO

W_

RIA

NO

VO

ST

I

LO

RI/L

EG

ION

ME

DIA

10 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUMeinung

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-mail [email protected]

Herausgeber: Jewgenij Abow; Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Knelz; Gastredakteur: Moritz Gathmann; Webredakteurin: Sabine Schmidt-Peter;Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa;Anzeigen: Julia Golikova, Gesamtanzeigenleiterin, +7 495 775-3114

Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Maria Oschepkowa; Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 FriedrichshafenCopyright © FGU Rossijskaja Gaseta, 2012. Alle Rechte vorbehaltenAufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion

Sagen Sie uns die Meinung:

[email protected]

Für alle in Russland HEUTE veröffentlichten Kommentare, Meinungen und Zeichnungen sind ausschließlich ihre Autoren verantwortlich. Diese Beiträge stellen nicht

die Meinung der Redaktion dar.

Der

UlenspiegelZEITZEUGE

Was unterscheidet russ-landdeutsche Aussied-ler von den Vertriebe-

nen, die nach dem Krieg in dieBundesrepublik kamen? Andersals Schlesier oder Sudetendeut-sche haben Russlanddeutschezwei Identitäten. Sie sind Rus-sen und Deutsche, je nachdem,von welchem Standpunkt ausbetrachtet. Die Vertriebenen derNachkriegszeit hingegen wur-den in der Bundesrepublik alsDeutsche zumindest akzeptiert,auch wenn sie seltsame Dialek-te sprachen und nicht selten sla-wische Familiennamen hatten.Wie die Türken dagegen habensich Emigranten aus Russlandihre eigene Infrastruktur ge-schaffen, mit Zeitungen, Ge-schäften und Kneipen. „Wozubrauchen die das?“, fragen dieAlteingesessenen. „Die wolltendoch zu uns, weil sie angeblichals Deutsche unter Deutschenleben wollten.“ Die Meinungenüber die Aussiedler gehen aus-einander: Nette Leute und fl ei-ßige Arbeiter, die sich leicht inunsere Gesellschaft einfügen,meinen einige. Nicht integrati-onsfähig, kriminell und gewalt-tätig, sagt die Mehrheit. Beson-ders missfällt, dass so manchererst sein Deutschtum unter-streicht, um ins gelobte Land zugelangen, dort angekommen aberden Russen raushängen lässt undder neuen Heimat mit Ablehnungbegegnet. Das kommt nicht von ungefähr.Die Identität der Russlanddeut-schen hat eine Achterbahnfahrthinter sich. In der Sowjetunionmit dem Makel des Verräters be-haftet, standen sie unter demDruck, besonders gute Sowjet-bürger zu sein. Wer emigrierenwollte, musste sich dann aberwieder als „richtiger“ Deutscherbeweisen. Endlich angekommen,gelten sie nun wieder als Rus-sen, die sich mit zweifelhaftenAbstammungsnachweisen ein-schleichen. Manche treibt dieserSchock dazu an, sich zu assimi-lieren, hart zu arbeiten. Anderebesinnen sich auf ihre russischenWurzeln. Sie kapseln sich ab, er-gehen sich in Selbstmitleid.Deutschland braucht heute guteFachkräfte. Wir sollten darumZuwanderern die Chance geben,sich zu beweisen, anstatt sie mitbürokratischen Schikanen undbohrenden Fragen nach ihrerIdentität in die Isolation zu trei-ben. Zu einer gelungenen Inte-gration gehören zwei, die sichbemühen. Auch die Deutschensind in diesem Prozess gefragt.

Der Autor ist Experte für rus-sisch-deutsche Spiegelungen.

REFLEKTIERT

So fremd in der Heimat

DER WARSCHAUER VORFALL

WAS HAT DEUTSCHLAND VON DEN RUSSLANDDEUTSCHEN?

Auf der Poniatowski-Brücke in Warschau geschah am 12. Juni genau das, was es in

der Geschichte der EM schon lange nicht mehr gegeben hat – eine Schlägerei zwischen Fußballfans aus Polen und Russland. Sie lässt sich zwar nicht mit den Vorkomm-nissen im belgischen Charleroi vergleichen, wo während der EM vor zwölf Jahren Engländer und Deutsche aneinandergerieten. Doch die Requisiten waren haar-genau die gleichen: Wasserwerfer, Tränengas, Gummigeschosse. Das Ergebnis: über 200 Festnahmen, mehrere Dutzend Verletzte, eine Handvoll Verurteilungen. Das Schlimmste aber: Polen, das die Fußball-EM 2012 ausrichtete, ist ein ernsthafter Imageschaden entstanden.Die polnischen Hooligans sind mit die aktivsten in Europa. Während jene Länder, die früher mit schlä-gernden Fans konfrontiert waren, Methoden entwickelten, um deren destruktives Potenzial in den Griff zu bekommen, hat man das Pro-blem in Polen lange vernachläs-sigt. Wie die Praxis gezeigt hat, sind Strafen gegenüber Hooligans nur dann erfolgreich, wenn gleich-zeitig die einkommensschwachen Schlachtenbummler, aus denen sich die aggressiven Fußballban-den vor allem rekrutieren, aus den Stadien verdrängt werden, schlicht, weil sie sich die Tickets nicht leisten können. Die Ausei-nandersetzungen außerhalb der Stadien lassen sich nur schwer

Über die Integration von Mus-limen in Deutschland wurde zuletzt sehr viel diskutiert.

Über die Integration von Russ-landdeutschen hört man dagegen nur wenig. Wie ist eigentlich deren Eingliederung verlaufen?Heute leben hier etwa 4,5 Millio-nen Aussiedler. Ein großer Teil von ihnen ist in den Neunziger-jahren nach Deutschland gekom-men. Zu dieser Gruppe gehöre auch ich. Ich bin mit meinen Eltern und meinem älteren Bru-der 1993 von Kasachstan nach Deutschland übergesiedelt. Da war ich zwölf Jahre alt. Ich ging danach zur Schule, habe mein Abi-tur gemacht, Wehrdienst geleis-tet und studiert.

Alexander

Kobeljazkij JOURNALIST

Dietrich

Jochim REFERENT

kontrollieren, zumal die soziale Zusammensetzung der polnischen Hooligans recht bunt ist: Unter ihnen fi ndet man Vertreter aller unteren sozialen Gesellschafts-schichten, denen der Weg nach oben versperrt ist.Zudem sind die polnischen Hoo-ligans in erster Linie innerhalb ihres Landes aktiv: Es sei daran erinnert, wie ernst die deutsche Polizei die Begegnungen der pol-nischen und deutschen Mann-schaften bei der WM 2006 und

der EM 2008 genommen hatte. Damals lief aber alles ohne grö-ßere Zwischenfälle ab. Möglicher-weise wäre auch diesmal alles gut gegangen, hätten nicht Medien und Politik für Hysterie gesorgt. In der gemeinsamen Geschichte Russlands und Polens gibt es ei-nige schmerzhafte Momente und unverheilte Wunden, die beide Seiten noch immer nicht zur Ruhe kommen lassen. Symbol dafür ist die Stadt Smolensk: In Katyn, nicht weit von Smolensk, wur-den 1940 mehrere Tausend polni-sche Offiziere vom russischen Geheimdienst NKWD ermordet. Und siebzig Jahre später verun-glückte an der gleichen Stelle das Flugzeug des Präsidenten Lech Kaczynski.Bis heute erkennt ein Viertel der Polen die Untersuchungsergebnis-se nicht an und glaubt, dass auch

der Präsident Opfer russischer Ge-heimdienste geworden ist. Im Juni 2012 kam dann einiges zusammen: die große Zahl russi-scher Fußballfans in Warschau, die Entscheidung des russischen Fanverbandes, in einer Kolonne vom Stadtzentrum zum Stadion zu marschieren, die Vorfälle in Breslau (Russen verprügelten nach dem Spiel vier Ordner) – all dies schuf beste Voraussetzungen für ein neuerliches Aufflammen alter Feindschaften. Zumal auch die polnische Politik nicht unschul-dig war und nationalistisch ge-stimmte Fußballfans hofi erte. Iro-nischerweise trugen Tage später beide Nationen Trauer, weil ihre Mannschaften bereits in der Vor-runde gescheitert waren.2018, wenn die Fußball-WM in Russland stattfi ndet, werden die russischen Hooligans für die Or-ganisatoren möglicherweise zu einem ernsten Problem. In den Stadien der Premier Liga sorgen Polizisten und nicht, wie üblich, psychologisch geschulte Ordner für Ruhe. Immer wieder kommt es zwischen rivalisierenden Fans zu Auseinandersetzungen. Die Fanclubs sind stark gewachsen und werden kaum kontrolliert, die Anführer von Ausschreitungen nicht belangt. Sollte es also Polen zur nächsten WM schaffen, ist nicht auszu-schließen, dass die Gäste ein herber Empfang erwartet. Was wiederum eine entsprechende Ge-genreaktion hervorrufen wird.

Alexander Kobeljazkij ist Leiter des Sportressorts beim Magazin Russkij Reporter.

Heute denke ich, dass ich und die meisten meiner russlanddeutschen Freunde, die einen ähnlichen Le-benslauf haben, mittlerweile gut in die deutsche Gesellschaft in-tegriert sind. Einen großen Anteil daran hatte sicherlich die damalige Politik.Denn sobald wir einen Fuß nach Deutschland gesetzt hatten, er-hielten wir unproblematisch und in relativ kurzer Zeit einen deut-schen Pass. Darüber hinaus ge-währte man uns die Möglichkeit, an Integrations- und Deutschkur-sen teilzunehmen sowie von einer breiten Palette sonstiger Unter-stützungen seitens des Staates zu profi tieren. Von der Politik wur-den wir somit nicht als Migran-ten behandelt, sondern als Deut-sche, die in die alte Heimat zu-rückgekehrt sind. Dieser Tatsache ist es auch zu verdanken, dass in

puncto Integration bei der Grup-pe der Russlanddeutschen viel er-reicht wurde. Insbesondere die zweite und dritte Generation der Aussiedler hat sich zum Großteil assimiliert. Anders ging es der ers-

ten Generation. Sie wurde nach der Übersiedlung als „russisch“ stigmatisiert und konnte sich in dem für sie fremden Land nicht einfügen, nicht den sozialen Sta-tus erreichen, den sie in ihrer al-ten Heimat innehatte. Gerade bei

den Jüngeren trug dies zu einer tendenziellen Selbstabgrenzung und oftmals zu massiven Integ-rationsproblemen bei. Und gera-de diese Gruppe ist es auch, die aufgrund ihres gewalttätigen und kriminellen Verhaltens von der Öffentlichkeit stärker wahrge-nommen und für Pauschalisierun-gen jeglicher Art missbraucht wird.Trotz Rückschlägen kann man aber die Integration in die deut-sche Gesellschaft als gelungen be-zeichnen. Die Russlanddeutschen haben die Bundesrepublik vor noch massiverem Bevölkerungs-schwund bewahrt. Und betrach-tet man die Bildungserfolge vor allem der zweiten und dritten Ge-neration, ist ein qualitativer Zu-gewinn für die deutsche Gesell-schaft festzustellen.

Dietrich Jochim ist Haupt-referent Handelsdisposition beim Verbundnetz Gas AG und Mitglied im Deutsch-Russischen Forum. Er wurde 1981 in Kasachstan geboren und lebt seit 1993 in Leipzig.

Bis heute erkennt ein Viertel der Polen die Untersuchungsergebnisse der Flugzeugkatastrophe von Smolensk nicht an.

Insbesondere die zweite und dritte Generation der russlanddeutschen Aussiedler ist fast komplett assimiliert.

DM

ITR

IJ D

IWIN

11RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Feuilleton

KULTUR-

KALENDER

VORTRAG

WIE WEITER NACH DER PRÄSI-

DENTENWAHL IN RUSSLAND?

4. JULI, BERLIN, SAAL DER BIBLIOTHEK AM

LUISENBAD, TRAVEMÜNDER STR. 2

Wie stehen die Chancen für politi-sche Reformen unter dem wieder-gewählten Präsidenten Wladimir Putin? Stefan Melle, Geschäftsführer des Deutsch-Russischen Austausch, versucht eine Deutung.

vdrw.de ›

FOTOGRAFIE

RUSSEN JUDEN DEUTSCHE

BIS 26. AUGUST, BERLIN, JÜDISCHES

MUSEUM

Über 200�000 Juden aus der ehe-maligen Sowjetunion wanderten seit den 90er-Jahren nach Deutschland aus. Der Fotograf Michael Kerstgens hat diesen Prozess über einen länge-ren Zeitraum hinweg durch eindrucks-volle Bilder illustriert.

jmberlin.de ›

SINFONIEKONZERT

DIE ZUKUNFT DER OSTSEE

15. SEPTEMBER, USEDOM, KRAFTWERK DES

MUSEUMS PEENEMÜNDE

Kurt Masur, Schirmherr des Usedomer Musikfestivals, kehrt nach 19 Jahren zurück und eröffnet das Festival mit dem Baltic Youth Philharmonic. Auf dem Programm stehen Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ und die Sinfonie Nr. 1 von Schostakowitsch.

usedomer-musikfestival.de ›

ERFAHREN SIE MEHR

ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

RUSSLAND-HEUTE.DE

empfiehlt

LESENSWERT

Das Plakat als Waffe

Keine sowjetische Wandzeitung,keine Politveranstaltung, jakaum eine Häuserwand kamohne Plakate aus. Seit der Re-volution entwarfen unzähligeKünstler und Designer unterschwierigsten Bedingungen einewahre Flut politischer Aushän-ge. Während des Bürgerkriegszwischen 1918 und 1921 wurdenüber 3200 Plakate gedruckt.Ganz im Sinne der Bolschewi-ki dienten sie „als Waffe zur Be-einfl ussung der Massen“, waren„Instrument zur Formung einerkollektiven Psychologie“. Vieleunbekannte Künstler, aber auchbekannte Avantgardisten wieMajakowski schufen Plakate, dievon der NachrichtenagenturROSTA ausgestellt wurden.Zugleich spiegeln die Plakate dieZeitenströme des Stalinismusmit all seinen Wandlungen undblutigen Irrungen wider. Stalinließ nicht nur zahlreiche Plaka-te vernichten, die politische Wi-dersacher zeigten. Zugleich setz-te er dem avantgardistischen Stilein Ende und nutzte Künstlerzur Herausbildung eines beängs-tigenden Personenkults. Einmassiver Einsatz der Fotomon-tage, der die Größenverhältnis-se absurd verzerrte, sollte dieIllusion des alle und alles über-ragenden Führers erzeugen. Erst der Große VaterländischeKrieg weckte die Plakatkunstaus ihrer Erstarrung. Am be-kanntesten aus dieser Zeit: dasPlakat „Kein Geschwätz“. EineFrau legt den Finger auf denMund und warnt so davor, dassunvorsichtige Worte das Lebenkosten können. Das Besonderean diesem Fotoband ist jedoch,dass er neben den Klassikernauch die „verlorenen“ Plakatedes Stalinismus zeigt.

David King: Russische Revo-lutionäre Plakate. Mehring Verlag, Berlin 2012; 144 Seiten mit 165 Abbildungen

Matthias Uhl

Kulturreise Ein Besuch der Penaten bei St. Petersburg, dem Anwesen des Malers Ilja Repin

Russisch-finnische Wurzeln: das Penaten-Anwesen in Repino, nach dem Maler Ilja Repin getauft ...,

... der in der Villa sein Bild von den Saporoger Kosaken vollendete

RUTH WYNEKENFÜR RUSSLAND HEUTE

Hier schuf Repin einige seiner

bedeutendsten Werke, zeichnete

mit Majakowski um die Wette,

am runden Esstisch saßen Gorki

und Schaljapin. Und hier geriet

der Maler 1918 in Isolation.

Es gibt Orte, da weht einen der gute Geist an, man taucht ein in eine vergangene und doch leben-dige Welt der Kunst und erholt sich vom Lärm des Tages. Allein der Park ist die Anreise wert … In Repino, 40 Kilometer nördlich von St. Petersburg, tritt der Be-sucher durch ein weißes, holzge-schnitztes Tor, geht durch eine Birkenallee, fischt sich aus der Kiste am Eingang ein Paar riesi-ge Pantoffeln und wählt im Ton-band die passende Sprache aus. Dann schlurft er auf Filz, von alt-modischen Kommentaren beglei-tet, durch ein zauberhaftes An-wesen: die „Penaten“, benannt nach den römischen Göttern, die als Hüter des Herdes gelten.

Bis 1940 war der Ort finnischSie haben Revolution, Krieg und so manche Umbrüche überdauert.Als der Maler Ilja Repin (1844-1930) vor über hundert Jahren das Gut mit seiner zweiten Frau er-warb, hieß der Ort noch Kuokka-la und war fi nnisch. 1940 fi el er an die Sowjetunion und wurde zu Ehren des bedeutenden Realisten in Repino umbenannt. Hier in den Penaten entstanden zahlreiche Va-rianten von Repins berühmtesten

Bildern, das verwinkelte Haus ist voll mit Skizzen, Gemälden und Objekten, die seine Arbeitsweise und Suche dokumentieren. Säbel, Gusli (eine Art Zither) und Burka der Kosaken etwa benötigte Repin nicht nur für das große Gemälde „Die Saporoger Kosaken schrei-ben einen Brief an den türkischen Sultan“, sondern auch für das Spätwerk „Die Schwarzmeerfrei-willigen“. Der Künstler fi ng die bedrückende Atmosphäre nach der Niederlage im russisch-japa-nischen Krieg ein: Das Schiff der Kosaken befi ndet sich im Sturm und ist dem Untergang geweiht. Repin nahm stets kritischen An-teil an den sozialen, geistigen und politischen Umbrüchen seiner Zeit, mischte sich ein. Noch zu Lebzeiten wurden viele Bilder als Vorbild für den sozialistischen Re-

alismus vereinnahmt – die religi-ösen Motive in seinen Werken je-doch verschwiegen. Der Maler war geistig aber breiter orientiert, er fühlte sich den Lehren Tolstois und vor allem den „Wanderma-lern“ (Peredwischniki) verpfl ich-tet, einer Avantgardegruppe mit sozialer Ausrichtung. Jeden Mittwoch standen in den Penaten die Türen weit offen für Gäste. Statt einer Dienerschaft Selbstbedienung erwünschtfand der Besucher am Eingang je-doch eine Tafel vor, die Eigen-initiative forderte. „Legen Sie den Mantel und die Galoschen selbst ab!“ Ein großer Gong lud zum fröhlichen und kräftigen „Tam-Tam-Schlagen“. Repin und seine Lebensgefährtin, die Schriftstel-lerin Natalia Nordman, lebten

nach liberalen demokratischen Grundsätzen, ihr Haus war ein Ort für Feste und Debatten, Treff-punkt kooperativer Versammlun-gen und verschiedenster Kunst-strömungen. Die Literaten Gorki, Kuprin und Tschukowski oder der Sänger Schaljapin weilten hier ebenso wie der junge Revoluzzer-poet Majakowski, den Repin als Mensch hoch schätzte, als Futu-rist jedoch ablehnte. Er liebte des-sen Zeichnungen, und manchmal skizzierten sie um die Wette. Bildhauer, Musiker, Schauspieler, Wissenschaftler oder Maler – eine bunte Gesellschaft setzte sich zum meist vegetarischen Essen gemein-sam mit dem Personal an den von Repin entworfenen runden Tisch, der in der Mitte eine Drehschei-be besaß sowie tiefe Schubladen, in die der Gast sein gebrauchtes Geschirr stellen sollte. Wer gegen die Regeln der Selbst-bedienung verstieß und seiner Nachbarin höfl ich etwas auftat, wurde auf eine kleine Kanzel ver-donnert und hatte dort eine im-provisierte Rede zu halten. Nicht selten war es der Hausherr selbst, der zum Vergnügen aller die Stra-fe antreten musste.1918 fand das lebhafte Treiben ein jähes Ende, die fi nnische Grenze wurde nach der Oktoberrevoluti-on geschlossen, Repin und ande-re russische Künstler waren von der Heimat abgeschnitten. Hun-ger, Kälte und seine kranke Ma-lerhand setzten ihm immer mehr zu. Ein Selbstporträt von 1920 zeigt leidvolle Züge. Im Atelier steht auch ein unvollendetes Bild, an dem er 30 Jahre lang arbeite-te: Puschkin am Kai der Newa – ein wie aus dem Totenreich ge-schautes Porträt des Dichters in einer steinernen Wüstenei. Erst 1926 erhielt Repin wieder Be-such, eine Malerdelegation kam aus der Sowjetunion. Der alte Künstler war beglückt, eine Um-siedlung aber lehnte er ab. Er starb vier Jahre später und wurde im Park beerdigt; die Penaten ver-machte er der Petersburger Aka-demie der Künste. Im Krieg zer-stört (das gesamte Interieur war rechtzeitig ausgelagert worden), wurde das Museum detailgenau rekonstruiert und 1962 wieder er-öffnet. Es ist heute stiller als in den bildungshungrigen 60er- und 70er-Jahren, aber die Fahrt aus Petersburg lohnt sich allemal. Der Austausch aller Kunstgattun-gen untereinander war typisch für das „Silberne Zeitalter“ und Ilja Repin einer derjenigen, die ihre Position öffentlich kundtaten. In seinen Memoiren schrieb er: „Ech-te, tiefe Ideen, als höhere Erschei-nungsform des Verstandes, wer-den immer unerschütterlich wie Sterne am Himmel in der intel-lektuellen Welt stehen und über-all die besten Herzen, die besten Köpfe anziehen.“ Er hätte sich auch heute eingemischt ...

Treten Sie ein zum Tam-Tam bei Repin

PR

ES

SE

BIL

RIA

NO

VO

ST

I

12 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUPorträt

Russlands Immobilien und ihre Qualitäten 5. SeptemberWie Russen ihre moderne Lebenswelt wahrnehmen und gestalten

ANNA NEMTSOWAFÜR RUSSLAND HEUTE

Irina Prochorowa lieferte den

Verstand und das Gefühl für

den Präsidentschaftswahlkampf

ihres Bruders. Selbst wollte sie

nicht kandidieren und zog das

Leben als Kulturschaffende vor.

Der russische Milliardär Michail Prochorow hat die diesjährigen Präsidentschaftswahlen verloren, allerdings erzielte er mit seinen beinahe acht Prozent einen Ach-tungserfolg. Monate nach der Wahl ist der Oligarch von der politischen Bühne praktisch verschwunden. Allerdings hat er im Zuge seines Wahlkampfs ein anderes politi-sches Profi l geformt – das seiner Schwester. Irina Prochorowa hat jahrelang die Wohltätigkeitsstiftung ihres Bruders geleitet und das Verlags-haus Neue Literarische Umschau geführt. Doch während des Wahl-kampfs trat die 56-Jährige auch als überzeugende und energische Fürsprecherin liberaler Ideen in Erscheinung. Ihre Leidenschaft und Redegewandtheit veranlass-ten einige politische Beobachter sogar zu dem Vorschlag, sie solle sich doch selbst um das Amt be-werben. Berühmt wurde sie, als sie in einer Fernsehdebatte den Re-gisseur Nikita Michalkow, einen eloquenten Redner und Putin-An-hänger, so in Grund und Boden re-dete, dass der am Ende erstaunt verstummte. Doch Prochorowa sieht sich nicht in der Politik: Sie will sich in Zu-kunft weiterhin der Kultur wid-men. Auch ihre Abneigung gegen-über Wladimir Putin reicht als Motivation für eine Politkarriere nicht aus: Prochorowa sagte ein-mal, Putins Jahre an der Macht hätten „die russische Kultur an den Rand einer Krise geführt“. Ginge es nach ihr, sollte man ein Land – und mithin Russland – nicht am Umfang seines Militär-potenzials messen, sondern an sei-nen kulturellen Schätzen.

Wohnen auf dem ArbatIrina Prochorowa und ihr Bruder Michail wuchsen in einem Intel-lektuellenhaushalt auf. Irinas Augen strahlen, wenn sie über die Atmosphäre voller „Freude und Freiheit“ spricht, die in ihrem El-ternhaus herrschte. Sie erinnert sich an Tanzpartys in ihrer ele-ganten Wohnung auf dem Arbat, jener exklusiven und sagenumwo-benen Fußgängerzone im Zent-rum Moskaus, in der es heute vor allem von Touristen wimmelt.„Meine Familie brachte mir bei, das Individuum zu respektieren – und deshalb werde ich in unse-rer Gesellschaft, der dieser Res-pekt völlig fehlt, niemals Frieden finden“, sagt sie bewegt. „Die Angst vor Stalins Repressionen verfolgte unsere Eltern bis zum Ende ihres Lebens. Dieses Trau-

Die scharfzüngige AntioligarchinKulturkritik Irina Prochorowa zählt zur letzten Generation der Sowjetära und setzt sich nun für geistige Freiheit ein

Der kleine Bruder: Michail Prochorow bei der Gründung seiner Partei

In einem Polit-Talk brachte die diskussionsbegabte Prochorowa den

Regisseur und Putin-Vertrauten Nikita Michalkow zum Schwitzen.

gehört zu ihren größten Schätzen.„Um an einige dieser Bücher zugelangen, standen meine Elternnächtelang vor BuchhandlungenSchlange“, erinnert sie sich.Die Anglistin schrieb ihre Di-plomarbeit über J. R. R. Tolkienund äußerte sich darin kritischüber das Sowjetsystem. „MeineThesen kamen einem Affrontgleich, doch ich überwand meineAngst und schilderte Tolkien nichtals fantastischen, sondern als voll-kommen realistischen Schriftstel-ler, der in allegorischer Form denSieg der sozialen Gerechtigkeitverlangte“, erzählt sie.Prochorowa erhielt ihr Diplom,kämpfte aber weiterhin für mehrTransparenz in den streng regle-mentierten Geisteswissenschaf-ten. „Die meisten Themen, die ichvorschlug, wurden zwangsläufi gabgelehnt. Wenn wir eine Ab-handlung schrieben, hatten wirviele Klippen zu umschiffen.“Doch die Perestroika brachte fri-schen Wind ins Land. Zusammenmit einigen Weggefährten wid-mete sie sich der Kulturkritik. Ihreeigene Geschichte – jene der letz-ten sowjetischen Generation –war prägend für ihr weiteres Tun.„Ich denke, das tiefe Traumader künstlichen kulturellen Iso-lation brachte mich zu der Ent-scheidung, Verlegerin zu werden“,sagt Prochorowa. Nach Monaten intensiver Oppo-sitionspolitik ist sie nun wiederzu ihrer Arbeit zurückgekehrt.Und lehnte es im Juni sogar ab,den Vorsitz im Beirat des Kultur-ministeriums zu übernehmen. Lie-ber wendet sie sich ihren eigenenkulturellen Projekten zu – und dabetreut sie mehr als genug. Auf ihr Konto gehen drei Zeit-schriften und ganze zweiund-zwanzig Buchreihen, in denenführende russische und interna-tionale Geistesgrößen erscheinen.Der von ihr 1992 gegründete Ver-lag Neue Literarische Umschauhat sich zu einem interdisziplinä-ren Forum entwickelt, in dem ge-sellschaftliche und geistige Trendserforscht werden. Und in der Vier-teljahresschrift „Theorie derMode“ wird über Kleidung alsSpiegel gesellschaftlicher Befi nd-lichkeiten nachgedacht.In der Stiftung ihres Bruders setztsich Prochorowa für junges The-ater und Filmprojekte ein undzeichnet mit ihrem Literaturpreis„Nos“ sozial verantwortungsvol-le Gegenwartsschriftsteller aus. Sie ist davon überzeugt, dass siemit ihrer Arbeit etwas bewirktund die Gesellschaft positiv be-einfl ussen kann. „Unser oberstesZiel ist der Versuch, eine ‚alter-native‘ Geschichte zu erschaffen“,erklärt sie.

Anna Nemtsowa ist Moskau-Korrespondentin für das Magazin Newsweek und die Website The Daily Beast.

ma kann nicht innerhalb einer Ge-neration überwunden werden; wir leiden noch immer unter den Geis-tern dieser Epoche.“Während Prochorowas 47-jähri-ger Bruder ein Vermögen von rund zehn Milliarden Euro besitzt und gelegentlich durch seinen Lebens-stil in die Schlagzeilen gerät, ist seine ältere Schwester ein eher

konservativer Familienmensch. Prochorowa erklärt, sie habe ihr Bestes gegeben, um ihre Tochter in Bescheidenheit zu erziehen, als ganz normales Kind und nicht als verwöhnte russische Neureiche. Die Familienbibliothek mit ihren abgegriffenen Ausgaben von Jack London, Iwan Turgenjew, Guy de Maupassant und Anton Tschechow

Irina Prochorowa ist die Schwester des Oligarchen und Expräsident-schaftskandidaten Michail Prochorow. Sie studierte Anglistik an der Lomo-nossow-Universität Moskau und hat ab Mitte der 1980er-Jahre für das Ma-gazin „Literaturnoje Obosrenije“ (Lite-rarische Rundschau) gearbeitet. 1992 gründete sie das erste unabhängige Intellektuellenmagazin „Neue literari-sche Umschau“, das sie im Laufe der Jahre zu einem erfolgreichen Verlags-haus aufbaute. Seit 2004 leitet sie die Stiftung Kul-turinitiative, die von ihrem Bruder finanziert wird. Beim Präsidentschafts-wahlkampf Anfang des Jahres unter-stützte sie ihren Bruder und trat erst-mals ins öffentliche Bewusstsein Russ-lands, als sie beim Polit-Talk im Fernsehen den Putin-Berater Nikita Michalkow zum Verstummen brachte. Irina Prochorowa ist Preisträgerin mehrerer Auszeichnungen – des ame-rikanischen Liberty-Preises für beson-dere Verdienste in den russisch-ameri-kanischen Kulturbeziehungen und des französischen Ordens für Kunst und Literatur.

BIOGRAFIE

GEBURTSORT: MOSKAU

ALTER: 56

PROFIL: INTELLEKTUELLE

„Das tiefe Trauma der künstlichen kulturellen Isolation brachte mich zu dem Entschluss, Verlegerin zu werden.“

© A

LE

KS

EJ F

ILIP

PO

W_

RIA

NO

VO

ST

KIR

ILL

KA

LL

INIK

OW

_R

IA N

OV

OS

TI

MA

RIJ

A S

CH

KO

DA

_F

OT

OIM

ED

IA

ITA

R-T

AS

S