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»Es fällt mir so schwer, in so vielen Welten zugleich zuleben, es fügt sich alles nicht zusammen. Ich denke oft,ob es Dir auch so geht?« In der als Brief verfaßtenTitelgeschichte erzählt eine im Nachkriegsdeutschlandgeborene junge Frau und Jüdin aus ihrem Leben. Siebeschwört gemeinsam verbrachte Zeiten mit ihremFreund Josef, reflektiert die Trennung und berichtetihm von sich und ihrem Sohn, von Lese- und Alltags-erfahrungen. — Barbara Honigmann hat 1986 mit diesensechs Erzählungen großes Aufsehen erregt. Als »naiv,schL _._.... _ ,-.7 ,1 ., ,. dabei,-. L. ,-. ' .^. ,-. ,. ,.1-. ^, , ,1 ; .-.1-. und,-. ^ ^.;1 ^ 1-, ^ t t ., wurdei i rr-^ A ^ a rmucklos, dabei anschaulich und bildhai t« vv uide de.

Ton gerühmt, der »seinen Reiz daraus zieht, wie Bar-bara Honigmann scheinbar nebensächlich den Nieder-schlag der Geschichte im Persönlichen beschreibt«(Süddeutsche Zeitung).

Barbara Honigmann, geboren 1949 in Ostberlin, stu-dierte Theaterwissenschaften und war als Dramaturginund Regisseurin tätig. Seit 1975 freischaffende Autorinund Malerin, siedelte 1984 nach Straßburg über. Sieerhielt zahlreiche literarische Preise, u. a. den Kleist-Preis (2000), den Jeanette Schocken Preis und dieitalienische Auszeichnung »Palazzo al Bosco« (2001).

Barbara Honigmann

Roman von einem Kinde

Sechs Erzählungen

Deutscher Taschenbuch Verlag

Dem Andenken an meinen VaterGeorg Honigmann (1903-1984)

Ungekürzte AusgabeJuni 2001

2. Auflage Januar 2006© 2001 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

Münchenwww.dtv.de

Erstveröffentlichung: Darmstadt/ Neuwied 1986Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschl agbild : .Selbs tbildn is ' von Barbara Honigmann

Satz: Druckerei C. H. Beck, NördlingenDruck und Bindung: buch bücher dd ag, Frensdorf

Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN-13: 978-3-423-12893-3ISBN-10: 3-423-12893-3

Inhalt

Roman von einem Kinde 7Eine Postkarte für Herrn Altenkirch 43Wanderung 51Doppeltes Grab 87Manna Roza 99Bonsoir, Madame Benhamou 109

Roman von einem Kinde

Lieber Josef!Ich möchte Dir einen Brief schreiben. Einen langenBrief, in dem alles drinsteht. So lang wie ein Roman.Ein Roman von einem Kinde.Du sagst bestimmt, da muß man schon ganz schön tiefunten sein, wenn man mit so was anfängt, mit langenBriefen und Romanen. Ich weiß auch, daß Du denkst,daß das alles nichts hilft, aber Du weißt auch, daß ichdenke, es hilft doch. Und wie kommt es denn, daß wiralle so von Gott verlassen dastehen? Manchmal habeich auch Angst, daß es eine richtige Erlösung gar nichtgibt, denn das müßte doch ein Geschenk sein, aber wirmüssen ja alles kaufen, kaufen.Lieber Josef, ich möchte, daß unsere Freundschaftnie aufhört und daß wenigstens irgendein Ichweiß-nichtwas immer noch dableibt zwischen uns. In denganzen Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben,ist es doch leichter geworden zwischen uns, nein? Ichmeine, leicht schwer im Gegensatz zu schwer schwer,denn alles andere ist so schwer schwer. Ich denke sooft an Dich, und ich möchte Dich oft. bitten, daß Dumir sagst, wie ich alles machen soll. Ich möchte Dirschreiben, wie es mir geht und wie alles gekommen istund wie alles geworden ist. Manchmal habe ichAngst, daß Du mir böse bist. Ich möchte soviel er-zählen, erzählen, alles erzählen, und Du möchtestimmer stumm sein. Warum?Siehst Du mich, ich liege krank im Bett, und ich liegeschon so lange im Bett, daß es mir manchmal scheint,

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als ob ich gar nicht mehr aufstehen kann und nie mehrgesund werde. Natürlich, eine richtige Krankheithabe ich gar nicht, und es ist ja lächerlich, daß einemein Arzt helfen soll.Einmal möchte ich eine Feder in der Hand haltenoder eine goldene Kugel, mit der ich mich undDich berühren muß, und dann würden wir erlöstsein. Oder ein Losungswort, aber keiner weiß dasWort. Einer vielleicht, aber man muß ihn erst fin-den, und muß den Weg erst finden und nein, keinerweiß es.Nur manchmal, wenn ich mit Leuten ins Gesprächkomme, mit Leuten, die ich eigentlich gar nichtkenne, auf der Straße oder im Gemüseladen, und wirsprechen erst über das Einkaufen und dann kommenwir auf das und jenes und sie erzählen etwas von ihrerFamilie, da ist manchmal so ein Moment, plötzlich,ich weiß nicnt woher, fühle ich mich so leicht, soerleichtert, und ich hoffe, ich könnte ihnen etwasablauschen. Denn dann scheint es mir nicht mehr, alsob keiner was weiß, sondern nur, als ob ich alleinnichts weiß. Sie wissen vielleicht alles, und alles istganz einfach, nur ich weiß es nicht, aber von ihnenkann ich es vielleicht erfahren. Es ist ja auch manch-mal so ein Gefühl, wenn man abends in die hellenFenster vom gegenüberliegenden Haus sieht oder inden Straßen zwischen Gärten und Häusern in einerfremden Gegend spaziert. Da ist alles so friedlich undglücklich in sich abgeschlossen, und ich werde dannganz sehnsüchtig und denke, da, dort, hinter diesemFenster, in diesem Haus, da wissen sie, wie alles

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gehen muß. Und ich möchte hingehen und anklopfenund fragen, ob ich reinkommen und ob ich auch dortwohnen darf, und dann möchte ich immer mit diesenMenschen zusammenbleiben.Ach, Josef, ich möchte Dich gerne sehen. Manchmaldenke ich, wenn ich Dich wenigstens noch ein einzi-ges Mal sehen könnte. Wir könnten »Mensch-ärgere-dich-nicht« spielen oder »Müde, matt, krank, tot«,und wir könnten zusammen über alles sprechen.

Weißt Du noch, wie wir damals nach Sagorsk heraus-gefahren sind, mit der kleinen Vorortbahn, verbote-nerweise über die 30-km-Grenze aus Moskau her-aus? Wie wir an den Gärten und Datschen undgroßen und kleinen Villen vorbeigefahren sind, undes sah alles so aus, wie wir es in den russischenRomanen gelesen hatten? In Sagorsk lag hoherSchnee, und wir haben uns angefaßt und sind denWeg durchs Dorf gegangen, an dem sich die kleinenengen Holzhäuser tief in den Schnee hineingeduckthaben. Der Weg ging immer weiter hinunter, und dasKloster schien immer weiter nach oben zu steigen,ganz hoch oben sahen wir den kleinen Wald vongoldenen und purpurblauen Kuppeln und Türmenund Kreuzen. Als wir dort angekommen waren,wußten wir gar nicht, was wir da machen sollten, undsind in die erstbeste Tür hineingegangen. Dahinterwar eine riesige Halle mit vielen Menschen, diebeteten und zündeten Lichter an, und so viele Bettlerund Krüppel liefen hinter uns her und zogen uns anden Mänteln. Das war alles so unheimlich, da wollten

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wir lieber wieder weg. Weißt Du noch? Dann noch soviele andere Kirchen, alle dunkel, immer Ikonen,immer Kerzen, wir konnten es nicht mehr sehen undsind rausgerannt und standen wieder im Schneedraußen, und es war so kalt. Aber dann haben wir dieganz kleine Kapelle entdeckt, eine wie ein kleinesKind unter den erwachsenen Kirchen. Es drängtensehr viele Leute hinein, und es hieß, dort fließeheiliges Wasser. Deshalb wollten wir auch hineinge-hen. Das heilige Wasser floß aus einem Bierhahn, derin ein Kruzifix einmontiert war, und die Leute stan-den Schlange, um sich heiliges Wasser in Flaschenabzufüllen. Es waren meist Wodkaflaschen, um dieeine »Prawda« gewickelt war. Dann hat mir plötzlicheine dicke alte Frau ein Heft in die Hand gedrücktund gesagt, ich soll es aufschlagen und lesen. Es warvon Anfang bis Ende vollgeschrieben mit russischerSchrie. Nein, ich soll nicht leise lesen, sondern laut,

sagte die alte Frau, ich soll laut vorlesen für dieanderen. Es stand schon eine ganze Traube alterFrauen um mich herum, die warteten. Sie sagten, indem Heft sei die Offenbarung eines vergessenenHeiligèn, aber sie konnten nicht lesen, und ich mußteihnen die Offenbarung verkünden und konnte sieauch nur mühsam entziffern. Die alten Frauen halfenmir aber, sie kannten den Text auswendig. Nuraufhören durfte ich nicht, bevor das ganze Heftdurchgelesen war. Es dauerte sehr lange, und plötz-lich wußte ich nicht mehr, wo Du warst, und hatteAngst, daß ich Dich verloren hätte, aber ich konntenicht nach Dir suchen, denn die alten Frauen hielten

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mich fest. Als sie mich dann endlich losließen, habeich trotzdem noch ein Gläschen heiliges Wassergetrunken, und ich fürchtete schon, ich finde Dichnie wieder, aber dann plötzlich hab ich Dich gesehen,ganz nah neben mir, in der Ecke, an die Wandgelehnt, und Du hast die ganze Zeit dagestanden undmir zugeschaut.Und weißt Du noch, wie Du mich dann abends, alswir wieder in Moskau waren, ganz spät abends,gefragt hast: »Und was machst Du, wenn es hilft, dasheilige Wasser?«Aber es hat ja nicht geholfen, wir sind ganz auseinan-dergekommen.Und was hat uns eigentlich auseinandergebracht?Habe ich Dir weh getan? Du hast mich auch soverletzt.Oft muß ich denken, wann war es eigentlich, anwelchem Tag, daß wir uns verloren haben. An wel-chem Tag waren wir noch zusammen, und an welchemTag war schon wieder jeder für sich allein. Ich möchtewenigstens die Stelle des Übergangs, die Grenze, ander die Zustände wechseln, erkennen können. Zu-erst, wenn man auf die Welt kommt, da ist es so eindeutlicher Übergang, aber dann, nachher, späterfließt immer eins ins andere. Ich will Dir erzählen, wiees war, als ich meinen Sohn geboren habe.

Am 30. September, morgens, bin ich zur Untersu-chung ins Krankenhaus nach Berlin-Buch gefahren,aber da war noch nichts. Ich habe einen langenSpaziergang durch den Wald von Buch gemacht,

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obwohl es geregnet hat, und bin sehr weit gelaufen,bis ich ganz erschöpft war.Auf dem Weg nach Hause habe ich in der S-Bahnmeine Freundin getroffen, und sie ist mit zu mirgekommen. Wir haben Tee getrunken und uns unter-halten, und sie erzählte davon, wie ihr Vater gestor-ben ist, als sie noch ein Kind war. Davon hatte siefrüher noch nie gesprochen, obwohl wir uns schon solange kennen. Dann kam ein Freund und brachte einpaar Babysachen, sogar eine Mütze, die seine Frauextra gestrickt hatte. Dann ging ich wieder los, weilich noch mit einer anderen Freundin verabredet war,die hatte auch Babysachen für mich gesammelt, undich wollte sie holen. Ich fuhr nochmal mit der S-Bahnaus der Stadt heraus, nach Karlshorst, wo ich so langegewohnt hatte und wo wir zusammen zur Schulegegangen waren. Gleich, als ich ankam, stach es michin meinem dicken Bauch, aber ich wollte nichtssagen, es war mir unangenehm vor meiner Freundin,denn sie ist Ärztin und sollte sich nicht von mir inAnspruch genommen fühlen. Aber es waren doch dieWehen, wir mußten schnell ein Taxi bestellen und inmeine Wohnung fahren und eilig zusammenpacken.Und dann noch einmal die lange Fahrt zum Kranken-haus. Dort stellten sie fest, daß alles schon sehr weitwar und höchstens noch zwei Stunden dauern würde,und die Hebamme fragte mich, ob jemand benach-richtigt werden soll. Ich sagte, sie soll meine Mutteranrufen.Dann hat es doch noch die ganze Nacht gedauert. Esist wahr, daß es weh tut, aber ich fühlte mich stolz und

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stark und ganz bei mir selbst. Ich hatte die Hebammegebeten, daß sie das Licht ausmacht, das hat sie auchgetan, und ich lag ganz allein in dem dunklen Kreiß-saal, nur vom Flur kam ein entferntes Licht. Alleswar still, der Arzt und die Hebamme hatten sichschlafen gelegt, und erst später, schon gegen Mor-gen, legten sie noch eine Frau zu mir ins Zimmer, mitder habe ich zwischen den Wehen ein paar Wortegesprochen. Wir waren ganz gelassen, und ich mußtean Kleists Brief denken: »Heiter, wie in der Näheeiner Todesstunde.« Dann sah ich, wie es draußendämmerte. Solange es dunkel gewesen war, schien esmir, als ob ich mich noch einmal besinnen könnte.Aber als es hell wurde, da wußte ich, daß es nunbeginnen mußte, denn alles begann wieder, Leutekamen herein, Leute gingen heraus, sie sprachen undmachten viel Geräusch, es begann eine andere Zeit,ein Tempo.Vor dem Fenster sah ich einen Baum, der war, wiemir schien, in dieser Nacht gelb geworden.Dann mußte das Kind zur Welt gebracht werden.Und plötzlich kehrte sich das Unterste zuoberst, undes war, als rase ich wie alle Elemente zugleich, wieFeuer, Wasser und schlagende Steine, und ich konntenicht mehr unterscheiden, ob ich gebäre oder ob ichselbst geboren werde. Und als die Hebamme sagte:Luft anhalten, da wußte ich nicht mehr, wie, ichwußte nicht, was sie meinte, denn ich fühlte keineunterschiedenen Körperteile und Organe mehr, eswar alles nur noch eins. Es wurde immer lauter undaufgeregter, und die Hebamme gab ihre Kommandos

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wie ein Kapitän bei stürmischer See. Zum Schlußhabe ich sie und den Arzt getreten und habe das Kindausgespieen. Und einen Moment später schonherrschte wieder vollkommene Ruhe. Nicht die Spurvon Schmerz im Körper, nichts als Frieden.Als ich nach einer Woche aus dem Krankenhaus nachHause kam, da war mir in meiner Wohnung allesganz fremd geworden, Bett und Stühle, Bücher undBilder. Alles, was nicht das Kind war und was ausfrüheren Zeiten herstammte, erschien mir nun wie»draußen«. Das Kind aber war mir so selbstverständ-lich und so nah, wie ich es mir selber bin, und es kammir direkt absurd vor, daß es heißen soll: Ich habe einKind bekommen. Denn ich war ja nur selber mehrgeworden.Außer meiner Mutter und meinen Freundinnen hatsonst keiner auf das Kind gewartet. Auf allen For-mularen, die ich dann ausfüllen mußte, habe ichüber die ganze Rubrik »Vater« nur einen langenStrich gezogen. Und keiner soll denken, daß mandas leicht macht. Und nicht, weil ein bestimmterVater fehlt, sondern weil es ist, als ob man selbstden letzten Strich auf dem Zeugnis der Verlassen-heit zieht.Und dann habe ich zu Hause gesessen und habemeinen Sohn bewacht und aufgezogen wie eine klei-ne Pflanze, beinahe aus dem Nichts. An jedemAbend habe ich neben seinem Bettchen gesessenund ihn immer nur angesehen und angestaunt, wieer so still daliegt und schläft und doch lebt. Und anjedem Vormittag habe ich mein Kind eingepackt wie

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ein kleines Paket und habe es die drei Stockwerkeheruntergetragen und in den Wagen gelegt und imFriedrichshain spazierengefahren. Dann kam schonbald der lange Winter, und es gab nichts eigentlichSchönes mehr dort im Park, aber ich hatte immerdas Gefühl von einem ganz herrlichen Leben, dasich nun führte, und ich war ganz ruhig und konzen-triert in dieser Zeit. Ich habe mich auf eine kalteParkbank gesetzt und hab mein Buch gelesen undimmer wieder in den Kinderwagen reingesehen undes gar nicht fassen können, daß da mein Kind liegt,nicht ein Kind, irgendein Kind, nein, mein, nurmein Kind.Ich hatte noch nie vorher das Glück so an meinemganzen Körper wie warme weiche rollende Wogengespürt. Es war mir plötzlich auch ganz unmöglichgeworden, mir vorzustellen, daß ich überhaupt schonso lange vorher gelebt hatte, ich war über jedes Stückaus meinem Vorleben wirklich erstaunt, über all dieDinge, die da schon waren, über den Nagellack anmeinen Fußnägeln zum Beispiel, wieso er immernoch dran war, und ich mußte an stehengebliebeneWände in Ruinen denken, an denen manchmal nochTapeten kleben und die Stelle zu erkennen ist, wofrüher ein Bild gehangen hat. Es war, als ob ich allesneu kennenlernen müßte, und wenn ein Besuchgekommen ist, hat es mich nur gestört, ich war viellieber allein mit meinem Kind. Ich weiß gar nicht,woher plötzlich mit solcher Kraft so eine Liebe und soein starkes Sich-gebunden-Fühlen herkommen kann.»Sich-gebunden-Fühlen in einem Sturm von Frei-

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heitsgefühlen, das ist Offenbarung«, soll, wie mireiner erzählte, Nietzsche gesagt haben.Es fing auch damals eine neue Art Schlaf an, das warnie mehr so ein ganz Versunkensein, es war immernur noch eine Art Halbschlaf, in dem ich das Gefühlfür meine Haltung und die Lage aller einzelnenGlieder meines Körpers behalten habe, so ein Däm-merzustand, in dem auch die Grenze zwischen mei-nem Körper und dem des Kindes verschmolz, und ichfühlte es oft so, als ob ich selbst im Körbchen liege,und wußte nicht mehr, ob ich die Mutter oder derSäugling war.Das ging lange so _ Als mein Sohn seinen ersten Zahnbekam, passierte es mir, daß ich mich mit offenemMunde vor den Spiegel stellte, um in meinem Mundnach seinem Zahn zu suchen. Und dann einmal, daküßte ich mich mit meinem Sohn auf den Mund, undauch am ganzen Körper hielten wir uns fest undzogen uns aneinander, immer fester, bis sich das Kindganz an mich ansaugte, so daß wir beide keine Luftmehr bekamen. Mir wurde schwarz vor Augen undschwindlig, wie kurz vor dem Tode, und ich riß ihnmit aller Kraft von mir weg. Da hatte ich unser beiderLeben gerettet.Aber das war nicht wirklich, das war ein Traum.Man will seinem Kind nur alles Liebe tun, und dabeimacht man alles falsch. Und so ist es auch mit allenanderen Menschen, wenn man jemanden richtigliebt, dann ist es für ihn immer eine Zumutung. Ichglaube, daß die Eltern immer in der Schuld derKinder bleiben und nicht umgekehrt.

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Aber ich konnte mich gar nicht genug wundern, daßman das kleine Kind, das man doch vorher gar nichtkannte und das so lange noch gar kein richtigerMensch und vielmehr ein kleines Tierlein ist, gleichso schrecklich lieb hat. Es ist schön, daß man zuerstso lange stumm miteinander lebt und erst langsamzusammen ein Wort nach dem anderen findet und dasganze Leben buchstabieren lernt.Vor dieser Zeit dachte ich, wenn man ein Kind hat,dann ist man geschützter und abgewehrter gegendraußen und gegen alles. Aber das ist gar nicht so,denn in allem ist gleich wieder so viel Angst und soviel Bangigkeit und man wird noch viel empfindlicherals vorher. Bevor ich das Kind hatte, hat es mich niegegruselt, nachts durch den Park zu gehen, und ichhatte nie Angst im Flugzeug und keine Angst imAuto und habe niemals meine Wohnungstür abge-schlossen. Aber jetzt ist alles ganz anders geworden —ich fürchte mich im Auto, ich fürchte mich bei jedemFlug, ich schließe abends die Tür von innen zu undhabe Angst vor tausend Sachen, die mir oder demKind zustoßen könnten.Damals, nach Johannes' Geburt, an den langenAbenden, an denen es immer so still in meinerWohnung war, habe ich den »Wilhelm Meister«gelesen und danach den »Grünen Heinrich«, undeigentlich weiß ich nicht, warum ich mich diesenMännern so nahe fühlen konnte. Dem GrünenHeinrich vielleicht wegen des maßlosen Anspruchsund des Scheiterns am Schluß, und beim WilhelmMeister weiß ich es genau, daß es wegen dieser

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Worte war, die er vor dem Anblick des schlafendenFelix sagt:»0, rief er aus, wer weiß, was noch für Prüfungen aufmich warten, wer weiß, wie sehr mich begangeneFehler noch quälen, wie oft mir gute und vernünftigePläne für die Zukunft mißlingen sollen, aber diesenSchatz, den ich einmal besitze, erhalte mir, du erbitt-liches oder unerbittliches Schicksal! Wäre es mög-lich, daß dieser beste Teil von mir selbst vor mirzerstört, daß dieses Herz von meinem Herzen geris-sen werden könnte, so lebe wohl Verstand undVernunft, lebe wohl jede Sorgfalt und Vorsicht,verschwinde, du Trieb zur Erhaltung! Alles, was unsvom Tiere unterscheidet, verliere sich! und wenn esnicht erlaubt ist, seine traurigen Tage freiwillig zuendigen, so hebe ein frühzeitiger Wahnsinn das Be-wußtsein auf, ehe der Tod, der es auf immer zerstört,die lange Nacht herbeiführt.«

Einmal, schon ein oder zwei Jahre später, war einmerkwürdiger Tag. Ich wohnte bei meiner Freundinin deren kleinem Haus auf der Insel Usedom, und eswar schon sehr heiß, obwohl es erst Mai war. Ich saßnackt in einem Liegestuhl und hab in einer Illustrier-ten gelesen, die wir gerade vorher im Dorfkonsumgekauft hatten. Johannes, mein Sohn, hat mit demGartenschlauch gespielt und sich naßgespritzt, undunter einem schattigen Baum saß das Baby vonmeiner Freundin in seinem Stühlchen. Ich las dieZeitung gar nicht, blätterte bloß und guckte mir dieFotos an, und da war ein ganz kleines Foto auf einer

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