Dürrenmatt - Theaterproblema und anderes

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Das Parabelstück Friedrich Dürrenmatt, Theaterprobleme (1955) - Auszüge - Läßt sich die heutige Welt etwa, um konkret zu fragen, mit der Dramatik Schillers gestalten, wie einige Schriftsteller behaupten, da ja Schiller das Publikum immer noch packe? Gewiß, in der Kunst ist alles möglich, wenn sie stimmt, die Frage ist nur, ob eine Kunst, die einmal stimmte, auch heute noch möglich ist. Die Kunst ist nie wiederholbar, wäre sie es, wäre es töricht, nun nicht einfach mit den Regeln Schillers zu schreiben. Schiller schrieb so, wie er schrieb, weil die Welt, in der er lebte, sich noch in der Welt, die er schrieb, die er sich als Historiker erschuf, spiegeln konnte. Gerade noch. War doch Napoleon vielleicht der letzte Held im alten Sinne. Die heutige Welt, wie sie uns erscheint, läßt sich dagegen schwerlich in der Form des geschichtlichen Dramas Schillers bewältigen, allein aus dem Grunde, weil wir keine tragischen Helden, sondern nur Tragödien vorfinden, die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden. Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen. Ihre Macht ist so riesenhaft, daß sie selber nur noch zufällige, äußere Ausdrucksformen dieser Macht sind, beliebig zu ersetzen, und das Unglück, das man besonders mit dem ersten und ziemlich mit dem zweiten verbindet, ist zu weitverzweigt, zu verworren, zu grausam, zu mechanisch geworden und oft einfach auch allzu sinnlos. Die Macht Wallensteins ist eine noch sichtbare Macht, die heutige Macht ist nur zum kleinsten Teil sichtbar, wie bei einem Eisberg ist der größte Teil im Gesichtslosen, Abstrakten versunken. Das Drama Schillers setzt eine sichtbare Welt voraus, die echte Staatsaktion, wie ja auch die griechische Tragödie. Sichtbar in der Kunst ist das Überschaubare. Der heutige Staat ist jedoch unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden, und dies nicht etwa nur in Moskau oder Washington, sondern auch schon in Bern, und die heutigen Staatsaktionen sind nachträgliche Satyrspiele, die den im Verschwiegenen vollzogenen Tragödien folgen. Die echten Repräsentanten

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Das Parabelstück Friedrich Dürrenmatt, Theaterprobleme (1955) - Auszüge -

Läßt sich die heutige Welt etwa, um konkret zu fragen, mit der Dramatik Schillers gestalten, wie einige Schriftsteller behaupten, da ja Schiller das Publikum immer noch packe? Gewiß, in der Kunst ist alles möglich, wenn sie stimmt, die Frage ist nur, ob eine Kunst, die einmal stimmte, auch heute noch möglich ist. Die Kunst ist nie wiederholbar, wäre sie es, wäre es töricht, nun nicht einfach mit den Regeln Schillers zu schreiben.

Schiller schrieb so, wie er schrieb, weil die Welt, in der er lebte, sich noch in der Welt, die er schrieb, die er sich als Historiker erschuf, spiegeln konnte. Gerade noch. War doch Napoleon vielleicht der letzte Held im alten Sinne. Die heutige Welt, wie sie uns erscheint, läßt sich dagegen schwerlich in der Form des geschichtlichen Dramas Schillers bewältigen, allein aus dem Grunde, weil wir keine tragischen Helden, sondern nur Tragödien vorfinden, die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden. Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen. Ihre Macht ist so riesenhaft, daß sie selber nur noch zufällige, äußere Ausdrucksformen dieser Macht sind, beliebig zu ersetzen, und das Unglück, das man besonders mit dem ersten und ziemlich mit dem zweiten verbindet, ist zu weitverzweigt, zu verworren, zu grausam, zu mechanisch geworden und oft einfach auch allzu sinnlos. Die Macht Wallensteins ist eine noch sichtbare Macht, die heutige Macht ist nur zum kleinsten Teil sichtbar, wie bei einem Eisberg ist der größte Teil im Gesichtslosen, Abstrakten versunken. Das Drama Schillers setzt eine sichtbare Welt voraus, die echte Staatsaktion, wie ja auch die griechische Tragödie. Sichtbar in der Kunst ist das Überschaubare. Der heutige Staat ist jedoch unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden, und dies nicht etwa nur in Moskau oder Washington, sondern auch schon in Bern, und die heutigen Staatsaktionen sind nachträgliche Satyrspiele, die den im Verschwiegenen vollzogenen Tragödien folgen. Die echten Repräsentanten fehlen, und die tragischen Helden sind ohne Namen. Mit einem kleinen Schieber, mit einem Kanzlisten, mit einem Polizisten läßt sich die heutige Welt besser wiedergeben als mit einem Bundesrat, als mit einem Bundeskanzler. Die Kunst dringt nur noch bis zu den Opfern vor, dringt sie überhaupt zu Menschen, die Mächtigen erreicht sie nicht mehr. Kreons Sekretäre erledigen den Fall Antigone. Der Staat hat seine Gestalt verloren, und wie die Physik die Welt nur noch in mathematischen Formeln wiederzugeben vermag, so ist er nur noch statistisch darzustellen. Sichtbar, Gestalt wird die heutige Macht nur etwa da, wo sie explodiert, in der Atombombe, in diesem wundervollen Pilz, der da aufsteigt und sich ausbreitet, makellos wie die Sonne, bei dem Massenmord und Schönheit eins werden. Die Atombombe kann man nicht mehr darstellen, seit man sie herstellen kann. Vor ihr versagt jede Kunst als eine Schöpfung des Menschen, weil sie selbst eine Schöpfung des Menschen ist. Zwei Spiegel, die sich ineinander spiegeln, bleiben leer.

Doch die Aufgabe der Kunst, soweit sie überhaupt eine Aufgabe haben kann, und somit die Aufgabe der heutigen Dramatik ist, Gestalt, Konkretes zu schaffen. Dies vermag vor allem die Komödie. Die Tragödie, als die gestrengste Kunstgattung, setzt eine gestaltete Welt voraus. Die Komödie - sofern sie nicht Gesellschaftskomödie ist wie bei Molière - eine ungestaltete, im Werden, im Umsturz begriffene, eine Welt, die am Zusammenpacken ist

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wie die unsrige. Die Tragödie überwindet die Distanz. Die in grauer Vorzeit liegenden Mythen macht sie den Athenern zur Gegenwart. Die Komödie schafft Distanz, den Versuch der Athener, in Sizilien Fuß zu fassen, verwandelt sie in das Unternehmen der Vögel, ihr Reich zu errichten. vor dem Götter und Menschen kapitulieren müssen. [...]

Das Mittel nun, mit dem die Komödie Distanz schafft, ist der Einfall. Die Tragödie ist ohne Einfall. Darum gibt es auch wenige Tragödien, deren Stoff erfunden ist. Ich will damit nicht sagen, die Tragödienschreiber der Antike hätten keine Einfälle gehabt, wie dies heute etwa vorkommt, doch ihre unerhörte Kunst bestand darin, keine nötig zu haben. Das ist ein Unterschied. Aristophanes dagegen lebt vom Einfall. Seine Stoffe sind nicht Mythen, sondern erfundene Handlungen, die sich nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart abspielen. Sie fallen in die Welt wie Geschosse, die, indem sie einen Trichter aufwerfen, die Gegenwart ins Komische, aber dadurch auch ins Sichtbare verwandeln. Das heißt nun nicht, daß ein heutiges Drama nur komisch sein könne. Die Tragödie und die Komödie sind Formbegriffe, dramaturgische Verhaltensweisen, fingierte Figuren der Ästhetik, die Gleiches zu umschreiben vermögen. Nur die Bedingungen sind anders, unter denen sie entstehen, und diese Bedingungen liegen nur zum kleineren Teil in der Kunst.

Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. Alles wird mitgerissen und bleibt in irgendeinem Rechen hängen. Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld: Schuld gibt es nur noch als persönliche Leistung, als religiöse Tat. Uns kommt nur noch die Komödie bei. Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe, wie ja die apokalyptischen Bilder des Hieronymus Bosch auch grotesk sind. Doch das Groteske ist nur ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt, und genau so wie unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht mehr auszukommen scheint, so auch die Kunst, unsere Welt, die nur noch ist, weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr.

Doch ist das Tragische immer noch möglich, auch wenn die reine Tragödie nicht mehr möglich ist. Wir können das Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervorbringen als einen schrecklichen Moment, als einen sich öffnenden Abgrund, so sind ja schon viele Tragödien Shakespeares Komödien, aus denen heraus das Tragische aufsteigt.

Nun liegt der Schluß nahe, die Komödie sei der Ausdruck der Verzweiflung, doch ist dieser Schluß nicht zwingend. Gewiß, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt sieht, kann verzweifeln, doch ist diese Verzweiflung nicht eine Folge dieser Welt, sondern eine Antwort, die er auf diese Welt gibt, und eine andere Antwort wäre sein Nichtverzweifeln, sein Entschluß etwa, die Welt zu bestehen, in der wir oft leben wie Gulliver unter den Riesen. Auch der nimmt Distanz, auch der tritt einen Schritt zurück, der seinen Gegner einschätzen will, der sich bereit macht, mit ihm zu kämpfen oder ihm zu entgehen. Es ist immer noch möglich, den mutigen Menschen zu zeigen.

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Dies ist denn auch eines meiner Hauptanliegen. Der Blinde, Romulus, Übelohe, Akki sind mutige Menschen. Die verlorene Weltordnung wird in ihrer Brust wieder hergestellt, das Allgemeine entgeht meinem Zugriff. Ich lehne es ab, das Allgemeine in einer Doktrin zu finden, ich nehme es als Chaos hin. Die Welt [die Bühne somit, die diese Welt bedeutet] steht für mich als ein Ungeheures da, als ein Rätsel an Unheil, das hingenommen werden muß, vor dem es jedoch kein Kapitulieren geben darf. Die Welt ist größer denn der Mensch, zwangsläufig nimmt sie so bedrohliche Züge an, die von einem Punkt außerhalb nicht bedrohlich wären, doch habe ich kein Recht und keine Fähigkeit, mich außerhalb zu stellen. Trost in der Dichtung ist oft nur allzubillig, ehrlicher ist es wohl, den menschlichen Blickwinkel beizubehalten. Die Brechtsche These, die er in seiner Straßenszene entwickelt, die Welt als Unfall hinzustellen und nun zu zeigen, wie es zu diesem Unfall gekommen sei, mag großartiges Theater geben, was ja Brecht bewiesen hat, doch muß das meiste bei der Beweisführung unterschlagen werden: Brecht denkt unerbittlich, weil er an vieles unerbittlich nicht denkt.

Endlich: Durch den Einfall, durch die Komödie wird das anonyme Publikum als Publikum erst möglich, eine Wirklichkeit, mit der zu rechnen, die aber auch zu berechnen ist. Der Einfall verwandelt die Menge der Theaterbesucher besonders leicht in eine Masse, die nun angegriffen, verführt, überlistet werden kann, sich Dinge anzuhören, die sie sich sonst nicht so leicht anhören würde. Die Komödie ist eine Mausefalle, in die das Publikum immer wieder gerät und immer noch geraten wird. [...]

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Friedrich Dürrenmatts Poetik der Komödie: Spielen wir noch einmal, zum letzten Mal, Komödie

Magisterarbeit, 1997, 84 Seiten

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Germanistik - Neuere Deutsche Literatur

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Eveline Zurbriggen6 Texte

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Magisterarbeit

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Fernuniversität Hagen (Neuere deutsche Literaturwissenschaft II)

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sehr gut

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 4

2. Dürrenmatts Poetik der Komödie 4

2.1. Dürrenmatts Weltbild 5

2.2. Aufgabe und Grenzen des Schriftstellers 6

2.3. Die Poetik der Komödie 7

2.3.1. Die Notwendigkeit der Komödie 8

2.3.2. Komödie der Handlung 9

2.3.3. Dramaturgie des Zufalls 10

2.3.4. Paradoxie und Groteske 11

2.3.5. Das „Modell Scott“ 13

2.4. Zwischen Brecht und dem absurden Theater 14

3. Spielen wir noch einmal, zum letzten Mal, Komödie. 17

3.1. Figuren zwischen Komik und Groteske 18

3.1.1. Namen und Kosenamen 18

3.1.2. Die Konzeption der Figuren 22

3.1.3. Figurengruppierungen 28

3.2. Sprache zwischen Komik und Groteske 29

3.2.1. Wortspiele 29

3.2.2. Ueber- und Untertreibungen 31

3.2.3. Akkumulation und Gradation 32

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3.2.4. Anachronismen 33

3.2.5. Kommentare 35

3.2.6. Wiederholungen 37

3.2.7. Stilebenen und Stilbrüche 40

3.2.8. Dialogführung 42

3.3. Situationen zwischen Komik und Groteske 45

3.3.1. Kontraste und Paradoxien 45

3.3.2. Wiederholungen und Variationen 49

3.3.3. Parodien und Anspielungen 53

3.3.4. Bühnenbild und Requisiten 56

3.3.5. Musik 60

3.4. Handlung zwischen Komik und Groteske 62

3.4.1. Einfälle und Zufälle 62

3.4.2. Die schlimmstmögliche Wendung 66

3.4.3. Motivketten und Doppeldeutigkeit 68

3.4.4. Aktschlüsse, Titel und Genrebezeichnungen 71

3.4.5. Aristotelische und nichtaristotelische Dramaturgie 73

4. Komik - Groteske - Tragik: ein gespannter Bogen 77

5. Schlussbemerkung 78

6. Literaturverzeichnis 80

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1. Einleitung

Jan Matthison beklagt sich in Friedrich Dürrenmatts Wiedertäufer-Drama über die entwürdigende Art, mit der die Sache der Täufer dargestellt werde, und erklärt erbost, dass „der Schrei-ber dieser

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zweifelhaften und in historischer Hinsicht geradezu frechen Parodie des Täufertums nichts anderes ist als ein im weitesten Sinne entwurzelter Protestant, behaftet mit der Beule

des Zweifels, misstrauisch gegen den Glauben, den er bewundert, weil er ihn verloren“ (1), und Uebelohe, einer Gestalt aus „Die Ehe des Herrn Mississippi“, zufolge ist Dürrenmatt ein „verlorener Phantast“, „ein Liebhaber grausamer Fabeln und nichtsnutziger Lustspiele“, der Schauspieler und Publikum „heimtückisch“ in eine Handlung „hineingelistet“ habe, bei der es nicht sicher sei, „ob er sich planlos von Einfall zu Einfall treiben liess, oder ob ein geheimer Plan ihn leitete.“ (2)

Friedrich Dürrenmatt, Autor und Ziel dieser zwei seiner Figuren in den Mund gelegten ironischen Selbstbetrachtung, ist zweifelsohne ein moderner Klassiker. Seine Werke, die Romane nicht weniger als die Dramen, gehören längst zum Bildungsfundus unserer Zeit, sie sind Teil des Bücherkanons in den Schulen und erfreuen sich nicht nur weltweiter Aufführungen, sondern haben mittlerweile auch in der Filmgeschichte ihren Platz. Erinnert sei hier etwa an den mit Heinz Rühmann unter dem Titel „Es geschah am hellichten Tag“ verfilmten Roman „Das Versprechen“, der nun im Rahmen der „German Classics“ unter der Regie von Bernd Eichinger wiederverfilmt werden soll.

Ganz offensichtlich treffen Dürrenmatts Werke auch heute noch den Nerv der Zeit. Themen wie die atomare Bedrohung oder Kindsmisshandlungen sind in aller Munde und verleihen dem Werk Dürrenmatts eine fast schon gespenstische Aktualität. Dies freilich sollte nicht erstaunen, war er doch ein Schriftsteller - als Dichter wollte er nie bezeichnet werden - der sich mit den brennenden Fragen seiner und unserer Zeit intensiv auseinandergesetzt hat und dieser Zeit in seinem Werk Gestalt gegeben hat. So impliziert die Beschäftigung mit Dürrenmatt per se auch das Herangehen an die drängenden Probleme der Gegenwart.

Ziel dieser Arbeit ist es, herauszufinden, inwiefern und wie Friedrich Dürrenmatt seine aus der Auseinandersetzung mit der Welt erwachsene Poetik der Komödie in seinen Dramen „Romulus der Grosse“, „Der Besuch der alten Dame“, „Die Physiker“, „Der Meteor“ und „Dichterdämmerung“ umgesetzt hat.

2. Dürrenmatts Poetik der Komödie

Dürrenmatts literaturtheoretische Ausführungen stehen in engem Zusammenhang mit seinem __________

(1) Dürrenmatt, Friedrich. Komödien II, S. 48 (2) Dürrenmatt, Friedrich. Komödien I, S. 116

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persönlichen Weltbild. Es wird deshalb zum besseren Verständnis notwendig sein, zunächst seine Ansichten über unsere Welt zu reflektieren, um anschliessend die Konsequenzen für Dürrenmatts Literatur - in Theorie und Praxis - ziehen zu können. Dabei gilt es zu beachten, dass diese drei Bereiche (Weltbild, Literaturtheorie und literarische Praxis) einander in einem sehr komplexen Wechselverhältnis immer wieder gegenseitig beeinflusst haben.

2.1. Dürrenmatts Weltbild

In seinem 1954/55 gehaltenen Vortrag „Theaterprobleme“ charakterisiert Dürrenmatt unsere moderne Welt als ein aufgrund wachsender Bevölkerungszahlen, der Technisierung, der Medien und anonymen Verwaltungsapparate unpersönlich und unwirklich gewordenes Chaos. Der heutige Staat sei „unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden.“ (3) Im Gegensatz etwa zur Zeit Schillers fehlen „die echten Repräsentanten, und die tragischen Helden sind ohne Namen.“ (4) Die Welt ist voller Tragödien, „die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden. Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen. Ihre Macht ist so riesenhaft, dass sie selber nur noch zufällige, äussere Ausdrucks-formen dieser Macht sind, beliebig zu ersetzen, ...“ (5).

Als besonders gravierend empfindet Dürrenmatt die Unabsehbarkeit dieser ständigen Machtpotenzierung und der Machtmittel selber: „Die Atombombe kann man nicht mehr darstellen, seit man sie herstellen kann. Vor ihr versagt jede Kunst als eine Schöpfung des Menschen, weil sie selbst eine Schöpfung des Menschen ist. Zwei Spiegel, die sich ineinander spiegeln, bleiben leer.“ (6) Die Moderne lasse sich somit weit besser mit einem Kanzlisten oder einem Polizisten wiedergeben als mit einem Bundesrat oder Bundeskanzler, denn „die Kunst dringt nur noch bis zu den Opfern vor, dringt sie überhaupt zu Menschen, die Mächtigen erreicht sie nicht mehr. Kreons Sekretäre erledigen den Fall Antigone.“ (7)

Um die Orientierungslosigkeit des modernen Menschen zu veranschaulichen, benutzt Dürrenmatt oft das Motiv des Labyrinths. Sein Vater hatte ihm schon als Kind die Geschichte des im Labyrinth umherirrenden Minotaurus erzählt, die ihn umsomehr faszinierte, als er selbst die ländliche Umgebung Konolfingens und später die Stadt Bern als labyrinthisch empfand: „Mein Leben begann in einer gespenstischen Idylle, und diese Idylle empfand ich als labyrinthisch.“ (8) Die daraus resultierende Angst gehört sicherlich zu den primären Erfahrungen __________

(3) Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 59 f. (4) Daselbst, S. 60 (5) Daselbst, S. 59 (6) Daselbst, S. 60 (7) Daselbst, S. 60

(8) Goertz, Heinrich. Friedrich Dürrenmatt, S. 15

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des Autors und hat wohl auch zum Teil seine späteren Pläne, über Kierkegaard zu promovieren, motiviert.

Die Welt steht für Dürrenmatt also als ein „Ungeheures da, als ein Rätsel an Unheil, das hingenommen werden muss, vor dem es jedoch kein Kapitulieren geben darf.“ (9) Dürrenmatt setzt dieser frag-würdigen weil fragwürdigen realen Welt seine Gedankenwelt entgegen. Seine Art, dieses chaotische Labyrinth zu bewältigen, ist das Schreiben.

2.2. Aufgabe und Grenzen des Schriftstellers

Dürrenmatt bekennt in seiner Betrachtung „Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit“ freimütig, dass er es nicht liebe, vom Sinn der Dichtung zu reden. Er schreibe, weil er den Trieb dazu habe und weil er es liebe, Geschichten zu erzählen, „ohne mich bemüssigt zu fühlen, bei der Auflösung der Welträtsel dabei zu sein.“ (10) Dies scheint ein krasser Widerspruch zum oben Gesagten zu sein, ist aber der Ausdruck von Dürrenmatts Antipathie gegen das Anbieten von fertigen Lösungen, die der geneigte Leser nur noch zu übernehmen braucht. Dürrenmatt zufolge ist der Autor „weder Zyniker noch Moralist. Er stellt weder seine Person zur Diskussion noch seinen Glauben, weder seine Ueberzeugungen noch seine Zweifel, obgleich er weiss, dass dies alles unbewusst mitspielt. Gerade deshalb. Allein seine Versuche und Experimente in einem schwierigen Metier zählen.“ (11)

Aus diesem Grunde wehrt sich Dürrenmatt auch sehr vehement gegen eine Zuordnung seiner Person zu irgendeiner Ideologie. In den „Zehn Paragraphen zu ‘Romulus der Grosse’“ stellt er beispielsweise klar: „Der Verfasser ist kein Kommunist, sondern Berner“ (12), und gleich am Beginn seiner Ausführungen zu den „Theaterproblemen“ betont er nachdrücklich, er stehe mit seinen Dramen nicht „als Handlungsreisender irgendeiner der auf den heutigen Theatern gängigen Weltanschauungen vor der Tür, sei es als Existentialist, sei es als Nihilist, als Expressionist oder als Ironiker ...“ (13). Mehr noch - er schiebt den Ball zum Publikum zurück: „Darin, dass viele der heutigen Zuschauer in meinen Stücken nichts als Nihilismus sehen, spiegelt sich nur ihr eigener Nihilismus wieder. Sie haben keine andere Deutungsmöglichkeit.“ (14) Der Schriftsteller soll entschieden den Tiefsinn fahren lassen, „indem er die Welt als Materie verwendet. Sie ist der Steinbruch, aus dem der Schriftsteller die Blöcke zu seinem Gebäude schneiden soll. Was der Schriftsteller treibt, ist nicht ein Abbilden der Welt, sondern ein Neu__________

(9) Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 63 (10) Dürrenmatt, Friedrich. Theater-Schriften und Reden, S. 56 (11) Daselbst, S. 189

(12) Dürrenmatt, Friedrich. Romulus der Grosse, S. 124 (13) Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 31 (14) Dürrenmatt, Friedrich. Die Wiedertäufer, S. 134

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schöpfen, ein Aufstellen von Eigenwelten, die dadurch, dass die Materialien zu ihrem Bau in der Gegenwart liegen, ein Bild der Welt geben.“ (15)

Dass das nicht immer einfach ist, wird in den „Fingerübungen zur Gegenwart“ deutlich: „In dieser Zeit Schriftsteller sein zu wollen, heisst mit dem Kopf durch die Wand rennen.“ (16) Gerade das aber tue er leidenschaftlich gern, und er sei der Meinung, dass Wände gerade dazu erfunden seien. Er sei ja Schriftsteller geworden, „um den Leuten lästig zu fallen“ (17), und er kümmere sich nicht um die Frage, ob er ein guter Schriftsteller sei. Er hoffe jedoch, „dass man von mir sagen wird, ich sei ein unbequemer Schriftsteller gewesen.“ (18) Dürrenmatt schliesst seine „Fingerübungen“ mit einem für ihn typischen sinnigen Wortspiel und einer mahnenden Vision, die den Sinn des Schriftstellerdaseins noch einmal prägnant zusammenfasst: „Ich bin Protestant und protestiere. Ich zweifle nicht, aber ich stelle die Verzweiflung dar. Ich bin verschont geblieben, aber ich beschreibe den Untergang; denn ich schreibe nicht, damit Sie auf mich schliessen, sondern damit Sie auf die Welt schliessen. Ich bin da, um zu warnen. Die Schiffer, meine Damen und Herren, sollen den Lotsen nicht missachten. Er kennt zwar die Kunst des Steuerns nicht und kann die Schiffahrt nicht finanzieren, aber er kennt die Untiefen und die Strömungen. Nochistdas offene Meer, aber einmal werden

die Klippen kommen, dann werden die Lotsen zu brauchen sein.“ (19)

2.3. Die Poetik der Komödie

Dürrenmatts Aeusserungen zum Theater haben wie seine Werke experimentellen Charakter und stellen nicht ein in sich geschlossenes, nach wissenschaftlichen Regeln erstelltes System dar. Nicht selten bleiben frühere Auffassungen neben revidierten stehen, so dass sich Widersprüche ergeben. Zudem sind einige Aeusserungen als Reaktion auf verbale Attacken von Kritikern entstanden und dementsprechend plakativ, pointiert-ironisch formuliert. Zieht man ferner in Betracht, dass Dürrenmatt unter anderem aufgrund seiner Abneigung gegen die etablierte Literaturwissenschaft vieles gerade nicht sagt - „gewiss, auch ich habe eine Kunst-theorie, was macht einem nicht alles Spass, doch halte ich sie als meine private Meinung zurück (ich müsste mich sonst gar nach ihr richten) und gelte lieber als ein etwas verwirrter Naturbursche mit mangelndem Formwillen“ (20) - so scheint es tatsächlich ein schwieriges Unterfangen zu sein, wenigstens die zentralen Punkte seiner Poetik der Komödie aufzuzeigen. Dennoch soll dieser Versuch gewagt werden, auch wenn sich Missverständnisse einzuschlei__________

(15) Dürrenmatt, Friedrich. Theater-Schriften und Reden, S. 63 (16) Daselbst, S. 44 (17) Daselbst, S. 44 (18) Daselbst, S. 44 (19) Daselbst, S. 45

(20) Dürrenmatt, Friedrich. Der Besuch der alten Dame, S. 142

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chen drohen, „indem man verzweifelt im Hühnerstall meiner Dramen nach dem Ei der Erklärung sucht, das zu legen ich beharrlich mich weigere.“ (21)

2.3.1. Die Notwendigkeit der Komödie

Wie lässt sich nun unsere aus den Fugen geratene Welt gestalten? Friedrich Dürrenmatt verwirft in den „Theaterproblemen“ die Möglichkeit, sie etwa mit der Dramatik Schillers darzustellen, da Kunst nie wiederholbar sei: „Schiller schrieb so, wie er schrieb, weil die Welt, in der er lebte, sich noch in der Welt, die er schrieb, die er sich als Historiker erschuf, spiegeln konnte. Gerade noch.“ (22) Eine historische Dramatik lässt sich also nicht einfach bruchlos auf unsere Zeit übertragen.

Darüber hinaus scheint es Dürrenmatt aber auch unmöglich zu sein, den Gegebenheiten der Gegenwart entsprechende Tragödien zu schreiben: „Die Tragödie, als die gestrengste Kunstgattung, setzt eine gestaltete Welt voraus. Die Komödie - sofern sie nicht Gesellschaftskomödie ist wie bei Molière - eine ungestaltete, im Werden, im Umsturz begriffene, eine Welt, die am Zusammenpacken ist wie die unsrige.“ (23)

Es fehlt aber nicht nur am Zustand der Welt, sondern auch an der Ethik der Menschen: „Die Tragödie setzt Schuld, Not, Mass, Uebersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weissen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt.“ (24) Dürrenmatt geht sogar so weit, das heutige Gewissen als pervertiert zu bezeichnen, denn: „Es lautet nicht: Ich bin gut. Es lautet: Die anderen sind ja auch schlecht.“ (25) Somit kann nicht erstaunen, dass Dürrenmatt das Fazit zieht: „Uns kommt nur noch die Komödie bei“ (26), denn: „Wer so aus dem letzten Loch pfeift wie wir alle, kann nur noch Komödien verstehen.“ (27) Das ist aber nicht zwangsläufig resignativ gemeint: „Nun liegt der Schluss nahe, die Komödie sei der Ausdruck der Verzweiflung, doch ist dieser Schluss nicht zwingend. Gewiss, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt sieht, kann verzweifeln, doch ist diese Verzweiflung nicht eine Folge dieser Welt, sondern eine Antwort, die man auf diese Weise gibt, und eine andere Antwort wäre das Nichtverzweifeln, der Entschluss etwa, die Welt zu bestehen, ... (28). __________

(21) Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 48 (22) Daselbst, S. 59 (23) Daselbst, S. 60 f. (24) Daselbst, S. 62

(25) Schmidt, Karl (Hrsg.). Friedrich Dürrenmatt. Der Besuch der alten Dame, S. 26 (26) Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 62 (27) Dürrenmatt, Friedrich. Romulus der Grosse, S. 25 (28) Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 63

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2.3.2. Komödie der Handlung

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Es ist durchaus nachvollziehbar, dass Dürrenmatt aufgrund seiner Weltsicht und seiner Auffassung vonTragödiediese als Darstellungsform für unsere Zeit verwirft. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass dieKomödiedieser Aufgabe gerecht zu werden vermag. Das hat Dürrenmatt durchaus gesehen und sich bemüht, eine Form der Komödie zu finden, mit deren Hilfe unsere Welt gestaltet werden kann, denn „man kann in der heutigen Welt auch in bewusster Form nicht mehr naiv sein. Die reine Welt des harmlos Komödiantischen ist vorbei.“ (29) Dürrenmatt unterscheidet in seiner „Anmerkung zur Komödie“ zwischen der aristophanischen Tradition der Komödie und der „neuen attischen Komödie“ (30), die die europäische Komödienliteratur von Menander über Plautus bis hin zu Molière viel stärker beeinflusst habe als das aristophanische Komödienmodell, das sich bei Gozzi, Raimund, Nestroy und später bei Wedekind und Brecht erkennen lasse. Der Unterschied liegt für Dürrenmatt vor allem darin, dass die attische Komödie die Typisierung bestimmter Stoffe einleitete und von der Tragödie gewisse dramaturgische Gesetze für den Bau der Komödie übernahm. Bei Aristophanes dominiert jedoch der theatralische Einfall, der die Gestaltung der Gegenwart grotesk deformiert und dadurch Distanz schafft. Die distanzschaffende Wirkung der Komödie bezeichnet zugleich einen weiteren Unterschied zwischen Komödie und Tragödie: „Die Tragödie überwindet die Distanz. Die in grauer Vorzeit liegenden Mythen macht sie den Athenern zur Gegenwart. Die Komödie schafft Distanz.“ (31)

Der Einfall hat aber neben dem Schaffen der Distanz noch eine weitere Funktion. Durch ihn wird das anonyme Publikum als Publikum erst möglich: „Der Einfall verwandelt die Menge der Theaterbesucher besonders leicht in eine Masse, die nun angegriffen, verführt, überlistet werden kann, sich Dinge anzuhören, die sie sich sonst nicht so leicht anhören würde. Die Komödie ist eine Mausefalle, in die das Publikum immer wieder gerät und immer noch geraten wird.“ (32) Allerdings können die Dramatiker das Publikum so zwar überlisten, jedoch nicht zwingen, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen oder diese gar zu bewältigen. Dürrenmatt betont ausdrücklich, dass der Einfall an sich noch kein Problem ist, sondern höchstens Konflikte schaffen kann. Genau das ist aber auch seine Absicht, denn wenn der Dramati-ker vom Problem ausgehe, dann habe er es auch zu lösen. Gehe er jedoch vom Konflikt aus, dann „braucht er keine Lösung, sondern nur ein Ende. ... Die Beendigung eines Konflikts kann glücklich oder unglücklich ausfallen, der Dramatiker hat nicht ein Problem zu lösen, sondern eine Geschichte zu Ende zu denken.“ (33) Und eine Geschichte ist dann zu Ende ge__________

(29) Schmidt, Karl (Hrsg.). Friedrich Dürrenmatt. Der Besuch der alten Dame, S. 25 (30) Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 23 (31) Daselbst, S. 61 (32) Daselbst, S. 64 (33) Daselbst, S. 137 f.

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dacht, „wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ (34) Mit der schlimmstmöglichen Wendung einer Geschichte konfrontiert zu werden, erschreckt den Zuschauer und enthüllt ihm gleichzeitig eine groteske, paradoxe Wirklichkeit. Insofern liegt bei Dürrenmatt der Verfremdungseffekt nicht primär in der Regie, sondern im Stoff selbst: „Die Komödie der

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Handlung ist das verfremdete Theater an sich (und braucht gerade deshalb nicht verfremdet gespielt zu werden, es kann es sich leisten, darauf zu verzichten).“ (35)

Es fällt auf, dass Dürrenmatt die Komödie nicht über die Figuren charakterisiert, wie dies etwa in den Typenkomödien Molières (z.B. „L’avare“ (dt. „Der Geizige“), „Le malade imaginaire“ (dt. „Der eingebildete Kranke“) etc.) der Fall ist. Im Gegenteil: Die Figuren können nicht nur nicht-komisch, sondern sogar tragisch sein. Komisch ist vor allem das Geschick, das ihnen widerfährt. Das Theorem von der schlimmstmöglichen Wendung impliziert zudem einen radikalen Verzicht auf das Gattungsmerkmal des versöhnlichen Schlusses.

2.3.3. Dramaturgie des Zufalls

Nachdem wir uns oben mit Dürrenmatts Forderung nach der schlimmstmöglichen Wendung bekannt gemacht haben, stellt sich nun die Frage, wie sich diese konkret manifestiert. Es ist nicht so, dass man aus dem vorangegangenen Geschehen quasi bruchlos auf sie schliessen könnte: „Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.“ (36) Dabei vermag der Zufall die Menschen umso wirksamer zu treffen, „je planmässiger“ (37) sie vorgehen: „Planmässig vorgehende Menschen wollen ein bestimmtes Ziel erreichen. Der Zufall trifft sie dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie zu vermeiden suchten (z.B. Oedipus).“ (38)

Schlimmstmöglich bedeutet also nicht zwangsläufig, dass Blut vergossen wird oder viele Leichen die Bühne bevölkern, sondern dass etwas geschieht, das sich der Kontrolle der Figuren (vorerst) entzieht bzw. ihren ursprünglichen Plänen diametral entgegenläuft. Es ist Dürrenmatts Absicht, „to show the reaction of the individual to circumstances beyond his control.“ (39) Der Zufall selbst ist dabei unabwendbar - „Die betroffene Figur kann ihn ebensowenig __________

(34) Dürrenmatt, Friedrich. Die Physiker, S. 91 (35) Dürrenmatt, Friedrich. Die Wiedertäufer, S. 133 (36) Dürrenmatt, Friedrich. Die Physiker, S. 91 (37) Daselbst, S. 91 (38) Daselbst, S. 92

(39) Daviau, Donald G. The Role of „Zufall“ in the Writings of Friedrich Dürrenmatt, S. 287 (Es ist Dürrenmatts Absicht,die Reaktion des Individuums auf Umstände, die sich seiner Kontrolle entziehen, zu zeigen.)(Uebers. d. Verf.)

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vermeiden wie herbeiführen“ (40) - und dem Schicksal der klassischen Tragödie nicht unähnlich.

Der wirksame Einsatz des Zufalls soll die Identifikation des Zuschauers verhindern. Würde Dürrenmatt freilich alle Abläufe für alogisch erklären, wäre sein Theater absurd. Der Zufall tritt nur an bestimmten wirkungsmächtigen Punkten des Verlaufs in Kraft. Wenn der Extremfall eingetreten ist, verläuft alles planvoll. Obwohl der Zufall also die äussere Tektonik des Werks

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bricht, kann die innere Logik dennoch folgerichtig sein - und auf diese kommt es letztlich an: „Die immanente Logik eines Stückes hat zu stimmen, nicht die äusserliche.“ (41) Der Einbezug des Zufalls wird wiederum mit Blick auf unsere Welt begründet. Es ist ein Irrtum zu glauben, alles planen und genau voraussehen zu können: „Ein Geschehen kann schon allein deshalb nicht wie eine Rechnung aufgehen, weil wir nie alle notwendigen Faktoren ken-nen, sondern nur einige wenige, meistens recht nebensächliche. Auch spielt das Zufällige, Un-berechenbare, Inkommensurable eine zu grosse Rolle. ... Der Einzelne steht ausserhalb der

Berechnung.“ (42) Wir haben uns darüber klar zu werden, „dass wir am Absurden, welches sich notwendigerweise immer deutlicher und mächtiger zeigt, nur dann nicht scheitern und uns einigermassen wohnlich auf dieser Erde einrichten werden, wenn wir es demütig in unser Denken einkalkulieren.“ (43)

Weil die Figuren in Dürrenmatts Werken immer wieder über solche Zufälligkeiten stolpern, die für sich genommen oft nichts anderes als eigentliche Lappalien sind, spricht Neumann in diesem Zusammenhang von einer „Dramaturgie der Panne“ (44) und resümiert: „Alle Stücke Dürrenmatts ziehen ihre Wirkung aus dem Widerspiel zweier Bereiche: der weitgespannten, aus zahllosen Bühneneinfällen gespeisten konventionellen Ordnungswelt und dem Einbruch von irrationalen Zufällen aller möglichen Provenienz in diese.“ (45)

2.3.4. Paradoxie und Groteske

Dürrenmatts Zuwendung zu einer neuen Form der Komödie schliesst keineswegs die totale Absage an das Prinzip des Tragischen ein. Er bezeichnet das Vergnügen zwar als „Fliegenfän-ger der Kunst“ (46), betont aber, dass das nicht heisse, dass „ein heutiges Drama nur komisch __________

(40) Profitlich, Ulrich. Der Zufall in den Komödien und Detektivromanen Friedrich Dürrenmatts, S. 266

(41) Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 199 (42) Dürrenmatt, Friedrich. Das Versprechen, S. 18 f. (43) Daselbst, S. 145

(44) Neumann, Gerhard; Schröder, Jürgen; Karnick, Manfred: Dürrenmatt, Frisch, Weiss, S. 29 (45) Daselbst, S. 33 f.

(46) Bolliger, Luis; Buchmüller Ernst (Hrsg.). play Dürrenmatt, S. 245

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sein könne. Die Tragödie und die Komödie sind Formbegriffe, dramaturgische Verhaltenswei-sen, fingierte Figuren der Aesthetik, die Gleiches zu umschreiben vermögen.“ (47) Das Tra-

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gische ist immer noch möglich, „auch wenn die reine Tragödie nicht mehr möglich ist. Wir können das Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervorbringen als einen sich öffnenden Abgrund, ...“ (48). Die Paradoxie und die Groteske sind die zentralen Mittel, mit denen Dürrenmatt der Komödie tragische Wirkung abgewinnt.

Es gehört zum Wesen der Groteske, dass sie beim Zuschauer ambivalente Gefühle weckt. Einerseits möchte man über das Gehörte oder Gesehene lachen, aber dieses Lachen bleibt einem im Halse stecken, weil man mit einer minimen Zeitverzögerung bereits vom Schauer gepackt wird und sich Abgründe zu öffnen beginnen. Das Groteske ist für Dürrenmatt „ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt, und genau so wie unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht mehr auszukommen scheint, so auch die Kunst, unsere Welt, die nur noch ist, weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr.“ (49) Dürrenmatt macht nicht zuletzt deshalb so oft von ihm Gebrauch, ja kultiviert es geradezu, weil es „die Perversionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit sichtbar macht. Es fungiert daher als Mittel zur Selbsterkenntnis der Gesellschaft. Dabei bedient es sich formal mit Vorliebe der Kontraste und Paradoxien, um die Erwartung des Rezipienten überraschend zu täuschen und ihn dadurch zum Nachdenken anzuregen.“ (50) Dürrenmatt betont in den Punkten 19 und 20 der „21 Punkte zu den Physikern“: „Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit“ und „Wer dem Paradoxen gegenübersteht, setzt sich der Wirklichkeit aus.“ (51) Paradoxien sind also für ihn ästhetischer Ausdruck der Realität, weshalb nicht selten der Eindruck entsteht, dass in Dürrenmatts Theater die Welt auf dem Kopf steht - was sie ja in seinen Augen auch tatsächlich tut! Eine Geschichte, die über Zufälle stolpernd der schlimmstmöglichen Wendung zustrebt, ist für Dürrenmatt zwar „grotesk, aber nicht absurd. Sie ist paradox.“ (52) Das Paradoxon als nur scheinbare Widersinnigkeit, als zunächst verblüffender Kontrast, vermag dabei den Zuschauer bei genauem Hinsehen auf eine höhere Wahrheit zu verweisen.

In der „Anmerkung zur Komödie“ erläutert Dürrenmatt den Unterschied zwischen der romantischen Groteske und seiner Auffassung von ihr: „Es ist wichtig, einzusehen, dass es zwei Arten des Grotesken gibt: Groteskes einer Romantik zuliebe, das Furcht oder absonderliche Gefühle erwecken will (etwa indem es ein Gespenst erscheinen lässt), und Groteskes eben der Distanz zuliebe, dienurdurch dieses Mittel zu schaffen ist. ... Das Groteske ist eine äusserste Stilisierung, ein plötzliches Bildhaftmachen und gerade darum fähig, Zeitfragen, mehr noch, __________

(47) Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 62 (48) Daselbst, S. 62 f. (49) Daselbst, S. 62

(50) Schulte, Vera. Das Gesicht einer gesichtslosen Welt, S. 4 (51) Dürrenmatt, Friedrich. Die Physiker, S. 93 (52) Daselbst, S. 92

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die Gegenwart aufzunehmen, ohne Tendenz oder Reportage zu sein. ... Das Groteske ist eine der grossen Möglichkeiten, genau zu sein.“ (53)

Wir können somit mit Hoffmann festhalten: „Dürrenmatt incluye en el mundo de sus comedias lo grotesco y mezcla lo lúgubre con lo cómico, borrando casi los límites entre los géneros dramáticos. ... El elemento cómico des sus tragicomedias no tiene un matiz humorístico, sino satírico y el elemento trágico refleja el esfuerzo heroico, pero insensato, de levantar un orden en el mundo informe cuyo aspecto grotesco revela la tragicomedia.“ (54)

2.3.5. Das „Modell Scott“

Dürrenmatt hat in den „Dramaturgischen Ueberlegungen zu den ‘Wiedertäufern’“ am Modell des grossen Forschers Scott einige seiner zentralen Theoreme prägnant zusammengefasst. Da Dürrenmatts dramaturgische Grundüberzeugungen und das, was ihn etwa von Shakespeare, Brecht oder Beckett trennt, meines Erachtens nirgends derart treffend formuliert wird, soll das „Modell Scott“ als Schlusspunkt der theoretischen Betrachtung der Poetik der Komödie und als Uebergang zum nächsten Kapitel trotz seines Umfangs ungekürzt zitiert werden: „Shakespeare hätte das Schicksal des unglücklichen Robert Falcon Scott doch wohl in der Weise dramatisiert, dass der tragische Untergang des grossen Forschers durchaus dessen Charakter entsprungen wäre, Ehrgeiz hätte Scott blind gegen die Gefahren der unwirtlichen Regionen gemacht, in die er sich wagte, Eifersucht und Verrat unter den anderen Expeditionsteilnehmern hätten das Uebrige hinzugetan, die Katastrophe in Eis und Nacht herbeizuführen, bei Brecht wäre die Expedition aus wirtschaftlichen Gründen und Klassendenken gescheitert, die englische Erziehung hätte Scott gehindert, sich Polarhunden anzuvertrauen, er hätte zwangsläufig standesgemäss Ponys gewählt, der höhere Preis wiederum dieser Tiere hätte ihn genötigt, an der Ausrüstung zu sparen; bei Beckett wäre der Vorgang auf das Ende reduziert, Endspiel, letzte Konfrontation, schon in einen Eisblock verwandelt, sässe Scott anderen Eisblöcken gegenüber, vor sich hinredend, ohne Antwort von seinen Kameraden zu erhalten, ohne Gewissheit, von ihnen noch gehört zu werden.

Doch wäre auch eine Dramatik denkbar, die Scott beim Einkaufen der für die Expedition be__________

(53) Dürrenmatt, Friedrich. Theater, S. 24 f. (54) Hoffmann, Werner. La tragicomedia de Dürrenmatt, S. 97 ff. (Dürrenmattschliesst in die Welt seiner Komödien das Groteske mit ein und mischt das Düstere mit dem Komischen, so die Grenzen zwischen den dramatischen Gattungen verwischend. ... Das komische Element seiner Tragikomödien hat nicht nur eine humoristische, sondern auch eine satirische Nuance, und das tragische Element widerspiegelt das heldenmässige, jedoch vergebliche Bemühen, in dieser ungestalteten Welt, deren groteskes Erscheinungsbild die Tragikomödie enthüllt, Ordnung zu schaffen.)(Uebers. d. Verf.)

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nötigten Lebensmittel aus Versehen in einen Kühlraum einschlösse und in ihm erfrieren liesse. Scott, gefangen in den endlosen Gletschern der Antarktis, entfernt durch unüberwindliche Distanzen von jeder Hilfe, Scott, wie gestrandet auf einem anderen Planeten, stirbt tragisch, Scott, eingeschlossen in den Kühlraum durch ein läppisches Missgeschick, mitten in einer Grossstadt, nur wenige Meter von einer belebten Strasse entfernt, zuerst beinahe höflich an die Kühlraumtüre klopfend, rufend, wartend, sich eine Zigarette anzündend, es kann ja nur wenige Minuten dauern, dann an die Türe polternd, darauf schreiend und hämmernd, immer wieder, während sich die Kälte eisiger um ihn legt, Scott, herumgehend, um sich Wärme zu verschaffen, hüpfend, stampfend, turnend, radschlagend, endlich verzweifelt Tiefgefrorenes gegen die Türe schmetternd, Scott, wieder innehaltend, im Kreise herumzirkelnd auf kleinstem Raum, schlotternd, zähneklappernd, zornig und ohnmächtig, dieser Scott nimmt ein noch schrecklicheres Ende, und deshalb ist Falcon Robert Scott im Kühlraum erfrierend ein ande-

rer als Falcon Robert Scott erfrierend in der Antarktis, wir spüren es, dialektisch gesehen ein anderer, aus einer tragischen Gestalt ist eine komische Gestalt geworden, komisch nicht wie einer, der stottert, oder wie einer, der vom Geiz oder von der Eifersucht überwältigt worden ist, eine Gestalt, komisch allein durch ihr Geschick: Die schlimmstmögliche Wendung, die eine Geschichte nehmen kann, ist die Wendung in die Komödie.“ (55)

2.4. Zwischen Brecht und dem absurden Theater

Wenn nun der Versuch unternommen werden soll, Friedrich Dürrenmatts Theaterkonzeption in das literaturgeschichtliche Umfeld einzuordnen, gilt es, insbesondere zwei zentralen Aspek-ten nachzugehen: seinem Verständnis der Komödie als Tragikomödie und dem Moment der

intendierten Reflexion über das auf der Bühne Dargestellte.

Guthke verweist bereits in seiner Einleitung zur „Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie“ auf die seit der Goethezeit nicht mehr verhallende Klage, „dass es im deutschsprachigen Raum nie zur Ausbildung einer Lustspieltradition gekommen ist.“ (56) Unter den unzähligen Argumenten für diese These zieht sich wie ein roter Faden die Behauptung hindurch, dass das Lebensgefühl der Deutschen vorwiegend tragisch sei, und man verweist gerne auf Goethe, der es als Charakter der Deutschen bezeichnet hat, „dass sie schwer werden über allem und alles schwer über ihnen.“ (57)

Man könnte einwenden, dass es doch sehr wohl auch bei uns gute Lustspiele gibt und als Beispiele etwa Gotthold Ephraim Lessings „Minna von Barnhelm“ oder Heinrich von Kleists „Der zerbrochene Krug“ nennen. Ob dabei aber gleich von einer Lustspieltradition gesprochen werden kann, darf zumindest bezweifelt werden, auch wenn man der oben dargelegten __________

(55) Dürrenmatt, Friedrich. Die Wiedertäufer, S. 127 f. (56) Guthke, Karl S. Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, S. 11 (57) Daselbst, S. 11

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pseudo-ethnologischen Erklärung vielleicht nicht in allen Punkten folgen mag. Nun ist es aber auch eine Tatsache, dass einige unserer besten Komödien recht eigentlich Tragikomödien sind, weshalb mir Guthkes Frage, ob „denn vielleicht im Deutschen die tragische Komödie zu einer beachtlicheren Tradition ausgebildet sei als die reine Komödie“ (58) und sich das deutsche Lustspielproblem etwa durch den Einbezug der Tragikomödie lösen liesse, durchaus berechtigt erscheint.

Richtet man nun den Blickwinkel auf diesen Aspekt, erkennt man unschwer, dass Friedrich Dürrenmatt mit seinen tragischen Komödien sicher einen Höhepunkt in der Geschichte derselben darstellt, jedoch keineswegs originär ist, sondern vielmehr auf einer langen Tradition aufbaut. Dabei ist es für die Tragikomödie kennzeichnend, dass das Tragische und das Komische sich nicht ihn höherem Verstehen auflösen, sondern in ihrer Eigenqualität bestehen bleiben: „ ... ihre Identität wird eine dynamische, spannungsvolle, die durch das Tragische das Komische verschärft und vertieft und das Tragische durch das Komische.“ (59) Diese Entwicklungslinie führt uns - um nur die Meilensteine zu nennen - von Lessing über Lenz und Kleist zu Hoffmann, der zur Erkenntnis gelangt: „Nur im wahrhaft Romantischen mischt sich das Komische mit dem Tragischen so gefügig, dass beides zum Totaleffekt in eins verschmilzt und das Gemüt des Zuschauers auf eine eigene, wunderbare Weise ergreift.“ (60) Es folgen Büchner, Grabbe und Hebbel, dessen Charakteristik der Tragikomödie - „Man möchte vor Grausen erstarren, doch die Lachmuskeln zucken zugleich; man möchte sich durch ein Gelächter von dem ganzen unheimlichen Spuk befreien, doch ein Frösteln beschleicht uns wieder, ehe uns das gelingt“ (61) - und ihre gesellschaftspolitische Komponente - „Da stellt sich die Tragikomödie ein, denn eine solche ergibt sich überall, wo ein tragisches Geschick in untragischer Form auftritt, wo auf der einen Seite wohl der kämpfende und untergehende Mensch, auf der anderen jedoch nicht die berechtigte sittliche Macht, sondern ein Sumpf von faulen Verhältnissen vorhanden ist, der Tausende von Opfern hinunterwürgt, ohne ein einziges zu verdienen“ (62) - über eine grosse Affinität zu Dürrenmatts Poetik der Komödie verfügen.

Ueber Hauptmann und Schnitzler, der die Tragikomödie als „höchste Kunstform“ (63) bezeichnet hat, führt unser Weg schliesslich zu Thomas Mann, der 1925 im Vorwort zur deutschen Uebersetzung von Joseph Conrads Roman „The Secret Agent“ (dt. „Der Geheimagent“) bemerkte: „ ... ganz allgemein und wesentlich scheint mir die Errungenschaft des modernen Kunstgeistes darin zu bestehen, dass er die Kategorien des Tragischen und des Komischen, also auch etwa die theatralischen Formen und Gattungen des Trauerspiels und des Lustspiels, __________

(58) Guthke, Karl S. Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, S. 11 (59) Daselbst, S. 15 (60) Daselbst, S. 126 (61) Braak, Ivo. Poetik in Stichworten, S. 279 (62) Daselbst, S. 279 f.

(63) Guthke, Karl S. Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, S. 276

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nicht mehr kennt und das Leben als Tragikomödie sieht.“ (64)

Freilich beruft sich Dürrenmatt nicht explizit auf einen der erwähnten Autoren, obwohl er einzelne, z.B. Kleist, durchaus schätzt. Die Aufzählung ist deshalb auch eher als Leiter zu verstehen, die zum Hochseil hinaufführt, auf dem Dürrenmatt schliesslich durchaus selbständig balanciert.

Da Dürrenmatt die Reflexion über seine Stücke und davon ausgehend über die heutige Zeit intendiert, steht er natürlich auch dem epischen Theater, insbesondere Brecht, nahe. Das Verhältnis zwischen den beiden Schriftstellern ist denn auch immer wieder diskutiert worden. Der Einfluss, den Bertolt Brecht auf Dürrenmatt ausgeübt hat, ist unübersehbar. Einige seiner Ko-mödien variieren Brechtsche Themen. Die Verwandtschaft der „Physiker“ zum Galilei-Stoff liegt auf der Hand. Gewisse Parallelen zwischen dem Gangsterspiel „Frank V.“ und der „Drei-groschenoper“ sind ebenfalls evident. Beiden gemeinsam ist auch die Literarisierung des Tri-vialen: Kabarett-Spässe, Bänkelsängerhaftes und Revue-Elemente beleben die Szene. Auch die Technik des Verfremdens gehört zum dramaturgischen Repertoire sowohl des einen als auch des anderen, und beide betrachten die Gesellschaft kritisch und wollen sie nicht wie in den früheren Tragödien idealisieren.

In Dürrenmatts Theaterkonzeption fehlt jedoch Brechts didaktische Absicht. Wo Brecht politisch verändern will, gibt Dürrenmatt nur ein Bild von der Welt. Der Klassenkämpfer Brecht beschreibt die Welt als veränderbar, er glaubt wie die Vertreter des Dokumentarischen Theaters an die Veränderbarkeit der Gesellschaft durch die Bühne. Dürrenmatt sieht zwar ihre Ver-änderungsbedürftigkeit, hegt aber massive Zweifel daran, dass die Veränderung auch gelingen könnte: „Der alte Glaubenssatz der Revolutionäre, dass der Mensch die Welt verändern könne und müsse, ist für den einzelnen unrealisierbar geworden, ausser Kurs gesetzt, der Satz ist nur noch für die Menge brauchbar, als Schlagwort, als politisches Dynamit, als Antrieb der Mas-sen, als Hoffnung für die grauen Armeen der Hungernden.“ (65) Für Brecht liegt die Ursache unserer Probleme in der Gesellschaft, für Dürrenmatt beim einzelnen Menschen. Der eine nimmt somit eine soziologische und der andere eine psychologische Position ein.

Dürrenmatt betont immer wieder, dass er kein politischer, sondern ein dramaturgischer Denker sei. Er ergreife das Wort, um zu analysieren, er sei „Diagnostiker, nicht Therapeut“ (66). Und folgerichtig beantwortet er Bieneks Frage, ob ein Dichter die Welt verändern könne, kurz und pointiert: „Beunruhigen im besten, beeinflussen im seltensten Falle - verändern nie.“ (67) In diesem Zusammenhang ist auch die Verwendung des Zufalls zu sehen. Würde Brecht ihn ähnlich wie Dürrenmatt zum beherrschenden Prinzip machen, so entzöge sich die Welt der Kontrolle und somit auch der Möglichkeit der Veränderung. __________

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(64) Guthke, Karl S. Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, S. 355 (65) Dürrenmatt, Friedrich. Theater-Schriften und Reden, S. 228 (66) Schulte, Vera. Das Gesicht einer gesichtslosen Welt, S. 65 (67) Bienek, Horst. Werkstattgespräche mit Schriftstellern, S. 109

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Daraus folgt direkt ein weiterer Unterschied zwischen Brecht und Dürrenmatt: ihr Verhältnis zum Rezipienten. Dürrenmatt hält Brecht nämlich entgegen, dass der Zuschauer auch mit einer epischen Form des Theaters nicht zum Nachdenken gezwungen werden kann: „Die Komödie der Handlung ist die Theaterform, die Brecht von unserem Zeitalter der Wissenschaft fordert unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass der Zuschauer zu nichts gezwungen werden kann. Das Theater ist nur insofern eine moralische Anstalt, als es vom Zuschauer zu einer gemacht wird.“ (68)

Schliesslich ist auch immer wieder auf die Affinität Dürrenmatts - vor allem des älteren Dürrenmatt - zum absurden Theater verwiesen worden. Dies hat seinen Grund vor allem in den Theoremen des Zufalls und der schlimmstmöglichen Wendung sowie in der Bedeutung der Groteske. Dies scheint mir aber eine eher akzidentielle denn substantielle Aehnlichkeit zu sein. Dürrenmatts Theaterkonzeption geht ja wesentlich von der Handlung als Trägerin der Komik aus. Diese Feststellung ist natürlich schwer vereinbar mit der Tatsache des fast völligen Fehlens einer Handlung im konventionellen Sinn im absurden Drama. Es kommt noch hinzu, dass Dürrenmatt die Welt zwar als Chaos charakterisiert, aber im Gegensatz zum absurden Theater den Sinn des Lebens nicht radikal verneint, sondern zum Bewältigen der Welt auffordert.

So lässt sich zusammenfassend feststellen, dass Dürrenmatt, aufbauend auf der Tradition der Tragikomödie, in der produktiven Auseinandersetzung mit der Pariser Avantgarde des Absurden - Beckett, Adamov, Ionesco - auf der einen und Brecht auf der anderen Seite eigenständigen literarischen Rang erreicht, indem er zentrale Ideen beider Extreme mit seinem Verständnis der Welt und der Bühne zu einer höheren Einheit zu verschmelzen versteht. Es wäre sicher voreilig, bereits heute ein abschliessendes Urteil über die Stellung dieser Dramaturgie in der Komödiengeschichte fällen zu wollen. Es kann aber sicher festgehalten werden, „dass hier eine Dramaturgie der Komödie entwickelt wurde, die sich nicht mit dem Bestehenden zufrieden gab, sondern auf dem Hintergrund der künstlerischen und Bewusstseins-Aporien der Epoche nach glaubwürdigen Auswegen und stichhaltigen Antworten auf die Frage sucht, wie unsere Welt auf der Bühne darstellbar sei.“ (69)

http://helmutfrohn.de/resources/1+Physiker.pdf

Traditionsverhaftung bei Brecht und Dürrenmatt Blatt 1 von 4

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© 2003 Ernst Klett Schulbuchverlag GmbH, Leipzig, und Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Dürrenmatt . Die Physiker

Dürrenmatt und Brecht betrachten beide die Komö-die als die dem heutigen Weltzustand adäquate dramatischeForm. Sie ist die der heutigen Zeit angemesseneliterarische Gattung. 1955 schreibt Dürrenmattin seinem Aufsatz .Theaterprobleme.: Uns kommtnur noch die Komödie bei. Unsere Welt hat ebensozur Groteske geführt wie zur Atombombe . 1

In diesem Jahr geht Brecht auch auf Dürrenmatt ein,als er auf die Frage .Kann die heutige Welt durchTheater wiedergegeben werden?.2 zu der Antwortgelangt: Die heutige Welt ist den heutigen Menschennur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbareWelt beschrieben wird. 3

Die Frage nach der Beschreibbarkeit der Welt istBrecht zufolge eine gesellschaftliche. Fragt Dürrenmatt,ob die heutige Welt durch Theater überhauptnoch wiedergegeben werden kann,4 so antwortetBrecht zustimmend, allerdings mit der Bedingung,sie . die Welt von heute . als veränderbar aufzufassen.In welcher Tradition stehen nun diese beiden .Verfechter. der Komödie? . Bei der Entwicklung dieserliterarischen Gattung lassen sich zwei Entwicklungsstränge herauskristallisieren. Der eine setzt beiAristophanes, der alten attischen Komödie an undreicht über Shakespeare bis hin zur Romantik; derandere findet seinen Ausgangspunkt bei Menander,der neuen attischen Komödie, und gelangt von dortaus zu Plautus und Terenz und schließlich zu Moli-ère und der Aufklärung. Für die Komödien des französischen Dichters hat sich der Begriff .Charakterkomödien. eingebürgert. Zunächst steht dieserBegriff für die Bauform. Im Mittelpunkt der Komö-dien Molières steht der so genannte .Charaktertyp.,ein Charakter, der auf eine Eigenschaft hin typisiertwird. Der Handlung kommt es nun zu, Situationenbeizusteuern, in denen sich der Charaktertyp entfaltenkann. Das gewährt vor allem die Intrigenkomö-die, in der eine Handlung in Gang gesetzt und derZuschauer auf den Ausgang gespannt gemacht wird.Es besteht nun die Möglichkeit einer Verbindungvon Intrigen- und Charakterkomödie. Ist ein Charakterdas Haupthindernis zum Beispiel einer Vereinigungzweier Liebenden, so sind die Intrigen gegenihn gerichtet: Charakter- und Intrigenkomödie werdenverbunden. In der Charakterkomödie wird der

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exponierte Einzelcharakter zum Demonstrationsobjektder Komödie gemacht. Eine Verbindung zurGesellschaftskomödie bietet sich an. In ihrer Negativeigenschaftveranschaulicht die zentrale Mittelpunktsfigurzugleich eine Störung der Gesellschaft,der gesellschaftlichen Ordnung. Was an dieser Figurkomisch wirkt, wird den Zuschauern auch als komischerfassbar. Das Urteil über den Charakter erfolgtim Namen der Gesellschaft. Entweder wird derEinzelne geheilt und in die Gesellschaft zurückgeführt, oder er bleibt von der Gesellschaft verlacht,wird ausgeschlossen. Die Gesellschaftskomödiekann sowohl Gesellschaftskritik als auch -bestätigungenthalten; sie kann sowohl der Korrektur sozialenFehlverhaltens als auch der Herausstellung desVorbildhaften dienen. Die .Comédie de caractère.Molières lebt von Situationen, in denen sich die Personenals komisch erweisen können. Sie stellt jedochnicht die Gesellschaft als Ganzes in Frage. 1955schreibt Brecht in einem Abschnitt seiner .Katzgraben.-Notate, den er in Dialogform verfasst hat, zuMolières .L.Avare.: Das Publikum Molières lachteüber Harpagnon, seinen Geizigen. Der Wuchererund Hamsterer war lächerlich geworden in einerZeit, in der der große Kaufmann aufkam, Risikeneingehend und Kredite aufnehmend. 5

Komisch wird einer, sofern er von den Normen abweicht:Hier handelt es sich um Abweichungskomik.Brecht setzt dem .Ewig-Komischen. eine Komikgegenüber, die von den sich wandelnden Normender Gesellschaft abhängig ist. Diese Komik glaubtBrecht auch bei Molière zu finden . entsprechendseiner Zeit. Um dem heutigen Publikum das Lachenzu erleichtern, muss nach Brecht der Geiz des Harpagnonals eine Art Standeskrankheit, als ein Verhalten,das eben lächerlich geworden ist, kurz als gesellschaftlichesLaster dargestellt werden. Nicht das.Ewig-Komische., nicht das .Allzumenschliche.solle herausgearbeitet werden. In einer Notiz des.Arbeitsjournals. heißt es zu dem Stück Molières:Er verspottet den Geiz zu einer Zeit, wo das Bürgertumdas Geld produktiv zu benutzen versteht, neuerdings.Geiz ist ganz unpraktisch geworden, steht demGelderwerb im Wege, ist also lächerlich .6

Traditionsverhaftung bei Brecht und Dürrenmatt Blatt 2 von 4Nach Brecht könnte das heutige Publikum über den

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von Molière dargestellten Geiz besser lachen, wenndieser als .gesellschaftliches Laster. aufgefasst würde.Das Stück Molières stellt nun die Bearbeitungder von Plautus verfassten Goldtopfkomödie .Aulularia. dar7, jedoch hat Molière die Typen gewandelt:Die Komik ist in einem Fehlverhalten zu finden,das von den Normen abweicht. Dabei ist esnatürlich auch möglich, Kritik an noch bestehendenVerhaltensnormen zu üben. Mit der ihm eigenenAuffassungsweise der Molière.schen Komödie erweistsich Brecht als .Erbe der Aufklärung.. Zu dendeutschen Lustspielautoren der Aufklärung gehörtLessing, der ja selbst ein .deutscher Molière. werdenwollte8. Einer bestimmten Tendenz der Aufklä-rung ordnet sich auch Lessings Jugendlustspiel .Derjunge Gelehrte. [1747] ein: Es gibt das Ideal einerabgelaufenen Epoche, den Polyhistorismus, durchÜberspitzung der Lächerlichkeit preis. An dieser frü-hen Komödie Lessings wird schon deutlich, dassnicht eine zeitlose Vernunft intendiert ist. Ein Publikumwird vorausgesetzt, das sich mit den neuen Normenin Übereinstimmung weiß und von daher Damis,den jungen Gelehrten, als komisch erkennt. Inder deutschen Aufklärung ist die Grundform einergesellschaftlichen Charakterkomödie geschaffenworden. Spricht man von Entwicklungssträngen undist bemüht, Brecht einer bestimmten Tradition zuzuordnen,so muss man ihn an das Ende der oben genanntenAbfolge, ausgehend von Menander überPlautus/Terenz zu Molière und der Aufklärung, gestelltsehen.Wird hier der Punkt erreicht, der die größte Nähe zuMolière bezeichnet, so zeigt sich die größte Ferne inder Romantik. Die Komödie, die Dürrenmatt vorschwebt,ist nicht die Gesellschaftskomödie Moliè-res9. Er knüpft an Aristophanes an und setzt sich damitvon der neuen attischen Komödie ab. Letzterenimmt nach Dürrenmatts Worten ihren Weg überMenander, Plautus zu Molière und findet in ihm ihrenabsoluten Höhepunkt.10 Im Gegensatz zu der Komödie, von der Dürrenmatt spricht und zu der er sichpersönlich bekennt, setze die GesellschaftskomödieMolières keine .ungestaltete Welt. voraus11. Die Komödie, wie Dürrenmatt sie versteht, ist in der Lage,Gestalt zu schaffen. Dazu allerdings bedürfe es des.Einfalls.. Dürrenmatt knüpft nicht an Molière, sondernan Aristophanes und die alte attische Komödie

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an. Aristophanes lebt vom .Einfall.. Seine Stoffesind . so Dürrenmatt . .Einfälle., die eine Umgestaltungder Gegenwart ins Komische ermöglichen.12

In der Tradition dieser Komödie steht Molière nicht.Der neuen attischen Komödie, in deren Folge derfranzösische Dichter zu finden ist, ermangelt esschon an dem zentralen, gewaltigen Einfall; die damitverbundene Kraft, die Welt in eine Komödie zuverwandeln, ist ihr gemäß Dürrenmatt nicht mehrgegeben: Sie ist nicht die Komödie der Gesellschaft,sondern die Komödie in der Gesellschaft, nicht politisch,sondern unpolitisch. In ihren Mittelpunkt tretennicht mehr bestimmte Persönlichkeiten des täglichenLebens, sondern bestimmte Typen: dieKupplerin ., der Geizige .13

Mit diesen Äußerungen verbindet Dürrenmatt eineKritik an Molière. In seiner Gedenkrede .Zum TodeErnst Ginsbergs. kommt Dürrenmatt auch auf dessenin Zusammenarbeit mit Kurt Horwitz entstandeneMolière-Aufführungen zu sprechen. Auf derdeutschsprachigen Bühne sei das Bedeutende anMolière allein in dessen Gestalten zu finden. Da seineSprache nicht übersetzbar sei, kehre die eminenteStellung, die seine Menschen einnehmen, hervor:Seine Menschen sind stärker als seine Sprache, derUnübersetzliche wird auf deutsch spielbar.14 Als einenGrund dafür führt Dürrenmatt Molières Fähigkeitensowohl als Dichter als auch Theaterpraktikeran und nennt in einem Atemzug mit ihm Shakespeareund Bertolt Brecht. Wir wissen jetzt, dassBrecht nicht allein in dieser oberflächlichen Hinsichtin engerem Bezug zu Molière steht, sondern dass ergeradezu in der Folge der Aufklärung anzusiedelnist. Die Kritik Dürrenmatts an Molière vor demHintergrund seiner Interpretation des französischenAutors läuft auf Folgendes hinaus: Die .Comédie decaractère. Molières lebt von Situationen, in denensich die Personen als komisch erweisen können, wobeijedoch nicht die Gesellschaft als Ganzes in Fragegestellt wird. Molières Komödie ist der Inbegriffder zahm gewordenen Komödienform. Dürrenmattschwebt eine anders geartete Komödie vor. Ihm zufolgetreibt der Held eines Theaterstücks nicht nureine Handlung vorwärts oder erleidet ein bestimmtesSchicksal, sondern stellt auch eine Welt dar.Die Traditionslinie Aristophanes . Shakespeare .Romantik . Dürrenmatt zeichnet sich immer deutlicher

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ab. Die Stücke Aristophanes., Shakespeares.Maß für Maß. und .Der Sturm. wie Kleists .Am-Traditionsverhaftung bei Brecht und Dürrenmatt Blatt 3 von 4phitryon. und .Der zerbrochne Krug. stellt Dürrenmattals Gleichnisse der menschlichen Situation, Komödien als Ausdruck einer letzten geistigen Freiheithin. Schon 1952 würdigt Dürrenmatt in einer Theaterkritikzu Shakespeares .Der WiderspenstigenZähmung. dessen Fähigkeit, nicht nur die Gestaltungseiner Welt, sondern der Welt zu meistern. Dabeikommt der Bühne die zentrale Aufgabe zu. Siemuss sich nach Dürrenmatt . was er an einer Aufführung Shakespeares .Richard des Zweiten. demonstriert. in Welt verwandeln, ein Außen sein,nicht ein Innen, und auch die Regie muss eine Weltschaffen. Eines seiner eigenen Stücke nennt Dürrenmattsogar eine moderne Anknüpfung an Shakespeareund distanziert sich dabei gleichzeitig vonBrecht! Dürrenmatt steht also nicht in der Folge Molières, er erweist sich als .Erbe der Romantik.. Zudiesem Ergebnis gelangt auch Beda Allemann, wobeineben Dürrenmatt noch Max Frisch berücksichtigtwird: Man muß innerhalb der Tradition der deutschenKomödie auf romantische Beispiele zurückgreifen,um Äquivalente für das unbekümmerte Spielmit dem Spiel zu finden, das Frisch und Dürrenmattwieder zum Prinzip erheben.20

Diente oben Lessings .Der junge Gelehrte. zur Demonstrationeiner Tendenz der Komödie der deutschenAufklärung, so ließe sich zur Abrundung fürdie Romantik Ludwig Tiecks frühromantische Komödie .Der gestiefelte Kater. [1797] anführen. Mitdem .Gestiefelten Kater. beginnt eine romantischeKomödie, die sich deutlich von der Komödie derZeit der Aufklärung absetzt. Tieck verbindet in seinerKomödie zwei Elemente: Einerseits werden dieSpielbedingungen, besonders die Zuschauer und dieBühne, mit in das Spiel einbezogen. Das Stück erstrecktsich auf drei Ebenen: das Publikum, das Märchenspielund das Theater. Der Inhalt des Stückes isteinfach ein missglückter Theaterabend, der gescheiterteVersuch einer fiktiven Theatergruppe, vor einemfiktiven Publikum ein fiktives Stück aufzuführen.Hier wird Theater als Theater zur Schau gestellt:Ein Spiel mit dem Spiel . eine Selbstdarstellung desBühnenspiels, das sich an den Reflexionen über Illusionund Nicht-Illusion stets neu entzündet: als neben

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und über den dargestellten Einzelheiten . eineForm der Poesie der Poesie.Zum anderen wird die Intention auf ein Weltspiel,das vom zeitlich Bedingten ausgeht und sich dannauf die Menschen als Theater richtet, deutlich. Hältman sich diesen Komödientypus vor Augen, so leitetsich daraus eine Klassifizierung Dürrenmatts als.Erbe der Romantik. ab. 21

1 Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme. In: Theater-Schriftenund Reden. Herausgegeben von Elisabeth Brock-Sulzer. Zürich:Arche, 1969. (= TR) S. 122.2 Bertolt Brecht: Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegebenwerden? In: Ders.: Schriften zum Theater. Band VII.Herausgegeben von W. Hecht. Frankfurt a. M., 1973. (= SchrTh)S. 300. Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner undFrankfurter Ausgabe © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main1989.2000.3 Ebd. S. 301.4 Ebd. S. 300.5 Bertolt Brecht: Neuer Inhalt . Neue Form. In: Ders.: SchrTh.S. 179.6 Bertolt Brecht: Notiz vom 13.09.1953. Orthographisch angeglichen.In: Ders.: Arbeitsjournal II: 1942.1955. Herausgegebenvon W. Hecht. Frankfurt a. M., 1973. S. 599.7 Vgl. Klaus Eder: Antike Komödie. Aristophanes, Menander,Plautus, Terenz. Velber: Friedrich, 1968. (Friedrichs Dramatikerdes Welttheaters. 30.) S. 107.110.8 Karl S. Guthke: Lustspiele. Kommentar zu Band I der WerkausgabeLessings. Herausgegeben von Herbert G. Göpfert. Band 2.München, 1971. S. 631. Gotthold Ephraim Lessing: An JohannGottfried Lessing. Brief vom 28. April 1749. In: G. E. Lessing.Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 9. Herausgegeben vonPaul Rilla, 2. Auflage. Berlin und Weimar, 1968. S. 20: Wennman mir mit Recht den Titel eines deutschen Molière beilegenkönnte, so könnte ich gewiss eines ewigen Namens versichertsein. Die Wahrheit zu gestehen, so habe ich zwar sehr großeLust, ihn zu verdienen, aber sein Umfang und meine Ohnmachtsind zwei Stücke, die auch die größte Lust erstücken können.9 Beda Allemann: Die Struktur der Komödie bei Frisch undDürrenmatt. (1969) In: Hans Steffen (Hrsg.): Das deutscheLustspiel I und II. Band II. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,1968/69. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 271 S und 277 S.) S. 206.10 Friedrich Dürrenmatt: Anmerkung zur Komödie. (1952) In: TR.S. 130.11 Ders.: Theaterprobleme. (1955) In: TR. S. 120.12 Friedrich Dürrenmatt: Anmerkung zur Komödie. (1952) In: TR.S. 133.13 Ebd.14 Ders.: Zum Tode Ernst Ginsbergs. Gedenkrede, gehalten imSchauspielhaus Zürich anläßlich der Gedenkfeier für ErnstGinsberg, 7. Februar 1965. In: TR. S. 203.15 Ders.: Theaterprobleme. (1955) In: TR. S. 118.16 Ders.: Anmerkung zur Komödie. (1952) In: TR. S. 135.17 Ders.: Der Widerspenstigen Zähmung. (.Die Weltwoche., 08.Februar 1952.) In: TR. S. 327.18 Ders.: Zweimal Shakespeare. Zu zwei Aufführungen im Rahmender Juni-Festspiele. (.Die Weltwoche., 13. Juni 1952.) In: TR. S.344.19 Ders.: Die Richtlinien der Regie (Frank V.). Text für dasBochumer Programmheft, 1964. In: Ders.: Komödien II und

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Frühe Stücke. Zürich: Arche, 1970. S. 281.282. Wiederabdruckin: TR. S. 190.20 Beda Allemann: a. a. O., S. 200.201.21 Ingrid Strohschneider-Kohrs: Zur Poetik der deutschenRomantik II: Die romantische Ironie. In: Hans Steffen (Hrsg.):Die deutsche Romantik. 2. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck &Ruprecht, 1970. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 250 S.) S. 89.© 2003 Ernst Klett Schulbuchverlag GmbH, Leipzig, und Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Dürrenmatt . Die Pysiker