Dunkle Sonne Lesung Kap3 Sicher

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1 Der Alte der Dämmerung In dem ungemein hellen Phantomlicht wirkte das vertraute Rheinufer, als wäre es vom Feuerwerk geflutet. Nur jetzt blieb das Licht stehen wie auf einer Photographie, die eine Landschaft im Blitzlicht verewigte. Die Promenade war immer noch vertraut, aber anders und vollkommen: Der Weitblick expandierte und es roch nach einer frisch abgegrasten Weide. Das Ufer sah ländlich aus, statt Beton mit einer Schicht Mulch bedeckt, der – wie mit Diamantenstaub bewalzt – je nach Lage in unterschiedlichen Tönen eines moorigen Grüns glitzerte. Das Geplätscher einer ungewöhnlich mäßigen Strömung deutete auf einen größeren Gegenstand, der hinter der Böschung angedockt schien. Bald wurde eine schlichte, aber prominente Konstruktion sichtbar, die Max an ein seltsam verzerrtes Wikingerschiff erinnerte, auf dem ein spitzer Turm aus rubinrot schimmerndem Stoff aufgesetzt schien. Der warme Schimmer der schwarz gebeizten Holzverkleidung dominierte den Anblick. Beim längeren Zusehen erkannte Max hinter dem Turm, der auch ein gewaltiges Igluzelt sein konnte, ein offenes Deck, auf dem mehrere nackte [MSOffice1]Frauenfiguren in einer Reihe knieten und scheinbar sehnsüchtig in die Ferne schauten: ein welliger Gesang erreichte seine Ohren und wurde lauter. Es war kein Chor, sondern ein kunstvoll synchronisiertes Rezitativ, in dem einzelne Stimmen wie auf einer Welle ritten.

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"Die Dunkle Sonne" von Leon Tsvasman als vereinfachte Lesungsfassung des dritten Kapitels, editiert für die szenische Lesung.

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Der Alte der Dämmerung

In dem ungemein hellen Phantomlicht wirkte das vertraute Rheinufer, als wäre es vom Feuerwerk geflutet. Nur jetzt blieb das Licht stehen wie auf einer Photographie, die eine Landschaft im Blitzlicht verewigte. Die Promenade war immer noch vertraut, aber anders und vollkommen: Der Weitblick expandierte und es roch nach einer frisch abgegrasten Weide. Das Ufer sah ländlich aus, statt Beton mit einer Schicht Mulch bedeckt, der – wie mit Diamantenstaub bewalzt – je nach Lage in unterschiedlichen Tönen eines moorigen Grüns glitzerte. Das Geplätscher einer ungewöhnlich mäßigen Strömung deutete auf einen größeren Gegenstand, der hinter der Böschung angedockt schien. Bald wurde eine schlichte, aber prominente Konstruktion sichtbar, die Max an ein seltsam verzerrtes Wikingerschiff erinnerte, auf dem ein spitzer Turm aus rubinrot schimmerndem Stoff aufgesetzt schien. Der warme Schimmer der schwarz gebeizten Holzverkleidung dominierte den Anblick. Beim längeren Zusehen erkannte Max hinter dem Turm, der auch ein gewaltiges Igluzelt sein konnte, ein offenes Deck, auf dem mehrere nackte [MSOffice1]Frauenfiguren in einer Reihe knieten und scheinbar sehnsüchtig in die Ferne schauten: ein welliger Gesang erreichte seine Ohren und wurde lauter. Es war kein Chor, sondern ein kunstvoll synchronisiertes Rezitativ, in dem einzelne Stimmen wie auf einer Welle ritten.

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Ein riesiger Greifvogel drehte im frappanten Sturzflug mehrere Loopings um das Schiff und verschwand hinter den Hügeln des Siebengebirges. Überraschend schleuderte Tanga gleich einem wilden Schulkind ihre Schuhe hoch in die Luft und lief barfuss zum Schiff: „Aháno’jé!“ – „Aána’jée!“ kam zurück. Sie sprang ins Wasser und stand bald auf dem Deck glücklich winkend, was Max als eine Einladung zur Nachahmung deutete: Als beide mit ihren Füßen bald die dankbare Wärme des Holzbodens genossen, eilte ihnen aus dem Deckhaus ein merkwürdig umhüllter bärtiger Greis entgegen und grüßte sie mit heftigen Umarmungen: „Aháno’jée!“ – „Aána’jé!“ – „Ahán Ajée!“ – „Ajhée!“ Ihre Freude klang in Max’s Ohren wie das kunstvoll beschleunigte Gerufe der exotischen Großwale auf einer New Age Platte aus seiner Jugend: „Krass!“, konnte Max nur urteilen, vollkommen gedankenleer. Er reagierte, beobachte und fühlte, wie in einer Meditation. Es bebte etwas mollig im inneren des Schiffs und sie glitten fort. Bald wippten sie entlang den glitzernden Ufern mit einem gemütlichen Schwung. „Lernt euch doch kennen, ich bin mal kurz… zaubern!“ – Tangas leise, aber eindringliche Stimme erreichte Max stumpf hallend von unten, wo er inzwischen

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irgendwelche wunderbaren Gemächer vermutete. Das Wort „zaubern“ klang einladend, so dass Max sofort wusste, dass es sich um eine Mahlzeit handelte. Auch der rüstige Alte schien Gedanken oder Gestalten, wie Tanga es erklärte, lesen zu können und nickte, ohne seine neugierigen Augen von Maxs Gesicht abzuwenden, das er wie ein prähistorisches Kunstwerk studierte. Plötzlich sprach er so fliessend-musikalisch und ganz ohne Intonation, als ströme seine Rede aus einem sprechenden Dudelsack: „Mich nennt man übrigens Enya-Anki, der Alte der Dämmerung, und mich beschäftigt ein Rätsel. Darf ich fragen? Sag es, hast du Bhagyalakshmi schon mal gesehen –diese weibliche Gestalt mit allschwarzen Pupillenaugen?“ In seinem Sprachgesang rundete Enya-Anki kunstvoll alle Kanten und Ecken seiner beinahe gestaltlosen Klangbilder. Erst jetzt wurde Max bewusst, was seine Muttersprache so eigenwillig machte: diese kantigen Wörter, die wie die Zahnräder eines Uhrwerks für eine mechanische Präzision sorgten, aber den ganzen Reichtum melodischer Ausdrucksfähigkeit ignorierten: „Diese Erscheinung im Fenster… gestern im Büro?“ – Max wusste nicht, ob dieser Enya ähnlich wie Tanga alles Mögliche über ihn wusste. Vielleicht auch nicht, denn sonst würde er nicht fragen. Als der Alte immer noch fragend blickte, wusste Max plötzlich die richtige Antwort:

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„Ja, ich habe sie gesehen, ganz kurz aber. Kennst du sie?“ „Keiner kennt sie, lieber Max. Aber wir nennen sie Bhagyalakshmi, weil dieser Name zu ihr passt. Wir wissen nur, dass sie kein Mensch ist. Sie erscheint in allen Welten in gleicher Gestalt mit ihrem Teppich, oder was auch immer das ist...“ „Wieso?“ „Tja… Sie erscheint in einer Welt, kurz bevor diese untergeht…“ – das Gesicht des Alten dämmerte kurz, als er zögernd das letzte Wort sprach, aber traurig wirkte er nicht. Auch nicht besorgt, denn seine Augen funkelten neugierig. Die singenden Frauen, welche Max nun auf der anderen Ebene des etagenartigen Decks wieder entdeckte, wurden inzwischen leise. Langsam zerfielen ihre Reihen in die einzelnen Figuren, einige sprangen ins Wasser, manche verschwanden im Inneren des Schiffs. Als Max nun fasziniert in ihre Richtung schaute, winkten einige heiter, als wäre er ihr alter Freund. So gingen sie ihrer unergründlichen Dynamik nach bis eine mächtige Windböe ihre langen Haare in die Richtung des feuerspeienden Sonnenuntergangs wehte. Das Schiff schaukelte, was einen Augenblick der Schwerelosigkeit eintreten ließ. Dieser an sich unsinnige, doch in den Augen eines überreizten Heimkehrers beinahe episch anmutende Moment prägte sich in Maxs Gedächtnis wie das natürliche Markenzeichen seiner alten Heimat, die ein einziges Mysterium zu sein schien. Max fühlte sich herrlich. Die untergehende Sonne spendete Kraft.

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„Kommt runter!“ – Tanga klang begeistert, als wäre sie mit einem Meisterwerk fertig. Die apokalyptische Botschaft des Alten schmerzte wieder in seinem Kopf, denn sie war mehr als jene alltägliche Unumkehrbarkeit, die Max stets zu vermeiden suchte. Er kapierte sie nicht. Er dachte auch nicht nach, denn er verstand vieles nicht mehr. Die Botschaft über den vermutlichen Untergang der Welt seiner Jugend warf seine Sinne jedoch nicht um, denn unter der Dunklen Sonne schien etwas anderes bedeutender. Er wunderte sich lediglich immer stärker über die vermeintliche Unkenntnis des Alten, der so unendlich wissend aussah, als verkörpere er die Weisheit an sich. „Seid ihr keine Genies? Ich meine, Tanga erzählte, dass ihr alles versteht, das ganze Universum und so…“ „Keine Ahnung, was du meinst, Max. Keiner versteht eine Welt, solange man in ihr lebt. Und wieso sollten wir - denn verstehen heißt auseinander nehmen. Doch wir nehmen nicht etwas auseinander, was wir nicht selbst gebastelt haben. Und schon gar nicht, wenn es lebt… Und wenn, wäre jede Teilung in die Bestandteile beliebig, denn eine Welt kann keine Bausteine haben, weil sie kein Haus ist oder so… Das mag für dich komisch klingen, aber Wissen heißt Leben, mehr nicht, auch nicht weniger. Was du meinst, ist weniger…“

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„Kommt doch!“ – rief Tanga begeistert, als spreche sie im Namen eines Meisterwerks, das kaum mehr warten konnte. „Na sollen wir?“ – Enya-Anki fragte Max behutsam und johlte an Tanga zurück: „Anhýa! An’hýa-jóhi! Jóhi-ýho!“ Ein leuchtendes Zusammenspiel von Holz, Glas und Stoff der großformatigen Wandmalereien im Inneren des Schiffs erinnerte an impressionistische Intarsien, deren Struktur- und Farbnuancen vor allem die Tiefe eines atemberaubenden Perspektivenwechsels betonten: Der Weitblick dieser Landschaften machte den Raum lebend, als verändere er sich ständig, wie in einer Symphonie die wechselnden Harmonien. Es roch appetitlich nach Gewürzen und Ölen. Auf dem flauschigen Boden standen zahlreiche kleine Töpfe, die keine Ordnung kannten, aber von einer Harmonie geprägt waren, die selbstverständlich schien. Max wusste sofort, worauf er Lust hatte und aß von allem ein bisschen in einer Reihenfolge, die von einem eigenen, spontan erweckten Sinn angeleitet schien. Ein ähnliches, aber viel schwächeres Gefühl kannte er aus seiner Kindheit, wenn er im Garten seiner Großeltern weiden durfte und all die möglichen Gemüse probierte. Folgend dem stillen Beispiel beider Gastgeber, aß er mit allen möglichen Löffeln, Stäbchen und einfach mit den Händen. Die Gefäße, Pöttchen und Kasserollen schienen zu ihren jeweiligen Inhalten ein inniges Verhältnis zu

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haben. Ein Erlebnis, dessen Dimensionen nicht allein dem Gaumen galten, ließ keinen Raum für Gespräche übrig, so dass jeder in sich kehrte, aber es trotzdem gesellig war. Nach dieser redescheuen Malzeit wagte Max es doch, seiner wachsenden Neugierde Ausdruck zu verleihen: „Was ist denn diese Bhagyalakshmi, wenn sie kein Mensch ist? Sie sah doch wie eine indische Frau aus…“ „Tja..“ – der Alte sprach, ohne nachzudenken: „Deine Muttersprache hat ein Wort dafür, aber wie die meisten dieser Wörter, sagt es nichts aus. Ein Engel. Auf jeden Fall ist sie kein Mensch, weil sie sich nicht verwandeln kann. Sie hat nur eine einzige Gestalt…“ „Wie alle Menschen, die ich kenne…“ – äußerte Max sich leise. An dieser Stelle fühlte Tanga sich verpflichtet, massiv einzugreifen: „Vergiss es Max! Du bist jetzt nicht mehr in der armseligen Welt deiner verlorenen Jugend, in der sich Menschen durch Dinge definieren und sich selbst ding-gleich machen. Als Anarast wird ein Mensch nicht geboren!“ Als eine kurze Pause eintrat, setzte der Alte fort, und guckte dabei getrost, als kannte er grundsätzlich alle kommenden Ereignisse noch bevor sie eintreten: „Ein Engel handelt nicht. Er überbringt nur eine Botschaft. Aber Bhagyalakshmi erscheint nicht nur, teils entsteht sie in einer Welt, ähnlich einer… Allergie. Meine Beobachtung ist, sie schöpft ihre Kraft aus der

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entzweiten Lebensenergie, die Anarasten in Geltungen speichern. So kann sie wirken. Ihre Gestalt entsteht zwar in unseren Sinnen, aber erst in ihrem Kraftfeld…“ „Hm…“ – Max fand die Erklärung logisch. Aber etwas fehlte ihm: Ok, da war der Antrieb. Da war auch die Gestalt. Aber woher stammt die Botschaft? Der alte Enya-Anki erstarrte kurz, als erhielte er eine Nachricht. Das kannte Max, denn so erfror Tanga ab und zu auch, was Max nicht mochte, denn er fühlte sich vernachlässigt. Nur hier, unter der Dunklen Sonne, ließ die Geborgenheit keinen Sinn für solche Gefühle übrig, und Max lächelte innerlich, weil er daran dachte. Schließlich musste er nicht mehr ablehnen, um zu vertrauen. „Max muss sich ausruhen… Und Bhagyalakshmi wird uns noch Rätsel bereiten. Denn die Botschaft, die sie verkörpert, ist eine Art Echo aus einer Welt außerhalb des Wirkungsbereichs. Diese Welt macht mir große Sorgen, Max, und das nicht erst seit gestern…“ Offensichtlich verstand er unter „Sorge“ etwas anderes, denn besorgt wirkte der Alte der Dämmerung kaum. Er schaute heiter um sich herum und knabberte genüsslich an einer Nuss, die einem großen Pinienkern ähnelte. Zum ersten Mal seit dem Kurzschlaf in der Kneipe, aus der Zeit, die ihm mittlerweile wie ein uralter Horrorfilm vorkam, geisterhaft und unecht, schlief Max ein. Wie seit einer Ewigkeit nicht mehr, träumte er wieder.

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Diesmal konnte er seine Vision nicht einordnen, denn sie hatte kein Thema, lediglich die Gewissheit einer Welt, die lebte. Das war ein herrliches Gefühl, ein Teil der lebenden Welt und nicht ein Zahnrad in einer lieblos gebastelten Maschine zu sein. Er horchte dieser Welt respektvoll zu und bekam Zeichen, die er zu deuten lernte. Je vertrauter er ihr wurde, desto klarer deutete er, und dieses Wissen war wertvoller, als alle die verkappten Lektüren über die vermeintlichen Naturgesetze aus seiner Jugend in jener verkrüppelten Lebenswelt, die all die Anarasten zu einer erbärmlichen Maschine machen wollten. Das hohe Alter, von dem Max in seinem Traum gezeichnet war, brachte einen ungemeinen Gewinn an Gewissheit mit sich, die die lebende Welt als höchsten Wert zu würdigen wusste. Max wurde wach und fixierte sein eigenes Gesicht, reflektiert in zwei runden schwarz leuchtenden Spiegelflecken. Bald erkannte er die berüchtigte weibliche Figur, die ihn mit leicht gesenktem Kopf anstarrte. „Hast du mich erschrocken!“ – murmelte er nervös, aber die Frau reagierte nicht: „Na klar, bist ja ein Engel oder so. Kannst also nur eine Botschaft überbringen…“ Da sich das Wesen nicht mal bewegte, blieben Max nur ihre riesigen Augen als Blickfang übrig, und in ihnen lief bereits ein Film. „Ah, verstehe. Jetzt kommt deine Botschaft? Na gut, bin echt gespannt. Na schieß doch los!“ Bhagyalakshmi blieb regungslos, während ihre Augen eine meisterhaft verbildlichte Geschichte erzählten.

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Nach den ersten Allegorien wurde Max klar, dass die vermeintliche Botschaft allein für ihn, Graf Oran Max Art, dem zukünftigen Gebieter einer mysteriösen Heerschar, die er noch nie zu Gesicht bekam, bestimmt war und welche deshalb keiner außer ihm jemals verstehen könnte. Seine Sinne spannten sich an… (c) 2009 Leon Tsvasman