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Eberhard Th. Haas

Transzendenzverlust und Melancholie

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Das Anliegen der Buchreihe Bibliothek der Psychoanalyse besteht darin, ein Forum der Auseinandersetzung zu schaffen, das der Psychoanalyse

als Grundlagenwissenschaft, als Human- und Kulturwissenschaft und alsklinische Theorie und Praxis neue Impulse verleiht. Die verschiedenenStrömungen innerhalb der Psychoanalyse sollen zu Wort kommen, und derkritische Dialog mit den Nachbarwissenschaften soll intensiviert werden.Bislang haben sich folgende Themenschwerpunkte herauskristallisiert:

Die Wiederentdeckung lange vergriffener Klassiker der Psychoanalyse – wiebeispielsweise der Werke von Otto Fenichel, Karl Abraham, W. R. D.Fairbairn und Otto Rank – soll die gemeinsamen Wurzeln der vonZersplitterung bedrohten psychoanalytischen Bewegung stärken. Einen wei-teren Baustein psychoanalytischer Identität bildet die Beschäftigung mitdem Werk und der Person Sigmund Freuds und den Diskussionen undKonflikten in der Frühgeschichte der psychoanalytischen Bewegung.

Im Zuge ihrer Etablierung als medizinisch-psychologisches Heilverfahrenhat die Psychoanalyse ihre geisteswissenschaftlichen, kulturanalytischenund politischen Ansätze vernachlässigt. Indem der Dialog mit denNachbarwissenschaften wiederaufgenommen wird, soll das kultur- undgesellschaftskritische Erbe der Psychoanalyse wiederbelebt und weiter-entwickelt werden.

Stärker als früher steht die Psychoanalyse in Konkurrenz zu benachbartenPsychotherapieverfahren und der biologischen Psychiatrie. Als dasanspruchsvollste unter den psychotherapeutischen Verfahren sollte sich diePsychoanalyse der Überprüfung ihrer Verfahrensweisen und ihrer Therapie-Erfolge durch die empirischen Wissenschaften stellen, aber auch eigeneKriterien und Konzepte zur Erfolgskontrolle entwickeln. In diesenZusammenhang gehört auch die Wiederaufnahme der Diskussion über denbesonderen wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse.

Hundert Jahre nach ihrer Schöpfung durch Sigmund Freud sieht sich diePsychoanalyse vor neue Herausforderungen gestellt, die sie nur bewältigenkann, wenn sie sich auf ihr kritisches Potential besinnt.

Bibliothek der PsychoanalyseHerausgegeben von Hans Jürgen Wirth

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Eberhard Th. Haas

Transzendenzverlust undMelancholie

Depression und Sucht im Schatten der Aufklärung

Psychosozial-Verlag

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Das Studium der Metaphysik machte ihmzuletzt alle Wahrheit verdächtig und riß

ihn zum anderen Extremo über, so daß er,der die Religion vorhero übertrieben

hatte, durch skeptische Grübeleien nichtselten dahin gebracht wurde, an ihren

Grundpfeilern zu zweifeln.

Diese schwankende Ungewißheit derwichtigsten Wahrheiten ertrug sein

vortreffliches Herz nicht. Er strebte nach Überzeugung,

aber verirrte auf einen falschen Weg, da er sie suchen wollte,

versank in die finstersten Zweifel,verzweifelte an der Glückseligkeit,

an der Gottheit, und glaubte sich denunglücklichsten Menschen auf Erden.

(Friedrich Schiller 1780)

Wenn wir noch einen Direktor hätten, den wir zur Rede stellen könnten.

(Thomas Bernhard)

Es gab eine neuartige Sucht. Dolorie. Die Leute wurden süchtig nach Schmerz.

Das Leben war nahezu schmerzfrei, der Tod ließ auf sich warten.

Da litten sie unter Schmerzentzug.

(Botho Strauß)

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Bibliografische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

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E-Book-Ausgabe 2014© der Originalausgabe 2006 Psychosozial-Verlag

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche

Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Sys-teme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagabbildung: »Der siebente Schöpfungstag«Wolgemut-Werkstatt, Schedelsche Weltchronik von 1493

Umschlaggestaltung nach Entwürfen des Ateliers Warminski, Büdingen.Lektorat: Claudia Schmitt, Korrektopia, Röbel /Müritz

Satz: Hubert Walter, Freiburg i. Br.ISBN Print-Ausgabe 978-3-89806-500-9ISBN E-Book-PDF 978-3-8379-6698-5

Inhalt

Vorwort 11

1. Einleitung: Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt 13

Bestattungsriten – Psychoanalyse der Trauer – Mythen vom Orpheustyp 14Transformation der Gewalt? 16Theorie des Opfers 19Das Jahr 1972 21Wege zu einer aufgeklärten Aufklärung 23

2. Die kopernikanische Revolution und der Sturz der Väter 27Philosophen, Ketzer und Scheiterhaufen 29Entdifferenzierung – Trauma – Verführung 33Der gefallene Vater oder Die metaphysische Wunde: Pierre, Hamlet, Raskolnikow 36Ein zweiter Blick 41Die psychoanalytische Revolution 44Die zweifache Abwesenheit des Vaters 45Resurrection oder Ptolemäische Rückbesinnung 47

3. Sucht – Surrogate – Transzendenz: Versuch über den religiösen Appetit 49

Psychoarchäologie der Rauschmittel 50Heilung der Dipsomanie durch Religiomanie? 54Nutrition Facts 57Ritalin als Vatersurrogat? 60Therapie und Suche nach den kulturellen Eltern 64

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4. Karamasowsche Welten: Dostojewskijs Ansichten über Himmel, Purgatorium und Hölle 71

Dantesches Denken bei Dostojewskij 72Die Hölle: biografisch und romanesk 75Im Kloster 79Vatermord 84Gewalt gegen Kinder 87Der Großinquisitor 91Starez Sossimas Tod 95Verwesungsgeruch 102Purgatorium 107Iwans erste Höllenkreise 111Das Gerichtsurteil 115Epilog 120

5. Melancholische Arbeit 123I. Theoretische Überlegungen:

Vergleich zwischen Trauer und Melancholie 124

Die Orpheustradition 126Psychoanalyse der Trauerkrankheiten 129Die normale Trauer 129Pathologische Trauer 131Melancholische Arbeit im Vergleich 132

II. Klinische Episoden 137

Die Melancholie eine Malers aus dem 17. Jahrhundert 137Was heißt und was verschleiert Endogenität? 140Ich habe nur ein Problem: Ich kann mich nicht entscheiden 144

6. Kollektive depressive Erschöpfung, Dissidenz und Exodus 149Depression in der Gegenwart 150Psychologie des Wunsches 156Dissidenz und Exodus 159Luthers Exodus 162Exodus heute? 165Exodus im Zeichen des Kreuzes 166

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7. Freuds Kokainepisode und das Problem der Sucht 173Das Zaubermittel 176Experimentelle Forschungen 181Fleischls Entwöhnungsbehandlung 184Die dritte Geißel der Menschheit 191Die Kokainepisode in der Traumdeutung 198Alter Ego 200Traum von »Irmas Injektion« 203Der »Non vixit«-Traum 208

8. Freud und/oder Girard? Psychoanalyse und Christentum 219Ödipus 221Trauer: Das Orpheusmotiv – Jesu Abschiedsrede 223Auferstehung 225Paulus 228Natürlich oder übernatürlich? 230

9. Good bye, Lenin!: Das Orpheusmotiv und das Ende der DDR 233

Orpheus weltweit 235Kulturmechanismus Trauer 238

10.Anhang 245Bibliografische Anmerkungen 245Schemazeichnungen 246Abbildungsnachweise 250Literaturverzeichnis 251

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Vorwort

Die wissenschaftlichen Revolutionen, die sich mit den Namen Kopernikusund Darwin verbinden, enthalten eine metaphysische Sprengkraft, die erstallmählich, dann immer nachhaltiger in die privateste Sphäre eingedrungenist. Die Rede vom »Tod Gottes« ist keineswegs nur eine akademische Frage.Mit dieser Emanzipation, dieser Befreiung von religiöser Bevormundung gingein kollektive und individuelle Gewalterfahrungen transformierender Behäl-ter verloren. Der Prozess der Säkularisierung enthält eine Dialektik, derenSchattenseite zunehmend gespürt und als Psychopathologie erlitten wird.Transzendenzverlust steht in Verbindung mit Depression und Sucht. Früherwar das Wissen um Lebenstatsachen in der Sprache der Religion aufbewahrt.Heute begreift man, dass deren Gehalt, von dem wir immer noch zehren, nichtschadlos suspendiert werden darf. Man hat begonnen, dieses Wissen in einesäkulare, nichtreligiöse Sprache zu übersetzen. Dieser Aufgabe ist auch dasvorliegende Buch verpflichtet. Die Sprache der Psychoanalyse besitzt dafürimmer noch die reichhaltigste Semantik.

Freud erkannte in der Religion sowohl Illusion als auch Wahrheit. DiePsychoanalyse ist in erster Linie, im Sinne des Gestus der Aufklärung, FreudsReligionskritik gefolgt. Der Wahrheitsgehalt der Religion blieb vernachlässigt.Gleichzeitig ging damit auch die Verbindung zu Freuds kulturtheoretischenSchriften, insbesondere zu Totem und Tabu, verloren. Dieser Verlust ist umsogewichtiger, als die Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und derNeurotiker, auf die er bis zu seiner Mosesarbeit immer wieder zurückkam,bereits die Umrisse einer kohärenten Kulturtheorie enthalten. Hier setzt diesesBuch, wie schon das vorherige ... und Freud hat doch recht. Die Entstehungder Kultur durch Transformation der Gewalt, den Versuch der Wiederaneig-nung fort. Der Vernunft des Naturalismus erscheint das Denken der Religionals überholt, irrational und wertlos. Das trifft jedoch die Psychoanalyse imKern, da sie es in ihrer täglichen Praxis mit archaischen Ich-Funktionen undnatürlich auch mit Irrationalem zu tun hat.

Glücklicherweise ist auch eine Gegenbewegung erkennbar. Eine Rehabili-tierung von Freuds Totem und Tabu hat begonnen, auf die ich in der Einlei-tung eingehe. Ritualtheorien werden heute wieder – wie zur Zeit der Klassikerder Religionswissenschaft vor einhundert Jahren – im interkulturellen Ver-gleich diskutiert. Der Heidelberger Sonderforschungsbereich Ritualdynamikist hier an erster Stelle zu nennen. Ein kürzlich erschienenes Buch, herausge-geben von Jan Assmann, Franz Maciejewski und Axel Michaels (2005),

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belegt dies am Beispiel der Trauerrituale: Der Abschied von den Toten.Trauerrituale im Kulturvergleich. Auch im Bereich der Philosophie ist eineGegenbewegung gegen eine Naturalisierung des Geistes zu beobachten. Siehat begonnen, sich kritisch mit den Folgen der Säkularisierung auseinanderzu setzen. Jürgen Habermas erhofft sich in diesem Zusammenhang von einerÜbersetzung »religiöser Idiome« in eine allgemein zugängliche Sprache einenZugewinn für die modernen Zivilisationen, die unübersehbar an Sinnverar-mung leiden. Interessant ist, dass Dostojewskij schon in der zweiten Hälftedes 19. Jahrhunderts diese Entwicklungen gesehen und auf diese Heraus-forderung mit einem der größten Romane der Weltliteratur geantwortet hat.

In diesem Zusammenhang gilt mein Dank Maike Schult, Vorsitzende derDeutschen Dostojewskij-Gesellschaft, die mir die Möglichkeit bot, dasKapitel über Die Brüder Karamasow zu diskutieren. Der leider zu frühverstorbene Ferdinand Barth hielt im Winter 2004 Vorlesungen über dieGöttliche Komödie, die mir einen Einblick und eine Einführung in DantesKosmologie eröffneten. Die dreigeschossige mittelalterliche Topografie ist imGrunde auch eine der Seele, so dass es nicht verwundert, vieles davon in denStrukturverhältnissen des Individuums wiederzufinden. Mein besondererDank gilt wiederum Elisabeth van Quekelberghe, die bei allen Kapiteln dieerste Gesprächspartnerin war und Irrtümer einzugrenzen half. Man feiertdieses Jahr Freuds 150. Geburtstag, und das Veto gegenüber seinen religions-theoretischen Schriften, namentlich Totem und Tabu, scheint leiser zuwerden. Das ist auch ein Verdienst des Psychosozial-Verlags, der sich nichtscheute, die Verteidigung dieses exkommunizierten Buches in sein Programmaufzunehmen.

Darmstadt, den 27. Januar 2006

Vorwort

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1. Einleitung: Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt

Rituale sind seit alters so etwas wie die großen Kraftwerke der Kulturpro-duktion. In ihnen wird auf eine noch genauer zu klärende Weise Gewalt inkulturell Wertvolles transformiert. Riten haben eine Abfolgeordnung undsind dramaturgisch aufgebaut. Als »soziale Dramen« dienen sie bis in dieGegenwart hinein der Konfliktbewältigung, auch wenn ihr ritueller Gehalthäufig unbewusst und unerkannt bleibt. Riten haben eine religiöse Dimen-sion, je weiter man in die Vorgeschichte zurückgeht, desto bedeutsamer wirddie Vorherrschaft des Sakralen gegenüber dem Profanen. Schon 1909 hatArnold van Gennep das ihm vorliegende umfangreiche völkerkundlicheMaterial einer Systematisierung unterzogen und ein Strukturschema erkannt,das er »Übergangsriten« nannte. Danach begleiten Riten einen Zustands-wechsel. Dieser kann sich auf eine räumliche Veränderung beziehen, auf einenStatus, ein Amt oder eine Stufe innerhalb des Lebenszyklus, etwa auf Taufe,Initiation, Hochzeit oder Bestattung.

Riten sind van Gennep zufolge vergleichbar, sie weisen trotz unzähligerVariationen eine typische Abfolgeordnung auf, »das Strukturschema derÜbergangsriten« (van Gennep 1909, S. 183). Dieses enthält drei Phasen: dieTrennungs-, die Schwellen- und die Angliederungsphase. In der Trennungs-phase wird die Loslösung von einem früheren Zustand dramatisiert. In derSchwellenphase befindet sich der »Passierende« in einer Ambiguität odereinem Borderlinezustand. Als Schwellenwesen ist er in einem kulturellenNiemandsland zu verorten: ungeboren, monströs, bisexuell. Die Seklusions-zeit gleicht einer Art Verpuppung. Diese Liminalität wird häufig als Todsymbolisiert, die darauf folgende Phase der Angliederung als Wiedergeburt.So kann man das Ritual auch, Frazer folgend, als Tod und Auferstehung

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