(eBook - German) Platon - Gorgias

181
Platon Gorgias (Gorgias)

Transcript of (eBook - German) Platon - Gorgias

Page 1: (eBook - German) Platon - Gorgias

Platon

Gorgias

(Gorgias)

Page 2: (eBook - German) Platon - Gorgias

2Platon: Gorgias

Kallikles · Sokrates · Chairephon · Gorgias · Polos

(Das Gespräch beginnt vor dem Hause des Kalliklesund setzt sich in demselben fort)

Kallikles: So muß man kommen, wie es heißt, lieberSokrates, wenn Krieg ist und es zur Schlacht geht!

Sokrates: Sind wir wirklich, wie man sagt, nach demFeste gekommen und zu spät?

Kallikles: Und das nach einem gar feinen Fest-schmaus. Denn Gorgias hat uns kurz vorher vielschöne Vorträge zum besten gegeben.

Sokrates: Daran, lieber Kallikles, ist unser Chaire-phon schuld, da er uns auf dem Markte zu verwei-len nötigte.

Chairephon: Es tut nichts, lieber Sokrates. Ich willden Schaden auch wieder heilen. Denn Gorgias istmein Freund und wird sich wieder hören lassen,nach Gefallen gleich, oder, wenn du lieber willst,ein andermal.

Kallikles: Wie, Chairephon? Wünscht Sokrates denGorgias zu hören?

Chairephon: Gerade in der Absicht sind wir ja hier.Kallikles: Nun, wenn's gefällig ist, in mein Haus ein-

zutreten - denn bei mir wohnt Gorgias und wirdauch euch gewiß einen Vortrag zum besten geben.

Page 3: (eBook - German) Platon - Gorgias

3Platon: Gorgias

Sokrates: Schön, lieber Kallikles. Doch dürfte erauch sich mit uns zu unterreden bereit sein? Dennich will ihn danach fragen, worin die Bedeutungseiner Kunst besteht und was er eigentlich von sichverspricht und lehrt. Den anderen Vortrag soll er,wie du sagst, ein andermal halten.

Kallikles: Nichts besser als ihn selbst fragen, lieberSokrates. Denn auch das war eines seiner Probe-stücke. Er forderte nämliche eben gerade jeden vonden drinnen Anwesenden auf, zu fragen, was ihmbeliebe, und auf alle Fragen, sagte er, werde er ant-worten.

Sokrates: Wahrlich schön. Lieber Chairephon, frageihn doch!

Chairephon: Was soll ich ihn fragen?Sokrates: Was er ist.Chairephon: Wie meinst du das?Sokrates: Wie wenn er etwa ein Meister im Schuhma-

chen wäre, so würde er dir doch wohl antworten:ein Schuhmacher. Oder verstehst du nicht, wie iches meine?

Chairephon: Ich verstehe und will ihn fragen.(Im Hause.) Sage mir doch, lieber Gorgias, hat unser

Kallikles hier recht, daß du auf alle Fragen zu ant-worten versprichst, die man an dich richtet?

Gorgias: Ganz recht, lieber Chairephon. Denn ebenerst habe ich gerade dies versprochen, und ich darf

Page 4: (eBook - German) Platon - Gorgias

4Platon: Gorgias

sagen, daß mich seit vielen Jahren noch keineretwas Neues gefragt hat.

Chairephon: Dann, lieber Gorgias, fällt dir wohlgewiß die Antwort recht leicht?

Gorgias: Du darfst einen Versuch machen, lieberChairephon.

Polos: Das ist wahrhaftig wahr. Vielleicht ziehst du'saber vor, lieber Chairephon, ihn mit mir zu ma-chen. Denn Gorgias dürfte wohl auch schon ermü-det sein. Denn er hat eben vieles durchgesprochen.

Chairephon: Wie denn, Polos? Glaubst du besser zuantworten als Gorgias?

Polos: Tut das etwas zur Sache, wenn es nur genü-gend ist für dich?

Chairephon: Nein. Nun, da du denn willst, so ant-worte!

Polos: Frage!Chairephon: Ich frage also: Wenn Gorgias die Kunst

verstünde, die sein Bruder Herodikos treibt, wiewürden wir ihn dann mit Recht nennen? Nicht sowie jenen?

Polos: Gewiß.Chairephon: Wenn wir ihn also einen Arzt nennten,

hätten wir ihn recht bezeichnet?Polos: Ja.Chairephon: Wenn er aber die Kunst verstünde, wel-

che Aristophon, der Sohn des Aglaophon, oder

Page 5: (eBook - German) Platon - Gorgias

5Platon: Gorgias

dessen Bruder treibt, welcher Name gebührte ihmdann?

Polos: Offenbar der eines Malers.Chairephon: Nun, da er ja auch eine Kunst versteht,

- welche ist das? Und welchen Namen dürfen wirihm mit Recht beilegen?

Polos: Mein Chairephon, es gibt viele Künste in derWelt, die man aus Erfahrung erfahren gefunden hat.Denn Erfahrung bahnt unserem Leben einen Weggemäß der Kunst; Unerfahrenheit gibt es dem Zu-fall preis. Unter allen diesen Künsten nehmen dieeinen an diesen, andere an jenen, die einen so, dieanderen anders teil, an den besten aber die Besten.Dazu gehört auch unser Gorgias hier, und er hat ander schönsten der Künste teil.

Sokrates: Polos scheint, lieber Gorgias, vortrefflichaufs Reden eingeübt zu sein. Indes hält er demChairephon sein Versprechen nicht.

Gorgias: Wieso denn, lieber Sokrates?Sokrates: Er antwortet, dünkt mich, gar nicht auf die

Frage.Gorgias: Nun, wenn du willst, frage du ihn doch!Sokrates: Nicht doch, wenn dir selbst es gefällig ist

zu antworten; vielmehr würde ich lieber dich fra-gen. Denn aus dem, was Polos gesagt hat, ist mirklar, daß er die sogenannte Redekunst mehr geübthat als die Kunst der Unterredung.

Page 6: (eBook - German) Platon - Gorgias

6Platon: Gorgias

Polos: Wieso denn, Sokrates?Sokrates: Weil du, mein Polos, auf die Frage Chaire-

phons, welche Kunst Gorgias verstehe, seine Kunstanpreisest, als ob ihn jemand tadeln wollte; was sieaber ist, hast du nicht beantwortet.

Polos: Habe ich denn nicht gesagt, daß sie die schön-ste sei?

Sokrates: Jawohl. Aber es fragt dich niemand, wie dieKunst des Gorgias sei, sondern was sie sei und wieman den Gorgias nennen müsse. So wie dir alsovorher Chairephon Beispiele vorlegte und du ihmeine treffende und kurzgefaßte Antwort gabst, sogib auch jetzt an, welches die Kunst ist und wie wirden Gorgias nennen sollen. Oder lieber gib du unsselber an, mein Gorgias, wie man dich nennen sollund welche Kunst es ist, die du verstehst?

Gorgias: Die Rhetorik, lieber Sokrates.Sokrates: Also einen Rhetor soll man dich nennen?Gorgias: Gut so, lieber Sokrates, wenn du mich ja so

nennen willst, wie ich zu heißen mich rühme, wieHomeros sagt.

Sokrates: Freilich will ich das.Gorgias: Nun, schön.Sokrates: Hast du denn wohl auch die Fähigkeit, an-

dere dazu auszubilden?Gorgias: Ich verspreche ja das nicht bloß hier, son-

dern auch an anderen Orten.

Page 7: (eBook - German) Platon - Gorgias

7Platon: Gorgias

Sokrates: Wärst du nun wohl bereit, lieber Gorgias,sowie wir jetzt mit einander reden, fortzufahren,teils fragend, teils antwortend, aber die Art der lan-gen Reden, mit der auch Polos begann, für ein an-dermal aufzusparen? Aber laß dann auch das Ver-sprechen nicht unerfüllt, sondern sei so gut, in kur-zer Rede die Frage zu beantworten!

Gorgias: Einige Antworten, lieber Sokrates, erfordernnotwendig lang ausgedehnte Reden. Indes will ichversuchen, möglichst kurz zu sein. Denn auch dasist eines der Stücke, deren ich mich rühme, daß nie-mand dasselbe in kürzeren Worten sage als ich.

Sokrates: Gerade dessen bedarf es jetzt, lieber Gor-gias. So gib mir denn einen Beweis gerade hiervon,von der kurzen Redeweise, ein andermal aber vonder langen!

Gorgias: Das will ich tun, und du sollst sagen, daßdu keinen in kürzeren Sätzen hast reden hören.

Sokrates: Nun wohlan! Du behauptest ja, die Rheto-rik (Redekunst) zu verstehen und auch einen ande-ren zum Redner machen zu können, - auf was fürDinge bezieht sich die Rhetorik? Wie die Webereisich auf das Arbeiten der Kleider bezieht, - nichtwahr?

Gorgias: Ja.Sokrates: Nicht auch die Musik auf das Schaffen von

Melodien?

Page 8: (eBook - German) Platon - Gorgias

8Platon: Gorgias

Gorgias: Ja.Sokrates: Bei der Hera, lieber Gorgias, deine Antwor-

ten machen mir Freude, weil du in so kurzen Wor-ten wie nur möglich antwortest.

Gorgias: Ja, das mache ich, denke ich, ganz recht so.Sokrates: Allerdings. Wohlan denn, antworte mir so

auch in bezug auf die Rhetorik, auf was für Gegen-stände sich ihr Wissen bezieht?

Gorgias: Auf Reden.Sokrates: Was für Reden denn, lieber Gorgias? Etwa

auf die, deren Inhalt ist, wie die Kranken lebenmüssen, um wieder gesund zu werden?

Gorgias: Nein.Sokrates: Also geht die Rhetorik auch nicht auf alle

Reden?Gorgias: Nein.Sokrates: Aber sie gibt doch die Fähigkeit zu reden?Gorgias: Ja.Sokrates: Nicht auch zu denken über das, worüber sie

zu reden befähigt?Gorgias: Natürlich.Sokrates: Setzt nun auch die Heilkunde, die wir eben

gerade erwähnten, in den Stand, über die Krankenzu denken und zu reden?

Gorgias: Notwendig.Sokrates: Auch die Heilkunde bezieht sich also, wie

es scheint, auf Reden?

Page 9: (eBook - German) Platon - Gorgias

9Platon: Gorgias

Gorgias: Ja.Sokrates: Nämlich auf die über die Krankheiten?Gorgias: Allerdings.Sokrates: Bezieht sich nicht auch die Gymnastik auf

Reden, nämlich über das Wohl- und Übelbefindendes Leibes?

Gorgias: Jawohl.Sokrates: So steht es in der Tat auch, lieber Gorgias,

mit den anderen Künsten. Jede hat es mit Reden zutun, welche sich eben auf diejenigen Objekte bezie-hen, mit welchen sich jede Kunst beschäftigt.

Gorgias: So scheint es.Sokrates: Warum nennst du denn nun eigentlich die

anderen Künste nicht Rhetoriken, da sie doch aufReden sich beziehen, wenn du ja unter Rhetorikeben die Kunst verstehst, welche auf Reden geht?

Gorgias: Weil das ganze Wissen der anderen Künstesozusagen auf Handarbeiten und dergleichen Tätig-keiten sich bezieht, die Rhetorik hat aber nichts mitdergleichen Handarbeit zu schaffen, sondern all ihrTun und Wirken vollzieht sich durch Reden. Des-halb glaube ich die Rhetorik auf Reden beziehen zumüssen, und das, wie ich denke, mit Recht.

Sokrates: Verstehe ich nun, welche Bestimmung duvon ihr geben willst? Gleich werde ich es genauerwissen. Nun antworte: Es gibt Künste? Nichtwahr?

Page 10: (eBook - German) Platon - Gorgias

10Platon: Gorgias

Gorgias: Ja.Sokrates: Unter allen Künsten haben, denke ich, eini-

ge meist eine Arbeit vor und bedürfen der Rede nurwenig, einige gar nicht, der Zweck der Kunst könn-te vielmehr auch unter Schweigen erreicht werden,wie z.B. Malerei, Bildhauerei und viele andere.Solche Künste meinst du wohl, auf die sich, wie dusagst, die Rhetorik nicht beziehe? Oder nicht?

Gorgias: Du hast es ganz richtig gefaßt, lieber Sokra-tes.

Sokrates: Es gibt aber auch andere Künste, welcheihr Ziel ganz durch die Rede erreichen und eine Ar-beit, sozusagen, entweder gar nicht oder doch sehrwenig nötig machen, z.B. Arithmetik (Zahlen-lehre), Rechenkunst, Geometrie, Brettspiel undviele andere Künste; bei einigen von ihnen haltensich Reden und Tun so ziemlich das Gleichge-wicht; bei den meisten überwiegen jene, und ihreganze Tätigkeit und Kraft verwirklicht sich durchReden. Als eine Kunst von dieser Art scheinst dumir die Rhetorik anzusehen.

Gorgias: Da hast du recht.Sokrates: Aber dennoch glaube ich nicht, daß du eine

von diesen als Rhetorik bezeichnen willst, obgleichdu dem Wortlaut nach so gesagt hast, daß diedurch Reden sich verwirklichende Kunst Rhetoriksei, und jemand dir entgegnen könnte, wenn er in

Page 11: (eBook - German) Platon - Gorgias

11Platon: Gorgias

der Untersuchung Schwierigkeiten machen wollte:»Also die Arithmetik, lieber Gorgias, erklärst dufür Rhetorik? Aber ich bin überzeugt, daß duweder die Arithmetik noch die Geometrie für Rhe-torik erklären willst.«

Gorgias: Da hast du recht, lieber Sokrates, und meineMeinung hast du richtig erschlossen.

Sokrates: Wohlan, gib mir nun auch deinerseits dieAntwort auf meine Frage vollständig! Denn da dieRhetorik eine der Künste ist, welche meist sich derRede bedienen, da es aber auch andere der Art gibt,so versuche den Gegenstand anzugeben, auf wel-chen sich die Verwirklichung in der Rede richtenmuß, wenn sie Rhetorik sein soll. Wie wenn michz.B. jemand über eine der Künste fragte, die icheben erst nannte: »Lieber Sokrates, welche Kunstist die Arithmetik?« - so würde ich ihm sagen, wiedu ihm eben, daß sie zu denen gehört, welche durchReden zur Verwirklichung gelangen; und wenn ermich weiter fragte: »Worauf beziehen sich dieseReden?« so würde ich sagen: »Auf das Gerade undUngerade und die Größe, die jedes von beiden je-desmal haben mag.« Wenn er nun weiter fragte:»Welche Kunst nennst du Rechenkunst?« so würdeich ihm antworten: »Auch diese gehört zu denen,welche ganz und gar durch Reden sich darstellen«;und wenn er wiederum fragte: »Worauf beziehen

Page 12: (eBook - German) Platon - Gorgias

12Platon: Gorgias

sich diese?« so würde ich sagen wie die Antragstel-ler in den Volksversammlungen: »Im übrigen ist esmit der Rechenkunst wie mit der Arithmetik, dennsie bezieht sich auch auf dasselbe, das Gerade undUngerade; der Unterschied ist aber der, daß die Re-chenkunst betrachtet, wie sich das Gerade und Un-gerade nach der Größe zu sich und zu einander ver-hält.« Und wenn mich jemand nach der Astronomiefragte infolge meiner Behauptung, daß auch siealles durch Rede zur Darstellung bringt: »Woraufbeziehen sich aber, lieber Sokrates, die Reden derAstronomie?« - wenn er so sagte, würde ich ant-worten: »Auf die Bewegung der Sterne, der Sonneund des Mondes und das Verhältnis ihrer Schnel-ligkeit zu einander.«

Gorgias: Ganz richtig gibst du das an, mein Sokrates.Sokrates: Nun wohlan, tue es auch deinerseits, lieber

Gorgias! Denn die Rhetorik ist ja offenbar eine vonden Künsten, welche alles durch Rede verwirkli-chen und darstellen.

Gorgias: Jawohl.Sokrates: Gib nun an, auf was sie sich beziehen: Was

ist es unter den Dingen, auf das sich die Reden be-ziehen, deren sich die Rhetorik bedient?

Gorgias: Es sind die wichtigsten und edelstenmenschlichen Verhältnisse, lieber Sokrates.

Sokrates: Aber, lieber Gorgias, auch diese

Page 13: (eBook - German) Platon - Gorgias

13Platon: Gorgias

Bestimmung ist zweideutig und noch keineswegsdeutlich. Du hast doch, wie ich glaube, bei Trink-gelagen auch schon Leute das Skolion singen

hören, worin sie singend aufzählen:

Gesundheit ist das Beste,Das zweite schön zu werden,Das dritte, wie der Dichter des Skolion sagt,

Reichtum ohne Betrug?

Gorgias: Freilich, doch wozu führst du das an?Sokrates: Weil auf der Stelle die Meister in den Fä-

chern, welche der Skoliondichter gepriesen hat, vordich treten könnten, ein Arzt, ein Turnlehrer undein Handelsmann, und zuerst würde der Arzt sagen:»Lieber Sokrates, Gorgias täuscht dich; denn nichtseine Kunst bezieht sich auf das für die Menschenwichtigste Gut, sondern die meinige.« Wenn ichnun fragte: »Wer bist du denn, der das sagt?« - sosagte er wohl: »Ein Arzt.« - »Was meinst du also?Ist wirklich das Werk deiner Kunst das größteGut« - »Ei freilich,« würde er erwidern, »lieberSokrates: die Gesundheit. Gibt es ein größeres Gutfür den Menschen als Gesundheit?« - Wenn nunnach diesem der Turnlehrer ebenfalls sagte: »Essollte mich doch auch selber Wunder nehmen, lie-ber Sokrates, wenn Gorgias dir ein größeres Gut

Page 14: (eBook - German) Platon - Gorgias

14Platon: Gorgias

aus seiner Kunst aufzuweisen hat, als ich aus dermeinigen«, so würde ich auch wieder zu ihm sagen:»Wer bist du denn, lieber Mann? und was ist deinWerk?« - »Ein Turnlehrer, und mein Geschäft istes, die Menschen schön und kräftig zu machen amLeibe.« Nach dem Turnlehrer nähme dann der Han-delsmann das Wort, und der würde - das kann ichmir denken - auf alle ändern gar verächtlich nie-derschauen: »Bedenke es doch nur, lieber Sokrates,ob dir irgend ein Gut größer erscheint als derReichtum, sei's in Gorgias' Besitz oder bei irgendsonst einem?« Wir würden nun zu ihm sagen:»Wieso? Bist du dessen Meister?«- »Jawohl.« -»Wer bist du?« - »Ein Handelsmann«. - »Wie?Also nach deiner Meinung ist der Reichtum dasgrößte Gut für den Menschen?« werden wirsagen. - »Natürlich«, wird er erklären. - »Indesunser Gorgias hier streitet ja dafür, daß seine Kunstein größeres Gut erzeuge als die deinige«, würdenwir sagen. Offenbar würde er hiernach fragen:»Und was ist denn das für ein Gut? Das mag Gor-gias beantworten.« - Wohlan denn, sieh dich, lie-ber Gorgias, nicht bloß von jenen als gefragt an,sondern auch von mir, und beantworte, was nachdeiner Meinung das größte Gut für die Menschenist, dessen Meister du seist!

Gorgias: Das, was, lieber Sokrates, in Wahrheit das

Page 15: (eBook - German) Platon - Gorgias

15Platon: Gorgias

größte Gut ist und zugleich die persönliche Freiheitfür die Menschen erwirkt und die Herrschaft überandere jedem in seinem Staate.

Sokrates: Was meinst du denn da?Gorgias: Die Fähigkeit, durch Worte zu überreden,

und zwar vor Gericht die Richter, in der Ratsver-sammlung die Ratsherren, in der Volksversamm-lung die Bürger, und überhaupt in jeder beliebigenVersammlung, welche Versammlung von Bürgernes auch nur geben mag. Jedenfalls wird, wenn du indieser Fähigkeit geübt bist, der Arzt dein Sklavesein und der Turnlehrer auch. Dieser Handelsmannaber, das wird sich offen zeigen, erwirbt für einenanderen und nicht für sich, sondern für dich, der dudie Massen zu überreden verstehst.

Sokrates: Jetzt hast du, dünkt mich, lieber Gorgias,am allernächsten aufgezeigt, was du dir unter derRhetorik denkst, und wenn ich recht verstehe,meinst du, die Rhetorik sei Meisterin in der Über-redung, und ihr ganzes Geschäft und Haupttätigkeitgehe darauf hinaus. Oder weißt du sonst nochetwas zu sagen, das die Rhetorik imstande sei, alsin der Seele der Hörenden Überzeugung zu wirken?

Gorgias: Keineswegs, lieber Sokrates; sondern mirscheint diese Bestimmung ausreichend. Denn dasist wirklich ihre Hauptaufgabe.

Sokrates: Höre denn, lieber Gorgias: Sei nämlich

Page 16: (eBook - German) Platon - Gorgias

16Platon: Gorgias

überzeugt, daß ich, wenn irgend sonst jemand mitanderen sich unterhält in der Absicht, über den Ge-genstand aufgeklärt zu werden, auf welchen sichdie Unterredung bezieht, daß ich mich selbst zudiesen rechnen zu dürfen glaube; ich denke aberauch dich.

Gorgias: Was willst du damit, lieber Sokrates?Sokrates: Ich will es dir eben erklären. Was eigent-

lich die von der Rhetorik zu leistende Überredungist, von der du sprichst, und auf welche Dinge sichdiese Überredung bezieht, das weiß ich nichtgenau; indessen vermute ich, was sie nach deinerAnsicht wohl sein und worauf sie sich beziehenmag. Nichtsdestoweniger will ich dich fragen: Wasverstehst du eigentlich unter der Überredung, dievon der Rhetorik ausgeht, und worauf soll sie sichbeziehen? Warum will ich dich denn fragen, wennich es doch vermute, und sage es nicht gleichselbst? Nicht um deinetwillen, sondern damit dieUntersuchung so fortschreite, wie sie uns am bestenüber den Gegenstand unserer Unterhaltung aufklä-ren könnte. Überlege dann, ob ich dich wohl mitRecht weiter frage, z.B. wenn ich dich etwa fragte:»Was für ein Maler ist Zeuxis?« und du hättest mirgeantwortet, daß er Bilder male, würde ich dichdann nicht mit Recht fragen, was für Bilder ermale, oder nicht?

Page 17: (eBook - German) Platon - Gorgias

17Platon: Gorgias

Gorgias: Jawohl.Sokrates: Nicht eben deshalb, weil es auch andere

Maler gibt, welche viele andere Bilder malen?Gorgias: Ja.Sokrates: Wenn dagegen sonst niemand als Zeuxis

malte, so wäre deine Antwort ganz treffend gewe-sen?

Gorgias: Ei freilich.Sokrates: Wohlan denn, sage mir auch in betreff der

Rhetorik, ob nach deiner Ansicht die Rhetorik al-lein Überredung erzeuge oder auch andere Künste?Das ist aber meine Meinung: wenn jemand eineSache lehrt, überredet er dann in bezug auf den Ge-genstand seiner Lehre oder nicht?

Gorgias: Nein gewiß nicht, lieber Sokrates, ganz ent-schieden überredet er.

Sokrates: Wenn wir nun wieder auf eben dieselbenKünste unsere Aufmerksamkeit richten, von denenwir vorhin erst sprachen, lehrt uns nicht die Arith-metik und der Arithmetiker, wie vielfach sich dieVerhältnisse der Zahl gliedern?

Gorgias: Jawohl.Sokrates: Überredet sie nicht auch?Gorgias: Ja.Sokrates: Also ist auch die Arithmetik eine Meisterin

der Überredung?Gorgias: So scheint es.

Page 18: (eBook - German) Platon - Gorgias

18Platon: Gorgias

Sokrates: Wenn uns also jemand fragte: »WelcherÜberredung, und worauf bezieht sie sich?« - sowerden wir ihm wohl antworten, sie gehöre zurLehre über die Anzahl des Geraden und Ungera-den. So werden wir auch von allen ändern Künsten,welche wir eben erst nannten, nicht bloß die Mei-sterschaft in der Überredung anzugeben wissen,sondern auch die Art derselben und ihr Objekt.

Gorgias: Ja.Sokrates: Also ist nicht bloß die Rhetorik eine Mei-

sterin in der Überredung?Gorgias: Da hast du recht.Sokrates: Da sie nun nicht allein diese Aufgabe er-

füllt, sondern auch andere Künste es tun, so wür-den wir hiernach, wie über den Maler, mit Rechtweiter fragen: was das für eine Überredung ist undauf welche Objekte sie sich bezieht, welche dieKunst der Rhetorik leistet? Oder scheint dir dieseweitere Frage nicht berechtigt?

Gorgias: O jawohl.Sokrates: Antworte denn, mein Gorgias, da auch du

so denkst!Gorgias: Die Überredung also meine ich, welche vor

Gericht und anderen Versammlungen stattfindet,wie ich sie auch eben nannte, und darauf beziehtsie sich, was Recht und Unrecht ist.

Sokrates: Ja, das vermutete ich auch, daß du diese

Page 19: (eBook - German) Platon - Gorgias

19Platon: Gorgias

Überredung meintest, die sich auf diese Dinge be-zöge. Aber - daß du dich nicht wunderst, wenn ichbald nachher eine weitere Frage an dich richte, dieauf der Hand zu liegen scheint, und ich frage dichdoch noch. Denn, wie gesagt, ich frage, um ord-nungsmäßig die Untersuchung zum Ziele zu führen,nicht um deinetwillen; sondern damit wir uns nichtdaran gewöhnen, die Gedanken einander unterzu-schieben und vorwegzunehmen, sondern damit dudie deinen nach deiner Grundansicht vollständigentwickelst, wie es dir gefällt.

Gorgias: Daran tust du, denke ich, ganz recht, meinSokrates.

Sokrates: Wohlan, laß uns auch dies in Erwägungziehen: Sprichst du wohl von Erkannthaben?

Gorgias: Jawohl.Sokrates: Ferner auch von Fürwahrhalten?Gorgias: Gewiß.Sokrates: Ist nun nach deiner Ansicht Erkannthaben

und Fürwahrhalten oder Wissen und Glauben ei-nerlei oder verschieden?

Gorgias: Ich denke, Sokrates, verschieden.Sokrates: Da hast du ganz recht. Das kannst du daran

erkennen: Wenn dich jemand fragte: »Gorgias, gibtes denn einen falschen und wahren Glauben?« - sowürdest du das, denke ich, bejahen?

Gorgias: Ja.

Page 20: (eBook - German) Platon - Gorgias

20Platon: Gorgias

Sokrates: Ferner: Gibt es ein falsches und wahresWissen?

Gorgias: Keineswegs.Sokrates: So ergibt sich auch, daß beide nicht iden-

tisch sind.Gorgias: Da hast du recht.Sokrates: Indes beide, die Wissenden und die Glau-

benden, halten sich doch für überzeugt?Gorgias: Jawohl.Sokrates: Dürfen wir also wohl zwei Arten der Über-

redung aufstellen, von denen die eine zum Glaubenführt ohne Wissen, die andere zur wirklichen Er-kenntnis?

Gorgias: Jawohl.Sokrates: Welche Überzeugung bewirkt nun die Rhe-

torik über Recht und Unrecht vor Gericht und an-deren Versammlungen? Woraus Glauben sich ent-wickelt ohne Wissen, oder woraus das Wissen?

Gorgias: Offenbar doch, lieber Sokrates, woraus dasGlauben kommt.

Sokrates: Also ist die Rhetorik, scheint es, Meisterinin einer auf Glauben, nicht auf Belehrung sichgründenden Überredung über Recht und Unrecht.

Gorgias: Ja.Sokrates: Der Redner versteht es also nicht etwa, die

Gerichte und andere Versammlungen zu belehrenüber Recht und Urrecht, sondern nur ihnen

Page 21: (eBook - German) Platon - Gorgias

21Platon: Gorgias

Glauben beizubringen. Denn eine so große Massekönnte er wohl auch schwerlich in so kurzer Zeitüber so wichtige Dinge belehren.

Gorgias: Gewiß nicht.Sokrates: Wohlan denn, laß uns zusehen, was eigent-

lich unsere Behauptung über die Rhetorik ist: Dennich vermag wirklich selbst noch nicht den Gehaltdes von mir Gesagten zu durchschauen. Wenn dieStadt eine Versammlung hielte zur Wahl von Ärz-ten oder Schiffsbaumeistern oder irgend einer ande-ren Klasse von Handwerksmeistern, - nicht wahr,dann wild der Redner nicht mitraten? Denn offen-bar muß man bei jeder Wahl die besten Sachver-ständigen wählen. Auch nicht, wenn es sich um denBau von Mauern oder Einrichtung von Häfen oderSchiffswerften handelt, sondern die Bauverständi-gen; ferner auch nicht, wenn sich die Beratung aufdie Wahl von Feldherrn oder eine taktische Maßre-gel gegen die Feinde oder die Einnahme von festenPlätzen bezieht, sondern dann werden die strate-gisch, nicht die rhetorisch Gebildeten raten. Oderwie denkst du, lieber Gorgias, über solche Fälle?Denn da du selbst Rhetor zu sein behauptest undandere in der Rhetorik auszubilden versprichst, soist es in der Ordnung, von dir die Leistungsfähig-keit deiner Kunst zu erfragen. Sei aber überzeugt,daß auch ich jetzt nur dein eigenes Interesse

Page 22: (eBook - German) Platon - Gorgias

22Platon: Gorgias

vertrete! Denn vielleicht befindet sich unter denAnwesenden einer, der gern dein Schüler werdenmöchte, wie ich auch wirklich deren, und zwarviele, hier sehe, die vielleicht zu schüchtern sind,um dich selbst zu fragen. Wenn ich dich also frage,glaube auch, in jener Namen gefragt zu sein: »Waswird der Nutzen für uns sein, wenn wir uns dir an-schließen? Worüber werden wir der Bürgerschaftzu raten imstande sein? Nur über Recht oder Un-recht, oder auch über Dinge, wie sie eben geradeSokrates nannte?« Versuche, ihnen darauf zu ant-worten!

Gorgias: Gut; ich will dir, lieber Sokrates, die ganzeBedeutung der Rhetorik genau zu enthüllen versu-chen. Denn du hast mir selbst gut den Weg gewie-sen. Du weißt doch wohl, daß hier die Schiffswerf-ten und die Mauern der Athener und die Einrich-tung der Häfen nach dem Rate des Themistoklesvor sich gegangen ist, zum Teil auch nach dem desPerikles, und nicht nach dem der Sachverständigen.

Sokrates: Man sagt das, lieber Gorgias, von Themi-stokles; den Perikles habe ich selbst gehört, als eruns über die mittlere Mauer einen Rat erteilte.

Gorgias: Wenn es ferner die Wahl gilt von Leuten,die du eben nanntest, so sind es doch, wie dusiehst, die Redner, welche den Vorschlag machenund mit ihrer Meinung darüber durchdringen.

Page 23: (eBook - German) Platon - Gorgias

23Platon: Gorgias

Sokrates: Darüber wundere ich mich auch, lieberGorgias, und frage schon längst, was eigentlich dieBedeutung der Rhetorik sei. Denn wenn ich es soüberlege, scheint sie mir fast von recht über-menschlicher Größe.

Gorgias: Wenn du gar erst alles wüßtest, lieber So-krates, daß sie sozusagen die Kräfte aller anderenKünste in sich zusammenfaßt und sich unterwürfigmacht! Einen entscheidenden Beweis dafür will ichdir mitteilen. Ich bin nämlich schon oft mit meinemBruder und sonstigen Ärzten zu einem Patientenins Zimmer getreten, der entweder keine Arzneinehmen oder sich nicht schneiden oder brennen(operieren) lassen wollte von dem Arzte, und derArzt vermochte ihn nicht zu überreden; da habe ichihn überredet mit keiner anderen Kunst als derRhetorik. Ich behaupte aber auch, wenn in eineStadt, wohin du willst, ein Redner und ein Arztkäme, und es sollte in der Volksversammlung odervor einer anderen Versammlung im Kampfe derRede ausgemacht werden, wer gewählt werdenmüsse, der Redner oder der Arzt, dann werde derArzt durchaus zu keiner Geltung kommen, sondernder tüchtige Redner gewählt werden, wenn er eswollte. Und gelte es den Wettkampf gegen die Mei-ster in irgend sonst einem Beruf, so werde der Red-ner es durchsetzen, daß man ihn wähle, eher als

Page 24: (eBook - German) Platon - Gorgias

24Platon: Gorgias

sonst irgend einer. Denn es gibt nichts, worüber derRedner vor der Menge nicht mit größerer Überzeu-gungskraft reden könnte als irgend sonst ein Sach-verständiger. So umfang- und inhaltreich ist dieBedeutung unserer Kunst. Man muß jedoch, lieberSokrates, von der Rhetorik auch nur wie von jederanderen Kampfart Gebrauch machen. Denn auchdie andere Kampfkunst muß man nicht deswegengegen alle Menschen anwenden, weil man Faust-kampf und Allkampf und Waffenkampf gelernt hat,so daß man darin stärker ist als Freund und Feind.Deshalb darf man aber noch nicht den Freundschlagen, stechen und totschlagen. Und beim Zeus,wenn einer in die Palaistra kommt, der einen kräfti-gen Körper hat und ein tüchtiger Faustkämpfer ge-worden ist, und schlägt nun seinen Vater und seineMutter oder sonst einen Verwandten oder Freund,so darf man deshalb nicht die Turnlehrer undFechtmeister hassen und aus den Städten jagen.Denn sie teilen diesen Menschen die Kunst mit, umsie nach Recht anzuwenden gegen die Feinde undÜbeltäter, um sich zu wehren, - nicht um anzugrei-fen. Sie aber drehen die Sache um und machen vonihrer Stärke und Kunst nicht den rechten Gebrauch.Darum sind aber noch nicht die Lehrmeisterschlecht, und die Kunst nicht schuld noch verwerf-lich, sondern, denke ich, die, welche sie nicht in

Page 25: (eBook - German) Platon - Gorgias

25Platon: Gorgias

rechter Weise üben. Ebendasselbe läßt sich auchvon der Rhetorik sagen. Denn der Redner verstehtes freilich, gegen alle und über alles zu reden.Daher kann er, um es kurz zu sagen, über was erimmer will die Masse besser zu einer Überzeugungbringen als sonst einer. Aber nichtsdestowenigerdarf er deshalb nicht den Ärzten ihre Ehre rauben,weil er das zu bewirken imstande wäre, noch auchden anderen Meistern, sondern nach dem Rechtemuß man sich auch der Rhetorik bedienen, wieauch der Fechtkunst. Wenn aber, meine ich, einerein tüchtiger Redner geworden ist und dann mitdieser Fähigkeit und Kunst Unrecht tut, so darfman seinen Lehrer doch nicht mit Haß verfolgenund aus der Stadt jagen. Denn der hat sie ihm zugerechtem Gebrauche übergeben, dieser aber machtden entgegengesetzten Gebrauch davon. Der also,der sie nicht richtig anwendet, verdient es, daß manihn mit Haß, Verbannung und Tod verfolge, abernicht sein Lehrer.

Sokrates: Ich glaube, auch du, lieber Gorgias, hastüber viele Unterredungen Erfahrungen gemacht unddabei auch selten den Fall erlebt, daß die Leuteleicht über den Gegenstand, den sie gerade sichvorgenommen haben, sich zu unterhalten verstehenund erst, wenn sie die Sache unter einander zurEntscheidung gebracht und sich gegenseitig belehrt

Page 26: (eBook - German) Platon - Gorgias

26Platon: Gorgias

haben, die Unterhaltung aufheben; vielmehr, wennsie sich über etwas streiten und der eine behauptet,der andere habe nicht recht oder drücke sich nichtdeutlich aus, so werden sie unwillig und meinen,andere sagten so aus persönlicher Mißgunst gegensie, weil sie ihre eigene Ehre suchten und nicht diein der Untersuchung vorliegende Sache. Einigegehen zuletzt gar mit Unehren auseinander, indemsie sich beschimpfen und über einander gegenseitigDinge aussprechen, daß sich die Anwesenden umihrer selbst willen ärgern, daß sie solcher Leute Zu-hörer hatten werden wollen. Weshalb sage ich denndas? Weil du, wie mir dünkt, jetzt Dinge vor-bringst, die nicht in Übereinstimmung und Ein-klang stehen mit deiner ersten Angabe über dieRhetorik. Ich fürchte nun dich zu widerlegen, unddaß du etwa annehmest, ich rede nicht aus Eifer fürdie Sache, um sie aufzuklären, sondern gegen dichpersönlich. Wenn du nun zu den Leuten gehörst, zudenen auch ich zähle, so möchte ich dich gern wei-ter fragen; wo nicht, möchte ich es lassen. Zu wel-chen gehöre ich denn? Zu denen, die sich gernmöchten widerlegen lassen, wenn ich nicht rechthabe, und die auch gern widerlegen, wenn sonst je-mand nicht recht haben sollte, die aber gewiß nichtminder gern sich selbst widerlegen lassen als selberwiderlegen. Denn ich halte das für ein größeres

Page 27: (eBook - German) Platon - Gorgias

27Platon: Gorgias

Gut, um so mehr, als es ein größeres Gut ist, selbstvon dem größten Übel frei zu werden, als einen an-deren davon frei zu machen. Denn ich glaube, esgibt für den Menschen kein so großes Übel als einefalsche Meinung über Dinge, denen unsere jetzigeUntersuchung gilt. Wenn nun auch du dir diesenSinn zusprichst, laß uns die Unterredung fortset-zen; wenn du aber meinst, man solle sie auf sichberuhen lassen, - nun gut, so wollen wir die Unter-suchung aufheben.

Gorgias: Nein, lieber Sokrates, ich rechne mich auchzu den Leuten, wie du sie darstellst. Vielleicht soll-te man jedoch auch auf die Meinung der Anwesen-den Rücksicht nehmen. Denn schon lange, ehe ihrkamt, habe ich den Anwesenden vieles vorgetragen,und vielleicht werden wir jetzt zu weit gehen, wennwir die Unterredung fortsetzen. Drum muß manauch auf diese Rücksicht nehmen, damit wir nie-mand abhalten, wenn er etwas anderes vornehmenwollte.

Chairephon: Ihr selbst, lieber Gorgias und Sokrates,hört, wie laut sich der Wunsch dieser Männer äu-ßert, welche gern hören wollen, was ihr etwa zusagen habt. Mich selbst möge fürwahr nie ein sodringendes Geschäft in Anspruch nehmen, daß ichsolche Unterhaltung, die so fein geführt wird, auf-geben und es vorziehen könnte, etwas anderes

Page 28: (eBook - German) Platon - Gorgias

28Platon: Gorgias

vorzunehmen!Kallikles: Bei den Göttern, lieber Chairephon, ich bin

auch gewiß schon bei vielen Untersuchungen zuge-gen gewesen und wüßte doch nicht, daß ich jemalssolches Behagen empfunden hätte wie jetzt! Mirwerdet ihr daher einen Gefallen tun, wenn aucheure Unterhaltung den ganzen Tag dauern sollte.

Sokrates: Nun, lieber Kallikles, von meiner Seitesteht nichts im Wege, wenn Gorgias Lust hat.

Gorgias: Nunmehr, lieber Sokrates, wird es für michauch zur Ehrensache, mich bereit zu zeigen, zumalich selbst jeden aufgefordert habe, zu fragen, waser wolle. Wenn es denn diesen so lieb ist, so fahrefort und frage, was du willst!

Sokrates: Höre denn, Gorgias, worüber ich mich inden von dir ausgesprochenen Behauptungen wun-dere: Vielleicht hast du nämlich doch recht, und ichgehe von einer unrichtigen Annahme aus. Du be-hauptest also, jemanden zum Redner bilden zukönnen, wenn er die Kunst von dir lernen will?

Gorgias: Ja.Sokrates: So doch, daß er über alle Dinge vor dem

großen Haufen überzeugend spricht, nicht beleh-rend, sondern nur überredend?

Gorgias: Jawohl.Sokrates: Demgemäß sagtest du doch, daß der Redner

auch über das Gesunde überzeugender sein werde

Page 29: (eBook - German) Platon - Gorgias

29Platon: Gorgias

als der Arzt?Gorgias: Jawohl, vor der Menge heißt das.Sokrates: Nicht wahr, vor der Menge heißt so viel als

vor Unkundigen? Denn vor den Sachverständigenwird er doch nicht überzeugender reden als derArzt.

Gorgias: Richtig.Sokrates: Wenn er überzeugender reden wird als der

Arzt, wird er doch überzeugender als der Sachver-ständige?

Gorgias: Jawohl.Sokrates: Ohne doch Arzt zu sein. Nicht wahr?Gorgias: Jawohl.Sokrates: Der Nichtarzt versteht doch wohl nichts

von den Dingen, die der Arzt versteht?Gorgias: Offenbar.Sokrates: Der Unkundige wird also vor Unkundigen

überzeugender sein als der Sachverständige, wennes der Redner mehr als der Arzt sein soll. Das istdoch die Folge; oder nicht?

Gorgias: Ja, das folgt daraus.Sokrates: Auch im Verhältnis zu allen übrigen Kün-

sten steht es mit dem Redner und der Rhetorik ge-radeso: Die Dinge selbst braucht sie nicht zu ken-nen nach ihrem Wesen, aber ein Mittel der Überre-dung muß sie gefunden haben, um den Unkundigengegenüber den Schein zu erwecken, als verstehe

Page 30: (eBook - German) Platon - Gorgias

30Platon: Gorgias

man mehr davon als die Sachverständigen.Gorgias: Ist das nicht eine große Erleichterung, lieber

Sokrates, daß man die übrigen Künste nicht zu er-lernen braucht, sondern nur diese eine, um hinterden Sachverständigen nicht zurückzustehen?

Sokrates: Ob der Redner durch dies Verhältnis hinterden anderen zurücksteht oder nicht, wollen wir so-gleich in Erwägung ziehen, wenn es unsere Unter-suchung fördert. Nun aber laß uns erwägen, ob esmit dem rhetorisch Gebildeten auch in betreff vonRecht und Unrecht, von Unsittlich und Sittlich, Gutund Böse ebenso steht wie in bezug auf das Gesun-de und die anderen Dinge, worauf sich die übrigenKünste beziehen, daß er nicht weiß, was gut oderböse ist, oder was sittlich oder unsittlich, oderRecht oder Unrecht, wohl aber das Mittel der Über-redung darüber besitzt, so daß er, ohne sie zu ver-stehen, mehr davon zu verstehen scheint vor Un-kundigen als der Sachverständige? Oder muß erdas verstehen, und muß der, welcher dein Schülerin der Rhetorik werden will, mit dieser Vorbildungzu dir kommen? Wo nicht, wirst du als Lehrer derRhetorik ihn in diesen Dingen nicht belehren. Denndas ist nicht deine Aufgabe. Du wirst ihn aber befä-higen, vor der Menge sich den Schein zu geben, alsverstehe er solche Dinge, ohne sie zu verstehen,und als sei er gut, ohne es zu sein? Oder wirst du

Page 31: (eBook - German) Platon - Gorgias

31Platon: Gorgias

durchaus nicht imstande Sein, ihn die Rhetorik zulehren, wenn er nicht vorher darin die Wahrheit hatkennengelernt? Oder wie steht es damit, lieber Gor-gias? Beim Zeus, teile uns doch unverhüllt, wie dueben sagtest, das eigentliche Wesen der Rhetorikmit!

Gorgias: Ich denke, Sokrates, wenn er es etwa nichtverstehen sollte, wird er auch dies bei mir lernen.

Sokrates: Halt, schon gut. Wenn du jemanden zumRhetor bildest, muß er sich auf Recht und Unrechtentweder schon vorher verstehen oder es später beidir lernen?

Gorgias: Jawohl.Sokrates: Nun denn, wer in Bausachen unterrichtet

ist, ist ein Bauverständiger, oder nicht?Gorgias: Ja.Sokrates: Und in der Musik ein Musikverständiger?Gorgias: Ja.Sokrates: Und in der Heilkunde ein Heilkundiger?

Und auch in anderen Dingen nach dieser Analogie.Wer eine Sache gelernt hat, ist jedesmal das, wasjedesmal die Wissenschaft aus ihm macht?

Gorgias: Jawohl.Sokrates: Hiernach ist gerecht, wer das Recht erlernt

hat?Gorgias: Allerdings.Sokrates: Der Gerechte übt doch das Rechte?

Page 32: (eBook - German) Platon - Gorgias

32Platon: Gorgias

Gorgias: Ja.Sokrates: Also ist der Redner notwendig gerecht, und

der Gerechte will das Rechte üben?Gorgias: Offenbar.Sokrates: Der Gerechte wird gewiß nie ungerecht

handeln wollen?Gorgias: Notwendig.Sokrates: Zufolge dieser Bestimmung muß der Red-

ner notwendig gerecht sein?Gorgias: Ja.Sokrates: Der Redner wird also nie ungerecht sein

wollen?Gorgias: Offenbar nicht.Sokrates: Erinnerst du dich nun, kurz vorher gesagt

zu haben, daß man es den Turnlehrern nicht zumVorwurf machen und sie nicht aus dem Staatejagen dürfe, wenn der Faustkämpfer in der Anwen-dung seiner Kunst Unrecht tue? In eben derselbenWeise dürfe man auch, wenn der Redner die Rheto-rik zum Unrecht gebrauche, nicht seinem Lehrereinen Vorwurf machen und ihn aus dem Staate trei-ben, sondern dem, der das Unrecht begehe und vonder Rhetorik nicht den rechten Gebrauch mache?Ist das gesagt worden, oder nicht?

Gorgias: Ja, das wurde gesagt.Sokrates: Jetzt aber zeigt sich, daß eben dieser Rede-

kundige niemals könne Unrecht tun. Oder nicht?

Page 33: (eBook - German) Platon - Gorgias

33Platon: Gorgias

Gorgias: Ja.Sokrates: In den ersten Bestimmungen, lieber Gor-

gias, hieß es ferner, daß die Rhetorik sich aufReden beziehe, und zwar nicht über das Geradeund Ungerade, sondern über Recht und Unrecht.Nicht wahr?

Gorgias: Ja.Sokrates: Damals, als du dieses sagtest, nahm ich an,

die Rhetorik könne niemals etwas Ungerechtessein, da sich ja ihre Reden auf Gerechtigkeit bezö-gen. Als du aber bald darauf sagtest, daß der Red-ner auch einen unrechten Gebrauch von der Rheto-rik machen könne, so wunderte ich mich; und inder Meinung, die aufgestellten Behauptungenstimmten nicht zusammen, sagte ich die Worte:Wenn du es, wie ich, für einen Gewinn erachtetest,widerlegt zu werden, so müsse man die Untersu-chung fortsetzen, wo nicht, die Sache auf sich beru-hen lassen. Als wir sie nun später in Betrachtzogen, da wird wieder, das siehst du doch auchselbst, zugestanden, der Redekundige könne un-möglich einen schlechten Gebrauch von der Rheto-rik machen und unmöglich Unrecht tun wollen.Wie es nun eigentlich damit stehen mag, das genauzu durchforschen erfordert, beim Hunde, lieberGorgias, eine lange Untersuchung.

Polos: Wie denn, Sokrates? Ist das wirklich dein

Page 34: (eBook - German) Platon - Gorgias

34Platon: Gorgias

Urteil über die Rhetorik, wie du da jetzt angibst?Oder glaubst du, weil Gorgias sich gescheut hat, inAbrede zu stellen, daß der redekundige Mann auchdas Recht kenne und das Edle und Gute, und wenner zu ihm komme, ohne es zu wissen, werde erselbst es ihn lehren, daß dann vielleicht aus diesemZugeständnis irgend ein Widerspruch in seinenReden folge? Hast du ihn doch, worin du dir be-kanntlich gefällst, selbst auf solche Fragen geführt.Denn wer sollte wohl es in Abrede stellen, daß erselbst das Rechte kenne und andere lehren könne?Aber auf derartige Fragen die Untersuchung brin-gen zeigt einen großen Mangel an Bildung.

Sokrates: Freilich, mein allerschönster Polos, suchenwir uns ja darum gerade geflissentlich Freunde zuerwerben und Söhne, damit ihr, wenn wir selbstälter und unsere Schritte unsicher werden, uns zurSeite steht, ihr Jüngeren, und unser Leben in Tatund Wort auf die rechte Bahn bringt. Wenn nunjetzt ich und Gorgias in der Untersuchung einenFehler machen, so bist du da, um ihn wiedergutzu-machen. Das gebührt dir. Ich bin gern bereit, vonden Zugeständnissen, wenn dir eines nicht in derOrdnung scheint, jedes zurückzunehmen, was duwillst, wenn du mir nur auf einen Punkt achtenwillst.

Polos: Was meinst du da?

Page 35: (eBook - German) Platon - Gorgias

35Platon: Gorgias

Sokrates: Wenn du die langen Reden fernhaltenwillst, die du zuerst vorzubringen versuchtest.

Polos: Ei wie? Soll mir es nicht freistehen zu reden,soviel ich will?

Sokrates: Da wärest du freilich schlimm dran, meinBester, wenn du nach Athen gekommen wärest, woin ganz Griechenland am meisten Redefreiheitherrscht, und solltest hier allein der Freiheit verlu-stig werden. Aber stelle doch dagegen: Wenn dulange Reden hältst und auf die Frage nicht antwor-ten willst, sollte denn nicht ich meinerseitsschlimm daran sein, wenn es mir nicht freistehensoll, wegzugehen und dich nicht anzuhören? Wenndu jedoch für die vorgetragene Sache ein Interessehast und sie in Ordnung bringen willst, so nimm,wie ich eben sagte, zurück, was dir beliebt, undsuche durch Fragen und Antworten, wie ich undGorgias, zu widerlegen und laß dich widerlegen!Denn du behauptest doch auch, dasselbe zu verste-hen wie Gorgias, oder nicht?

Polos: O ja.Sokrates: Forderst du nicht auch jeden auf, dich zu

fragen, was jeder will, im Bewußtsein, daß du dichaufs Antworten verstehst?

Polos: Allerdings.Sokrates: So tue denn auch jetzt, was du lieber willst,

frage oder antworte!

Page 36: (eBook - German) Platon - Gorgias

36Platon: Gorgias

Polos: Gut; ich werde das tun. Antworte mir, Sokra-tes: Da Gorgias nach deiner Ansicht wegen derRhetorik in Verlegenheit geraten ist, so sprich:Wofür erklärst du sie?

Sokrates: Fragst du, was für eine Kunst sie nach mei-ner Ansicht sei?

Polos: Jawohl.Sokrates: Gar keine, lieber Polos, um vor dir die

Wahrheit zu sagen.Polos: Aber für was hältst du die Rhetorik?Sokrates: Etwas, was die Kunst hervorbringt, wie du

behauptest in der Schrift, die ich kürzlich gelesenhabe.

Polos: Was meinst du denn?Sokrates: Eine Fertigkeit.Polos: Also eine Fertigkeit scheint dir die Rhetorik zu

sein?Sokrates: Ja, wenn du nicht anders meinst.Polos: Worin denn eine Fertigkeit?Sokrates: In der Erzeugung von Wohlgefallen und

Lust.Polos: Also ist doch, nach deiner Meinung, die Rhe-

torik etwas Schönes, nämlich den Menschen wohl-gefällig sein zu können?

Sokrates: Wie, lieber Polos? Hast du schon von mirerfahren, wofür ich sie halte, daß du danach fragst,ob sie mir nicht schön zu sein dünke?

Page 37: (eBook - German) Platon - Gorgias

37Platon: Gorgias

Polos: Habe ich denn nicht erfahren, daß du sie füreine Fertigkeit erklärst?

Sokrates: Da du auf das Gefälligsein Gewicht legst,willst du mir einen kleinen Gefallen tun?

Polos: Gewiß.Sokrates: Frage mich, was für eine Kunst mir das Ko-

chen zu sein scheine!Polos: Gut denn: was für eine Kunst ist das Kochen?Sokrates: Gar keine, lieber Polos.Polos: Sondern? Sprich!Sokrates: Gut: eine Fertigkeit.Polos: Worin? Sprich!Sokrates: Gut: in der Erzeugung von Wohlgefallen

und Lust, lieber Polos.Polos: Ist also Kochen ein und dasselbe mit der Rhe-

torik?Sokrates: Keineswegs; sondern ein Teil derselben Be-

schäftigung.Polos: Welche meinst du da?Sokrates: Daß es nur nicht gar zu großen Mangel an

Bildung verrät, die Wahrheit zu sagen! Ich scheuemich, es zu sagen, wegen des Gorgias, daß er etwaglaube, ich wolle sein Geschäft lächerlich machen.Ich weiß aber nicht, ob das diejenige Rhetorik ist,womit sich Gorgias beschäftigt. Denn aus der Un-tersuchung eben ward uns nicht klar, was er eigent-lich dafür hält. Was ich aber die Rhetorik nenne,

Page 38: (eBook - German) Platon - Gorgias

38Platon: Gorgias

ist ein Teil einer Sache, die nicht zu dem Schönengehört.

Gorgias: Welcher, lieber Sokrates? Sag's nur undscheue dich nicht vor mir!

Sokrates: Sie ist, wie mir scheint, lieber Gorgias, eineBeschäftigung, die zwar nicht kunstmäßig ist, abereine gewandte, mutige und von Natur zum Umgangmit Menschen befähigte Seele erfordert. IhreHaupttätigkeit nenne ich Schmeichelei. Diese Be-schäftigung enthält nach meiner Ansicht viele ande-re Teile; einer davon ist auch das Kochen. Dieseshält man zwar für eine Kunst, aber nach meinerAnsicht ist es keine Kunst, sondern eine durchÜbung gewonnene Fertigkeit. Als Teile dieser Be-schäftigung bezeichne ich auch die Rhetorik, diePutzkunst und Sophistik, diese vier Teile für vierObjekte. Wenn nun Polos nachfragen will, so mager nachfragen. Denn er hat noch nicht erfahren,welchen Teil der Schmeichelei ich unter der Rheto-rik verstehe; vielmehr ist es ihm entgangen, daß ichdarauf noch nicht geantwortet habe; er aber fragtzu, ob ich sie nicht für etwas Schönes erkläre. Ichwill ihm aber nicht eher beantworten, ob ich dieRhetorik für etwas Schönes oder Häßliches halte,ehe ich ihm erst beantwortet habe, was sie ist.Denn das gebührt sich nicht, mein Polos. Wenn dues nun erfahren willst, so frage, was für einen Teil

Page 39: (eBook - German) Platon - Gorgias

39Platon: Gorgias

der Schmeichelei ich unter Rhetorik verstehe?Polos: So frage ich denn, und du antworte, was für

ein Teil sie ist!Sokrates: Ob du wohl meine Antwort verstehst? Die

Rhetorik ist nämlich nach meiner Ansicht einSchattenbild eines Teiles der Politik.

Polos: Wie nun? Erklärst du sie für etwas Schönesoder Häßliches?

Sokrates: Ich für etwas Häßliches. Denn das Schlech-te nenne ich häßlich; wenn ich dir denn antwortensoll, als hättest du schon verstanden, was ichmeine.

Gorgias: Beim Zeus, mein Sokrates, ich selbst verste-he nicht einmal, was du meinst.

Sokrates: Natürlich, lieber Gorgias, denn ich sprechemich noch nicht bestimmt aus. Unser Polos hieraber ist jung und rasch.

Gorgias: Nun laß ihn und sage mir, wieso die Rheto-rik ein Schattenbild eines Teiles der Politik seinsoll?

Sokrates: Nun, ich will dir meine Ansicht über dieRhetorik mitteilen. Wenn sie das nicht ist, so wirdmich Polos hier widerlegen. Du unterscheidestdoch Leib und Seele?

Gorgias: Natürlich.Sokrates: Nicht wahr, es gibt doch auch ein Wohlbe-

finden dieser beiden?

Page 40: (eBook - German) Platon - Gorgias

40Platon: Gorgias

Gorgias: Ja.Sokrates: Ferner auch ein scheinbares Wohlbefinden,

das in Wahrheit nichtig ist? Ich meine zum Bei-spiel so etwas: viele scheinen sich leidlich wohl zubefinden, und doch könnte nicht leicht jemand be-merken, daß es nicht so mit ihnen steht, als einArzt und ein Lehrer der Gymnastik.

Gorgias: Sehr wahr.Sokrates: So etwas ist, meine ich, im Leib und in der

Seele, was den Schein des Wohlbefindens in Leibund Seele erweckt, während sie sich um nichts we-niger Wohlbefinden.

Gorgias: So ist's.Sokrates: Wohlan denn: ich will dir, wenn es möglich

ist, meine Meinung deutlicher auseinandersetzen.Wie der Objekte zwei sind, nehme ich zwei Künstean. Diejenige, welche sich auf die Seele bezieht,nenne ich Politik; die auf den Leib bezügliche ver-mag ich dir nicht so mit einem Namen zu nennen,aber ich unterscheide an dieser einen Pflege desLeibes zwei Teile, die Gymnastik und die Heilkun-de. In der Politik bezeichne ich als Gegenstück derGymnastik die Kunst der Gesetzgebung, und alsGegenstück der Heilkunde die Gerechtigkeits-pflege. Natürlich haben jedesmal zwei von ihnenwegen ihrer Beziehung auf dasselbe Objekt einigesmit einander gemein, die Heilkunde mit der

Page 41: (eBook - German) Platon - Gorgias

41Platon: Gorgias

Gymnastik und die Gerechtigkeitspflege mit derKunst der Gesetzgebung. Aber sie unterscheidensich dennoch von einander. Indem es nun diese vierTeile gibt und diese immer auf das Beste ihre Pfle-ge richten, die einen von dem Leibe, die anderenvon der Seele, so nimmt die Schmeichelei dieswahr - ich sage nicht: erkennt es, sondern mutmaßtes - , teilt sich vierfach, hüllt sich unter jeden derTeile und gibt vor, das zu sein, unter was sie sichversteckt, und kümmert sich durchaus nicht um dasBeste, sondern macht je mit dem AngenehmstenJagd auf den Unverstand und täuscht ihn, so daßsie einen sehr hohen Wert zu haben scheint. Unterdie Heilkunde hat sich das Kochen versteckt undgibt vor, die besten Speisen für den Leib zu wis-sen. Wenn daher ein Koch und ein Arzt unter Kin-dern oder vor Männern, die unverständig sind wiedie Kinder, mit einander streiten sollten, wer sicham besten auf die guten und schlechten Speisenversteht, der Arzt oder der Koch, so müßte der ArztHungers sterben. Das aber nenne ich Schmeichelei,und so etwas halte ich für häßlich, lieber Polos -denn das sage ich zu dir -, weil sie nach dem An-genehmen strebt mit Ausschluß des Besten. AlsKunst bezeichne ich sie aber nicht, sondern als Fer-tigkeit, weil sie keine Rechenschaft über die natür-liche Beschaffenheit der Mittel zu geben weiß,

Page 42: (eBook - German) Platon - Gorgias

42Platon: Gorgias

welche sie anwendet, so daß sie die Ursache zujedem Einzelnen nicht anzugeben weiß. Ich abernenne etwas, was ohne Bewußtsein des Grundesist, nicht eine Kunst. Wenn du hierüber andererMeinung bist, so bin ich bereit, dir darüber Redezu stehen.

Der Heilkunde also schiebt sich, wie ich sage,die kochkundige Schmeichelei unter; der Gymna-stik nach derselben Norm die Putzkunde mit ihremboshaften, trugvollen, unedlen und unwürdigenWesen, und täuscht in Formen und Farben mit Po-litur und Gewandung, so daß sie die Leute dazuverlockt, eine geborgte Schönheit sich anzulegenund die durch die Gymnastik erzeugte echte zu ver-nachlässigen. Um nun nicht weitschweifig zu wer-den, will ich dir es deutlich machen nach Art derMathematiker - denn vielleicht magst du schon fol-gen: Wie sich die Putzkunde zur Gymnastik ver-hält, so das Kochen zur Heilkunst; oder besser so:wie die Putzkunde zur Gymnastik, so die Sophistikzur Gesetzgebungskunst, und wie das Kochen zurHeilkunst, so die Rhetorik zur Rechtspflege. Wasich meine, ist nämlich: so groß ist nach ihremWesen ihr Abstand von einander; weil sie aber äu-ßerlich nahe stehen, so vermengen sich Sophistenund Rhetoren in demselben Gebiet und in bezugauf dieselben Objekte und wissen weder selbst, wie

Page 43: (eBook - German) Platon - Gorgias

43Platon: Gorgias

sie sich stellen sollen, noch wissen die anderenMenschen etwas mit ihnen anzufangen. Denn wennnicht die Seele über den Leib herrschte, sondern erselbst über sich, und das Kochen und die Heilkunstnicht von jener gesichtet und geschieden würde,sondern der Leib selbst nach dem Maßstab seineseigenen Wohlgefallens entschiede, dann hätte, meinlieber Polos, der Satz des Anaxagoras - denn dukennst das ja - eine weite Geltung: Alte Dingemengten sich dann zusammen in demselben Ge-biete, und es wäre kein Unterschied zwischen Din-gen der Heilkunde, Gesundheit und der Koch-kunde. Was ich nun unter der Rhetorik verstehe,hast du gehört: ein Gegenstück der Kochkunst fürdie Seele, wie jene für den Leib ist. Vielleicht nunhabe ich darin ungeschickt gehandelt, daß ich dichkeine langen Vorträge halten ließ und doch selbstmeine Rede weit ausgedehnt habe. Man muß mirdas nachsehen; denn als ich kurz sprach, verstan-dest du mich nicht und warst nicht imstande, mitder Antwort, die ich dir gab, etwas anzufangen,sondern bedurftest einer weiteren Auseinanderset-zung. Wenn ich nun auch mit deiner Antwort nichtsanzufangen weiß, dann dehne auch deinen Vortragaus; wenn ich es aber weiß, so laß mich gewähren!Denn so gebührt es sich. Und wenn du jetzt mitdieser Antwort etwas anzufangen weißt, so tue es!

Page 44: (eBook - German) Platon - Gorgias

44Platon: Gorgias

Polos: Was meinst du also? Du hältst die Rhetorikfür Schmeichelei?

Sokrates: Ich sagte, für einen Teil der Schmeichelei.Du aber entsinnst dich dessen nicht, obwohl dunoch so jung bist, mein Polos? Was soll darauswerden?

Polos: Scheinen dir etwa die guten Redner in demStaat wie Schmeichler für schlecht zu gelten?

Sokrates: Richtest du da eine Frage an mich, odersprichst du den Anfang eines Vertrags?

Polos: Ich frage dich.Sokrates: Wie mir dünkt, gelten sie gar nicht einmal

etwas.Polos: Wieso gelten nicht? Haben sie nicht die größte

Macht im Staate?Sokrates: Nein, wenn du das Macht haben für etwas

Gutes hältst für den, der sie hat.Polos: Ja, freilich meine ich das.Sokrates: Unter den Machthabern im Staate also

scheinen mir die Rhetoren die geringste Macht zubesitzen.

Polos: Wie? Töten sie nicht, wie die Tyrannen, wensie wollen, nehmen Vermögen weg und vertreibenaus dem Staate, wie ihnen gut dünkt?

Sokrates: Beim Hunde! Ich weiß doch bei jedemSatz, lieber Polos, den du sprichst, nicht, ob du dasselbst sagst und deine eigene Meinung darstellen

Page 45: (eBook - German) Platon - Gorgias

45Platon: Gorgias

willst, oder ob du mich fragst.Polos: Ja, freilich frage ich dich.Sokrates: Nun gut, mein Lieber: Dann tust du zwei

Fragen zugleich an mich.Polos: Wieso zwei?Sokrates: Sagtest du nicht eben ungefähr, daß die

Redner töten, wen sie wollen, wie die Tyrannen,und Vermögen wegnehmen und aus dem Staatevertreiben, wen ihnen gut dünkt?

Polos: Jawohl.Sokrates: Ich sage dir also, daß das zwei Fragen sind,

und werde dir auf beide antworten. Ich meine näm-lich, lieber Polos, die Redner und die Tyrannenhaben in dem Staate höchst geringe Macht, wie icheben erst sagte. Denn sie tun eigentlich nichts vondem, was sie wollen; sie tun jedoch, was ihnen ambesten zu sein scheint.

Polos: Heißt das nicht große Macht haben?Sokrates: Nein, wie Polos behauptet.Polos: Ich leugnete das? Ich behaupte es ja gerade.Sokrates: Beim -, du nicht, da du große Macht für

ein Gut erklärtest für den, der sie hat.Polos: Ja, das meine ich.Sokrates: Erklärst du sie für ein Gut, wenn jemand

das tut, was ihm am besten zu sein dünkt, ohne daßer Verstand hat? Nennst du das große Machthaben?

Page 46: (eBook - German) Platon - Gorgias

46Platon: Gorgias

Polos: Nein doch.Sokrates: Wirst du mich nun widerlegen und bewei-

sen, daß die Redner Verstand haben und die Rheto-rik eine Kunst ist und keine Schmeichelei? Wenndu mich aber unwiderlegt lassen wirst, so werdendie Redner, welche in dem Staate tun, was ihnengut dünkt, und die Tyrannen darin kein Gut besit-zen, wenn ja die Macht, wie du sagst, ein Gut ist,während du doch auch zugibst, daß das Tun ohneVerstand ein Übel sei. Oder nicht?

Polos: Ja.Sokrates: Wie könnten nun die Redner oder Tyrannen

in dem Staate große Macht besitzen, wenn nichtdem Sokrates von Polos nachgewiesen wird, daßsie tun, was sie wollen?

Polos: Dieser Mann -Sokrates: Sie tun, wie ich sage, nicht, was sie wollen.

Widerlege mich doch!Polos: Gestandest du nicht eben zu, sie täten das, was

ihnen das Beste zu sein dünke?Sokrates: Auch jetzt gebe ich es zu.Polos: Tun sie also nicht, was sie wollen?Sokrates: Nein.Polos: Und tun doch, was ihnen gut dünkt?Sokrates: Ja.Polos: Das sind schreckliche, unbegreifliche Reden,

mein Sokrates.

Page 47: (eBook - German) Platon - Gorgias

47Platon: Gorgias

Sokrates: Gehe nicht so hart mit mir um, o hoch-gelobter Polos, um dich nach deiner Weise anzure-den; sondern wenn du mich zu fragen weißt, sozeige, daß ich im Irrtum bin; wo nicht, antworteselbst!

Polos: Gut, ich will antworten, um doch auch zu er-fahren, was du meinst.

Sokrates: Wollen also nach deiner Meinung die Men-schen jedesmal das, was sie gerade tun, oder das,um deswillen sie die Tätigkeit üben? Zum Beispielwollen diejenigen, die Arzneien einnehmen nachdem Gebote des Arztes, wollen sie das, was sie tun,nämlich Arznei einnehmen und Schmerzen haben,oder das, um deswillen sie einnehmen, die Gesund-heit?

Polos: Offenbar die Gesundheit, um deswillen sie ein-nehmen.

Sokrates: So ist auch bei den Seefahrern und denen,die sonst einem Erwerbe nachgehen, nicht das derGegenstand des Wollens das, was sie gerade tun, -denn wer will auf der See fahren. Gefahren aus-stehn und in Not sich befinden? - sondern das,denke ich, wollen sie, um deswillen sie die See be-fahren: reich werden. Denn um des Reichtums wil-len machen sie Seereisen.

Polos: Jawohl.Sokrates: Nicht wahr, so ist's auch in allen Stücken?

Page 48: (eBook - German) Platon - Gorgias

48Platon: Gorgias

Wenn jemand etwas um eines Zweckes willen tut,so will er nicht die Tätigkeit, sondern den Zweck,um deswillen er tätig ist?

Polos: Ja.Sokrates: Gibt es nun irgend etwas, was nicht entwe-

der gut ist oder böse, oder ein Mittleres zwischenbeiden, weder gut noch böse?

Polos: Ganz notwendig muß einer der fälle stattfin-den, lieber Sokrates.

Sokrates: Nicht wahr, für ein Gut erklärst du Weis-heit, Gesundheit, Reichtum und anderes der Art,für Übel aber ihr Gegenteil?

Polos: Ja.Sokrates: Unter dem Mittleren zwischen Gut und

Böse verstehst du doch solche Dinge, welche bis-weilen am Guten teil haben, bisweilen am Bösen,bisweilen an keinem von beiden, z.B. sitzen,gehen, laufen, eine Seefahrt machen, und anderer-seits z.B. auch Steine, Holz und anderes der Art?Meinst du das nicht? Oder verstehst du etwas ande-res unter dem Mittleren zwischen Gut und Böse?

Polos: Nein, sondern das.Sokrates: Tut man nun dies Mittlere, wenn man es

tut, wegen des Guten, oder das Gute um des Mittle-ren willen?

Polos: Natürlich das Mittlere um des Guten willen.Sokrates: Im Streben nach dem Guten also gehen wir,

Page 49: (eBook - German) Platon - Gorgias

49Platon: Gorgias

wenn wir gehen, weil wir meinen, es sei so gut, undbleiben andererseits stehen, wenn wir stehen blei-ben, um desselben willen, nämlich um des Gutenwillen, oder nicht?

Polos: Ja.Sokrates: Nicht wahr, wenn wir einen töten, töten wir

ihn auch, vertreiben ihn, nehmen ihm sein Vermö-gen, in der Meinung, es sei vorteilhafter für uns,dies zu tun, als es zu unterlassen?

Polos: Jawohl.Sokrates: Wer also diese Dinge tut, tut sie um des

Guten willen?Polos: Ja.Sokrates: Wir haben also zugestanden, daß wir nicht

das wollen, was wir um irgend eines Zweckes wil-len tun, sondern das Ziel, um deswillen wir es tun.

Polos: Allerdings.Sokrates: Also wollen wir nicht so schlechthin töten

und nicht aus dem Staate vertreiben, noch Vermö-gen wegnehmen; sondern, wenn es nützlich ist,dann wollen wir es tun, wenn es aber schädlich ist,dann nicht. Denn das Gute wollen wir, wie dusagst, aber nicht das, was weder gut noch böse ist,noch auch das Böse. Nicht wahr? Habe ich recht,lieber Polos, oder nicht? - Warum antwortest dunicht?

Polos: Du hast recht.

Page 50: (eBook - German) Platon - Gorgias

50Platon: Gorgias

Sokrates: Wenn wir also das zugeben, - wenn je-mand einen tötet oder aus dem Staate vertreibt oderihm seine Habe nimmt, sei's ein Tyrann, sei's einRedner, in der Meinung, so sei es gut für ihn, wäh-rend es gerade schlecht ist, - der tut doch wohl,was ihm gut scheint? Nicht wahr?

Polos: Ja.Sokrates: Auch was er will, wenn das gerade schlecht

ist? - Warum antwortest du nicht?Polos: Nun, er tut wohl nicht, was er will.Sekretes: Hat so ein Mensch wirklich eine große

Macht in dem Staate da, wenn ja der Besitz großerMacht nach deinem eigenen Zugeständnis ein Gutist?

Polos: Nein.Sokrates: Hatte ich also recht, wenn ich sagte, ein

Mensch könne in einem Staate tun, was ihm gutdünke, und habe doch keine große Macht und tueauch nicht, was er wolle?

Polos: So würdest du also, lieber Sokrates, die Frei-heit, im Staate tun zu können, was dir gut dünkt,nicht lieber nehmen als sie missen, und auch dennicht beneiden, den du einen töten sähest nach ei-genem Gutdünken, oder Vermögen wegnehmen,oder einen ins Gefängnis werfen?

Sokrates: Mit Recht oder Unrecht, wie meinst du?Polos: Wie dem auch sei, ist er nicht in beiden Fällen

Page 51: (eBook - German) Platon - Gorgias

51Platon: Gorgias

zu beneiden?Sokrates: Rede nicht gottlos, lieber Polos!Polos: Warum gar?Sokrates: Weil man die nicht beneiden soll, die nicht

zu beneiden und unglücklich sind; sondern bemit-leiden soll man sie.

Polos: Wie? So steht es nach deiner Meinung mit denMenschen, von denen ich rede?

Sokrates: Allerdings.Polos: Wer also einen tötet nach Gutdünken und mit

Recht tötet, der soll unglücklich sein und bemitlei-denswert?

Sokrates: O nein; aber auch nicht beneidenswert.Polos: Nanntest du ihn nicht eben unglücklich?Sokrates: Den, der mit Unrecht tötet, mein Freund,

und noch bemitleidenswert obendrein; wer es mitRecht tut, den nannte ich nicht beneidenswert.

Polos: Ist denn wohl nicht viel eher der, welcher mitUnrecht umkommt, bemitleidenswert und unglück-lich?

Sokrates: Weniger als der ihn tötete, lieber Polos,und weniger als der mit Recht umkam.

Polos: Wieso denn, Sokrates?Sokrates: So wie nämlich der Übel größtes das Un-

rechttun ist.Polos: Ist denn das wirklich das größte? Ist nicht das

Unrechtleiden größer?

Page 52: (eBook - German) Platon - Gorgias

52Platon: Gorgias

Sokrates: Durchaus nicht.Polos: Du wolltest also lieber Unrecht leiden als tun?Sokrates: Ich wollte keines von beiden. Wenn ich

aber notwendig Unrecht tun oder leiden müßte, sowürde ich das Leiden dem Tun vorziehen.

Polos: Du möchtest also nicht Tyrann sein?Sokrates: Nein, wenn du unter »Tyrannsein« dasselbe

verstehst wie ich.Polos: Nein, ich meine das, was ich eben sagte: Frei-

heit, in dem Staate zu tun, was einem gut dünkt,töten, verbannen, und alles zu tun nach eigenemErmessen.

Sakrales: Mein Trefflicher, laß mich nun reden undgreife mich mit Gründen an: Wenn ich nämlich aufdem Markte, wenn er gedrängt voll ist, einen Dolchunter den Arm nähme und sagte zu dir: »LieberPolos, mir ist kürzlich eine merkwürdige Machtund Herrschaft wie eines Tyrannen zuteil gewor-den. Wenn mir es nämlich gut dünkt, irgend einenvon den Menschen, die du da siehst, gleich auf derStelle zu töten, so wird er fallen nach meinem Be-lieben. Und wenn es mir beliebt, einem den Kopfzu spalten, wird er gleich auf der Stelle gespaltensein, und wenn es mir gefällt, das Kleid aufzu-schlitzen, sofort wird es aufgeschlitzt sein. So großist meine Macht in dem Staate hier.« Wenn du'snun nicht glauben wolltest und ich zeigte dir den

Page 53: (eBook - German) Platon - Gorgias

53Platon: Gorgias

Dolch, so würdest du dann vielleicht sagen: »Lie-ber Sokrates, so könnten alle eine große Machthaben, denn auf diese Weise kann auch ein Hausnach deinem Gutdünken niedergebrannt werdenund die Schiffswerften der Athener, ihre Dreirude-rer und alle Lastschiffe des Staates und der Privat-leute. Aber das ist nicht der Besitz großer Macht,zu tun, was einem gut dünkt.« Oder meinst du?

Polos: Nein - so natürlich nicht.Sokrates: Weißt du anzugeben, warum dir eine solche

Macht nicht behagt?Polos: O ja.Sokrates: Warum denn? Sprich!Polos: Weil notwendig, wer so handelt, Strafe leiden

muß.Sokrates: Ist aber das Strafeleiden nicht ein Übel?Polos: Jawohl.Sokrates: Also stellt sich auch wieder für dich, du

Wunderlicher, heraus, daß nur dann, wenn jemandtut, was ihm gut dünkt, und es folgt für ihn einVorteil, daß nur dann die große Macht ein Gut ist,und das heißt, wie's scheint, allein große Macht.Wo nicht, ist das ein Übel und in Wahrheit eine ge-ringe Macht. Laß uns aber auch folgendes erwägen:Nicht wahr, wir gestehen zu, daß es bisweilen bes-ser ist, das zu tun, wovon wir eben erst redeten,Menschen töten, verjagen und ihres Gutes

Page 54: (eBook - German) Platon - Gorgias

54Platon: Gorgias

berauben, bisweilen aber nicht?Polos: Jawohl.Sokrates: Das wird also, scheint es, von dir und mir

zugestanden.Polos: Ja.Sokrates: Wann ist es nun, nach deiner Ansicht, bes-

ser, es zu tun? Sage, welche Grenzen bestimmstdu?

Polos: Beantworte doch du, lieber Sokrates, eben die-sen Punkt!

Sokrates: Also ich meine, lieber Polos, wenn du eslieber von mir hören willst: Besser ist es, wenn esmit Recht, schlechter, wenn es mit Unrecht ge-schieht.

Polos: Da ist's freilich schwer, dich zu widerlegen!Aber könnte dich nicht schon ein Kind des Irrtumsüberführen?

Sokrates: Ich werde es dann dem Kinde großen Dankwissen, und gleichen Dank dir, wenn du mich wi-derlegst und von der Torheit befreist. Werde janicht müde, einem befreundeten Manne Wohltatenzu erweisen, und widerlege mich!

Polos: Wahrlich, lieber Sokrates, ich brauche dichgar nicht mit alten Tatsachen zu widerlegen. DennEreignisse von gestern und ehegestern genügen zurWiderlegung und zum Beweise, daß viele Men-schen Unrecht tun und doch glücklich sind.

Page 55: (eBook - German) Platon - Gorgias

55Platon: Gorgias

Sokrates: Welche wären denn das?Polos: Du siehst doch den Archelaos da, den Sohn

des Perdikkas, den Herrscher von Makedonien?Sokrates: Wenn auch das nicht gerade, so höre ich

doch von ihm.Polos: Ist er glücklich nach deiner Meinung, oder un-

glücklich?Sokrates: Ich weiß es nicht, mein Polos, denn ich

habe noch keinen Umgang gehabt mit dem Manne.Polos: Wie? Nur im Umgange kannst du es erkennen,

sonst aber von hier aus erkennst du nicht, daß erglücklich ist?

Sokrates: Beim Zeus, nein, wirklich nicht!Polos: Natürlich, Sokrates, wirst du auch behaupten,

nicht zu erkennen, daß der Großkönig glücklichist?

Sokrates: Darin habe ich auch recht. Denn ich weiß janicht, wie es mit seiner inneren Bildung und Ge-rechtigkeit steht.

Polos: Ei? Besteht darin der Inbegriff der Glückselig-keit?

Sokrates: Wie ich meine, ja, lieber Polos. Denn dentugendlichen Mann und das tugendliche Weibnenne ich glücklich, den ungerechten und schlech-ten unglücklich.

Polos: Also nach deiner Ansicht ist der Archelaos un-glücklich?

Page 56: (eBook - German) Platon - Gorgias

56Platon: Gorgias

Sekretes: Wenn er nämlich ungerecht ist, mein Lie-ber.

Polos: Freilich erst recht ungerecht. Hatte er doch aufdie Herrschaft, die er jetzt besitzt, gar kein Recht,da er von einer Mutter stammt, welche Sklavin desAlketas, des Bruders des Perdikkas, war, und demRechte nach wäre er Sklave des Alketas, und wenner Recht tun wollte, so bliebe er Sklave des Alketasund wäre glücklich nach deiner Ansicht. Nun ist eraber ganz erstaunlich unglücklich geworden, da erdas größte Unrecht begangen hat: hat er doch erst-lich diesen seinen Herrn und Oheim kommen las-sen unter dem Verwände, ihm den Thron überge-ben zu wollen, den Perdikkas ihm entrissen hatte,hat ihn bewirtet, trunken gemacht, mit seinem Vet-ter und fast Altersgenossen Alexandros auf einenWagen gesetzt, beide bei Nacht hinausgeschafft,totgeschlagen und beiseite gebracht, und bei allediesem Unrecht hat er es selbst nicht gemerkt, daßer höchst unglücklich geworden ist, und hat die Tatnicht bereut. Ja, bald darauf hat er sein Glück wie-der nicht gründen wollen, indem er seinen echtenBruder, den Sohn des Perdikkas, ein Kind von un-gefähr sieben Jahren, dem der Thron dem Rechtenach gehörte, in Gerechtigkeit auferzogen und ihmden Thron zurückgegeben hätte: sondern in einenBrunnen hat er ihn gestürzt und ersäuft und zu

Page 57: (eBook - German) Platon - Gorgias

57Platon: Gorgias

seiner Mutter Kleopatra gesagt, er sei bei Verfol-gung einer Gans hineingestürzt und umgekommen.Weil er also das größte Unrecht unter den Leutenin Makedonien begangen hat, ist er der Unglückse-ligste unter allen Makedoniern und nicht derGlücklichste, und vielleicht gibt es manchen Athe-ner, Au an der Spitze, der lieber irgend ein andererMakedonier sein möchte als Archelaos.

Sokrates: Ja, zu Anfang unserer Unterredung, lieberPolos, mußte ich dich loben, weil du mir trefflichauf die Rhetorik eingeübt zu sein schienest, wäh-rend du auf die Dialektik keinen Wert gelegt hät-test. Doch jetzt, nicht wahr, das soll der Beweissein, durch den mich auch ein Kind widerlegenkönnte, und ich bin jetzt von dir, wie du meinst,durch diesen Beweis widerlegt, meine Behauptungnämlich, daß glücklich nicht sei, wer Unrecht tue?Woher denn, mein Guter? Wahrlich gar nichts vondem, was du vorbringst, gestehe ich dir zu.

Polos: Ja, du willst nicht; dennoch dünkt es dir dochso, wie ich es sage.

Sokrates: Mein Trefflicher, nach Rhetorenweisesuchst du mich zu widerlegen, wie die, welche vorGericht zu widerlegen glauben. Denn auch dortmeinen die einen die anderen zu widerlegen, wennsie viele angesehene Zeugen für ihre Behauptungenaufstellen, während der Gegner nur einen oder gar

Page 58: (eBook - German) Platon - Gorgias

58Platon: Gorgias

keinen vorbringt. Diese Art von Widerlegung istgar nichts wert im Vergleich zur Wahrheit. Dennbisweilen kann man auch von vielen in Geltungstehenden Leuten durch falsches Zeugnis hintergan-gen werden. In dem, was du eben vortrugst, werdendir fast alle Athener und Fremden beistimmen.Wenn du Zeugen gegen mich aufstellen willst, daßich unrecht habe, werden für dich Zeugnis ablegen,wenn du willst, Nikias, der Sohn des Nikeratos,und seine Brüder mit ihm, von denen die in einerReihe aufgestellten Dreifüße im Dionysostempelstammen; ferner, wenn du willst, Aristokrates, derSohn des Skellias, von dem auch das schöne Weih-geschenk in Pytho stammt; und wenn du's wün-schest, das ganze Haus des Perikles, oder eine an-dere Sippschaft, die du dir aus den hiesigen Ge-schlechtern auslösen magst. Aber ich allein stimmedir nicht bei. Denn du zwingst mich nicht, sondernstellst viele falsche Zeugen gegen mich auf undsuchst mich dadurch vom Boden der wirklichenWahrheit zu verdrängen. Wenn ich aber nicht dichselbst allein als Zeugen aufstelle, der meiner Be-hauptung zustimmt, so will ich nicht glauben, ir-gend etwas der Rede Wertes in der Untersuchung,die wir führen, vor mich gebracht zu haben. Ichglaube aber, auch du hast es nicht, wenn nicht ichEinziger allein für dich zeuge, während du die

Page 59: (eBook - German) Platon - Gorgias

59Platon: Gorgias

anderen alle beiseite läßt. Es gibt nämlich diese Artder Widerlegung, die du mit vielen anderen für einehältst; es gibt aber auch eine andere, die ich mei-nerseits für die rechte halte. Laß sie uns also miteinander vergleichen und erwägen, ob sie sich inder Güte von einander unterscheiden: Denn der Ge-genstand unseres Streites ist ja nichts so gar Unbe-deutendes, sondern gerade das, worin klares Wis-sen besonders zu loben, Nichtwissen zu tadeln ist.Denn der Hauptsache nach handelt es sich darum,zu erkennen oder nicht, wer glücklich ist und wernicht. So meinst du - um was es sich jetzt handelt- gleich von vornherein, ein Mensch könne glück-lich sein, wenn er Unrecht tue und ungerecht sei,wenn du nämlich den Archelaos für ungerechthältst, aber doch für glücklich. Nicht wahr, so sol-len wir doch deine Ansicht annehmen?

Polos: Jawohl.Sekretes: Ich aber halte es für unmöglich. In diesem

einen Stück sind wir verschiedener Meinung. Nungut: Soll er auch dann für glücklich gelten, wenn erfür sein Unrecht die gebührende Strafe erhält?

Polos: Keineswegs, denn in dem Falle würde er jahöchst unglücklich.

Sokrates: Wenn also der Übeltäter keine Strafe erhält,soll er nach deiner Ansicht für glücklich gelten?

Polos: Ja.

Page 60: (eBook - German) Platon - Gorgias

60Platon: Gorgias

Sakrales: Nach meiner Ansicht aber, lieber Polos, istder Übeltäter und Ungerechte in jedem Falle un-glücklich, unglücklicher jedoch, wenn er demRechte nicht genügt und der Strafe nicht verfällt fürsein Vergehen, weniger unglücklich aber, wenn erdem Rechte genügt und der Strafe verfällt vor Göt-tern und Menschen.

Polos: Du suchst ja, Sokrates, lauter ungereimte Be-hauptungen aufzustellen.

Sokrates: Ich will ja auch dich, lieber Freund, zurÜbereinstimmung mit mir zu bringen suchen. Dennich halte dich für meinen Freund. Jetzt ist also derGegenstand unserer Meinungsverschiedenheit fol-gender: Überlege auch du es: Ich sagte doch vorher,das Unrechttun sei schlimmer als Unrechtleiden?

Polos: Jawohl.Sokrates: Du meintest, das Unrechtleiden sei es.Polos: Ja.Sokrates: Und die, welche Unrecht tun, bezeichnete

ich als unglücklich und wurde von dir widerlegt.Polos: Ja, beim Zeus!Sokrates: Wie du nämlich meinst, lieber Polos.Polos: Und darin habe ich doch wohl recht.Sokrates: Du erklärtest aber auch die Unrechttuenden

für glücklich, wenn sie keine Strafe zu erleiden hät-ten.

Polos: Jawohl.

Page 61: (eBook - German) Platon - Gorgias

61Platon: Gorgias

Sokrates: Ich aber erkläre sie für höchst unglücklich,weniger aber die, welche Strafe leiden. Willst duauch das widerlegen?

Polos: Ja, das ist noch schwerer als jenes erste zu wi-derlegen, lieber Sokrates.

Sokrates: O nein, mein Polos, es ist ganz unmöglich.Denn die Wahrheit wird niemals widerlegt.

Polos: Wie meinst du? Wenn ein Mensch, der wider-rechtlich nach der Tyrannenherrschaft strebt, ergrif-fen wird und dann gefoltert, verschnitten, dieAugen werden ihm ausgebrannt, und viele schwereMißhandlungen mannigfaltiger Art werden ihmselbst angetan und seinen Kindern und seinemWeibe, und zuletzt wird er ans Kreuz geschlagenoder in Pech gesotten, - der soll glücklicher sein,als wenn er glücklich durchkommt, Tyrann wirdund als Herrscher in dem Staate bis zu seinemEnde lebt und tut, was er will, beneidet und glück-lich gepriesen von seinen Mitbürgern und von denAusländern? Das soll unmöglich sein zu widerle-gen?

Sokrates: Du willst mir jetzt bange machen, meintrefflicher Polos, ohne mich zu widerlegen, wie duvorhin Zeugen aufriefst. Doch komm meinem Ge-dächtnis ein wenig zu Hilfe: Wenn er widerrecht-lich nach der Tyrannenherrschaft strebt, sagtest du?

Polos: Ja.

Page 62: (eBook - German) Platon - Gorgias

62Platon: Gorgias

Sokrates: Glücklicher also wird niemals einer sein alsder andere, weder der, welcher die Herrschaft wi-derrechtlich sich erworben hat, noch der, welcherStrafe leidet. Denn von zwei Unglücklichen kannkeiner glücklicher sein. Unglücklich ist jedoch der,welcher glücklich durchkommt und die Herrschafterlangt. Was soll das heißen, Polos? Du lachst? Istdas wieder eine andere Art Widerlegung, wenn je-mand seine Meinung ausspricht, ihn auszulachen,aber nicht zu widerlegen?

Polos: Hältst du dich nicht schon für widerlegt, lieberSokrates, wenn du solche Dinge vorbringst, diekein Mensch vertreten möchte? Frage doch einenvon diesen!

Sokrates: Lieber Polos, ich bin kein Staatsmann, undals ich vor einem Jahre in den Rat gewählt war undunsere Phyle den Vorsitz hatte und ich abstimmenlassen mußte, machte ich mich lächerlich undwußte nicht abstimmen zu lassen. Heiße mich alsoauch jetzt nicht die Anwesenden abstimmen lassen;sondern, wenn du keinen besseren Beweis hast alsdiesen, so gib mir einmal, wie ich eben erst sagte,meinerseits Gelegenheit und versuche es einmal aneinem Beweise, wie er nach meiner Ansicht seinmuß! Denn ich weiß für das, was ich sage, nureinen einzigen Zeugen aufzustellen: meinen Gegnerselbst, mit dem ich die Unterredung führe; die

Page 63: (eBook - German) Platon - Gorgias

63Platon: Gorgias

große Masse aber lasse ich laufen, und einen ver-stehe ich zur Abstimmung zu bringen, mit der gro-ßen Masse aber unterrede ich mich gar nicht. Siehalso, ob du mir der Reihe nach Gelegenheit zumBeweise geben und meine Fragen beantwortenwillst. Denn ich glaube ja, daß nicht bloß ich, son-dern auch du und die anderen Menschen das Un-rechttun für ein größeres Übel halten als das Un-rechtleiden, und nicht Strafe zu leiden für ein grö-ßeres Übel als das Erleiden der Strafe.

Polos: Nach meiner Ansicht aber denke weder ich sonoch sonst irgend ein anderer Mensch. Du also zö-gest es vor, lieber Unrecht zu leiden als zu tun?

Sokrates: Auch du und die anderen alle.Polos: Weit gefehlt, weder ich, noch du, noch sonst

jemand.Sokrates: Willst du also antworten?Polos: Jawohl. Denn ich bin begierig zu erfahren,

was du eigentlich vorbringen wirst.Sokrates: Sage mir denn, damit du es erfahrest, wie

wenn ich von vornherein dich fragte: Hältst du,mein Polos, das Unrechttun oder das Unrechtleidenfür ein größeres Übel?

Polos: Ich das Unrechtleiden.Sokrates: Was denn aber für häßlicher Das Unrecht-

tun oder das Unrechtleiden? Antworte!Polos: Das Unrechttun.

Page 64: (eBook - German) Platon - Gorgias

64Platon: Gorgias

Sokrates: Nicht auch für schlechter, wenn für häßli-cher?

Polos: Keineswegs.Sokrates: Ich verstehe. Schön und Gut und Schlecht

und Häßlich hältst du, scheint es, nicht für iden-tisch.

Polos: Nein.Sokrates: Wie aber das? Nennst du alles Schöne, z.B.

Körper, Farben, Gestalten, Stimmen, Beschäftigun-gen, schön, ohne auf etwas Rücksicht zu nehmen?Zum Beispiel zunächst die schönen Körper: nennstdu sie nicht schön entweder nach dem Nutzen, da-nach wozu jeder dienlich ist, oder nach einer Lust,wenn das Anschauen davon den AnschauendenFreude erweckt? Weißt du außerdem noch etwasüber die Schönheit eines Körpers zu sagen?

Polos: Nein.Sokrates: Nennst du nicht auch alles übrige ebenso.

Gestalten und Falben, entweder wegen einer Lustoder eines Nutzens oder um beider willen, schön?

Polos: Ja.Sokrates: Nicht ebenso auch die Stimmen und alles,

was sich auf Musik bezieht?Polos: Ja.Sokrates: Ferner das Schöne, was sich auf Gesetze

und Berufsarten bezieht, fällt doch nicht jenseitsdieser Bestimmung, daß es entweder nützlich sei

Page 65: (eBook - German) Platon - Gorgias

65Platon: Gorgias

oder angenehm oder beides?Polos: Ich denke nicht.Sokrates: Steht's nicht ebenso auch mit der Schönheit

der Wissenschaften?Polos: Jawohl. Ganz treffend bestimmst du jetzt, lie-

ber Sokrates, das Schöne nach der Lust und demGuten.

Sokrates: Nicht auch das Häßliche nach dem Gegen-teil, dem Schmerz und dem Bösen?

Polos: Notwendig.Sokrates: Wenn also unter zwei schönen Dingen das

eine schöner ist, so ist es das, weil entweder einesvon beiden oder beide überwiegen, entweder An-nehmlichkeit oder Nutzen oder beides?

Polos: Jawohl.Sokrates: Und wenn denn unter zwei häßlichen Din-

gen das eine häßlicher ist, so wird es das sein, weilentweder ein Schmerz oder ein Übel bei ihm über-wiegt. Oder ist das nicht notwendig?

Polos: Ja.Sokrates: Wohlan, wie sagten wir eben doch in be-

treff des Unrechttuns und Unrechtleidens? Meintestdu nicht, das Unrechtleiden sei ein größeres Übel,das Unrechttun aber häßlicher?

Polos: Jawohl.Sokrates: Nicht wahr, wenn das Unrechttun häßlicher

ist als das Unrechtleiden, so ist es entweder

Page 66: (eBook - German) Platon - Gorgias

66Platon: Gorgias

schmerzvoller, und der Schmerz überwiegt bei ihm,oder es ist es durch ein Übel, oder beides? Ist dasnicht auch notwendig?

Polos: Allerdings.Sokrates: Laß uns denn zuerst überlegen, ob mit dem

Unrechttun mehr Schmerz sich verknüpft als mitdem Unrechtleiden, und ob die Unrechttuendengrößere Schmerzen haben als die Unrechtleiden-den?

Polos: Das keineswegs, mein Sokrates.Sokrates: Also der Schmerz überwiegt nicht?Polos: Nein.Sokrates: Wenn der Schmerz nicht überwiegt, so

doch auch nicht mehr beide.Polos: Offenbar nicht.Sokrates: Also bleibt nur das andere noch übrig.Polos: Ja.Sokrates: Das Übel.Polos: So scheint es.Sokrates: Wenn nun beim Unrechttun das Übel über-

wiegt, so möchte es doch ein größeres Übel sein alsdas Unrechtleiden.

Polos: Offenbar.Sokrates: Nicht wahr, von den meisten Menschen und

von dir wurde uns vorhin zugestanden, daß das Un-rechttun häßlicher sei als das Unrechtleiden?

Polos: Ja.

Page 67: (eBook - German) Platon - Gorgias

67Platon: Gorgias

Sokrates: Jetzt stellt es sich daher als ein größeresÜbel dar.

Polos: So scheints.Sokrates: Würdest du nun das größere Übel und das

häßlichere dem geringeren vorziehen? Antworteunbedenklich, mein Polos - denn es wird dir nichtsschaden -, sondern gib dich der Untersuchung hinwie einem Arzte und antworte mit Ja oder Nein aufmeine Frage!

Polos: Nein denn, Sokrates.Sokrates: Oder sonst wohl ein Mensch?Polos: Ich glaube nicht; nach dieser Untersuchung

wenigstens.Sokrates: Also hatte ich recht zu behaupten, daß

weder ich noch du noch sonst ein Mensch das Un-rechttun dem Unrechtleiden vorziehen würde. Dennes ist ja ein größeres Übel.

Polos: Offenbar.Sokrates: Du siehst nun, lieber Polos, wenn man den

einen Beweis mit dem anderen vergleicht, daß sienicht ähnlich sind; sondern dir stimmen alle beiaußer mir, mir aber genügt einzig und allein deinZugeständnis und Zeugnis, und ich lasse dich alleinabstimmen, um die anderen aber kümmere ich michnicht. Nun, dieser Punkt mag denn abgetan sein. -Hiernach laß uns den zweiten Punkt unseres Strei-tes betrachten, ob das größte Übel ist, wenn man

Page 68: (eBook - German) Platon - Gorgias

68Platon: Gorgias

für das Unrecht, das man tut, Strafe erleidet, wie dumeintest, oder ob es ein größeres Übel ist, keineStrafe zu erhalten, wie ich meinte. Laß uns das fol-gendermaßen bedenken: Verstehst du dasselbeunter »Strafe erleiden« und »mit Recht gezüchtigtwerden«, wenn man Unrecht tut?

Polos: Ja.Sokrates: Kannst du nun behaupten, daß nicht alles

Gerechte schön ist, sofern es gerecht ist? Überlegees genau und sprich dann!

Polos: Ja, ich denke, lieber Sokrates.Sokrates: Überlege denn auch folgendes: Wenn je-

mand etwas tut, muß dann nicht auch ein Gegen-stand dasein, der von der tätigen Person etwas er-leidet?

Polos: Ich denke wohl.Sokrates: Nämlich das erleidet, was das tätige Sub-

jekt tut, und in der Weise, wie es die Tätigkeit übt?Ich meine z.B.: wenn jemand schlägt, muß dochetwas geschlagen werden?

Polos: Notwendig.Sokrates: Und wenn der Schlagende hart schlägt oder

schnell, so muß auch das geschlagene Objekt indieser Weise geschlagen werden?

Polos: Ja.Sokrates: Das Leiden ist für den Geschlagenen also

der Art, wie es das schlagende Subjekt macht?

Page 69: (eBook - German) Platon - Gorgias

69Platon: Gorgias

Polos: Jawohl.Sokrates: Nicht wahr, wenn jemand brennt, muß auch

etwas gebrannt werden?Polos: Natürlich.Sokrates: Und wenn er stark brennt oder schmerzhaft,

muß auch der gebrannte Gegenstand so gebranntwerden, wie das brennende Subjekt brennt?

Polos: Jawohl.Sokrates: Und wenn jemand schneidet, gilt dasselbe?

Denn es wird etwas geschnitten?Polos: Ja.Sokrates: Und wenn der Schnitt groß oder tief oder

schmerzhaft ist, so trifft ein so bestimmter Schnittden geschnittenen Gegenstand, wie ihn das Schnei-dende vornimmt?

Polos: Offenbar.Sokrates: Sieh denn, ob du im allgemeinen einräumst,

was ich eben über alles sagte: Wie das tuende Sub-jekt etwas tut, so muß es das leidende Objekt lei-den.

Polos: Ja, das gebe ich zu.Sokrates: Nach diesen Zugeständnissen gib an, ob

das Strafebüßen etwas leiden heißt oder tun?Polos: Offenbar, lieber Sokrates, leiden.Sokrates: Nicht wahr, es setzt einen Tuenden voraus?Polos: Natürlich. Nämlich den Züchtiger.Sokrates: Wer aber richtig züchtigt, züchtigt gerecht?

Page 70: (eBook - German) Platon - Gorgias

70Platon: Gorgias

Polos: Ja.Sokrates: Und tut recht, oder nicht?Polos: Ja, recht.Sokrates: Wenn nun der Gezüchtigte Strafe büßt, so

leidet er also gerecht?Polos: Offenbar.Sokrates: Nach unserem. Zugeständnis ist doch das

Gerechte schön?Polos: Jawohl.Sokrates: Von ihnen tut also der eine Schönes, der

andere leidet es, der Gezüchtigte nämlich.Polos: Ja.Sokrates: Nicht wahr, wenn Schönes, auch Gutes?

Denn entweder ist's angenehm oder nützlich.Polos: Notwendig.Sokrates: Also erleidet der, welcher eine Strafe büßt.

Gutes.Polos: So scheint es.Sokrates: Er hat also Nutzen davon.Polos: Ja.Sokrates: Den Nutzen etwa, den ich im Sinne habe?

Wird die Seele besser, wenn sie mit Recht gezüch-tigt wird?

Polos: Wahrscheinlich.Sokrates: Wer Strafe büßt, wird also von einer

Schlechtigkeit der Seele befreit?Polos: Ja.

Page 71: (eBook - German) Platon - Gorgias

71Platon: Gorgias

Sokrates: Etwa von dem größten Übel frei? Erwägedas so: Siehst du im Vermögenszustand eines Men-schen eine andere Schlechtigkeit als Armut?

Polos: Nein, nur Armut.Sokrates: Ferner im Leibeszustand: Würdest du als

Schlechtigkeit bezeichnen Schwäche, Krankheit,Häßlichkeit und dergleichen?

Polos: Jawohl.Sokrates: Gibt es wohl nicht auch in der Seele eine

Schlechtigkeit?Polos: Ei freilich.Sokrates: Verstehst du nicht darunter Ungerechtig-

keit, Unwissenheit, Feigheit und ähnliches?Polos: Jawohl.Sokrates: Also für drei. Vermögen, Leib und Seele,

hast du dreierlei Schlechtigkeiten, Armut, Krank-heit, Ungerechtigkeit, angeführt?

Polos: Ja.Sokrates: Welche dieser Schlechtigkeiten ist die häß-

lichste? Nicht die Ungerechtigkeit und überhauptdie Schlechtigkeit der Seele?

Polos: Jawohl.Sokrates: Wenn nun die häßlichste, dann auch die

schlechteste?Polos: Wie meinst du das, lieber Sokrates?Sokrates: So: Immer hat das Häßlichste den größten

Schmerz oder Schaden oder beides im Gefolge und

Page 72: (eBook - German) Platon - Gorgias

72Platon: Gorgias

ist darum nach den früheren Zugeständnissen dasHäßlichste.

Polos: Allerdings.Sakrales: Das Häßlichste ist doch nach unserem jetzi-

gen Zugeständnis Ungerechtigkeit und jede Art derSchlechtigkeit der Seele.

Polos: Jawohl.Sokrates: So ist sie also am schmerzlichsten und am

meisten mit Schmerz verbunden oder mit Schadenoder beides und darum das Häßlichste?

Polos: Notwendig.Sokrates: Ist nun ungerecht, zügellos, feige und un-

wissend sein schmerzlicher als Armut und Krank-heit?

Polos: Hiernach nicht, lieber Sokrates, denke ich.Sokrates: Also durch einen ungemein großen Schaden

und erstaunlich großes Übel übertrifft die Schlech-tigkeit der Seele das übrige und ist das Allerhäß-lichste, da sie durch Schmerzhaftigkeit nach dei-nem Urteil nicht hervorragt.

Polos: Offenbar.Sokrates: In der Tat, was mit dem höchsten Schaden

verbunden ist, mag doch wohl das größte Übel aufder Welt sein.

Polos: Ja.Sokrates: Die Ungerechtigkeit also und Zügellosig-

keit und die sonstige Schlechtigkeit der Seele ist

Page 73: (eBook - German) Platon - Gorgias

73Platon: Gorgias

das größte Übel der Welt?Polos: Offenbar.Sokrates: Welche Kunst macht nun frei von Armut?

Nicht die des Gelderwerbs?Polos: Ja.Sokrates: Welche von Krankheit? Nicht die Heil-

kunst?Polos: Notwendig.Sokrates: Welche von Schlechtigkeit und Ungerech-

tigkeit? Wenn du es sogleich nicht weißt, so erwä-ge es folgendermaßen: Wohin bringen wir und zuwem die leiblich Kranken?

Polos: Zu den Ärzten, lieber Sokrates.Sokrates: Wohin die Unrecht Tuenden und zuchtlos

Lebenden?Polos: Zu den Richtern, meinst du?Sokrates: Nicht um Strafe zu erleiden?Polos: Ja.Sokrates: Nach dem Maß der Gerechtigkeit züchtigen

doch die rechten Züchtiger?Polos: Offenbar.Sokrates: Die Erwerbskunst also macht frei von

Armut, die Heilkunst von Krankheit, die Rechts-pflege von Zuchtlosigkeit und Ungerechtigkeit.

Polos: Offenbar.Sokrates: Was ist darunter nun am schönsten?Polos: Worunter, meinst du?

Page 74: (eBook - German) Platon - Gorgias

74Platon: Gorgias

Sokrates: Erwerbskunst, Heilkunst, Rechtspflege.Polos: Weit voran steht, lieber Sokrates, die Rechts-

pflege.Sokrates: Bewirkt sie nun ihrerseits nicht entweder

am meisten Lust oder Nutzen, oder beides, wennsie doch am schönsten ist?

Polos: Ja.Sokrates: Ist das Geheiltwerden angenehm, und

haben die Patienten Freude daran?Polos: Ich denke, nicht.Sokrates: Aber es ist nützlich. Nicht wahr?Polos: Ja.Sokrates: Denn man wird von einem großen Übel be-

freit. Daher nützt es, sich dem Schmerz zu unter-ziehen und gesund zu werden.

Polos: Natürlich.Sokrates: Wäre das nun in Rücksicht auf den Leib

der glücklichste Mensch, der geheilt wird, oder dervon vornherein nicht krank ist?

Polos: Offenbar, wer gar nicht krank ist.Sokrates: Das ist nämlich, wie es scheint, kein rech-

tes Glück, die Befreiung von einem Übel, sondernvon vornherein gar keines zu haben.

Polos: So ist's.Sokrates: ferner: Wer von zweien mit einem Übel sei

es am Leibe oder der Seele Behafteten ist unglück-licher: wer geheilt und von dem Übel frei wird,

Page 75: (eBook - German) Platon - Gorgias

75Platon: Gorgias

oder wer gar nicht geheilt wird, während er es dochhat?

Polos: Mir scheint, wer nicht geheilt wird.Sokrates: War nicht das Strafeleiden Befreiung vom

größten Übel, der Schlechtigkeit?Polos: Jawohl.Sokrates: Denn sie macht ja besonnen und gerechter,

und das Recht ist eine Heilkunst für die Schlechtig-keit.

Polos: Ja.Sokrates: Am glücklichsten ist also, wer keine

Schlechtigkeit in der Seele hat, denn das ist offen-bar das größte Übel.

Polos: Offenbar.Sokrates: Dann folgt doch der, welcher davon befreit

wird?Polos: So scheint es.Sokrates: Das ist aber der, welcher mit Wort und Tat

gezüchtigt wird und Strafe leidet.Polos: Ja.Sokrates: Am schlechtesten also lebt, wer mit Unge-

rechtigkeit behaftet ist und davon nicht frei wird.Polos: Offenbar.Sokrates: Ist das nicht eben der, welcher das größte

Unrecht begeht und mit der größten Ungerechtig-keit behaftet ist, es aber dahin gebracht hat, daß erweder mit Wort noch Tat gezüchtigt wird noch

Page 76: (eBook - German) Platon - Gorgias

76Platon: Gorgias

Strafe erleidet, ein Zustand, wie du ihn dem Arche-laos und den anderen Tyrannen, Rhetoren und Ge-walthabern zuschreibst?

Polos: So scheint's.Sokrates: Diese haben es ja, mein Bester, ungefähr

ebensoweit gebracht, wie wenn jemand, mit denschwersten Krankheiten behaftet, es dahin bringt,daß er für die Fehler an seinem Leibe nicht Strafeerhält und nicht geheilt wird, weil er sich wie einKind fürchtet vor dem Brennen und Schneiden,weil es weh tut. Oder denkst du nicht auch so?

Polos: Ja.Sokrates: Er weiß wahrscheinlich nicht, was Gesund-

heit heißt und Tüchtigkeit des Leibes. So etwas tundenn auch, scheint es nach unseren jetzigen Zuge-ständnissen, diejenigen, welche der Strafe auswei-chen wollen, lieber Polos; sie sehen auch ihreSchmerzhaftigkeit, für ihren Nutzen aber sind sieblind und wissen nicht, wieviel unglücklicheres ist,mit einer ungesunden, ja innerlich faulen, unge-rechten und ruchlosen Seele behaftet zu sein als miteinem ungesunden Leibe. Darum bieten sie allesauf, um nur nicht Strafe zu leiden und frei zu wer-den von dem größten Übel, schaffen sich Vermö-gen und Freunde und suchen die Kraft der Überre-dung so sehr als möglich sich anzueignen. Wennaber unsere Zugeständnisse wahrhaft begründet

Page 77: (eBook - German) Platon - Gorgias

77Platon: Gorgias

sind, lieber Polos, merkst du wohl die Ergebnisseunserer Untersuchung? Oder sollen wir sie zusam-menstellen?

Polos: Wenn du meinst.Sokrates: Es ergibt sich doch also, daß die Ungerech-

tigkeit und das Unrechttun das größte Übel sind.Polos: Offenbar.Sokrates: Als Befreiungsmittel von diesem Übel

ergab sich jedoch die Strafe?Polos: Wohl.Sokrates: Straflosbleiben aber zeigte sich als Behar-

ren in dem Übel?Polos: Ja.Sokrates: An Größe das zweite der Übel ist also das

Unrechttun. Unrechttun und Straflosbleiben ist aberdas allergrößte und erste der Übel.

Polos: Offenbar.Sokrates: War nicht dies der Gegenstand unseres

Streites, mein Lieber, da du den Archelaos glück-lich priesest, weil er trotz der größten Verbrechenstraflos bleibe; ich aber meinte im Gegenteil, wennArchelaos oder irgend sonst ein Mensch Unrechttue und straflos bleibe, so sei dieser weitaus vorden übrigen Menschen unglücklich, und immer seider Unrechttäter unglücklicher als der Unrechtlei-dende, und der Nichtbestrafte unglücklicher als derBestrafte. War das nicht meine Ansicht?

Page 78: (eBook - German) Platon - Gorgias

78Platon: Gorgias

Polos: Ja.Sokrates: Hat sich nicht ihre Richtigkeit herausge-

stellt?Polos: Wohl.Sokrates: Gut. Wenn demnach das wahr ist. - worin

besteht dann der große Nutzen der Rhetorik? Dennnach den eben zugestandenen Säuen muß man sichselbst vor allem hüten, daß man nicht Unrecht tue,weil man sonst Übel genug davontragen würde.Nicht wahr?

Polos: Jawohl.Sokrates: Wenn man aber gar selbst Unrecht tut oder

ein anderer, den man von Herzen liebt, so muß manselbst freiwillig dahin gehen, wo er so rasch alsmöglich seine Strafe empfangen wird, nämlich zumRichter wie sonst zum Arzte, und muß eilen, daßdie Krankheit der Ungerechtigkeit nicht durch dieLänge der Zeit in die Seele sich einfresse und sieunheilbar mache. Oder was meinen wir dazu, meinPolos, wenn wir ja an den früher gegebenen Zuge-ständnissen festhalten? Muß das nicht so mit jenenzusammenstimmen, anders aber geht es nicht?

Polos: Ja, was sollen wir sagen, lieber Sokrates?Sokrates: Also zur Verteidigung für die Ungerechtig-

keit, sei es die eigene oder die der Eltern oderFreunde oder Kinder oder das Unrecht des Vater-landes, ist uns die Rhetorik nichts nütze, mein

Page 79: (eBook - German) Platon - Gorgias

79Platon: Gorgias

Polos, es sei denn, daß man im Gegenteil annähme,man müsse gerade sich zumeist anklagen, dannaber auch seine Verwandten und alle anderenFreunde, wer von ihnen gerade Unrecht tut, unddürfe das nicht bemänteln, sondern müsse das Un-recht an das Tageslicht bringen, damit man Strafeerleide und gesund werde. Und man müsse auchsich selbst und die anderen nötigen, nicht verzagtzu sein, sondern mit geschlossenen Augen, wiezum Schneiden und Brennen an den Arzt, tapfersich hingeben im Streben nach dem sittlich Guten,ohne Rücksicht auf den Schmerz, und wenn manein Unrecht begangen hat, das Schläge verdient,müsse man sich zum Schlagen darbieten; wenn Ge-fängnis, dazu; wenn eine Geldstrafe, sie zahlen;wenn Verbannung, in Verbannung gehen; wennden Tod, sterben, indem man zuerst sein eigenerAnkläger sei und der übrigen Verwandten und dazudie Rhetorik gebraucht, daß die ungerechten Hand-lungen offenbar werden und sie von dem größtenÜbel frei werden, nämlich von der Ungerechtigkeit.Sollen wir das bejahen oder nicht, mein Polos?

Polos: Das scheint mir allerdings albern, mein Sokra-tes; aber für dich stimmt es freilich vielleicht mitden früher aufgestellten Sätzen.

Sokrates: Nicht wahr, entweder muß man auch jenefür ungültig erklären, oder - dies sind notwendige

Page 80: (eBook - German) Platon - Gorgias

80Platon: Gorgias

Folgen?Polos: Ja, so steht es damit.Sokrates: Wenn man aber im Gegenteil umgekehrt

jemandem Schaden zufügen muß, sei es einemFeinde oder wem sonst, wofern man nur nichtselbst Unrecht erleidet von dem Feinde - denndavor muß man sich hüten-, wenn aber der Feindeinem anderen Unrecht tut, muß man auf jedeWeise, durch Wort und Tat, darauf hinarbeiten,daß er keine Strafe erleide und nicht vor den Rich-ter komme. Kommt er aber vor Gericht, so mußman es dahin bringen, daß der Feind glücklichdurchkommt und keine Strafe erhält, sondern wenner viel Geld geraubt hat, daß er das nicht zurück-gibt, vielmehr es behalte und für sich und die Sei-nigen widerrechtlich und gottlos verbrauche; undhat er todeswürdige Verbrechen begangen, daß ernicht den Tod finde, womöglich niemals, sondernunsterblich bleibe in seiner Schändlichkeit, - wonicht, daß er möglichst lange in dieser Weise fort-lebe. Zu solchen Zwecken, lieber Polos, scheint mirdie Rhetorik brauchbar. Denn für den, der kein Un-recht begehen will, ist meiner Meinung nach ihrNutzen nicht groß, wenn sie ja einen Nutzen hat. Inder früheren Untersuchung hat sich jedoch keinerherausgestellt.

Kallikles: Sage mir, mein Chairephon, meint das

Page 81: (eBook - German) Platon - Gorgias

81Platon: Gorgias

Sokrates im Ernst oder im Scherz?Chairephon: Ich denke wohl, lieber Kallikles, in tie-

fem Ernst. Doch das beste ist, ihn selbst zu fragen.Kallikles: Bei den Göttern, ich bin sehr begierig.

Sage mir, Sokrates, ob du jetzt wohl im Ernstsprichst oder scherzest? Denn wenn du es ernstlichmeinst und das, was du sagst, wahr ist, - nichtwahr, dann wäre unser menschliches Leben ganzverkehrt, und wir tun, scheint es, ganz das Gegen-teil von dem, was wir tun sollten?

Sokrates: Lieber Kallikles, wenn nicht die Menscheneinen Zustand gemein hätten, der sich nur bei demeinen so, bei dem ändern anders äußert, wenn viel-mehr jemand von uns einen ganz eigentümlichen,von dem der anderen ganz verschiedenen Zustandhätte, so wäre es nicht leicht, dem anderen den sei-nigen klarzumachen. Dabei denke ich daran, daßdu und ich jetzt ungefähr in demselben Zustandsind, da wir beide verliebt sind, und jeder zwiefach,ich in des Kleinias Sohn Alkibiades und die Philo-sophie, du aber in den Demos (das Volk) der Athe-ner und den Demos des Pyrilampes. Nun bemerkeich jedesmal, ein so tüchtiger Redner du auch sonstbist, daß du auf alles, was dein Liebling sagt, undwie es nach dessen Meinung sein soll, nichts zuentgegnen vermagst, sondern dich geradezu umkeh-ren läßt. Wenn du in der Volksversammlung redest,

Page 82: (eBook - German) Platon - Gorgias

82Platon: Gorgias

und das Volk der Athener spricht eine andere Mei-nung aus, so wendest du dich und sprichst, wasjenes will, und in ähnlicher Weise geht es dir auchdem jungen Sohn des Pyrilampes da gegenüber.Denn den Plänen und Reden deiner Lieblinge ver-magst du nicht entgegenzutreten. Wenn sich daherjemand über deine Reden wundern sollte, die duimmer von diesen veranlaßt vorbringst, daß sie un-gereimt sind, so würdest du vielleicht sagen, wenndu die Wahrheit sagen wolltest: wenn man nichtdeinen Liebling von diesen Reden abbringe, wer-dest du auch nie von ihnen ablassen. Denke dennauch von mir in anderer Weise so etwas hören zumüssen und wundere dich nicht über meine Reden,sondern bringe meinen Liebling, die Philosophie,davon ab! Denn, mein lieber Freund, sie sprichtimmer, was du jetzt von mir hörst, und ist viel we-niger wankelmütig als die anderen Lieblinge. Dennder Sohn des Kleinias hier spricht bald so, bald so,die Philosophie aber immer dasselbe. Sie sprichtaber das, was dich jetzt befremdet, und du warstdoch selbst auch bei der Untersuchung zugegen.Entweder überzeuge nun jene, wie ich eben sagte,daß nicht das Unrechttun und Straflosigkeit für dasUnrechttun das allerschlimmste Übel ist, oder,wenn du das unwiderlegt lassen willst, - beimHunde, dem Gotte der Ägypter, so wird Kallikles

Page 83: (eBook - German) Platon - Gorgias

83Platon: Gorgias

nicht mit dir übereinstimmen, lieber Kallikles, son-dern in deinem ganzen Leben mit dir im Zwiespaltsein. Und doch, denke ich, mein Bester, ist es bes-ser, meine Leier ist verstimmt und gibt Mißtöne,und ein Chor, den ich anführe, und die meistenMenschen stimmten nicht mit mir, sondern wider-sprächen mir, als daß ich einzig und allein mit mirselbst nicht in Harmonie wäre und mir widersprä-che.

Kallikles: Lieber Sokrates, du treibst doch rechtenMutwillen, gerade wie ein Volksredner. Auch jetztmachst du es so, indem dem Polos gerade dasselbewiderfuhr, dessen er den. Gorgias dir gegenüberanklagte. Denn er sagte doch, als du Gorgias ge-fragt hättest, wenn jemand zu ihm käme, um dieRhetorik zu erlernen, ohne das Recht zu verstehen,ob ihn Gorgias das lehren werde, - da habe jenersich geschämt und es bejaht, wegen der Gewohn-heit der Menschen, es übel aufzunehmen, wennman das verneint. Durch dies Zugeständnis sei ergezwungen worden, sich selbst zu widersprechen.Du aber habest gerade daran deine Freude. Und da-mals machte er, wie mir dünkte, dich mit Recht lä-cherlich. Jetzt aber ist es ihm gerade so ergangen,und ich bin eben darin nicht zufrieden mit Polos,daß er dir zugestanden hat, das Unrechttun sei häß-licher als das Unrechtleiden. Denn infolge dieses

Page 84: (eBook - German) Platon - Gorgias

84Platon: Gorgias

Zugeständnisses wurde er selbst von dir in seinenWorten festgesetzt und zum Schweigen gebracht,weil er sich scheute, seine eigentliche Meinung her-auszusagen. Denn unter dem Vorwande, der Wahr-heit nachzugehen, bringst du in der Tat die Redeauf solche verfängliche, auf das Volk berechneteFragen, was nämlich der Natur nach nicht schönist, wohl aber dem Gesetze nach. Meistenteils je-doch steht das mit einander im Widerspruch, Naturund Gesetz. Wenn nun jemand schüchtern ist undnicht den Mut hat, seine Herzensmeinung auszu-sprechen, so wird er in Widerspruch mit sich hin-eingenötigt. Dies Kunststück hast auch du abge-merkt und weißt damit in der Unterredung zu scha-den, indem du unvermerkt deine Frage nach derNatur richtest, wenn jemand nach dem Gesetzemeint, und bringt er die Sätze der Natur vor, sofragst du nach denen des Gesetzes. Sogleich in die-sen Fragen über Unrechttun und Unrechtleiden be-liebtest du das Gesetz nach der Natur zu verfolgen,während Polos das dem Gesetze nach Häßlicheremeinte. Denn nach der Natur ist alles häßlicher,was auch schlechter ist, nämlich das Unrechtleiden,nach dem Gesetz aber das Unrechttun. Denn dasUnrechtleiden ist nicht der eines Mannes würdigeZustand, sondern eines Sklaven, für den der Todbesser ist als das Leben, weil er nicht imstande ist,

Page 85: (eBook - German) Platon - Gorgias

85Platon: Gorgias

wenn er beleidigt oder gemißhandelt wird, sichselbst zu helfen oder sonst jemandem, den er gernhat. Die Gesetzgeber aber sind, denke ich, dieschwächlichen Menschen und die große Masse! InRücksicht auf sich und ihren eigenen Vorteil gebensie die Gesetze, sprechen sie Lob und Tadel aus.Sie wollen die stärkeren Menschen, welche dieKraft haben, sich Vorteil anzumaßen, einschüch-tern, damit sie es nicht ihnen gegenüber tun, undsagen deshalb, es sei häßlich und ungerecht, sichVorteile anzumaßen, und das versteht man unterUnrechttun, sich Vorteile vor dem ändern anzuma-ßen suchen. Denn sie sind, denke ich, zufrieden,weil sie schwächer sind, wenn sie nur den gleichenTeil behalten. Daher also wird dies durch das Ge-setz als ungerecht und häßlich bezeichnet: das Stre-ben, mehr zu haben als die meisten; und diesesnennt man Unrechttun. Die Natur selbst aber be-weist, daß es gerecht ist, daß der Stärkere mehrhabe als der Schwächere und der Fähige mehr alsder Unfähige. Unter vielen anderen Beweisen hier-für zeigt sie unter den Tieren überhaupt und unterden Menschen in ganzen Staaten und Geschlech-tern; daß das anerkanntes Recht ist, daß der Stär-kere über den Schwächeren herrsche und mehr habeals jener. Denn mit welchem Rechte ist denn Xer-xes gegen Hellas zu Feld gezogen? Oder sein Vater

Page 86: (eBook - German) Platon - Gorgias

86Platon: Gorgias

gegen die Skythen? Oder tausend andere Tatsachender Art könnte man anführen. Aber ich denke, diesehandeln nach der Natur und, beim Zeus, nach demGesetz der Natur, freilich nicht nach dem, das wirwillkürlich aufstellen. Die Besten und Stärkstenaus unserer Mitte nehmen wir von Jugend an herund suchen sie wie Löwen durch Sprüche und Zau-bermittel untertänig zu machen und sagen ihnen,Gleichberechtigung müsse sein, und darin bestehedas Schöne und Gerechte. Wenn aber, glaube ich,ein Mann kommt mit einer hinreichend starkenNatur, der schüttelt das alles ab, durchbricht dieFesseln mit Erfolg, tritt unsere Satzungen, Zauber-sprüche und Formeln und alle die widernatürlichenGesetze zu Boden, und er, der unser Sklave war,tritt offen als unser Herr auf, und da zeigt sich dasRecht der Natur in glänzendem Lichte. Was ich dasage, scheint mir auch Pindaros in dem Liede anzu-deuten, in welchem er sagt:

Das Gesetz, das König ist aller,Der Menschen und Götter zugleich;

und eben davon sagt er:

Es führt herbei heiligend alle GewaltMit mächtiger Hand; redend bezeug' ich es,

Page 87: (eBook - German) Platon - Gorgias

87Platon: Gorgias

Was Herakles tat, denn...... ungekauft.

So ungefähr sagt er, denn ich weiß das Liednicht wörtlich. Er sagt, er habe die Rinder des Ge-ryones weggetrieben, ohne sie zu kaufen und ohnedaß dieser sie ihm schenkte, weil das Recht vonNatur sei, und Rinder und aller Besitz der Schlech-teren und Schwächeren gehöre dem Besseren undStärkeren. So steht es in Wahrheit, und das wirstdu erkennen, wenn du der Philosophie jetzt absa-gen willst und dich höheren Dingen zuwendest. DiePhilosophie, lieber Sokrates, ist ja ganz nett, wennman sie mit Maß treibt in jungen Jahren. Wennman aber weiter sich hinein vertieft, als nötig ist,ist sie das Verderben der Menschen. Denn wennjemand eine edle Natur hat und philosophiert nochüber die rechte Altersstufe hinaus, so muß er not-wendig mit allem unbekannt bleiben, was der zu-künftige tüchtige und angesehene Mann kennenmuß. Denn sie bleiben unbekannt mit den Staats-verhältnissen, mit den Mitteln der Rede, die manim öffentlichen und privaten Verkehr mit Men-schen anwenden muß, mit den menschlichen Nei-gungen und Leidenschaften, und überhaupt durch-aus unbekannt mit der Denk- und Lebensweise derMenschen. Wenn sie nun ein eigenes oder ein

Page 88: (eBook - German) Platon - Gorgias

88Platon: Gorgias

Staatsgeschäft vornehmen sollen, machen sie sichlächerlich, wie, denke ich, andererseits auch dieStaatsmänner, wenn sie sich euren Beschäftigungenund Unterhaltungen zuwenden, sich auch lächerlichmachen. Denn da trifft das Wort des Euripides ein:Jeder leuchtet darin hervor

Und lenkt fein Streben nur daraufUnd müht sich ab des Tages größten Teil darum,Daß er der Allerbeste sei in seinem Fach.

Worin er aber schlecht ist, das meidet er undschmäht er; das andere aber lobt er aus Selbstliebe,weil er darin sich selbst zu loben glaubt. Das besteaber ist wohl, an beiden seinen Teil zu haben. DerPhilosophie so weit mächtig zu sein, als zur Bil-dung gehört, ist schön, und einem jungen Men-schen steht das Philosophieren nicht schlecht.Wenn aber der Mensch schon älter ist und nochphilosophiert, so wird, mein Sokrates, die Sachelächerlich, und mir geht es den Philosophierendengegenüber ganz ähnlich wie mit den Stammelndenund Possentreibenden: Denn wenn ich ein Kindsehe, für das es noch schicklich ist, so zu reden, zustammeln und Possen zu machen, so habe ich esgern, und es scheint mir nett, natürlich und demAlter des Kindes angemessen. Wenn ich aber ein

Page 89: (eBook - German) Platon - Gorgias

89Platon: Gorgias

kleines Kind alle Silben deutlich aussprechen höre,so kommt mir die Sache anstößig vor, es beleidigtmeine Ohren und kommt mir vor wie etwas Knech-tisches. Wenn man aber gar einen Mann stammelnhört oder Possen treiben sieht, so sieht das lächer-lich und unmännlich aus und verdient Schläge. Ge-radeso geht es mir den Philosophierenden gegen-über: Wenn ich bei einem heranwachsenden Jüng-ling Neigung zur Philosophie sehe, so habe ich esgern und halte es für passend, und den Menschenhalte ich für edeldenkend: ja, wer gar keine Philo-sophie treibt, der gilt mir für unedel und für einen,der sich selbst weder je eines schönen noch edlenZieles würdig halten werde. Wenn ich aber gareinen älteren Menschen noch philosophieren sehe,der sich nicht davon losreißen kann, - der Menschverdient, lieber Sokrates, nach meiner AnsichtSchläge. Denn, wie ich eben sagte, die Folge ist,daß dieser Mensch, wenn er auch gute Anlagen hat,unmännlich wird, die Sammelplätze des Staatsle-bens und die Märkte meidet, wo, wie der Dichtersagt, die Männer trefflich sich erweisen; er aberverkriecht sich und muß seine ganze Zukunft mitdrei oder vier halbwüchsigen Jünglingen in einemWinkel flüsternd verleben: ein freies, lautes undeindringendes Wort aber kann er nie von sichgeben. Ich aber, mein Sokrates, meine es mit dir in

Page 90: (eBook - German) Platon - Gorgias

90Platon: Gorgias

hohem Grade freundlich. Nun aber geht es mir etwagerade wie dem Zethos bei Euripides gegenüberdem Amphion, an den ich gerade dachte. Dennmich drängt es, ungefähr Ähnliches zu dir zusagen, wie jener zu seinem Bruder sagt. Du gibstdir keine Mühe, lieber Sokrates, um das, was dueifrig treiben solltest, und willst der Seele so hoch-edler Natur durch ein knabenhaft Gebaren An-sehn feien, und du vermöchtest weder in des Rech-tes Rot die Rede richtig vorzubringen, noch tref-fend und glaubhaft dich auszusprechen, noch füreinen anderen einen ritterlichen Entschluß zufas-sen. Und doch, lieber Sokrates, - werde mir nichtböse; denn ich sage es nur aus Wohlmeinen zudir, - ist es wohl nicht schimpflich, wenn es sosteht, wie mit dir nach meiner Meinung und mitden anderen, die immer die Philosophie zu weittreiben? Denn wenn dich jetzt einer faßte oder ir-gend einen anderen deiner Art, und dich ins Ge-fängnis schleppte und behauptete, du seist schul-dig, ohne daß du es bist, weißt du, daß du nichtsanzufangen wüßtest, sondern würdest schwindligund sperrtest den Mund auf, ohne etwas sagen zukönnen, und wenn du vor Gericht dich stelltest undhättest einen recht schlimmen und durchtriebenenAnkläger, so müßtest du sterben, wenn er dich desTodes schuldig erklären wollte. Und wie doch?

Page 91: (eBook - German) Platon - Gorgias

91Platon: Gorgias

Heißt das weise, mein Sokrates, wenn einen Kunstzum schlechtren Manne machte, den sie wohlbe-gabt empfing, so daß er sich selbst nicht zu helfenvermag und weder sich noch sonst jemand aus dengrößten Gefahren zu erretten, vielmehr von seinenFeinden all sein Vermögen plündern lassen unddurchaus ungeehrt in dem Staate leben muß? Soeinen Menschen kann man, wenn der Ausdruckauch etwas plump klingt, straflos auf die Backeschlagen. Nein, mein Guter, folge mir, laß ab vondem Widerlegen, betritt der Staatsgeschäfte Eh-renbahn und übe, wodurch der Klugheit Ruhm dirwird, und laß den ändern dies gelehrte, soll ichsagen Geplapper oder Narrenzeug, wovon insHaus nichts kommen wird, das du bewohnest, undeifre nicht den Männern nach, die diese Kleinigkei-ten zu widerlegen trachten, sondern denen, welcheReichtum, Ehre und viele andre Güter genießen.

Sokrates: Wenn ich etwa eine goldne Seele hätte, lie-ber Kallikles, sollte ich mich nicht freuen, wenn icheinen von den Steinen fände, womit man das Goldprüft, und zwar den besten, an den ich sie nur zubringen brauchte, um genau zu erfahren, daß esrichtig mit mir steht und daß ich keines anderenPrüfsteins bedarf, wenn jener mir versicherte, daßmeine Seele richtig gebildet sei?

Kallikles: Wozu denn diese Frage, Sokrates?

Page 92: (eBook - German) Platon - Gorgias

92Platon: Gorgias

Sokrates: Das will ich dir eben sagen. Ich denke näm-lich, in dir einen solchen Fund gemacht zu haben.

Kallikles: Wieso?Sokrates: Ich bin überzeugt, wenn du den Ansichten

beistimmst, die meine Seele hegt, daß sie dann dieWahrheit selbst sind. Denn ich denke, wer ordent-lich prüfen soll, ob die Seele richtig lebt oder nicht,der muß dreierlei Vorzüge in sich vereinigen, diedu alle hast: Einsicht, Wohlwollen und Freimut.Denn ich treffe auf viele, die nicht imstande sind,mich zu prüfen, weil sie nicht weise sind wie du.Andere sind wohl weise; aber sie wollen mir dieWahrheit nicht sagen, weil sie kein Interesse fürmich haben, wie du. Diese beiden Fremden aber,Gorgias und Polos, sind weise und mir befreundet;es fehlt ihnen jedoch an Freimut, und sie sind zuverschämt, mehr als sich gebührt; wie sollten sieauch nicht? Haben sie doch das Schämen so weitgetrieben, daß aus Scham jeder von ihnen in Ge-genwart vieler Menschen sich selber geradezu zuwidersprechen wagt, und zwar in höchst wichtigenLebensfragen. Du aber hast das alles, was die an-deren nicht haben: Denn du besitzt hinlänglicheBildung, wie viele Athener sagen würden, und bistwohlwollend gegen mich gesinnt. Auf welchen Be-weis Stütze ich mich dabei? Das will ich dir sagen:Ich weiß, lieber Kallikles, daß ihr vier, du,

Page 93: (eBook - German) Platon - Gorgias

93Platon: Gorgias

Tisandros aus Aphidnai, Andren, der Sohn des An-drotion, und Nausikydes aus Cholargos, in demStreben nach Weisheit euch verbündet habt. Ein-mal habe ich zugehört, wie ihr euch berietet, bis zuwelchem Punkte man die Weisheit üben müsse,und ich weiß, daß unter euch ungefähr diese Mei-nung durchdrang, man dürfe in dem Philosophierennicht bis auf den Grund kommen wollen, sondernihr rietet einander, acht zu haben, daß ihr nichtüber das Maß weise würdet und darüber unver-merkt zugrunde ginget. Da ich nun denselben Ratvon dir höre, den du deinen liebsten Freundengabst, so ist mir das hinlänglich Beweis, daß du esin Wahrheit gut mit mir meinst. Und daß du derMann bist, freimütig zu reden ohne Scheu, sagst duselbst, und deine Rede, was du kurz vorhersprachst, stimmt dazu. So steht es jetzt offenbarhiermit. Wenn du nun in der Untersuchung ineinem Punkte mit mir übereinstimmst, so wird derschon hinlänglich von dir und mir geprüft sein, undman braucht ihn nicht mehr an einen anderen Prüf-stein heranzubringen. Denn du wirst weder ausMangel an Weisheit noch aus übergroßer Schüch-ternheit ein Zugeständnis machen. Andererseitswürdest du es auch nicht tun, um mich zu täuschen.Denn du bist mein Freund, wie du auch selbstsagst. In Wahrheit also wird deine und meine

Page 94: (eBook - German) Platon - Gorgias

94Platon: Gorgias

Übereinstimmung die volle Wahrheit erreichen.Ganz vortrefflich aber, lieber Kallikles, ist die Un-tersuchung über die Punkte, die du eben mir zumVorwurf machtest, wie der Mensch sein und was ertreiben muß und wie weit im Alter und in der Ju-gend. Denn wenn ich in meiner Lebensweise etwasnicht recht mache, so wisse, daß ich nicht mit Ab-sicht fehle, sondern aus Unwissenheit. Wie du nunanfingst, mich zu warnen, so lasse nun nicht ab,sondern zeige mir ordentlich, was ich eigentlichtreiben muß, und auf welche Weise ich es erlangenkönne! Wenn du nun findest, daß ich jetzt mir dirübereinstimme und in späterer Zeit nicht nach demtue, was ich zugestanden habe, so halte mich nurfür einen Tropf und warne mich nie mehr in der Zu-kunft, als dessen unwürdig! Wiederhole mir aberdie Sache von vorn: Wie soll es um das Recht nachder Natur stehn nach Deiner und des Pindaros Mei-nung? Daß der Stärkere mit Gewalt den Besitz derSchwächeren an sich reiße und der Bessere über dieSchlechteren herrsche und der Edlere im Vorteil seivor dem Gemeineren? Soll das nicht das Rechtsein? Oder habe ich es richtig wiedergegeben?

Kallikles: Ja, das sagte ich damals und sage es auchjetzt.

Sokrates: Nennst du denselben besser und stärker?Denn damals war ich nicht imstande, deine

Page 95: (eBook - German) Platon - Gorgias

95Platon: Gorgias

eigentliche Meinung zu erkennen. Nennst du dieMächtigeren stärker, und müssen die Schwächerendem Stärkeren gehorchen? So etwas, denke ich,deutetest du auch damals an, als du sagtest, diegroßen Staaten gingen gegen die kleinen nach demRechte der Natur, weil sie stärker seien und mächti-ger, in der Voraussetzung, daß »stärker«, »mächti-ger« und »besser« identisch sind. Oder kann manbesser sein und doch schwächer und ohnmächtiger;und stärker, aber schlechter? Oder haben »besser«und »stärker« dieselben Grenzen? Eben darübergib eine genaue Bestimmung, ob »stärker«, »bes-ser« und »mächtiger« identisch sind oder verschie-den?

Kallikles: Nun, ich sage dir entschieden, sie sindidentisch.

Sokrates: Ist nicht die Menge von Natur stärker alsder Einzelne? Und sie geben ja gerade die Gesetzefür den Einzelnen, wie du eben auch behauptetest.

Kallikles: Natürlich.Sokrates: Bestimmungen der Menge sind also Be-

stimmungen der Stärkeren?Kallikles: Jawohl.Sokrates: Nicht auch der Besseren? Denn die Stärke-

ren sind bei weitem besser nach deiner Behaup-tung.

Kallikles: Ja.

Page 96: (eBook - German) Platon - Gorgias

96Platon: Gorgias

Sokrates: Sind also nicht die Gesetze dieser vonNatur schön, da sie ja die Stärkeren sind?

Kallikles: Ja.Sokrates: Ist nun das die Annahme der Menge, wie

du eben auch sagtest. Recht sei die Gleichheit, unddas Unrechttun sei häßlicher als das Unrechtleiden?Ja oder nein? Laß dich hierbei ja nicht verschämterfinden! Meint die Menge, die Gleichheit des Be-sitzes und nicht die Bevorzugung Einzelner sei ge-recht, und das Unrechttun sei häßlicher als das Un-rechtleiden, oder nicht? Mißgönne mir die Antwortnicht, Kallikles, damit ich mit deiner Zustimmungvon dir jetzt dessen sicher werde, weil mir dann einMann zugestimmt hat, der zum entscheidenden Ur-teil befähigt ist!

Kallikles: Ja, das ist die Ansicht der Menge.Sokrates: Also ist das Unrechttun nicht nur nach dem

Gesetze häßlicher als das Unrechtleiden, noch dieGleichheit des Besitzes nach dem Gesetze gerecht,sondern auch von Natur. Daher ist, scheint es, indeiner frühem Behauptung unwahr und machst dumir mit Unrecht einen Vorwurf, wenn du behaup-test, Gesetz und Natur bildeten einen Gegensatz,und das wüßte ich auch recht gut, suchte aberdamit in der Unterredung dem Gegner zu schaden,indem ich ihn auf das Gesetz verweise, wenn ernach der Natur meint, und wenn er nach dem

Page 97: (eBook - German) Platon - Gorgias

97Platon: Gorgias

Gesetz meint, auf die Natur.Kallikles: Dieser Mann will seine Narrheiten nicht

lassen. Sage mir, Sokrates, schämst du dich nicht,so alt du bist, auf Worte Jagd zu machen und,wenn jemand im Ausdruck fehlgreift, einen großenFund daraus zu machen? Meinst du denn, ich halte»stärker sein« für etwas anderes als »besser sein«?Sage ich dir nicht schon lange, daß ich »besser«und »stärker« für identisch halte? Oder meinst du,ich halte eben das für Gesetze, wenn sich ein Haufevon Sklaven zusammentut und von allerlei nichts-würdigem Volk, die nur körperliche Kraft besitzen,und diese machen eine Bestimmung?

Sokrates: Gut, mein hochweiser Kallikles, so meinstdu?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Nun, mein Trefflicher, ich vermute selbst

schon längst, daß du »stärker« ungefähr so be-stimmst, und frage dich darum wieder, weil ichdeine Meinung gern genau erfahren möchte. Dennnatürlich hältst du nicht zwei für besser als einen,noch deine Sklaven für besser als dich selbst, weilsie mehr Kraft haben als du. Nun sage mir vonneuem: Wie bestimmst du die Besseren, da du sienicht als die körperlich Kräftigen gelten läßt? Dochbehandle mich sanfter, du Bewundernswürdiger,damit ich dir nicht aus der Schule laufe!

Page 98: (eBook - German) Platon - Gorgias

98Platon: Gorgias

Kallikles: Du hast mich zum besten, lieber Sokrates!Sokrates: Nein, beim Zethos, lieber Kallikles, auf den

du dich beriefst, als du mich eben stark zum bestenhieltest. Nun wohlan, sage: Was verstehst du unterden Besseren?

Kallikles: Die Edleren.Sokrates: Siehst du, nun machst du selbst nur Worte,

ohne eine Erklärung zu geben. Willst du nichtsagen, ob du die Verständigeren darunter verstehst,oder andere?

Kallikles: Ja, beim Zeus, gerade die meine ich ja.Sokrates: Oft ist also ein Verständiger nach deiner

Annahme stärker als Tausende von Unverständi-gen, und der muß herrschen, jene untertänig sein,und der Herrscher muß vor dem Beherrschtenetwas voraus haben. Dies scheinst du mir sagen zuwollen - ich mache keine Jagd auf Worte -, wennder Eine stärker ist als Tausende.

Kallikles: Ja, das ist meine Meinung. Denn das ist,denke ich, das Recht von Natur, daß der Bessereund Verständigere über die Schlechteren herrscheund vor ihnen im Vorteil sei.

Sokrates: Nun halt einmal: Wie meinst du es eigent-lich jetzt wieder? Wenn sich, wie jetzt, an einemOrte unser viele zusammen befänden, und es wärenfür uns gemeinschaftlich viele Speisen und Geträn-ke da, wir aber wären von verschiedener Art, die

Page 99: (eBook - German) Platon - Gorgias

99Platon: Gorgias

einen kräftig von Körper, andere schwach, eineraber unter uns verstände sich darauf als Arzt ambesten, wäre aber, wie es so kommt, kräftiger alsdie einen, schwächer als die anderen, - nicht wahr,dann wird dieser in bezug hierauf besser und stär-ker sein als wir, weil er mehr davon versteht?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Soll er nun von diesen Speisen mehr be-

kommen als wir, weil er besser ist, oder soll er,weil er hier zu herrschen hat, alles austeilen, imVerwenden aber der Speisen und im Verbrauchefür den eigenen Leib nichts voraus haben, wenn esihm nicht übel bekommen soll, sondern mehr alseinige, weniger als andere? Wäre er aber zufälligder Allerschwächste, so gebührt ihm, dem Besten,am wenigsten, lieber Kallikles. Nicht so, meinGuter?

Kallikles: Von Speisen sprichst du, Getränken, Ärz-ten und dummem Zeug. Davon rede ich nicht.

Sokrates: Erklärst du denn den Verständigeren fürbesser? Ja oder nein?

Kallikles: Ja.Sokrates: Aber soll nicht der Bessere mehr bekom-

men?Kallikles: Von Speisen und Getränken freilich nein.Sokrates: Ich verstehe; aber vielleicht von Gewän-

dern, und der beste Weber muß den größten Mantel

Page 100: (eBook - German) Platon - Gorgias

100Platon: Gorgias

bekommen und in den meisten und schönsten Klei-dern einhergehen.

Kallikles: Ach was Gewänder!Sokrates: Oder an Schuhen muß der etwas voraus

haben, der sich darauf am besten versteht und derBeste ist. Der Schuhmacher muß wohl in den größ-ten und meisten Schuhen herumwandeln.

Kallikles: Ach was Schuhe! Lauter Unsinn sprichstdu!

Sokrates: Nun, wenn du so etwas nicht meinst, sovielleicht so etwas: Ein Landwirt z.B., der sich aufdas Land versteht und in diesem Fach tüchtig ist,muß vielleicht mehr Samen haben und für seinLand den meisten Samen verbrauchen.

Kallikles: Wie du doch immer dasselbe wiederholst,Sokrates!

Sokrates: Nicht nur das, lieber Kallikles, sondernauch in bezug auf dieselbe Sache.

Kallikles: Bei den Göttern, du redest immer in einemfort von Schustern, Walkern, Köchen und Ärzten,als ob davon die Rede wäre.

Sokrates: Willst du nicht angeben, wovon der Stär-kere und Verständigere mehr bekommen soll, umes mit Recht zu haben? Oder wirst du weder miches vorschlagen lassen, noch es selbst angeben?

Kallikles: Nun, ich sage es schon lange. Unter denStärkeren zunächst verstehe ich nicht Schuster und

Page 101: (eBook - German) Platon - Gorgias

101Platon: Gorgias

Köche, sondern die, welche sich auf die Leitungdes Staates verstehen und wissen, wie er am bestenverwaltet wird, und die nicht nur verständig sind,sondern auch tapfer und imstande, den Gedankenauszuführen, den sie gefaßt haben, und die nichtaus Weichlichkeit der Seele ermatten.

Sokrates: Siehst du, mein bester Kallikles, daß du mirnicht dieselben Vorwürfe machst, die ich dir zumachen habe? Denn du behauptest, ich wiederholeimmer ein und dasselbe, und machst mir das zumVorwurf; ich aber werfe dir gerade umgekehrt vor,daß du nie dasselbe über dieselben Dinge vor-bringst, sondern die Besten und Stärksten zuerst alsdie körperlich Kräftigsten bestimmtest, ein ander-mal aber als die Verständigsten, jetzt aber wiedermit einer anderen Meinung kommst. Tapferer sol-len nach dir die Stärkeren und Besseren sein. Aber,mein Guter, mache, daß du es endgültig sagst, wendu eigentlich unter den Besseren und Stärkeren ver-stehst und in welcher Hinsicht?

Kallikles: Nun, ich habe es ja gesagt: die, welche sichauf die Leitung des Staates verstehen und tapfersind. Denn diesen kommt es zu, über den Staat zuherrschen, und das heißt Recht, daß sie mehr habenals die anderen, nämlich die Herrschenden mehr alsdie Beherrschten.

Sokrates: Wie aber ist's mit ihnen selbst, mein

Page 102: (eBook - German) Platon - Gorgias

102Platon: Gorgias

Freund: herrschen sie oder werden sie beherrscht?Kallikles: Wie meinst du?Sokrates: Ich meine, jeder einzelne herrsche über sich

selbst. Oder ist das nicht nötig, Herrschaft übersich selbst, sondern nur über andere?

Kallikles: Wie meinst du »Herrschaft über sichselbst«?

Sokrates: Nichts Merkwürdiges, sondern wie man esgewöhnlich nimmt: einen, der besonnen ist undsich selbst im Zaume hält und die Lüste und Be-gierden in sich beherrscht!

Kallikles: Wie lieb du bist! Die Einfältigen nennst dudie Besonnenen!

Sokrates: Wieso? Das kann jeder einsehn, daß ichdas nicht meine.

Kallikles: O gewiß, mein Sokrates. Wie könnte dennein Mensch glücklich werden, wenn er irgend je-mandes Sklave ist? Nein, das ist das Schöne undRechte von Natur, das ich dir jetzt frei und offenbekenne, daß derjenige, welcher richtig leben will,seine eigenen Begierden so groß als möglich wer-den lassen muß, ohne sie im Zaum zu halten; wennsie aber recht groß sind, dann muß er imstandesein, ihnen zu fröhnen durch Tapferkeit und Ein-sicht und die Begierde zu befriedigen, worauf siesich auch jedesmal richten mag. Aber das können,denke ich, die meisten nicht. Daher tadeln sie

Page 103: (eBook - German) Platon - Gorgias

103Platon: Gorgias

Männer dieser Art aus Arger, um ihre eigene Ohn-macht zu verbergen, und bezeichnen die Zügello-sigkeit als häßlich. Was ich in meiner früherenAuseinandersetzung sagte, sie knechten die vonNatur besseren Menschen, und weil sie ihren Lü-sten keine Befriedigung schaffen können, so lobensie die Besonnenheit und Gerechtigkeit um ihrereigenen Feigheit willen. Denn was wäre für diejeni-gen, welche etwa von vornherein so glücklich sind.Königssöhne zu sein, oder die imstande sind, sicheine Herrschaft, Tyrannis oder einen Königsthronzu verschaffen, in Wahrheit häßlicher und schlim-mer als deine Besonnenheit? Während sie ja allesGute genießen könnten, ohne daß ihnen jemand inden Weg träte, würden sie sich selbst das Gesetz,Gerede und Geschimpfe der Masse zum Herrn er-küren? Oder würden sie nicht unglücklich gewor-den sein von der Ehre der Gerechtigkeit und Beson-nenheit, wenn sie ihren eigenen Freunden nichtmehr zuteilen könnten als ihren Feinden, und zwarals Herrscher im eigenen Staate? Nun, Sokrates, sosteht's in der Wahrheit, der du ja nachzutrachtenbehauptest. Wohlleben, Zügellosigkeit, Freiheit,wenn sie festen Rückhalt hat, das ist die Tugendund Glückseligkeit. Das andere all ist Flitterstaat,widernatürliche Satzungen, menschlicher Aberwitzund taugt nichts.

Page 104: (eBook - German) Platon - Gorgias

104Platon: Gorgias

Sokrates: Recht ritterlich, lieber Kallikles, gehst duvoll Freimut mit der Rede heraus. Denn du sprichstjetzt offen aus, was die anderen denken, aber nichtsagen wollen. Ich bitte dich nun, in keiner Weisenachzulassen, damit in Wirklichkeit klar werde,wie man leben muß. Nun sage mir: Die Begierden,meinst du, soll man nicht zügeln, wenn man einMann sein will, wie er sein soll; man muß sie somächtig als möglich werden lassen und ihnen,woher auch immer, Befriedigung bereitet, und dassei die Tugend?

Kallikles: Ja, das meine ich.Sokrates: Also gelten die, welche nichts bedürfen, mit

Unrecht für glücklich?Kallikles: So wären ja die Steine und die Toten am

glücklichsten.Sokrates: Indes ist das Leben auch, wie du es haben

willst, mißlich. Denn es sollte mich nicht wundern,wenn Euripides recht hat, wenn er sagt:

Wer weiß, ob nicht das Leben nur ein Sterben ist,Das Sterben aber Leben?

Und vielleicht sind wir in Wirklichkeit tot. Dashabe ich auch schon von einem weisen Manne ge-hört, daß wir jetzt tot seien und daß der Leib unserGrab sei; der Teil unserer Seele aber, in welchem

Page 105: (eBook - German) Platon - Gorgias

105Platon: Gorgias

sich die Begierden befinden, sei so, daß er sichleicht bereden lasse und von der einen nach der an-deren Seite umschlage. Das hat denn auch eingeistreicher Mann, vielleicht ein Sizilier oder Italer,in der Namensableitung in mythischer Bekleidungdargestellt, wenn er ihn wegen seiner leicht zuüberredenden Art und Faßbarkeit ein Faß genannthat und die Uneinsichtigen Uneingeweihte. DerTeil der Seele aber in den Uneingeweihten, dem dieBegierden angehören, der so zügellos ist und bo-denlos, sei einem durchlöcherten Fasse vergleich-bar, indem er von der Unausfüllbarkeit das Bildhernahm. Dieser also beweist gerade das Gegenteilvon deiner Meinung, lieber Kallikles, daß nämlichunter den Bewohnern der Unterwelt - dabei meinteer natürlich das Unsichtbare - diese Uneingeweih-ten am unglücklichsten seien, welche in das durch-löcherte Faß Wasser trügen mit einem ebenfallsdurchlöcherten Siebe. Unter dem Siebe verstand er,wie mein Gewährsmann sagte, die Seele. Die Seeleder Unverständigen aber verglich er mit einemgleichsam durchlöcherten Siebe, weil sie nichtsfestfassen kann aus Unfaßlichkeit und Vergeßlich-keit. Das klingt nun allerdings ziemlich sonderbar;doch veranschaulicht es die Ansicht, die ich dirdarstelle, zu der ich dich, wenn es möglich wäre,überzutreten überreden wollte, statt des

Page 106: (eBook - German) Platon - Gorgias

106Platon: Gorgias

unbefriedigenden und zügellosen Lebens das sitt-same und mit dem jedesmal vorhandenen Gute sichbegnügende und zufriedene Leben zu wählen. Dochüberrede ich dich wohl und trittst du zu der Mei-nung über, daß die Sittsamen glücklicher seien alsdie Zügellosen, oder nicht, oder wirst du dich kei-neswegs bekehren, wenn ich auch noch so viel My-then vortrage?

Kallikles: Darin hast du eher recht, lieber Sokrates.Sokrates: Wohlan denn, laß mich dir noch ein ande-

res Bild aus derselben Schule mitteilen wie eben!Bedenke denn, ob du etwa folgende Ansicht überbeide Lebensweisen, die besonnene und die zügel-lose, teilen magst: Wenn z.B. von zwei Menschenjeder viele Gefäße besäße, und die des einen wärenin gutem Zustand und voll, das eine voll Wein, einanderes voll Honig, ein drittes voll Milch, undviele andere mit vielen Dingen angefüllt, die Flüs-sigkeiten aber wären selten und für jedes schwerund nur mit großer Mühe und Beschwerde zu be-schaffen. Wenn nun der eine sie einmal angefüllthätte, so würde er weder etwas weiter zugießennoch sich überhaupt darum bekümmern müssen,sondern könnte deswegen in aller Ruhe leben. Fürden anderen wäre es nun allerdings auch, wie fürjenen, möglich, die Flüssigkeiten herbeizuschaffen,aber schwierig, und seine Gefäße wären

Page 107: (eBook - German) Platon - Gorgias

107Platon: Gorgias

durchlöchert und faul, und er hätte Tag und Nachtseine Not, sie anzufüllen, oder er müßte die herb-sten Schmerzen empfinden. Wenn nun jede der bei-den Lebensweisen diese Beschaffenheit hat, solldann die des Zügellosen glücklicher sein als die desEnthaltsamen? Bringe ich dich wohl mit diesenReden zu dem Geständnis, daß das geordneteLeben besser sei als das zügellose, oder nicht?

Kallikles: Dazu bringst du mich nicht, lieber Sokra-tes. Denn der, welcher ein für allemal vollgegossenhat, hat gar kein Vergnügen mehr, sondern dasheißt, wie ich eben erst sagte, ein Leben führen wieein Stein, wenn er befriedigt ist und weder Freudenoch Schmerz empfindet. Denn gerade darin be-steht die Annehmlichkeit des Lebens, daß mög-lichst viel zufließt.

Sokrates: Muß nicht notwendig, wenn viel Zufluß daist, auch viel Abfluß da sein, und müssen die Lö-cher für die Abflüsse gar groß sein?

Kallikles: Allerdings.Sokrates: Das ist das Leben einer rechten Ente, nicht

eines Toten oder Steines, von dem du deinerseitsredest. Nun sage mir, meinst du so etwas, daß manz.B. hungere und im Hungern esse?

Kallikles: Ja.Sokrates: Und dürste und durstig trinke?Kallikles: Ich meine, daß man auch alle anderen

Page 108: (eBook - German) Platon - Gorgias

108Platon: Gorgias

Begierden besitze und, weil man sie befriedigenkann, darum eben ein glückliches Leben in Freudenführe.

Sokrates: Schön, mein Bester. Fahre nur fort, wie dubegonnen hast, und laß dich ja nicht einschüchtern!Ich, scheint es, darf aber auch nicht schüchternsein. Nun sage mir zunächst: Wenn jemand dieKrätze hat und es juckt ihn und er kann sich inFülle jucken und sein ganzes Leben mit Jucken zu-bringen, - heißt das auch glücklich leben?

Kallikles: Wie bist du doch so ungeschliffen, lieberSokrates, und so recht wie ein Schwätzer aus demVolke!

Sokrates: Eben darum, mein Kallikles, gelang es mirauch, den Polos und Gorgias zu verblüffen und ein-zuschüchtern. Denn du bist ja ein tapferer Held.Aber antworte nur!

Kallikles: Nur denn, ich meine, auch wer sich juckt,werde angenehm leben.

Sokrates: Nicht wahr, wenn angenehm, so auchglücklich?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Wenn er den Kopf allein juckt, oder was

soll ich doch noch fragen? Bedenke, lieber Kalli-kles, was du antworten willst, wenn dich einer nachallen folgenden Teilen der Reihe nach fragte! Undist nicht, um gleich die Hauptsache unter Dingen

Page 109: (eBook - German) Platon - Gorgias

109Platon: Gorgias

dieser Art zu nennen, das Leben der Wüstlingeschmählich, häßlich und jammervoll? Oder wirstdu den Mut haben, auch diese für glücklich zu er-klären, wenn sie in Fülle haben, wonach sie gelü-stet?

Kallikles: Schämst du dich nicht, Sokrates, die Redeauf solche Dinge zu bringen?

Sokrates: Bringe denn ich sie darauf, mein Edler,oder der, welcher so ohne Einschränkung behaup-tet, diejenigen, welche Freude hätten, welcher Artsie auch sein möge, seien glücklich, und der garnicht näher bestimmt, welche Lust gut und welcheböse ist? Doch sage nur auch jetzt noch, ob du »an-genehm« und »gut« für identisch hältst, oder ob esunter dem Angenehmen etwas geben kann, wasnicht gut ist?

Kallikles: Damit meine Behauptung nicht mit sich inWiderspruch gerate, wenn ich es als verschiedenbestimme, so erkläre ich es für identisch.

Sokrates: Da verdirbst du ja, mein Kallikles, dieGrundlage unserer Untersuchung und würdest nichtmehr mit mir die Wahrheit erforschen können,wenn du gegen deine Überzeugung redest.

Kallikles: Du machst es ja auch so, Sokrates.Sokrates: Dann tue ich ebensowenig recht als du,

wenn ich es nämlich tue. Doch, mein Trefflicher,sieh doch zu, ob wirklich das Gute in jeglicher Art

Page 110: (eBook - German) Platon - Gorgias

110Platon: Gorgias

von Freude bestehen soll: Denn es ergeben sichdaraus offenbar viele häßliche Folgesätze, wie sieeben nur angedeutet wurden, und noch viele andere,wenn dem so ist.

Kallikles: Das meinst du nur, Sokrates.Sokrates: Du hältst also, lieber Kallikles, in Wahrheit

daran fest?Kallikles: Jawohl.Sokrates: Sollen wir also den Satz behandeln, als ob

es dir Ernst damit sei?Kallikles: Es ist mir voller Ernst damit.Sokrates: Wohlan denn, da dir es so beliebt, so be-

stimme mir folgendes: Nennst du etwas Erkennt-nis?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Sprachst du nicht eben auch von einer Tap-

ferkeit neben der Erkenntnis?Kallikles: Jawohl.Sokrates: Nicht wahr, zwei Ausdrücke gebrauchtest

du, weil die Tapferkeit von der Erkenntnis ver-schieden sei?

Kallikles: Allerdings.Sokrates: Ferner: Ist Lust und Erkenntnis identisch

oder verschieden?Kallikles: Verschieden natürlich, du hochweiser

Mann.Sokrates: Ist auch die Tapferkeit von der Lust

Page 111: (eBook - German) Platon - Gorgias

111Platon: Gorgias

verschieden?Kallikles: Natürlich.Sokrates: Wohlan denn, daß wir das ja im Gedächtnis

behalten, daß Kallikles aus Acharnai gesagt hat:Angenehmes und Gutes seien identisch, Erkenntnisaber und Tapferkeit seien unter einander und vondem Guten verschieden.

Kallikles: Sokrates aber aus Alopeke gibt uns dasnicht zu. Oder doch?

Sokrates: Nein. Ich denke aber, auch Kallikles nicht,wenn er sich selbst richtig ins Auge faßt. Sage mirdenn, ist es nicht der entgegengesetzte Zustand,wenn es jemand gut geht, und wenn es ihm schlechtgeht?

Kallikles: Gewiß.Sokrates: Wenn also diese Zustände einander entge-

gengesetzt sind, muß es dann nicht mit ihnen gera-de so stehn wie mit Gesundheit und Krankheit?Denn der Mensch ist doch nicht zugleich gesundund krank und wird auch nicht zugleich frei vonGesundheit und von Krankheit.

Kallikles: Wie meinst du das?Sokrates: Nimm dir also ein Beispiel von einem be-

liebigen Teile des Leibes und betrachte es daran:Irgend einer ist doch krank an den Augen, und diesführt den Namen Augenkrankheit?

Kallikles: Allerdings.

Page 112: (eBook - German) Platon - Gorgias

112Platon: Gorgias

Sokrates: Nun ist er doch nicht auch zugleich an den-selben gesund?

Kallikles: Nein, keineswegs.Sokrates: Ferner, wenn er von der Augenkrankheit

befreit wird, wird er dann auch von der Gesundheitder Augen frei und ist er zuletzt beide zugleich los-geworden?

Kallikles: Durchaus nicht.Sokrates: Das ist ja, denke ich, unnatürlich und un-

denkbar. Nicht wahr?Kallikles: Ganz gewiß.Sokrates: Vielmehr abwechselnd, denke ich, emp-

fängt und verliert er beide?Kallikles: Das meine ich.Sokrates: Nicht wahr, so ist's auch gerade mit Kraft

und Schwäche?Kallikles: Ja.Sokrates: Und mit Schnelligkeit und Langsamkeit?Kallikles: Jawohl.Sokrates: Steht es auch so mit dem Guten und der

Glückseligkeit und ihren Gegensätzen, demSchlechten und dem Elend, daß man beide abwech-selnd empfängt und abwechselnd wieder verliert?

Kallikles: Ganz natürlich.Sokrates: Wenn wir also etwas finden, was der

Mensch zugleich verliert und besitzt, so würde dasoffenbar nicht das Gute und Schlechte sein. Sind

Page 113: (eBook - German) Platon - Gorgias

113Platon: Gorgias

wir darin einverstanden? Überlege dir es recht or-dentlich, ehe du antwortest!

Kallikles: Nein, das ist über allen Zweifel erhaben.Sokrates: Nun laß uns auf die früheren Zugeständnis-

se zurückkommen: Sollte das Hungern für ange-nehm gelten oder für unangenehm? Ich meine dasHungern an sich.

Kallikles: Für unangenehm. Jedoch Essen, wenn manHunger hat, ist angenehm.

Sokrates: O ja, ich verstehe. Nun also, das Hungernan sich ist unangenehm. Oder nicht?

Kallikles: Ja.Sokrates: Nicht auch das Dürsten?Kallikles: Sehr unangenehm.Sokrates: Soll ich dich noch über mehr einzelnes be-

fragen, oder gibst du zu, daß alles Bedürfnis undjede Begierde unangenehm sei?

Kallikles: Ja; frage nur nicht!Sokrates: Schön. Wenn man also Durst hat und

trinkt, nicht wahr, das bezeichnest du als ange-nehm?

Kallikles: Ja.Sokrates: Nicht wahr, unter den Worten, die du

sprachst, bezeichnet doch das »wenn man Dursthat« ein Erleiden von Unlust?

Kallikles: Ja.Sokrates: Das Trinken aber ist die Befriedigung eines

Page 114: (eBook - German) Platon - Gorgias

114Platon: Gorgias

Bedürfnisses und eine Lust?Kallikles: Ja.Sokrates: Insofern man trinkt, hat man doch Freude?Kallikles: Ganz sicher.Sokrates: Wenn man nämlich Durst hat?Kallikles: Ja.Sokrates: Also Unlust empfindet?Kallikles: Ja.Sokrates: Merkst du nun die Konsequenz, daß man,

wie du sagst, zugleich Unlust und Freude empfin-det, wenn man dürstend trinken soll? Oder ge-schieht das nicht zugleich, nach Einheit des Ortesund der Zeit, sei es an der Seele oder dem Leibe,wie du nun willst? Denn das macht wohl keinenUnterschied. Ist es so oder nicht?

Kallikles: Ja.Sokrates: Doch bezeichnetest du es als unmöglich,

daß man zugleich sich wohl und übel befinde.Kallikles: Freilich meine ich das.Sokrates: Das gabst du ja aber als möglich zu, daß

man Freude empfinde in Schmerzen.Kallikles: Allerdings.Sokrates: Also ist Freude empfinden nicht so viel als

sich Wohlbefinden, und Schmerz empfinden nichtso viel als sich übelbefinden, und folglich ergibtsich, daß das Angenehme von dem Guten verschie-den ist.

Page 115: (eBook - German) Platon - Gorgias

115Platon: Gorgias

Kallikles: Ich verstehe die feine Weisheit nicht, die duda vorbringst, Sokrates.

Sokrates: Du verstehst sie wohl, aber du stellst dichabsichtlich dumm, lieber Kallikles. Gehe denn auchnoch einige Schritte weiter vor, damit du erkennst,was das für eine Weisheit ist, mit der du mir Vor-halt machst: Wird nicht jeder von uns durch dasTrinken zugleich vom Durste und von der Lust be-freit?

Kallikles: Ich verstehe dich nicht; du spielst nur mitWorten.

Gorgias: Nicht doch, lieber Kallikles; antworte dochauch uns zu Gefallen, damit die Untersuchung sichvollende!

Kallikles: Nein, Sokrates macht es immer so, lieberGorgias. Er fragt nur nach geringfügigen und wert-losen Dingen und will damit widerlegen.

Gorgias: Was verschlägt das dir? Das kommt ja kei-nesfalls auf deine Rechnung, lieber Kallikles. Laßdich nur von Sokrates widerlegen, wie er eben will!

Kallikles: Nun, so tu du nur deine kleinen und eng-herzigen Fragen da, weil es einmal Gorgias sorecht findet!

Sokrates: Du bist doch glücklich dran, lieber Kalli-kles, daß du die großen Weihen eher empfangenhast als die kleinen. Ich dachte, das wäre nicht er-laubt. Doch wo du stehen bliebst, - antworte, ob

Page 116: (eBook - German) Platon - Gorgias

116Platon: Gorgias

nicht bei jedem von uns zugleich mit dem Durst dieLust aufhört?

Kallikles: Ja.Sokrates: Auch mit dem Hunger und allen übrigen

Begierden hörte zugleich die Lust auf?Kallikles: So ist's.Sokrates: Also hören Unlust und Lust zu gleicher

Zeit auf?Kallikles: Ja.Sokrates: Indes hört nach deinem Zugeständnis Gutes

und Böses nicht zugleich auf. Oder gestehst du esjetzt nicht zu?

Kallikles: O doch. Was tut's denn?Sokrates: Daß, mein Lieber, das Gute nicht identisch

sein kann mit dem Angenehmen, noch das Bösemit dem Unangenehmen. Denn diese hören zusam-men auf, jene nicht, weil sie eben verschieden seinmögen. Wie könnte nun das Angenehme mit demGuten und das Böse mit dem Schmerzhaften einer-lei sein? Wenn du willst, überlege es auch in fol-gender Weise; denn, ich denke, auch so wird esnicht stimmen. Sieh denn zu: Gut nennst du dochdie Guten nur durch die Anwesenheit von Gutem,so wie man unter Schönen die versteht, an welchenSchönheit sich vorfindet?

Kallikles: Ja.Sokrates: Ferner: Verstehst du unter »guten

Page 117: (eBook - German) Platon - Gorgias

117Platon: Gorgias

Männern« die Unvernünftigen und Feigen? Ebenfreilich nicht, denn da nanntest du die Tapferen undVernünftigen. Oder nennst du die nicht gut?

Kallikles: Allerdings.Sokrates: Nun weiter: Hast du schon ein unvernünfti-

ges Kind sich freuen sehen?Kallikles: O ja.Sokrates: Einen unvernünftigen Mann aber sahst du

noch nie sich freuen?Kallikles: Ich denke, doch. Doch was soll das?Sokrates: Nichts: antworte nur!Kallikles: Nun ja.Sokrates: Ferner einen Verständigen Unlust und

Freude empfinden?Kallikles: Ja.Sokrates: Wer hat mehr Freude und Unlust, die Ver-

nünftigen oder die Unvernünftigen?Kallikles: Ich denke, da ist kein großer Unterschied.Sokrates: Nun, auch das genügt. Hast du schon einen

Feigling im Kriege gesehen?Kallikles: Natürlich.Sokrates: Nun? Wer freute sich beim Abzug der Fein-

de nach deiner Meinung mehr, die Feigen oder dieTapferen?

Kallikles: Beide taten es mehr; wo nicht, in gleichemGrade.

Sokrates: Macht nichts. Jedenfalls freuen sich auch

Page 118: (eBook - German) Platon - Gorgias

118Platon: Gorgias

die Feigen?Kallikles: Gewiß.Sokrates: Freuen sie sich nicht beim Abzug mehr?Kallikles: Vielleicht.Sokrates: Empfinden also hiernach nicht die Unver-

nünftigen und Vernünftigen, die Feigen und dieTapferen eine fast gleiche Unlust und Freude, einegrößere aber die Feigen als die Tapferen?

Kallikles: Ja.Sokrates: Die Vernünftigen und Tapferen sind jedoch

gut, die Feigen und Unvernünftigen schlecht?Kallikles: Ja.Sokrates: Die Guten und Schlechten haben also glei-

che Freude und Unlust?Kallikles: Ja.Sokrates: Sind also nicht die Guten und Schlechten

fast gleich gut und schlecht? Oder sind nicht dieSchlechten noch mehr gut und schlecht?

Kallikles: Beim Zeus, ich verstehe dich nicht.Sokrates: Weißt du nicht, daß nach deiner Annahme

die Guten durch die Anwesenheit von Gutem gutsind, die Schlechten durch die von Schlechtemschlecht? Die Genüsse aber seien das Gute, dieSchmerzen das Schlechte?

Kallikles: Ja.Sokrates: in der Empfindung der Freude liegt doch

das Gute, die Lust nämlich, wenn man sich freut?

Page 119: (eBook - German) Platon - Gorgias

119Platon: Gorgias

Kallikles: Natürlich.Sokrates: Sind also nicht die, welche sich freuen, gut,

weil das Gute bei ihnen ist?Kallikles: Ja.Sokrates: Ferner: Ist nicht im Gefühl der Unlust das

Schlechte gegeben, die Schmerzen?Kallikles: Ja.Sokrates: Die Schlechten sind ja aber schlecht durch

die Anwesenheit des Schlechten. Oder meinst dunicht mehr?

Kallikles: O ja.Sokrates: Gut sind also die, welche Freude, und

schlecht die, welche Unlust empfinden?Kallikles: Jawohl.Sokrates: Je mehr, desto mehr; je weniger, um so we-

niger; - oder, tun sie's gleichmäßig, so sind sie esauch in gleichem Grade?

Kallikles: Ja.Sokrates: Haben nun nicht die Verständigen und Un-

verständigen, die Feigen und Tapferen in gleichemGrade die Empfindung der Freude und der Unlust?Oder sogar noch mehr die Feigen?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Überlege denn mit mir zusammen, was sich

als Folge unserer Voraussetzungen ergibt: Dennzweimal, dreimal, sagt man, das Schöne sagen undüberdenken sei schön. Der Vernünftige und

Page 120: (eBook - German) Platon - Gorgias

120Platon: Gorgias

Tapfere ist gut, sagen wir: nicht wahr?Kallikles: Ja.Sokrates: Schlecht ist der Unvernünftige und Feige?Kallikles: Jawohl.Sokrates: Gut dagegen der Fröhliche?Kallikles: Ja.Sokrates: Schlecht der mit Unlust Erfüllte?Kallikles: Notwendig.Sokrates: Der Gute aber und Schlechte, beide empfin-

den in gleicher Weise Freude und Unlust, ja derSchlechte noch in höherem Grade?

Kallikles: Ja.Sokrates: Also wird der Schlechte gleich schlecht und

gut oder sogar noch besser als der Gute? Ist dasnicht die Folge, so wie jenes früher Erwähnte,wenn man »Angenehmes« und »Gutes« identischmacht? Ist das nicht notwendig so, mein Kallikles?

Kallikles: Ich höre dir ja schon lange nur zu und stim-me bei, weil ich merke, daß du voller Freude, wiedie kleinen Kinder, dich an jede Kleinigkeit an-klammerst, die man dir im Scherze hinreicht. Denndu meinst natürlich, ich oder sonst jemand stelltewirklich in Abrede, daß die Genüsse nicht zum Teilgut, zum Teil schlecht seien.

Sokrates: Ei er, mein Kallikles, was für ein Schalkbist du, daß du mich wie ein Kind behandelst undsagst bald so, bald so, um mich zu täuschen!

Page 121: (eBook - German) Platon - Gorgias

121Platon: Gorgias

Gleichwohl hätte ich von vornherein nicht gedacht,daß ich von dir absichtlich getäuscht werdenwürde, da du mein Freund seist. Nun aber habe ichmich geirrt, wie's scheint, und muß mich halt nachdem alten Spruch nach der Decke strecken und neh-men, was du mir bietest. Was du nun sagst, ist alsowohl das, daß einige Genüsse gut seien, andereschlecht. Nicht wahr?

Kallikles: Ja.Sokrates: Gut sind die nützlichen, schlecht die schäd-

lichen?Kallikles: Jawohl.Sokrates: Nützlich sind die, welche ein Gut, schlecht

die, welche ein Übel bewirken?Kallikles: Ja.Sokrates: Meinst du nun solche Genüsse, wie wir

z.B. in bezug auf den Leib eben erst anführten imEssen und Trinken? Wenn also einige davon imLeibe Gesundheit oder Stärke oder irgend einenVorzug des Leibes wirken, so sind diese gut,schlecht aber sind die entgegengesetzten?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Sind nicht auch die Schmerzen ebenso zum

Teil gut, zum Teil schlecht?Kallikles: Natürlich.Sokrates: Nicht wahr, die guten Genüsse und

Schmerzen muß man aufsuchen und üben?

Page 122: (eBook - German) Platon - Gorgias

122Platon: Gorgias

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Die schlechten nicht?Kallikles: Das versteht sich.Sokrates: Denn wegen des Guten müsse ja alles ge-

schehen, so schien es mir und Polos, wenn du dichdessen erinnerst. Bist du auch derselben Meinung,das Ziel alles Handelns sei das Gute, und um sei-netwillen müsse alles andere geschehen, nicht diesum des anderen willen? Stimmst du auch als dritterbei?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Also um des Guten willen muß insbesonde-

re auch das Angenehme geschehen, nicht um desAngenehmen willen das Gute?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Besitzt nun jeder Mensch die Fähigkeit,

auszuwählen, was unter dem Angenehmen gut istund was schlecht, oder bedarf es eines Sachverstän-digen dazu?

Kallikles: Gewiß.Sokrates: Laß uns denn nochmals wiederholen, was

ich eben Polos und Gorgias gegenüber aussprach:Ich sagte nämlich, wenn du dich dessen erinnerst,es gebe verschiedene Geschäfte, von denen dieeinen nur die Lust bezweckten und eben dies alleinzu schaffen suchten, ohne Bewußtsein von Gut undSchlecht; die anderen aber besäßen Erkenntnis vom

Page 123: (eBook - German) Platon - Gorgias

123Platon: Gorgias

Guten und Schlechten. Zu den auf die Lust ausge-henden rechnete ich das Kochen, und zwar als Fer-tigkeit, nicht als Kunst, - unter diejenigen aber,deren Ziel das Gute ist, die Heilkunst. Nun bitte ichdich denn beim Gott der Freundschaft, lieber Kalli-kles, denke ja nicht selbst mit mir Scherz treiben zudürfen, und antworte mir nicht das erste bestewider deine Überzeugung, noch nimm andererseitsmeine Behauptungen als Scherz auf! Denn dusiehst, unsere Untersuchung bezieht sich auf einenGegenstand, den jeder Mensch, der nur einigenVerstand besitzt, mit größerem Ernste behandelnmüßte als sonst irgend einen: das ist die Frage, aufwelche Weise man leben muß, ob nach dem Grund-satz, den du empfiehlst, daß man ja die gepriesenenMannestaten vollbringe, vor dem Volke als Rednerauftrete, die Redekunst übe und ein Staatsmann seinach eurer Art, oder ob man sich dem Leben zu-wenden muß, das in der Philosophie sein Heilsucht, und welcher Unterschied zwischen diesemund jenem stattfindet? Das Beste ist nun wohl, wieich es eben versuchte, den Unterschied festzustel-len, und dann, wenn wir mit einander übereinge-kommen sind, ob diese beiden Lebensweisen wirk-lich möglich sind, zu untersuchen, welcher Wertihnen im Unterschiede von einander zukomme undwelches Leben man erwählen muß. Vielleicht weißt

Page 124: (eBook - German) Platon - Gorgias

124Platon: Gorgias

du noch nicht, was ich meine.Kallikles: Nein.Sokrates: Nun, so will ich es dir deutlicher sagen. Da

wir zugestanden haben, ich und du, es gebe einGutes und es gebe ein Angenehmes, das Ange-nehme aber sei vom Guten verschieden, ferner gebees eine Übung und ein Geschäft zum Erwerbe vonjedem von beiden, einesteils die Jagd auf das Ange-nehme, andererseits die auf das Gute, - eben diesbejahe oder verneine mir zunächst: Gibst du daszu?

Kallikles: O ja.Sokrates: Wohlan denn, entscheide dich auch dar-

über, ob ich nach deiner Meinung auch in den da-mals weiter gegen diese Männer vorgetragenen An-sichten recht hatte: Meine Ansicht war doch, daßdas Kochen keine Kunst sei, sondern eine Fertig-keit, wohl aber die Heilkunde. Ich begründete esdamit, daß die eine die Natur des Objektes, mitdem sie sich beschäftigt, erforscht hat und denGrund ihres Handelns kennt und über alles einzelneRechenschaft zu geben vermag, nämlich die Heil-kunst; die andere aber geht auf die Lust, auf welchesich all ihre Tätigkeit bezieht, ganz kunstlos ausund hat weder die Natur noch den Grund der Lustuntersucht, vielmehr ganz unbewußt hat sie sozusa-gen nichts berechnet und ist nur eine

Page 125: (eBook - German) Platon - Gorgias

125Platon: Gorgias

erfahrungsmäßige Fertigkeit, welche bloß die Erin-nerung an das, was öfter zu geschehen pflegt, auf-bewahrt und demnach die Lust zu schaffen sucht.Nun überlege zunächst, ob das seine Richtigkeithat, und ob es auch in bezug auf die Seele Beschäf-tigungen der Art gibt, von denen die einen kunst-mäßig sind, im voraus eine Einsicht in das Besteder Seele besitzen, während andere dies hintanset-zen, dagegen nur in Betracht ziehen, so wie dortauch (in bezug auf den Leib), auf welche Weiseman die Lust der Seele errege, ohne zu bedenken,welche Lust gut oder schlecht ist; ja es liegt ihnenan weiter nichts etwas als an dem Gefallen, den sieerregen, sei das gut oder schlecht. Nach meinerÜberzeugung, lieber Kallikles, gibt es solche Be-schäftigungen, und ich nenne so etwas Schmeiche-lei, gehe sie auf Leib, Seele oder sonst ein Objekt,indem jemand die Lust zu erwecken sucht ohneRücksicht auf Gut und Schlecht. Nimmst du dennnun mit uns dieselbe Meinung an, oder hast duetwas dagegen einzuwenden?

Kallikles: Nein, ich gebe es zu, damit nur dein Be-weis zu Ende komme und ich dem Gorgias hiermich gefällig erweise.

Sokrates: Findet das nur in bezug auf eine Seele statt,in bezug auf zwei aber und viele nicht?

Kallikles: Nein, auch in bezug auf zwei und viele.

Page 126: (eBook - German) Platon - Gorgias

126Platon: Gorgias

Sokrates: Also kann man auch einer Masse zugleicheinen Gefallen tun ohne Rücksicht auf das Beste?

Kallikles: Ich denke wohl.Sokrates: Kannst du mir nun die Beschäftigungen an-

geben, welche das tun? Oder, wenn dir das rechtist, laß mich lieber fragen und bezeichne dann die,welche dir darunter zu gehören scheint und welchenicht! Zunächst laß uns das Flötenspiel in Betrachtziehen: Ist es nicht ganz der Art, lieber Kallikles,und hat nur unser Vergnügen im Auge, ohne sichum sonst etwas zu kümmern?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Nicht auch alle Tätigkeiten der Art, wie

z.B. das Zitherspiel bei den Wettkämpfen?Kallikles: Ja.Sokrates: Ferner: Die Einübung der Chöre und die

Dithyrambendichtung, - gehört sie nicht offenbarzu dieser Art? Oder meinst du, Kinesias, der Sohndes Meles, kümmere sich irgend darum, etwas sodarzustellen, daß dadurch die Zuhörer besser wer-den? Oder vielmehr nur um das, was ihn bei derMasse der Versammelten beliebt machen muß?

Kallikles: Ja, das ist offenbar, mein Sokrates, soweites wenigstens den Kinesias betrifft.

Sokrates: Nun, und sein Vater Meles? Oder hat ernach deiner Meinung seinen Gesang zur Zither mitRücksicht auf das Beste bestimmt? Oder sogar

Page 127: (eBook - German) Platon - Gorgias

127Platon: Gorgias

nicht einmal mit Rücksicht auf das Angenehmste?Denn er langweilte mit seinem Gesänge die Ver-sammlung. Nun überlege denn: Ist nicht die ganzeKunst des Zitherspiels und die Dithyrambendich-tung des Vergnügens wegen erfunden?

Kallikles: Ja.Sokrates: Ferner die erhabene und wundervolle Tra-

gödiendichtung, - worauf hat die es angelegt? Gehtihre Tätigkeit und ihr Streben nach deiner Meinungnur auf Gefallen bei den Zuschauern, oder gewinntsie es über sich, etwas zu verschweigen, wenn esauch jenen angenehm und beliebt ist, aber schlecht,dagegen das vorzutragen und zu besingen, waswahr und nützlich ist, gleichviel ob sie es gernhaben oder nicht? In welcher Weise scheint dir dieTragödiendichtung sich gestaltet zu haben?

Kallikles: Offenbar hat sie es ja, lieber Sokrates,mehr auf das Vergnügen und das Wohlgefallen derZuhörer abgesehen.

Sokrates: Nannten wir so etwas nicht eben erstSchmeichelei?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Nun wohlan, wenn man von der ganzen

Dichtung Melodie, Rhythmus und Versmaß ab-zöge, nicht wahr, so bleibt nichts weiter übrig alsReden?

Kallikles: Notwendig.

Page 128: (eBook - German) Platon - Gorgias

128Platon: Gorgias

Sokrates: Und diese Reden werden vor einer großenMasse und dem Volke gehalten?

Kallikles: Ja.Sokrates: Die Dichtkunst ist also eine Art Volksan-

sprache.Kallikles: So scheint es.Sokrates: Also wäre sie eine rednerische Volksan-

sprache. Oder treten die Dichter in den Theaternnicht als Redner auf?

Kallikles: O ja.Sokrates: So haben wir denn eine Art von Redekunst

vor dem Volke gefunden, vor Kindern zugleich undWeibern und Männern, Sklaven und Freien, welchewir eben nicht hochstellen. Denn wir bezeichnensie als Schmeichelei.

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Gut. Wie steht es uns nun mit der Rede-

kunst, die vor dem Volke der Athener und in denanderen Staaten freier Männer geübt wird? Richtensich die Redner immer nach dem Besten in ihremVortrag und streben sie nur danach, daß die Bürgerso gut wie möglich werden durch ihre Reden, odergehen auch diese nur auf Erregung des Wohlgefal-lens bei ihren Mitbürgern aus, vernachlässigen umdes eigenen Vorteils willen das Interesse des Staa-tes, gehen mit dem Volke um wie mit Kindern undsuchen nur ihr Gefallen zu erregen, ohne sich

Page 129: (eBook - German) Platon - Gorgias

129Platon: Gorgias

darum zu kümmern, ob sie dadurch besser oderschlechter werden müssen?

Kallikles: Die Frage ist nicht mehr so einfach: dennes gibt Redner, die alles nur in wirklicher Sorge fürdas Wohl der Bürger reden, aber auch andere, wiedu sie bezeichnest.

Sokrates: Das genügt schon. Denn wenn dies zwiefa-cher Art ist, so würde doch wohl das eine Schmei-chelei und häßliche Volksrednerei sein, und das an-dere etwas Schönes, das Streben nämlich, die See-len der Bürger so gut wie möglich zu machen, unddie Entschiedenheit im Vortrag des Besten, mag esnun den Zuhörern angenehm oder unangenehmsein. Doch diese Art der Rede hast du noch nichterlebt. Oder wenn du einen solchen Redner zu nen-nen weißt, warum hast du mir seinen Namen nichtangegeben?

Kallikles: Ja, beim Zeus, unter den jetzigen Rednernweiß ich dir keinen zu nennen.

Sokrates: Nun? Weißt du einen von den Alten zunennen, durch dessen Verdienst die Athener bessergeworden sind, seit er anfing öffentlich zu reden,während sie vorher schlechter waren? Denn ichweiß nicht, wer das sein soll.

Kallikles: Wie? Hast du nicht gehört, daß Themisto-kles ein edler Mann gewesen sei und Kimon, Mil-tiades und unser Perikles, der erst kürzlich

Page 130: (eBook - German) Platon - Gorgias

130Platon: Gorgias

gestorben ist, den du auch noch gehört hast?Sokrates: Ja, wenn darin, lieber Kallikles, die wahre

Tugend besteht, wie du sie früher geschildert, inder Befriedigung eigner und fremder Begierden.Wenn aber nicht, wenn man vielmehr, was wir inder späteren Untersuchung anzunehmen uns genö-tigt sahen, diejenigen Begierden, deren Befriedi-gung den Menschen besser macht, wirklich erfüllenmuß und die nicht, welche ihn verschlechtern -dafür aber gebe es eine Kunst-, weißt du mir dannnachzuweisen, daß einer dieser Männer sich so be-währt habe?

Kallikles: Ich weiß nicht, wie ich das soll.Sokrates: Wenn du richtig suchst, wirst du es finden.

Laß uns in ruhiger Untersuchung in folgenderWeise zusehen, ob einer von ihnen sich so bewährthat: Wohlan! Der tüchtige Mann, der in all seinenReden nur das Beste als Ziel verfolgt, der wirdnicht in den Tag hinein reden, sondern sich nacheinem bestimmten Gesichtspunkt richten. Nichtwahr? So wählt ja auch unter allen Meistern desHandwerks keiner, der auf sein zukünftiges Werkden Blick richtet, die Mittel aufs Geratewohl, die erdazu verwendet, sondern mit Rücksicht darauf, daßsein Werk eine gewisse Gestaltung empfangen soll.So z.B. wenn du auf die Maler sehen willst, dieBaumeister, Schiffsbaumeister und alle anderen

Page 131: (eBook - German) Platon - Gorgias

131Platon: Gorgias

Handwerker, welche du willst, - so nimmt jederalles, was er nimmt, nach einer bestimmten Ord-nung und nötigt das eine sich dem anderen anzu-passen und einzufügen, bis er das ganze Werk inguter Ordnung und Gestaltung hingestellt hat. Somachen es denn unter anderen Meistern auch die,die wir eben erst nannten, die mit dem Leib be-schäftigten Turnlehrer und Ärzte, daß sie den Leibgestalten und in Ordnung bringen. Ist das so odernicht?

Kallikles: Es mag so sein.Sokrates: Ein Haus, das Ordnung und Wohlgestalt

empfangen hat, wäre also gut; wenn Unordnungherrscht, schlecht?

Kallikles: Ja.Sokrates: Nicht auch ein Schiff ebenso?Kallikles: Ja.Sokrates: Sagen wir das auch von unserem Leibe?Kallikles: O ja.Sokrates: Und von der Seele? Wird sie gut sein, wenn

Unordnung in ihr herrscht, oder wenn Ordnung undMaß?

Kallikles: Nach dem Vorhergehenden muß Ich auchdies zugestehen.

Sokrates: Welchen Namen gebraucht man nun fürdas, was sich aus der Ordnung und dem Maße indem Leibe entwickelt?

Page 132: (eBook - German) Platon - Gorgias

132Platon: Gorgias

Kallikles: Wahrscheinlich meinst du Gesundheit undStärke.

Sokrates: Jawohl. Und wie heißt andererseits das,was sich in der Seele aus der Ordnung und demMaße entwickelt? Versuche den Namen ebenso wiefür jenes aufzufinden und anzugeben!

Kallikles: Warum sagst du ihn nicht selbst, lieber So-krates?

Sokrates: Nun, wenn dir das lieber ist, will ich ihnsagen. Wenn ich nun nach deiner Meinung rechthabe, so bestätige es; wo nicht, so widerlege michund laß es nicht durchgehn! Für die Ordnung indem Leibe gilt die Bezeichnung gesund, woraus inihm die Gesundheit und die sonstige Tüchtigkeitdes Leibes sich entwickelt. Ist das so oder nicht?

Kallikles: Ja.Sokrates: Für die Ordnung aber und die Maße in der

Seele Gesetzlichkeit und Gesittung, woher dieMenschen auch gesetzlich werden und gesittet. Dasist aber Gerechtigkeit und Besonnenheit. Ja odernein?

Kallikles: Nun, ja.Sokrates: Wird nun nicht jener kunstverständige und

tüchtige Redner im Hinblick auf diese Ziele seineReden alle, die er hält, und all sein Tun für dieSeele einrichten, und jedes Geschenk geben, das ergibt, und alles nehmen, was er nimmt, indem er nur

Page 133: (eBook - German) Platon - Gorgias

133Platon: Gorgias

darauf sinnt und denkt, daß in den Seelen seinerMitbürger Gerechtigkeit einziehe und Ungerechtig-keit weiche, Besonnenheit einziehe, Zügellosigkeitweiche, und überhaupt alle Tugend sich einwohne,die Schlechtigkeit aber auswandere? Gibst du daszu oder nicht?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Was nützt es denn auch, lieber Kallikles,

wenn man einem kranken und schlecht aufgelegtenLeibe viele Speisen gäbe und das Süßeste an Ge-tränken oder sonstigen Dingen, die ihm bisweilennicht mehr Vorteil bringen können als im GegenteilSchaden, ja, wenn man es richtig sagen will, nochweniger? Ist's so?

Kallikles: Nun ja.Sokrates: Denn das Leben, denke ich, im Elend des

Leibes frommt dem Menschen nicht. Denn so mußer natürlich auch ein elendes Leben führen. Oder istdem nicht so?

Kallikles: Ja.Sokrates: Daher lassen auch die Ärzte einen Gesun-

den meistenteils seine Begierden befriedigen, z.B.wenn er Hunger hat, so viel essen, als er will, odertrinken, wenn er Durst hat; einen Kranken aber las-sen sie eigentlich nie sich mit dem Gegenstand sei-ner Begierde anfüllen. Gibst auch du das zu?

Kallikles: Jawohl.

Page 134: (eBook - German) Platon - Gorgias

134Platon: Gorgias

Sokrates: Hat es aber mit der Seele, mein Bester,nicht dieselbe Bewandtnis? Solange sie schlechtist, weil sie unverständig, zügellos, ungerecht, un-fromm ist, muß man sie von den Begierden fernhalten und darf ihr nichts anderes zu tun erlaubenals das, wodurch sie besser wird? Ja oder nein?

Kallikles: Ja.Sokrates: So nämlich ist es doch für die Seele selber

am besten?Kallikles: Jawohl.Sokrates: Heißt nun das Fernhalten von den Begier-

den nicht so viel als Züchtigen?Kallikles: Ja.Sokrates: Züchtigung ist also für die Seele besser als

Zuchtlosigkeit, wie du kurz vorher meintest.Kallikles: Ich verstehe dich gar nicht, Sokrates; frage

doch einen anderen!Sokrates: Dieser Mann will sich nicht nützen lassen

und selbst das über sich ergehen lassen, wovon dieRede ist, nämlich Züchtigung.

Kallikles: Mir liegt auch gar nichts an dem, was dusagst. Auch so weit habe ich nur um des Gorgiaswillen geantwortet.

Sokrates: Schön. Was sollen wir denn nun machen?Sollen wir die Untersuchung in der Mitte abbre-chen?

Kallikles: Entscheide es selber!

Page 135: (eBook - German) Platon - Gorgias

135Platon: Gorgias

Sokrates: Nun, selbst die Märchen, sagt man, in derMitte aufzugeben sei ungebührlich; man müsseihnen vielmehr einen Kopf aufsetzen. Damit keinesohne Kopf einhergehe, beantworte nun auch denRest noch, damit unsere Untersuchung einen Kopferhalte!

Kallikles: Wie zudringlich du bist, Sokrates! Wenndu aber mir folgst, so läßt du diese Untersuchungauf sich beruhen, oder rede auch mit einem ande-ren!

Sokrates: Wer sonst will nun? Unvollendet könnenwir ja doch die Untersuchung nicht lassen.

Kallikles: Könntest du nicht selbst den Beweis durch-gehen, sei es mit dir selbst redend oder dir antwor-tend?

Sokrates: Damit es mir gehe, wie Epicharmos sagt:ich allein soll tüchtig sein in dem, was vordemzwei zu reden hatten. Doch es scheint große Notdazu. Wenn wir es jedoch so machen sollen, so,denke ich, müssen wir alle sehr eifrig darauf aussein, zu erfahren, was in unserer Frage wahr ist undwas falsch. Denn das Gut ist allen gemeinsam,wenn es an den Tag kommt. So will ich denn unter-suchend die Sache durchnehmen, wie sie sich zuverhalten scheint. Wenn es aber einem unter euchscheint, als wären die Zugeständnisse nicht wahr,die ich mache, so muß er eingreifen und mich

Page 136: (eBook - German) Platon - Gorgias

136Platon: Gorgias

widerlegen. Denn was ich vorbringe, das sage ichnicht, als wüßte ich es, sondern ich suche mit euchgemeinsam. Wenn daher mein Gegner in einerSache recht zu haben scheint, so werde ich zuerstzustimmen. Ich sage das jedoch für den Fall, daßman glaubt, die Untersuchung müsse zu Ende ge-führt werden. Wenn ihr aber nicht wollt, so lassenwir sie auf sich beruhen, um auseinander zu gehen.

Gorgias: Mir scheint es, mein Sokrates, noch nicht ander Zeit, wegzugehen, sondern du mußt die Unter-suchung fortführen. So, denke ich, urteilen auch dieanderen. Denn ich wünsche auch selbst, dich denRest durchgehen zu hören.

Sokrates: Ja gewiß, mein Gorgias, würde ich selbstnoch gern mit unserem Kallikles die Unterredungweiter führen, bis ich ihm die Rede des Amphionstatt der des Zethos wiedergegeben hätte. Da aberdu, Kallikles, die Untersuchung nicht zu Ende zuführen helfen willst, so höre denn auch mich undhalte mich an, wenn ich nach deiner Ansicht nichtRecht habe! Und wenn du mich widerlegst, will ichnicht böse auf dich sein, wie du auf mich, sondernals größter Wohltäter sollst du bei mir eingezeich-net werden.

Kallikles: Rede, mein Guter, selbst und bringe dieSache zu Ende!

Sokrates: Vernimm denn, wie ich von vorn an den

Page 137: (eBook - German) Platon - Gorgias

137Platon: Gorgias

Beweis wiederhole: Ist das Angenehme und Guteidentisch? - Nein, darüber waren wir, ich und Kal-likles, übereingekommen. - Muß man das Ange-nehme um des Guten willen tun, oder das Gute umdes Angenehmen willen? - Das Angenehme umdes Guten willen. - Angenehm heißt aber das,durch dessen Anwesenheit in uns wir Freudehaben? Und gut das, durch dessen Einwohnen inuns wir gut sind? - Jawohl. - Gut sind wir jedoch,wir und überhaupt alles, was gut ist, dadurch, daßeine Tugend in uns Eingang fand? Das scheint mirnotwendig, lieber Kallikles. Nun kommt aber of-fenbar die Tugend eines jeden Dinges, eines Gerä-tes, eines Leibes, einer Seele und überhaupt einesjeden lebenden Wesens, nicht aufs Geratewohl amschönsten in es hinein, sondern nach Ordnung undkunstmäßiger Regelung, wie sie einem jeden verlie-hen worden ist. Ist dem so? - Ich denke wohl. -Also Ordnung ist es, wonach die Tugend einesjeden ordentlich gestaltet und bestimmt wird? - Dawürde ich ja sagen. - Wenn also in ein Ding, wel-ches es auch sei, die jedesmal ihm eigentümlicheOrdnung Eingang gefunden hat, so macht sie es je-desmal gut? - Das meine ich. - Also ist auch dieSeele, die die ihr zukommende Ordnung enthält,besser als die ungeordnete (ungestalte)? - Notwen-dig. - Nun ist gewiß die, die Ordnung enthält, eine

Page 138: (eBook - German) Platon - Gorgias

138Platon: Gorgias

ordentliche? - Das versteht sich von selbst. - Dieordentliche aber ist besonnen? - Sehr notwendig. -Die besonnene Seele ist also gut.... Dagegen weißich nichts weiter vorzubringen, lieber Kallikles.Wenn du etwas weißt, so teile es mit!

Kallikles: Sprich nur weiter, mein Guter!Sokrates: So sage ich denn: Wenn die besonnene

Seele gut ist, so ist die, welche sich in dem der Be-sonnenheit entgegengesetzten Zustand befindet,schlecht. Das war aber doch die unverständige undzügellose? - Jawohl. - Ferner: Der Besonnenewürde doch gewiß seine Pflichten erfüllen gegenGötter und Menschen? Denn wenn er das nichttäte, so wäre er ja nicht besonnen? - Das kannnicht anders sein als so. - Sofern er nun seinePflichten gegen Menschen erfüllt, wird er die For-derungen der Gerechtigkeit, und sofern er seinePflichten gegen die Götter erfüllt, die der Frömmig-keit erfüllen. Wer aber diese Forderungen erfüllt,der muß gerecht und fromm sein? - Jawohl. - Fer-ner muß er auch notwendig tapfer sein. Denn darineben zeigt sich der besonnene Mann, daß er nichtzu erstreben oder zu meiden unterläßt, was diePflicht erfordert, sondern meint und erstrebt, was ersoll, seien es Handlungen, Menschen, Vergnügun-gen oder Schmerzen, und daß er ausdauernd stand-hält, wo es seine Aufgabe ist. Daher muß durchaus,

Page 139: (eBook - German) Platon - Gorgias

139Platon: Gorgias

lieber Kallikles, der Besonnene, weil er, wie wirnach einander darstellten, gerecht ist, tapfer undfromm, auch ein vollkommen guter Mensch sein;der Gute muß aber, was er auch tun mag, gut undmit Ehren tun; wer aber so tut, der muß glücklichund selig sein, der Schlechte dagegen, der schlechthandelt, unglücklich. Das wäre nun der dem Be-sonnenen Entgegengesetzte, der Zuchtlose, dessenGlück du gepriesen hast. Das ist nun meine An-sicht, und von ihrer Wahrheit bin ich überzeugt.Wenn sie aber wahr ist, so muß wohl, wer glück-lich sein will, Besonnenheit erstreben und üben, dieZuchtlosigkeit aber fliehen, soweit ihn seine Füßetragen, und muß danach streben vor allem, daß erder Züchtigung nicht bedürfe; wenn er sie aberselbst bedarf oder einer, der ihm nahesteht, sei esein Einzelner oder ein ganzer Staat, so muß er Stra-fe und Züchtigung an ihm vollziehen lassen, wennjener glücklich sein soll. Das ist meiner Meinungnach das Ziel, das man im Leben im Auge habenmuß, und danach muß man all sein Tun und Lassenund das des Staates richten, daß Gerechtigkeit undBesonnenheit dem, der glücklich sein will, ein-wohne; die Begierden aber darf man nicht ungezü-gelt lassen und sie zu befriedigen suchen, ein Übelohne Ende, das Leben eines Räubers. Denn ein sol-cher Mensch kann weder von einem Menschen

Page 140: (eBook - German) Platon - Gorgias

140Platon: Gorgias

noch von Gott geliebt sein. Denn für ihn ist Ge-meinschaft unmöglich. Wer aber keine Gemein-schaft mit anderen hat, hat auch keine Freund-schaft. Die Weisen aber sagen, lieber Kallikles,den Himmel und die Erde, die Götter und die Men-schen hielten Gemeinschaft, Freundschaft, Ord-nungsliebe, Besonnenheit und Gerechtigkeit zu-sammen; und das All nennt man deshalb »Weltord-nung«, lieber Freund, nicht Unordnung und auchnicht Zügellosigkeit. Du aber achtest nicht darauf,scheint es mir, und bist doch so weise; vielmehr istes dir entgangen, daß das mathematische Gleich-maß im Himmel und auf Erden große Bedeutunghat. Du meinst dagegen, man müsse das Mehrha-ben erjagen; denn um die Mathematik kümmerst dudich nicht. Doch genug. Entweder also müssen wirdiesen Beweis widerlegen und dartun, daß nichtdurch den Besitz der Gerechtigkeit und Besonnen-heit die Glücklichen glücklich und durch den derSchlechtigkeit die Unglücklichen unglücklich sind,oder wenn er richtig ist, müssen wir die Folgen be-denken. Das oben schon Gesagte, lieber Kallikles,folgt alles daraus, worüber du mich fragtest, ob iches im Ernste meine, als ich sagte, man müsse sichselbst, seinen Sohn und Freund anklagen, wenn erUnrecht tue, und dazu die Rhetorik benutzen. Undwas nach deiner Meinung Polos nur aus

Page 141: (eBook - German) Platon - Gorgias

141Platon: Gorgias

Schüchternheit zugestand, war also ganz wahr: daßdas Unrechttun ebensosehr schlechter sei als dasUnrechtleiden, wie es häßlicher sei. Wer also einrichtiger Redner werden will, muß gerecht sein undsich aufs Recht verstehen, was Gorgias, wie seiner-seits Polos meinte, nur aus Schüchternheit zugege-ben hatte. Wenn dem nun so ist, laß uns in Erwä-gung ziehen, was es mit deinen Vorwürfen gegenmich eigentlich für eine Bewandtnis hat: ob esseine Richtigkeit hat oder nicht, daß ich weder mirnoch einem meiner Freunde und Anverwandten zuhelfen, noch mich aus den größten Gefahren zu ret-ten imstande sei, daß ich vielmehr in der Gewaltjedes Beliebigen sei, wie die, die ihrer Staatsbür-gerrechte beraubt sind, wenn mir jemand, wie deinkühner Ausdruck lautete, einen Backenstreichgeben oder mir das Vermögen rauben oder michaus der Stadt verjagen oder gar - das Alleräußer-ste - mich töten wolle, und daß diese Lage schierdie schimpflichste sei, wie du behauptest hast. Ichaber sage, wie ich schon oft gesagt habe (aber estut auch nichts, wenn es noch mehr wiederholtwird), - ich sage, mein Kallikles, nicht das ist dergrößte Schimpf, einen Backenstreich zu erhalten,auch nicht, wenn mir der Leib in Stücke oder derGeldbeutel abgeschnitten wird: sondern ein größe-rer Schimpf und viel schlimmer ist es, mich und

Page 142: (eBook - German) Platon - Gorgias

142Platon: Gorgias

das, was mein ist, zu schlagen wider Recht und zuschneiden und mich zum Sklaven zu machen, beimir einzubrechen, - kurz zusammengefaßt, allesUnrecht gegen mich und das, was mein ist, ist fürden, der es tut, ein größerer Schimpf und weitschlimmer, als für mich, der ich es leide. DieseSätze, die sich uns oben in der früheren Untersu-chung darstellten, werden, so meine ich, wenn derAusdruck auch etwas plump klingt, von eisernenund stählernen Gründen festgehalten und um-schlossen, wie es so wenigstens scheinen muß, undwenn du diese Bande nicht lösest oder ein nochKühnerer, als du bist, so kann niemand Rechthaben, wenn er nicht die eben von mir vorgetrageneAnsicht ausspricht. Denn ich wiederhole es immer,daß ich das nicht weiß, daß jedoch unter denen, mitdenen ich zusammengetroffen bin, wie jetzt, keinerimstande ist, eine andere Behauptung zu verteidi-gen, ohne sich lächerlich zu machen. Ich stelle alsomeinerseits diese Behauptung auf. Wenn sie sorichtig ist, und die Ungerechtigkeit ist wirklich dasgrößte Übel für den Unrechttuenden, und wenn esein noch größeres als dieses größte womöglich ist.Unrecht zu tun, ohne Strafe zu leiden, - welche Artder Unfähigkeit, sich selbst zu helfen, wird danneinen Menschen wahrhaft lächerlich machen?Nicht, wenn er die Hilfe sich nicht zu leisten

Page 143: (eBook - German) Platon - Gorgias

143Platon: Gorgias

versteht, welche den größten Schaden von uns ab-wehrt? Nein, das muß durchaus die ärgste Schandesein, wenn man weder sich noch seinen Freundenund Anverwandten darin zu hellen vermag, inzweiter Stelle folgt die auf das zweitgrößte Übel,und als dritte die auf das dritte bezügliche, und soweiter. Wie die Größe jedweden Übels beschaffenist, so ist es auch mit der Ehre, in jedem Stückesich helfen zu können, und der Schande, es nicht zuvermögen. Steht es anders, oder so, mein Kalli-kles?

Kallikles: Anders nicht.Sokrates: Da es also zwei Übel gibt, das Unrechttun

und das Unrechtleiden, so bezeichnen wir als dasgrößere das Unrechttun, als das geringere das Un-rechtleiden. Mit welchen Mitteln kann nun wohlein Mensch sich selbst so helfen, daß er diese bei-den Vorteile genießt: nicht Unrecht zu tun undnicht Unrecht zu leiden? Mit einer Kraft oder mitdem Willen? Ich meine es aber so: Wird man dannschon kein Unrecht leiden, wenn man es nicht will,oder wenn man sich die Kraft verschafft hat, esfernhalten zu können?

Kallikles: Offenbar doch, wenn man diese Kraft be-sitzt.

Sokrates: Wie ist es nun mit dem Unrechttun? Ist dasgenug, wenn man nicht Unrecht tun will: wird man

Page 144: (eBook - German) Platon - Gorgias

144Platon: Gorgias

dann keines tun? Oder muß man auch dazu eineKraft und Kunst sich aneignen, so daß man Un-recht tun wird, wenn man es nicht erlernt und geübthat? Warum gabst du mir eben darauf keine Ant-wort, mein Kallikles, ob wir nach deiner Meinungmit Recht in der früheren Untersuchung zu dem Zu-geständnis uns zwingen ließen, Polos und ich, odernicht, als wir zugaben, niemand tue mit Willen Un-recht, sondern alle, die Unrecht täten, täten eswider Willen?

Kallikles: Gut; das mag so gelten, lieber Sokrates,damit du nur deinen Beweis zu Ende bringest.

Sokrates: Also auch dafür, daß wir nicht Unrecht tun,muß man sich eine Kraft und Kunst aneignen.

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Worin besteht nun eigentlich die Kunst, das

zu erreichen, daß man entweder gar kein Unrechtoder möglichst wenig erleidet? Überlege, ob es dirdieselbe zu sein scheint wie mir! Denn ich haltefolgende dafür: Entweder müsse man selbst in demStaate herrschen oder auch Tyrann sein, oder einFreund der bestehenden Staatsordnung.

Kallikles: Du siehst, lieber Sokrates, wie bereit ichbin, dich zu loben, wenn du einmal recht hast. Dasaber scheint mir eine recht treffliche Äußerung.

Sokrates: Überlege dir denn, ob ich auch wohl darinrecht habe: Freund scheint mir jedesmal einer

Page 145: (eBook - German) Platon - Gorgias

145Platon: Gorgias

einem ändern zu sein soweit als möglich, wie es dieAlten und weise Männer bezeichnen, der Ähnlichedem Ähnlichen. Dir nicht auch?

Kallikles: Ja.Sokrates: Nicht wahr, wenn in einem Staate, wo ein

wilder und ungebildeter Tyrann herrscht, jemandweit besser wäre als er, so würde ihn doch wohl derTyrann fürchten, und er könnte diesem niemals vonganzem Herzen Freund werden?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Auch der nicht, der viel schlechter wäre:

denn der Tyrann würde ihn verachten und ihn nie-mals wie einen Freund behandeln.

Kallikles: Auch darin hast du recht.Sokrates: Folglich bleibt, soweit es hierauf ankommt,

nur noch der als ein Freund für ihn übrig, der ihmgleichdenkend Lob und Tadel für dieselben Dingehätte und sich von dem Tyrannen beherrschen ließeund ihm unterwürfig wäre. Der wird in diesemStaate großen Einfluß besitzen, und ihm Unrechtzu tun wird keinem wohl bekommen. Ist's nicht so?

Kallikles: Ja.Sokrates: Wenn also in diesem Staate ein Jüngling

überlegte: »Wie fange ich es an, daß ich großenEinfluß erlangen und niemand mir Unrecht tunkann?«, so ist das für ihn wohl der Weg dazu, daßer sich gleich von Jugend auf gewöhnt, Freude und

Page 146: (eBook - German) Platon - Gorgias

146Platon: Gorgias

Haß über dieselben Dinge mit seinem Herrn zu tei-len und danach zu trachten, daß er ihm so ähnlichwie möglich werde. Nicht so?

Kallikles: Ja.Sokrates: Also dadurch wird es ihm gelingen, sich

vor Unrechtleiden zu schützen und, wie ihr sagt,große Macht in dem Staate zu erlangen.

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Auch Freiheit vom Unrechttun? Oder weit

gefehlt, wenn er ja dem Herrscher ähnlich sein undbei diesem großen Einfluß besitzen soll, der unge-recht ist? Nein, ich denke, so wird er gerade umge-kehrt in die Lage kommen, die es ihm möglichmacht, möglichst viel Unrecht zu tun, ohne dafürStrafe zu erleiden. Nicht wahr?

Kallikles: Offenbar.Sokrates: Also wird ihm das ärgste Übel zuteil, daß

er an seiner Seele erbärmlich und verdorben wirddurch die Nachahmung seines Herrn und seineMacht bei ihm.

Kallikles: Ich begreife gar nicht, wie du jedesmal dieWorte hin und her wendest, Sokrates. Oder weißtdu nicht, daß dieser Nachahmer jenen töten und desVermögens berauben wird, der nicht nachahmt?

Sokrates: Ich weiß es, mein guter Kallikles, wenn ichnicht taub bin. Hab' ich's doch nicht nur von dir,sondern auch von Polos eben noch oftmals und fast

Page 147: (eBook - German) Platon - Gorgias

147Platon: Gorgias

von allen anderen gehört, die im Staate eine Stel-lung einnehmen. So höre denn auch du von mir,daß er ihn wohl töten kann, wenn er will; aber erist dann ein Schurke, und jener ein rechtschaffenerMann.

Kallikles: Ist das nicht eben gerade beklagenswert?Sokrates: Nein - für jeden Vernünftigen, wie die Un-

tersuchung zeigt. Oder meinst du, das Streben desMenschen müsse sich darauf richten, daß man solange als möglich lebe, und die Künste müsse manüben, welche uns jedesmal aus Gefahren erretten,wie z.B. auch die Rhetorik, zu deren Übung dumich aufforderst, weil sie vor Gericht Rettungbringt?

Kallikles: Ja, beim Zeus, das ist gerade ein guter Rat.Sokrates: Nun weiter, mein Bester: Hältst du auch die

Kenntnis des Schwimmens für hochwichtig?Kallikles: Nein, beim Zeus, das nicht.Sokrates: Und doch rettet auch sie die Menschen vom

Tode, wenn sie in einen Fall kommen, wo mandiese Kenntnis nötig hat. Wenn dir aber diese ge-ringfügig dünkt, so will ich dir eine bedeutenderenennen: die Steuermannskunst, die nicht bloß dasLeben rettet, sondern auch den Leib und das Ver-mögen, und zwar aus den äußersten Gefahren, sogut wie die Redekunst. Sie ist jedoch zurückhaltendund bescheiden und tut nicht groß und gibt sich

Page 148: (eBook - German) Platon - Gorgias

148Platon: Gorgias

nicht das Ansehn, als brächte sie etwas Wunder-großes fertig; sondern, wenn sie dasselbe geleistethat wie die gerichtliche Rede, wenn sie aus Aiginahierher jemand gerettet hat, fordert sie, denke ich,zwei Obolen, und wenn aus Ägypten oder vomPontos, fordert sie, wenn's hoch kommt, für diesegroße Wohltat, daß sie, wie ich eben sagte, einenselbst, seine Kinder, Vermögen und Frau gerettethat, bei der Landung im Hafen zwei Drachmen,und der Mann selbst, der diese Kunst besitzt unddas geleistet hat, steigt aus und geht am Meeres-strand und seinem Schiff entlang spazieren in be-scheidenem Gewände. Denn er weiß, denke ich, zuberechnen, daß es ungewiß ist, wem von den Mit-reisenden er wirklichen Nutzen gebracht hat, daß erihn nicht hat im Meere ertrinken lassen, und wemSchaden, weil er weiß, daß er sie um keinen Deutbesser hat aussteigen lassen, weder an Leib nochSeele, als sie einstiegen. Er berechnet, daß, wennjemand, der mit großen unheilbaren Krankheitenam Leibe behaftet ist, nicht ertrank, der Mann un-glücklich ist, weil er nicht umkam, und daß erdurch ihn keinen Nutzen erlangt hat. Wenn aber je-mand an dem Teile seines Ich, das noch mehr wertist als sein Leib, an der Seele nämlich, viele unheil-bare Krankheiten hat, - dem soll das Leben wert-voll sein und dem soll es nützen, wenn man ihn aus

Page 149: (eBook - German) Platon - Gorgias

149Platon: Gorgias

der Gewalt des Meeres und des Gerichtes und woimmer sonst her rettet? Nein, er weiß, daß für denschlechten Menschen das Leben nicht gut ist. Dennder muß notwendig schlecht leben. Daher ist esnicht Brauch, daß der Steuermann sich etwas ein-bilde, wenn er uns auch rettet. Auch der Maschi-nenbauer nicht, mein Trefflicher, der bisweilennicht Geringeres retten kann als ein Feldherr, ge-schweige denn ein Steuermann und irgend sonsteiner; denn er rettet mitunter ganze Städte. Kann ersich wohl mit dem Redner vor Gericht messen?Und doch, wenn er, lieber Kallikles, reden wolltewie ihr, und sein Geschäft herausstreichen, sokönnte er euch mit seinen Reden überschütten undauffordern, daß ihr Maschinenbauer werden solltet,weil alles andere nichtig sei. Denn an Stoff dazugebricht es ihm nicht. Aber du verachtest ihn undseine Kunst nichtsdestoweniger und würdest ihnfast zum Spott »Maschinenbauer« nennen, und sei-nem Sohne würdest du deine Tochter nicht geben,noch die seinige für deinen Sohne freien wollen.Und doch nach den Gründen, auf die hin du deineKunst lobst, - mit welchem Rechte verachtest duden Maschinenbauer und die anderen, die ich ebennannte? Ich weiß, du würdest erwidern, du seiestbesser und aus besserer Familie. Wenn aber das»Besser« nicht heißt, was ich darunter verstehe,

Page 150: (eBook - German) Platon - Gorgias

150Platon: Gorgias

sondern eben dies schon Tugend ist, daß man sichund das Seinige erhalte, mag man sonst sein, wieman will, - so ist dein Tadel über den Maschinen-bauer, Arzt und sonstige Künste, welche die Erhal-tung zur Aufgabe haben, lächerlich. Nein, meinTrefflicher, bedenke, ob nicht das Edle und Guteetwas anderes ist als Retten und Sich-retten-lassen.Denn das Leben an sich ist's doch nicht. Wie langeer aber leben will, daran darf der wahrhafte Mannnicht denken und darf nicht am Leben hängen, son-dern darüber muß er die Entscheidung der Gottheitanheim stellen und muß den Weibern glauben, daßnicht einer seinem Geschicke entrinnen könne,und muß darauf sehen, auf welche Weise er dieZeit, die er leben soll, so gut wie möglich lebe, obso, daß er sich selbst der Verfassung des Staatesähnlich mache, indem er lebt, und du also jetzt demVolke der Athener so ähnlich als möglich werdenmußt, wenn du bei ihm beliebt sein und in demStaate großen Einfluß haben willst? Bedenke, obdir und mir das nützt, damit es uns nicht geht, meinTeuerster, wie angeblich den thessalischen Frauen,welche den Mond herunterziehen wollen, daß dieWahl dieser Macht in dem Staate mit dem Liebstenbezahlt wird. Wenn du aber glaubst, es könne dirirgend ein Mensch eine solche Kunst verleihen, diedir große Macht im Staate verschafft, während du

Page 151: (eBook - German) Platon - Gorgias

151Platon: Gorgias

dieser Verfassung, sei es nach der besseren oderschlechteren Seite hin, unähnlich bleibst, so bist dumeiner Ansicht nach, mein Kallikles, nicht richtigberaten. Denn du darfst kein bloßer Nachahmersein: sondern in der eigenen Natur mußt du ihnenähnlich sein, wenn du etwas Erkleckliches in derFreundschaft beim athenischen Demos (Volk) vordich bringen willst, und, beim Zeus, auch bei demSohne des Pyrilampes obendrein. Wer dich alsoihnen möglichst ähnlich macht, der wird dich zueinem Staatsmann und Redner machen, wie du essein willst. Denn die Menschen freuen sich jedes-mal nur über Reden, die nach ihrem Sinne lauten;über Fremdes ärgern sie sich - wenn du nicht an-ders meinst, du liebes Haupt. Haben wir daraufetwas zu erwidern, mein Kallikles?

Kallikles: Fast scheint es mir, ich weiß selbst nichtwie, du habest recht, mein Sokrates. Es geht miraber wie der großen Masse: ich bin nicht ganz vondir überzeugt.

Sokrates: Ja, die Liebe zum Demos, die noch in dei-ner Seele Platz hat, ist mir im Wege. Wenn wir je-doch vielleicht oft und besser eben dieselben Fra-gen in Erwägung ziehen, wirst du zur Überzeugungkommen. Rufe dir nun ins Gedächtnis zurück, daßwir zwei Arten von Behandlungsweisen für jegli-che Sache, für Leib und Seele, annehmen: die eine

Page 152: (eBook - German) Platon - Gorgias

152Platon: Gorgias

behandelt sie nach ihrem Gefallen, die andere mitRücksicht auf ihr Bestes, indem man nicht nachGefallen etwas tut, sondern es durchsetzt. War esnicht so, was wir damals festsetzten?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Nicht wahr, die eine, die nach Gefallen ver-

fährt, ist unedel und eigentlich nichts weiter alseine Schmeichelei? Nicht wahr?

Kallikles: Nun gut, wenn du es so willst.Sokrates: Die andere aber geht darauf, daß der Ge-

genstand, den wir behandeln, sei es Leib oderSeele, so gut wie möglich werde?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Also so müssen wir suchen den Staat und

die Bürger zu behandeln, daß wir die Bürger selbstso gut wie möglich machen? Denn ohne dies ist es,wie wir in der vorausgehenden Untersuchung fan-den, nichts nütze, ihnen irgend sonst eine Wohltatzu erweisen, wenn nicht die Gesinnung derer edelund gut ist, die großen Reichtum gewinnen odereine Herrschaft über andere oder sonst eine wich-tige Stellung erhalten sollen. Soll es so gelten?

Kallikles: O ja, wenn es dir so gefällt.Sokrates: Wenn wir nun öffentlich ein bürgerliches

Geschäft angefangen hätten, und wir wollten einan-der zu Bauunternehmungen auffordern, zu rechtgroßen Bauten von Mauern oder Schiffswerften

Page 153: (eBook - German) Platon - Gorgias

153Platon: Gorgias

oder Tempeln, - müssen wir uns dann nicht selbstgründlich prüfen, zunächst, ob wir die Kunst ver-stehen oder nicht, die Baukunst nämlich, und vonwem wir sie gelernt hätten? Ja oder nein?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Sodann zweitens, ob wir je einen Privatbau

ausgeführt hätten, sei es für einen Freund oder füruns selbst, und ob dieser Bau schön geraten odermißlungen ist. Wenn wir nun in dieser Untersu-chung fänden, daß wir tüchtige und berühmte Leh-rer gehabt und viele schöne Bauwerke unter Lei-tung der Lehrer ausgeführt und dann auch vieleselbständig in eigenem Namen, seit wir die Lehrerverließen, - wenn es also so stünde, dann wäre esvernünftig, an Unternehmungen des Staates zugehen. Wenn wir aber weder einen Lehrmeister vonuns aufzuweisen hätten und entweder gar keineoder viele mißlungene Bauten, dann wäre es dochunvernünftig, an Staatsbauten Hand anzulegen unddazu einander aufzumuntern. Ist das wohl so richtigoder nicht?

Kallikles: Ja.Sokrates: Steht's nicht so mit allem übrigen auch?

Wenn wir unter anderem in Staatsdienste tretenwollten und einander dazu aufforderten, weil wiruns als geschickte Ärzte ansehen, so würden wirdoch einander prüfen, ich dich und du mich: »Bei

Page 154: (eBook - German) Platon - Gorgias

154Platon: Gorgias

den Göttern, sprich, wie steht es denn mit der Lei-besgesundheit des Sokrates selbst? Oder ist schonsonst jemand durch den Sokrates seine Krankheitlosgeworden, ein Sklave oder ein Freier?« Auchich, denke ich, werde ähnliche Betrachtungen überdich anstellen. Und wenn wir fänden, durch unserVerdienst sei noch niemandes Leibeszustand ge-bessert worden, weder von einem Fremdling nocheinem Bürger, weder Mann noch Weib, - wäre esdann, beim Zeus, lieber Kallikles, nicht in Wahr-heit lächerlich, daß Menschen so töricht sein kön-nen, daß sie, wie man zu sagen pflegt, am Fasse dieTöpferei zu erlernen versuchen und selbst in öffent-liche Dienste treten und andere, die nicht bessersind, dazu auffordern, ehe sie für sich vieles, wie eseben gehen wollte, und vieles Gelungene ausge-führt und sich hinlänglich in der Kunst geübthaben? Ist so ein Verfahren nicht unsinnig?

Kallikles: Gewiß.Sokrates: Da du nun eben jetzt, mein Trefflichster,

nicht bloß selbst anfängst, die Leitung des Staatsauf dich zu nehmen, sondern auch mich dazu auf-munterst und mir es zum Vorwurfe machst, daß iches nicht tue, - sollen wir nicht einander einer Prü-fung unterziehen? »Wohlan, hat Kallikles bereitseinen Bürger gebessert? War irgend einer früherschlecht, ungerecht, zügellos und unverständig, der

Page 155: (eBook - German) Platon - Gorgias

155Platon: Gorgias

durch Kallikles' Verdienst zu einem rechtschaffe-nen Mann geworden ist, ein Fremder oder Bürger,ein Sklave oder Freier?« Sage mir, wenn dich je-mand darin prüfte, lieber Kallikles, was willst dusagen? Wen kannst du nennen, den du durch deinenUmgang besser gemacht hast? - Nun, du zögerstmit der Antwort, ob du so einen Erfolg aus deinemprivaten Wirkungskreise aufzuweisen hast, ehe duzu Staatsgeschäften übergingst?

Kallikles: Da willst nur recht behalten, Sokrates!Sokrates: Nein, nicht aus Rechthaberei frage ich dich,

sondern weil ich in Wahrheit wissen möchte, aufwelche Weise du unter uns glaubst den Staat ver-walten zu müssen, - ob deine Sorge auf etwas an-deres sich richten wird, wenn du zur Leitung desStaates kommst, oder auf die Besserung der Bür-ger. Oder haben wir nicht bereits oft zugestanden,daß dies die Aufgabe des Staatsmannes sei? Ja odernein? Antworte! - »Ja, das haben wir zugestan-den«, so will ich für dich antworten. Wenn alsodieser Gesichtspunkt die Tätigkeit des wackerenMannes für seinen Staat bestimmen muß, so erin-nere dich jetzt wieder jener Männer, die du kurzvorher nanntest, und sage mir, ob du noch immerglaubst, daß Perikles, Kimon, Miltiades und The-mistokles sich als wackere Bürger erwiesen haben?

Kallikles: O ja.

Page 156: (eBook - German) Platon - Gorgias

156Platon: Gorgias

Sokrates: Wenn das der Fall ist, so hat offenbar jedervon ihnen die Bürger aus schlechteren Menschenzu besseren gemacht? Ja oder nein?

Kallikles: Ja.Sokrates: Als demnach Perikles vor dem Volke auf-

zutreten begann, waren die Athener schlechter alsbei seinem letzten Auftreten?

Kallikles: Vielleicht.Sokrates: Nicht »vielleicht«, mein Bester, sondern

das folgt notwendig aus unseren Zugeständnissen,wenn er ein tüchtiger Staatsmann war.

Kallikles: Nun, was willst du damit?Sokrates: Nichts. Das aber sage mir noch: ob nach

der allgemeinen Meinung die Athener durch Peri-kles gebessert worden sind, oder ob sie nicht ganzim Gegenteil von ihm verdorben worden sind?Denn ich höre das behaupten, Perikles habe dieAthener träge, feig, schwatzhaft und geldsüchtiggemacht, indem er sie zuerst auf Besoldung anwies.

Kallikles: So etwas hörst du von den Leuten mit denzerschlagenen Ohren.

Sokrates: Nur folgendes habe ich nicht mehr bloß ge-hört, sondern weiß ich genau, und du auch, daß Pe-rikles zuerst sehr gerühmt wurde und die Athenerkein schimpfliches Urteil über ihn aussprachen, so-lange sie noch schlechter waren; als sie aber braveMänner geworden waren durch ihn, sprachen sie

Page 157: (eBook - German) Platon - Gorgias

157Platon: Gorgias

ihn gegen das Ende seines Lebens der Unterschla-gung schuldig, und sie hätten ihn fast zum Todeverurteilt, offenbar weil er schlecht sein sollte.

Kallikles: Wie nun? War deshalb Perikles schlecht?Sokrates: Gewiß, wenn ein Hüter von Eseln oder

Pferden und Ochsen sich so zeigte, würde er fürschlecht gelten, wenn er nämlich die Tiere empfan-gen hätte, ohne daß sie ausschlugen, stießen undbissen, und nachher zeigten sich alle diese Fehleran ihnen infolge von Verwilderung. Oder soll dasnicht eine schlechte Zucht sein, wenn einer, was esfür Tiere sein mögen, sie ziemlich zahm empfan-gen, aber wilder abgeliefert hätte, als er sie emp-fing? Ja oder nein?

Kallikles: Ja denn, um dir nur den Gefallen zu tun.Sokrates: Sei denn so gefällig und beantworte mir

auch das, ob auch der Mensch in eines der Tierge-schlechte gehört oder nicht?

Kallikles: Allerdings.Sokrates: Perikles sorgte doch für Menschen?Kallikles: Ja.Sokrates: Nun weiter: Mußten sie nicht, wie wir eben

zugestanden, unter seiner Leitung gerechter wer-den, statt ungerecht, wenn er ein tüchtiger Staats-mann war, der sie in seine Obhut nahm?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Nicht wahr, die Gerechten sind zahm, wie

Page 158: (eBook - German) Platon - Gorgias

158Platon: Gorgias

Homeros sagt? Was meinst du dazu? Nicht ebendasselbe?

Kallikles: Ja.Sokrates: Und doch hat er sie wilder gemacht, als er

sie empfing, und zwar gegen ihn selbst, was ergewiß am wenigsten wollte.

Kallikles: Soll ich dir das zugeben?Sokrates: Wenn ich nach deiner Meinung recht habe.Kallikles: Nun gut.Sokrates: Wenn nun wilder, dann auch ungerechter

und schlechter?Kallikles: Meinetwegen.Sokrates: Hiernach war also Perikles kein guter

Staatsmann.Kallikles: Ja, so behauptest du.Sokrates: Beim Zeus, du auch, nach deinen Zuge-

ständnissen! Wiederhole mir es aber auch in betreffdes Kimon: Haben ihn nicht die, die er pflegte,durch das Scherbengericht verbannt, um zehn Jahrelang seine Stimme nicht hören zu müssen? DemThemistokles taten sie dasselbe an und bestraftenihn obendrein noch mit Landesverweisung. DenMiltiades aber, den Marathonsieger, beschlossensie in die Grube zu werfen, und wäre der Prytanenicht gewesen, so wäre er hineingestürzt worden.Und doch, wenn diese Männer, wie du behauptest,tüchtig gewesen wären, so wäre ihnen das nie

Page 159: (eBook - German) Platon - Gorgias

159Platon: Gorgias

widerfahren. Die tüchtigen Wagenlenker werdenalso im Anfang nicht vom Wagen heruntergewor-fen; wenn sie aber die Rosse in Behandlung hattenund selbst bessere Wagenlenker geworden sind,dann stürzen sie herunter! Nein, das kommt wederbeim Wagenlenker vor, noch bei irgend einer ande-ren Tätigkeit. Oder meinst du?

Kallikles: Nein.Sokrates: Daher waren, scheint es, die früheren Be-

hauptungen vollkommen wahr, daß wir in diesemStaate keinen tüchtigen Staatsmann kennen. Dugabst zu, unter den jetzigen gebe es keinen, mein-test jedoch, unter den früheren, und hobst dieseMänner hervor. Diese aber stehen offenbar den jet-zigen gleich, und wenn diese daher Redner waren,so haben sie weder die echte Rhetorik geübt -sonst wären sie nicht gestürzt worden - noch dieschmeichlerische Art.

Kallikles: Aber dennoch, lieber Sokrates, fehlt viel,daß jemals einer in unserer Zeit solche Werke voll-bringe, als jeder, welchen du willst, von ihnen aus-geführt hat.

Sokrates: Mein Trefflicher, ich tadle sie ja nicht alsDiener des Staates; ja, sie scheinen mir bessereDiener gewesen zu sein als die jetzigen, und besserbefähigt, für die Neigungen und Bedürfnisse derBürgerschaft Mittel herbeizuschaffen. Indes in

Page 160: (eBook - German) Platon - Gorgias

160Platon: Gorgias

bezug auf die Pflicht, die Begierden umzuwandelnund ihnen nicht nachzugeben, sondern durch Über-redung und Gewalt ihnen die Richtung zu geben,daß die Bürger dadurch sittlich besser werdenmüßten, - darin leisteten jene eigentlich nichtsmehr als die heutigen. Und doch ist das allein dieAufgabe eines rechtschaffenen Bürgers und Staats-manns. Dagegen gebe ich zu, daß jene in der Be-schaffung von Schiffen, Mauern, Schiffswerftenund vielen anderen Dingen der Art mehr zu leistenverstanden als diese. Nun, wir fangen es doch inunserer Untersuchung recht lächerlich an, ich unddu: denn in der ganzen Zeit, in der wir uns unterre-den, drehen wir uns unaufhörlich stets auf demsel-ben Flecke herum, und einer versteht nicht, was derandere meint. Soviel ich wenigstens glaube, hast duoft zugestanden und anerkannt, daß es eine zweifa-che Beschäftigung gibt in bezug auf den Leib wiedie Seele, und daß die eine dienender Art ist, durchwelche man in den Stand gesetzt wird, wenn unse-ren Leib hungert, Speisen, wenn ihn dürstet, Ge-tränke, wenn ihn friert, Kleider, Decken, Schuhe,kurz die Bedürfnisse herbeizuschaffen, welche fürden Leib hervortreten. Absichtlich sage ich dir esin denselben Bildern, damit du mich besser ver-stehst. Wenn nämlich jemand sich darauf versteht,sie herbeizuschaffen, sei es als Krämer oder

Page 161: (eBook - German) Platon - Gorgias

161Platon: Gorgias

Kaufmann oder Handwerker für ein Fach dieserArt, sei er Bäcker, Koch, Weber, Schuhmacheroder Gerber, so ist es nicht befremdlich, wenn soein Mann bei sich selbst und den übrigen für einenPfleger des Leibes gilt, bei jedem nämlich, dernicht weiß, daß es außer allen diesen Professionennoch eine Kunst der Gymnastik und Heilkundegibt, welche in Wahrheit die Leibespflege enthält,die auch über alle diese Künste die Herrschaft füh-ren und den Gebrauch ihrer Erzeugnisse regelnmuß, weil sie weiß, was von den Speisen und Ge-tränken für die vollkommene Ausbildung des Lei-bes gut und was schlecht ist, während alle übrigenKünste es nicht wissen. Deshalb seien denn auchdiese Tätigkeiten unter der Beschäftigung mit demLeibe niedrige, dienende und unedle; die Gymna-stik und Heilkunst dagegen seien dem Rechte nachHerrscherinnen über sie. Wenn ich nun sage, ganzdasselbe gelte auch für die Seele, so verstehst du,scheint es, manchmal meine Meinung und stimmstihr bei, scheinbar als hättest du ihren Sinn richtigerkannt; bald darauf aber kommst du und sagst, eshätten tüchtige und brave Männer an der Spitze un-seres Staates gestanden, und wenn ich dich frage,welche, so führst du mir, meine ich, Männer vor,mit denen es in bezug auf Staatsverwaltung ganzähnlich steht, wie wenn ich fragte, welche

Page 162: (eBook - German) Platon - Gorgias

162Platon: Gorgias

Menschen in bezug auf die Gymnastik tüchtig oderrichtige Pfleger des Leibes seien, und du antworte-test mir ganz im Ernste, daß der Bäcker Thearionund Mithaikos, der die sizilische Kochkunst ge-schrieben hat, und der Schenkwirt Sarambos ausge-zeichnete Pfleger des Leibes seien, weil der einevortreffliche Brote bereite, der zweite Speisen undder dritte Wein.

Vielleicht würdest du empfindlich, wenn ich dirdann sagte: Lieber Freund, du verstehst nichts vonder Gymnastik. Du nennst mir nur Diener undMenschen, die für die Befriedigung von Begierdensorgen, aber gar nichts Tüchtiges davon verstehen,die wohl, wie sich's trifft, die Leiber der Menschenanfüllen und dick machen und von ihnen dafür ge-lobt werden, aber am Ende auch ihr ursprünglichesFleisch noch verderben werden. Diese werden je-doch aus Unkenntnis nicht ihre Speisemeister alsdie Urheber ihrer Krankheiten und des Abfallsihres alten Fleisches beschuldigen, sondern diejeni-gen, welche dann zufällig gerade da sind und ihneneinen Rat erteilen, wenn nämlich die damalige An-füllung nach viel späterer Zeit eine Krankheit imGefolge führt, weil sie ohne Rücksicht auf Gesund-heit geschah. Diese also werden sie beschuldigen,tadeln und, wenn sie es vermögen, mißhandeln;jene früheren Urheber ihrer Leiden aber werden sie

Page 163: (eBook - German) Platon - Gorgias

163Platon: Gorgias

preisen. Du, lieber Kallikles machst es jetzt gerade-so: Du preisest Menschen, welche die hiesigenBürger mit Speisen gefüttert haben, nach denen sieLust hatten, und darum sagt man, sie hätten dieStadt groß gemacht. Daß aber der Staat durch dieSchuld der alten Staatsmänner aufgedunsen und in-nerlich vereitert ist, merkt man nicht. Denn ohneBesonnenheit und Gerechtigkeit haben sie denStaat mit Häfen, Werften, Mauern, Zöllen und der-gleichen Zeug angefüllt. Wenn nun der Ausbruchder Krankheit erfolgt, dann werden sie die derzeiti-gen Ratgeber beschuldigen, den Themistokles,Kimon und Perikles aber preisen, die doch Urheberdes Elendes sind. Vielleicht werden sie aber dichfassen, wenn du dich nicht in acht nimmst, undmeinen Freund Alkibiades, wenn sie zu dem erwor-benen Besitz auch den ursprünglichen verlieren,während ihr doch nicht Urheber, sondern vielleichtnur Miturheber des Unglücks seid. Und doch be-trägt man sich dabei sehr unverständig, nicht bloßjetzt, wie ich selbst sehe, sondern es geschah auchin älterer Zeit so, wie ich höre. Ich bemerke näm-lich, daß, wenn der Staat einen Staatsmann alsschuldig behandelt, dann klagen sie und tun ent-setzlich, wie schlimm es ihnen ergehe: sie hättendem Staate viel Gutes erwiesen und würden nunungerechterweise von ihm zugrunde gerichtet - so

Page 164: (eBook - German) Platon - Gorgias

164Platon: Gorgias

lautet ihre Rede. Aber das ist lauter Lüge. Dennnicht ein einziger Leiter eines Staates könnte je mitUnrecht durch den Staat selbst, den er leitet, denUntergang finden. Es scheint übrigens mit allen,die sich für Staatsmänner ausgeben, ganz so zu ste-hen wie mit den Sophisten: Denn auch die Sophi-sten, die doch sonst weise sind, benehmen sich indiesem Stücke albern. Sie geben sich nämlich fürLehrer der Tugend aus und klagen doch oft überihre Schüler, daß diese ihnen ihren Lohn vorent-hielten und anderen Dank nicht erstatteten, obwohlsie doch von ihnen Wohltaten empfangen hätten.Was kann aber unsinniger sein als diese Rede, daßMenschen, welche gut und gerecht geworden seien,denen die Ungerechtigkeit von ihrem Lehrer abge-nommen sei, während sie Gerechtigkeit dafür erhal-ten hätten, Unrecht täten mit etwas, was sie garnicht haben? Scheint dir das nicht abgeschmackt,mein Freund? Ja, lieber Kallikles, du hast michwirklich genötigt, dadurch, daß du nicht antwortenwolltest, eine lange Rede zu halten.

Kallikles: Und du solltest nicht imstande sein zureden, wenn dir nicht jemand antwortet?

Sokrates: Der Schein spricht gegen mich. Wenigstensspinne ich jetzt lange Reden aus, da du mir ja nichtantworten willst. Doch beim Gott der Freundschaft,mein Guter, sage: liegt dir nicht offenbar ein

Page 165: (eBook - German) Platon - Gorgias

165Platon: Gorgias

Widerspruch darin, wenn jemand behauptet, erhabe einen anderen gut gemacht, und macht es die-sem doch zum Vorwurfe, daß er, während er durchihn gut geworden sei und es noch bleibe, dennochsich schlecht benehmen?

Kallikles: Freilich.Sokrates: Hörst du nicht solche Dinge von denen, die

die Menschen nach ihrer eigenen Angabe zur Tu-gend erziehen?

Kallikles: Jawohl. Doch was willst du über so nichts-bedeutende Leute ein Wort verlieren?

Sokrates: Nun, was willst du aber über diejenigensagen, welche angeblich Leiter des Staates sind unddafür sorgen, daß er möglichst gut werde, und ihndoch wieder in gewissen Fällen der größtenSchlechtigkeit beschuldigen? Unterscheiden sichwohl diese Leute von jenen? Nein, mein Edler, derSophist und der Rhetor ist ein und dasselbe, odersie stehen sich nah und dicht zusammen, wie ich zuPolos sagte. Du aber hältst das eine, die Rhetorik,aus Mangel an Einsicht für wunderschön; das an-dere aber verachtest du. In Wahrheit aber ist dieSophistik um so viel schöner denn die Rhetorik, alsauch die Gesetzgebung schöner ist denn dieRechtspflege und die Gymnastik schöner als dieHeilkunst. Ich dachte mir auch, gerade die Volks-redner und Sophisten allein dürften dem Dinge, das

Page 166: (eBook - German) Platon - Gorgias

166Platon: Gorgias

sie selbst erziehen, nicht den Vorwurf machen, daßes sich gegen sie schlecht benehme, oder sie müs-sen in demselben Atem auch sich selber anklagen,daß sie denen keinen Nutzen gebracht haben, denensie zu nützen versprechen. Nicht so?

Kallikles: Gewiß.Sokrates: Ja, gerade sie allein dürften doch natürlich

ihre Wohltat ohne Lohnbestimmung hingeben,wenn sie von vornherein recht hätten. Denn wenneiner eine andere Wohltat empfangen hat, z.B.schnell gemacht wurde durch den Turnlehrer, sokönnte er vielleicht die Vergeltung vorenthalten,wenn ihm der Turnlehrer die Kunst hingäbe und,ohne Lohn ausgemacht zu haben, nicht zugleich beider Mitteilung der Schnelligkeit jedesmal so gut,als das geht, auch das Geld in Empfang nähme.Denn die Menschen tun, denke ich, nicht durchLangsamkeit Unrecht, sondern durch Ungerechtig-keit. Nicht wahr?

Kallikles: Ja.Sokrates: Nicht wahr, wenn jemand eben dies weg-

nimmt - die Ungerechtigkeit -, so braucht er nichtzu fürchten, daß ihm Unrecht widerfahre, sonderner allein kann sicher seine Wohltat hingeben, wenner nämlich wirklich Menschen gut zu machen ver-mag. Nicht so?

Kallikles: Das will ich meinen.

Page 167: (eBook - German) Platon - Gorgias

167Platon: Gorgias

Sokrates: Deshalb also, scheint es, hat es nichts Ent-ehrendes, wenn jemand für anderen Rat, den er er-teilt, sich bezahlen läßt, z.B. in betreff eines Bauesoder anderer Künste.

Kallikles: Offenbar.Sokrates: Dagegen gilt es für entehrend, nur unter der

Bedingung, daß jemand Geld dafür zahle, einenRat dafür erteilen zu wollen, wie man möglichstgut werden und am besten sein eigenes Hauswesenoder einen Staat verwalten könne. Nicht wahr?

Kallikles: Ja.Sokrates: Offenbar liegt der Ansicht zugrunde, daß

nur diese Wohltat allein in dem, der sie empfangenhat, das Bedürfnis der Vergeltung erweckt, so daßgerade das für ein schönes Zeugnis gilt, wenn je-mand für die Erweisung dieser Wohltat Vergeltungerntet: wo nicht, ein schlechtes Zeugnis. Ist das so?

Kallikles: Ja.Sokrates: Zu welcher Art von Behandlung des Staates

ermunterst du mich nun? Bestimme es genau:Dazu, mit den Athenern ringend durchzusetzen,daß sie möglichst gut werden, wie ein Arzt oderwie ein Diener und nach Gunst Haschender zu ver-fahren? Sage mir es aufrichtig, lieber Kallikles!Denn du mußt, wie du freimütig gegen mich dichzu äußern anfingst, so auch bis zum Ende deinewahre Meinung aussprechen. So sage sie auch jetzt

Page 168: (eBook - German) Platon - Gorgias

168Platon: Gorgias

offen und ehrlich!Kallikles: Nun denn: wie ein Diener.Sokrates: Also zur Schmeichelei, mein Edelster, for-

derst du mich auf.Kallikles: Meinetwegen, wenn du ihn gar lieber einen

Myser nennen willst, mein Sokrates; denn wenn dudas nicht tun wirst -

Sokrates: Sage mir nicht, was du oft gesagt hast:»Dann werde mich jeder Beliebige töten«, damitnicht auch ich wieder antworte: »Freilich; aber erselbst ist ein Schurke und ich ein redlicher Mann«;und: »Er wird dich deiner Habe berauben«, wennich welche besitze, damit ich nicht wieder antwor-te: »Ja, aber nach dem Raube wird er nichts damitanzufangen wissen, sondern wie er sie mir wider-rechtlich geraubt hat, so wird er sie auch wider-rechtlich gebrauchen und, wenn widerrechtlich,auch häßlich, wenn aber häßlich, auch schlecht.«

Kallikles: Wie sicher scheinst du dich doch zu fühlen,lieber Sokrates, daß dir gar nichts der Art widerfah-ren könne, als wohntest du aus dem Wege undkönntest nicht vor Gericht gezogen werden, viel-leicht gar von einem ganz verworfenen undschlechten Menschen!

Sokrates: Dann bin ich, mein Kallikles, wahrhaftigein Tor, wenn ich nicht glauben will, daß in unse-rem Staate jedem alles mögliche widerfahren

Page 169: (eBook - German) Platon - Gorgias

169Platon: Gorgias

könne. Doch das weiß ich gewiß: wenn ich vor Ge-richt komme, und es handelt sich um etwas, was dunanntest, so wird mein Ankläger ein schlechterMensch sein. Denn kein rechtschaffener Menschkönnte einen Unschuldigen anklagen. Auch soll esmich nicht wundern, wenn ich dann den Tod fände.Soll ich dir sagen, weshalb ich das erwarte?

Kallikles: Jawohl.Sokrates: Ich glaube mit wenigen Athenern, um nicht

zu sagen allein, der wahrhaften Staatskunst obzu-liegen und allein in unserer Zeit für das Staatswohltätig zu sein. Da ich nun die Ansichten, die ich je-desmal vorbringe, nicht nach dem Gefallen anderereinrichte, sondern mit Rücksicht auf das Gute,nicht das Angenehme, und weil ich mich damitnicht abgeben will, wozu du mich aufforderst - mitden hohen Dingen meine ich -, so werde ich vorGericht nichts vorzubringen wissen. Dabei fällt mirderselbe Gedanke ein, den ich gegen Polos aus-sprach: ich werde nämlich verurteilt werden, wieein Arzt unter Kindern verurteilt würde, wenn ihnein Koch anklagte. Denn denke nur, was sollte soein Mensch vor diesem Gerichtshofe zu seiner Ver-teidigung vorbringen, wenn ihn jemand anklagteund etwa sagte: »Liebe Kinder! Dieser Mensch hateuch viel Leides zugefügt: er verdirbt euch selbstund namentlich die Jüngsten unter euch; mit

Page 170: (eBook - German) Platon - Gorgias

170Platon: Gorgias

Schneiden, Brennen, Fasten und Brechmittelnmacht er euch zu schaffen, gibt euch die bitterstenTränkchen ein und läßt euch hungern und dursten,nicht wie ich, der ich euch mit vielen süßen Spei-sen in reicher Abwechslung traktierte.« Was solltewohl der Arzt, wenn er in ein solches Schicksal ge-raten wäre, vorzubringen wissen? Oder wenn er dieWahrheit sagte: »Das alles, liebe Kinder, tat ichzur Gesundheit«, - welches Geschrei würden dawohl solche Richter erheben? Nicht ein lautes?

Kallikles: Wahrscheinlich. Man soll es wohl denken.Sokrates: Sollte er nicht in großer Verlegenheit dar-

über sein, was er sagen soll?Kallikles: Jawohl.Sokrates: So ähnlich würde mir es gewiß auch erge-

hen, wenn ich vor Gericht gezogen würde. Dennich werde weder Genüsse anzuführen wissen, dieich ihnen verschafft habe - und darin erblicken siedoch Wohltaten und Nutzen -, noch auch preiseich die, welche sie schaffen, noch die, denen sieverschafft werden. Und wenn jemand behauptet,ich verderbe die Jüngeren, indem ich sie in Zweifelbrächte, oder ich beschimpfe die Älteren durch bit-tere Reden im engen Kreise oder öffentlich, sowerde ich weder die Wahrheit vorbringen undsagen können: »Das alles sage ich mit Recht undhandle ja gerade in eurem eigenen Interesse,

Page 171: (eBook - German) Platon - Gorgias

171Platon: Gorgias

geehrte Richter«, noch sonst etwas. Daher werdeich, was es eben sein mag, über mich ergehen las-sen müssen.

Kallikles: Nun, lieber Sokrates, ist denn das nach dei-ner Ansicht schön, wenn ein Mensch im Staate insolcher Lage sich befindet und sich selber nicht zuhelfen weiß?

Sokrates: Ja, wenn sich das eine an ihm findet, wasdu oft zugestanden hast: wenn er sich selbst gehol-fen hat, und hat weder gegen Menschen noch Göt-ter, weder in Worten noch Taten, ein Unrecht be-gangen. Denn daß diese Selbsthilfe die beste sei,haben wir oft zugestanden. Wenn mir nun jemandnachweist, daß ich diese Hilfe weder mir selbstnoch einem anderen zu bringen imstande sei, sowürde ich mich schämen, möchte es mir nun vorvielen oder wenigen oder auch unter vier Augennachgewiesen werden, und wenn ich um dieses Un-vermögens willen den Tod fände, würde es michtief schmerzen; wenn ich aber sterben sollte, weilmir die schmeichlerische Redekunst abgeht, sowürdest du mich, das bin ich fest überzeugt, denTod leicht tragen sehen. Denn das Sterben an sichfürchtet niemand, wer nicht durchaus unvernünftigund unmännlich ist, - aber das Unrechttun fürchtetman. Denn wenn die Seele mit vielen Sünden ange-füllt in den Hades kommen soll, - das ist das

Page 172: (eBook - German) Platon - Gorgias

172Platon: Gorgias

allerschlimmste Leid. Wenn du willst, will ich direine Geschichte erzählen, daß dem so ist.

Kallikles: Nun, da du ja auch das andere durchgeführthast, so bringe auch das zu Ende!

Sokrates: So vernimm denn, wie man sagt, eine garschöne Geschichte, die du wohl für ein Märchenhalten wirst, wie ich mit denken kann, ich aber füreine Geschichte. Denn was ich dir jetzt mitteilenwill, das sehe ich als Wahrheit an. Wie nämlichHomeros sagt, teilten Zeus, Poseidon und Plutonunter sich die Herrschaft, nachdem sie diese vonihrem Vater überkommen hatten. Nun galt unterKronos das Gesetz über die Menschen, das auchjetzt noch wie immer unter den Göttern besteht,daß der Mensch, welcher sein Leben bis zu Endegerecht und fromm geführt habe, nach seinem Todeauf die Inseln der Seligen kommen und dort in allerArt von Glück--Seligkeit frei von Leiden wohnensolle; wer aber ungerecht und gottlos gelebt habe,solle in das Gefängnis der Rache und Vergeltungkommen, welches man bekanntlich Tartaros nennt.Richter über diese waren unter Kronos, und auchnoch, als Zeus eben erst die Herrschaft übernom-men hatte. Lebende über Lebende, Indem sie aneben Jenem Tage Gericht hielten, an welchem diesesterben sollten. Daher wurden schlechte Urteile ge-fallt. So kamen denn Pluton und die Aufseher auf

Page 173: (eBook - German) Platon - Gorgias

173Platon: Gorgias

den Inseln der Seligen zu Zeus und erklärten, eskämen beiderseits Menschen zu ihnen, die es nichtverdienten. Zeus nun erwiderte: »Gut, ich will denÜbelstand für die Zukunft abstellen. Denn jetztwerden die Sprüche verkehrt gefällt. Denn es wer-den ja«, sprach er, »die zu Richtenden bekleidetabgeurteilt. Es geschieht nämlich, während sienoch leben. Viele nun«, sprach er, »die verderbteSeelen haben, sind mit schönen Leibern, Stamm-bäumen und Reichtum bekleidet, und wenn das Ur-teil gesprochen wird, kommen ihnen viele Zeugen,um zu bezeugen, daß sie gerecht gelebt haben. DieRichter nun werden hierdurch in die Irre geführt,zumal sie auch ihrerseits bekleidet richten, indemsie vor der eigenen Seele noch mit Augen, Ohrenund dem ganzen Leibe umhüllt sind. All diese Um-stände sind ihnen natürlich hinderlich, ihre eigeneUmhüllung und die der Gerichteten. Zunächstalso«, sprach er, »ist das abzustellen, daß sie ihrenTod voraus wissen. Denn Jetzt wissen sie ihn vor-her. Auch habe ich das wirklich schon dem Prome-theus gesagt, wie er es ändern solle. Ferner müssenalle diese unbekleidet gerichtet werden: nach demTode nämlich muß das Gericht stattfinden. Auchder Richter muß unbekleidet sein, ein Toter, dermit seiner Seele allein alsbald nach dem Tode einesjeden nur seine Seele ansieht, während er getrennt

Page 174: (eBook - German) Platon - Gorgias

174Platon: Gorgias

ist von allen Verwandten und all jenen äußerenSchmuck auf der Erde zurückläßt, damit das Urteilgerecht ausfalle. Da ich nun diese Verhältnisse frü-her erkannt habe als ihr, so habe ich Söhne von mirzu Richtern bestimmt, zwei aus Asien, Minos undRhadamanthys, und einen aus Europa, Aiakos.Wenn diese gestorben sind, werden sie auf derWiese Gericht halten, auf dem Dreiwege, von demdie beiden Wege einerseits nach den Inseln der Se-ligen, andererseits nach dem Tartaros abführen. DieGestorbenen aus Asien wird Rhadamanthys rich-ten, die aus Europa Aiakos. Dem Minos aber werdeich den Vorsitz erteilen mit dem Rechte der Ent-scheidung, falls die beiden in einem Falle unent-schieden sind, damit das Urteil, wohin die Men-schen wandern sollen, möglichst gerecht ausfalle.«

Das ist es, lieber Kallikles, was ich gehört habeund für wahr halte. Aus diesen Tatsachen ziehe ichnun folgenden Schluß: Der Tod ist, wie mir dünkt,nichts weiter als die Trennung zweier Dinge voneinander, von Seele und Leib nämlich. Wenn sieaber von einander getrennt sind, hat nichtsdestowe-niger jedes von ihnen die Beschaffenheit noch fort,die es zu Lebzeiten des Menschen hatte, und zwarder Leib seine eigene Natur und die aus der Ent-wicklung herausgebildeten Zustände, ganz erkenn-bar. Wenn z.B. der Leib von irgend einem

Page 175: (eBook - German) Platon - Gorgias

175Platon: Gorgias

Menschen im Leben groß war, sei es von Naturoder durchpflege oder beides, so ist auch nach demTode sein Leichnam groß. War er dick, so ist erdick auch nach dem Tode, und so weiter. Wenn fer-ner jemand langes Haar zu tragen pflegte, so zeigtdies auch sein Leichnam. Wenn ferner einer einSträfling war, der in seinem Leben Spuren hattevon den Schlägen, Narben, sei es von Geißelhiebenoder sonstigen Wunden, an seinem Leibe, so läßtauch nach seinem Tode der Leib dieses sehen.Waren jemandes Glieder gebrochen oder verrenktim Leben, so ist dies auch im Tode erkennbar. Miteinem Worte, wie sich im Leben der Leib gebildethatte, so ist dies alles oder zumeist auch nach demTode auf einige Zeit sichtbar. Dieselbe Bewandtnishat es nun, lieber Kallikles, auch mit der Seelenach meiner Ansicht. An der Seele ist alles sicht-bar, wenn sie vom Leibe entkleidet wird, sowohldie natürlichen Anlagen als die Richtungen, welcheder Mensch durch seine Beschäftigung mit jegli-chem Dinge in der Seele entwickelt hatte. Wenn sienun zu dem Richter kommen, die Menschen ausAsien zu Rhadamanthys, so hält sie Rhadamanthysan und beschaut eines jeden Seele, ohne zu wissen,wessen sie ist; ja, oft hat er die Seele eines Großkö-nigs oder sonst eines Königs oder Herrschers ge-faßt und erblickt nichts Gesundes an ihr, sondern

Page 176: (eBook - German) Platon - Gorgias

176Platon: Gorgias

wie sie von Geißelhieben zerfleischt ist und infolgevon Meineiden und Ungerechtigkeit voller Narbenist, die jeglicher Seele seine Handlungsweise einge-drückt hat: alles ist verzerrt durch Lüge und Hof-fart, und nichts Gerades ist an ihr, weil sie ohneWahrhaftigkeit aufgewachsen ist. Ja, infolge vonLeichtsinn, Üppigkeit, Hochmut und Maßlosigkeitim Handeln erblickt er an der Seele eine Fülle vonMißverhältnis und Häßlichkeit. Daher schickt ersie mit Schimpf und Schanden direkt in den Ge-wahrsam, wo sie die ihr gebührenden Leiden erdul-den soll. Jeder aber, der Strafe leidet und voneinem anderen mit Recht gestraft wird, soll entwe-der besser werden und Nutzen davon haben - oderden anderen als Beispiel dienen, damit andere, dieseine Leiden sehen, sich fürchten und besser wer-den. Diejenigen, die von der Strafe, die sie an Göt-ter oder Menschen büßen, Nutzen haben, das sinddie, welche heilbare Fehler begangen haben. Den-noch wird ihnen dieser Nutzen hier oben wie imHades nur unter Leiden und Schmerzen zuteil: dennanders können sie von der Ungerechtigkeit nichtfrei werden. Diejenigen aber, welche das schlimm-ste Unrecht begangen haben und durch solche Fre-veltaten unheilbar geworden sind, werden zu ab-schreckenden Beispielen und haben selbst keinenVorteil mehr davon, weil sie eben unheilbar sind,

Page 177: (eBook - German) Platon - Gorgias

177Platon: Gorgias

wohl aber andere, welche sehen, wie sie um ihrerFrevel willen die schwersten, schmerzhaftesten undfurchtbarsten Leiden erdulden für ewige Zeit undrecht eigentlich als abschreckende Beispiele aufge-stellt sind dort im Hades im Gefängnis, für die stetshinzukommenden Frevler zum Anblick und zurWarnung. Dazu wird, denke ich, auch Archelaosgehören, wenn Polos recht hat, und jeder Tyrannsonst von dieser Art. Die meisten von diesen Bei-spielen sind auch, glaube ich, aus Tyrannen, Köni-gen, Machthabern und Staatsmännern hervorgegan-gen. Denn diese begehen wegen ihrer unbeschränk-ten Macht auch die größten und ruchlosesten Fre-vel. Dafür zeugt auch Homeros: denn er hat geradeKönige und Herrscher als solche dargestellt, die fürewige Zeiten im Hades Strafe leiden, Tantalos, Si-syphos und Tityos. Dagegen hat niemand den Ther-sites oder sonst einen verderbten Privatmann alsunheilbar mit schweren Strafen belegt werden las-sen. Denn er hatte keine Macht, glaube ich; deshalbwar er auch glücklicher als die, welche die Machtbesaßen. Nein, lieber Kallikles, gerade aus denMächtigen sind auch die ganz verworfenen Men-schen hervorgegangen. Indes können natürlich auchunter diesen sich brave Männer heranbilden. Dieseverdienen dann ganz besondere Bewunderung.Denn es ist schwer, lieber Kallikles, und darum

Page 178: (eBook - German) Platon - Gorgias

178Platon: Gorgias

auch großen Lobes wert, wenn man große Machtzum Unrechttun besitzt, dennoch ein gerechtesLeben zu führen. Doch es gab auch in dieser Stadtwie anderwärts, und ich glaube, es wird auch fernergeben rechtschaffene Männer, welche diese Tugendbesitzen, das, was man ihnen anvertraut, gerecht zuverwalten. Einer ist auch hochberühmt geworden,und zwar auch bei den übrigen Hellenen, nämlichAristeides, des Lysimachos Sohn. Die meistenMachthaber aber, mein Trefflichster, werdenschlecht. Wie ich nun schon sagte: wenn jener Rha-damanthys so einen trifft, so weiß er von ihm sonstgar nichts, weder wer er ist noch woher er stammt:nur das allein weiß er, daß er schlecht ist. Wenn erdas gesehen hat, macht er ein Zeichen, je nachdemer heilbar oder unheilbar zu sein scheint, undschickt ihn so in den Tartaros. Dort erleidet jenerdann die ihm gebührende Strafe. Bisweilen aber hater eine andere Seele anzuschauen, welche frommund in der Wahrheit gelebt hat, die Seele eines Pri-vatmanns oder von sonst jemand, besonders aber,denke ich, lieber Kallikles, eines Philosophen, derfür seine eigene Tätigkeit auf seine eigene Aufgabebeschränkt und sich in seinem Leben nicht auf einVielerlei von Geschäften eingelassen hat. Dann ister befriedigt und sendet sie nach den Inseln der Se-ligen. Ganz ebenso macht es auch Aiakos. Diese

Page 179: (eBook - German) Platon - Gorgias

179Platon: Gorgias

beiden richten nun jeder mit einem Stabe in derHand. Minos aber sitzt als Oberaufseher allein miteinem goldenen Szepter versehen, wie Odysseusbei Homeros ihn gesehen haben will,

Halten das goldene Szepter und richtend unter denToten.

Ich nun, lieber Kallikles, habe mich von diesenErzählungen überzeugen lassen und bin darauf be-dacht, dem Richter meine Seele dereinst so gesundals möglich darzustellen. Daher lasse ich die Ehrender großen Masse beiseite, forsche nach der Wahr-heit und suche in der Tat, so gut ich kann, als eintugendhafter Mensch zu leben und zu sterben,wenn's zum Sterben kommt. Ich fordere aber auch,soweit ich irgend kann, meine Mitmenschen alledazu auf; und namentlich dich ermahne ich meines-teils zu diesem Leben und diesem Wettkampf, der,wie ich glaube, über alle hiesigen Kämpfe geht,und mache dir es zum Vorwurfe, daß du nicht im-stande sein willst, dir selbst zu helfen, wenn dasGericht und Urteil kommt, von dem ich ebensprach, sondern wenn du zu dem Richter kommst,dem Sohne der Aigina, und dieser faßt dich undnimmt dich vor, daß du dann den Mund aufsperrenund schwindlig werden wirst, du dort nicht minder

Page 180: (eBook - German) Platon - Gorgias

180Platon: Gorgias

als ich hier, und dann wird man dich vielleicht zumSchimpf aufs Haupt schlagen und dich in jederWeise schimpflich behandeln. Vielleicht hältst dunun dies für ein Märchen, wie sie alte Weiber er-zählen, und achtest es gering. In der Tat würdemich diese Geringschätzung nicht befremden, wennwir durch Forschen irgend Besseres und Wahreresaufzufinden wüßten. Nun aber siehst du, daß ihrdrei, die ihr doch die weisesten Männer in Hellasseid, du, Polos und Gorgias, nicht zu beweisen ver-möget, daß man ein anderes Leben leben müsse alsdieses, das auch dort noch nützlich erscheint. Ja,während unter so vielen Behauptungen alle übrigenihre Widerlegung fanden, hat diese allein standge-halten, daß man sich vor dem Unrechttun mehrhüten müsse als vor dem Unrechtleiden, und daßder Mensch vor allem nicht nach dem Gutscheinen,sondern dem Gutsein selbst im privaten und öffent-lichen Leben streben müsse. Wenn aber jemand inirgend einer Beziehung schlecht wird, muß er ge-züchtigt werden, und das ist das zweite Gut nachdem Gerechtsein, daß man es werde und gezüchtigtStrafe leide. Jede Schmeichelei aber, gehe sie nunauf uns selbst oder auf die anderen, auf wenigeoder viele, muß man fliehen. Und so muß man vonder Rhetorik und jeglicher anderen Tätigkeit Ge-brauch machen, nämlich stets für das Gerechte. So

Page 181: (eBook - German) Platon - Gorgias

181Platon: Gorgias

laß dich denn überreden und folge mit dahin, wo duim Leben und im Tode glückselig sein sollst, wiedein eigener Mund bezeugt! Ja, laß dich nur ver-achten als einen Toren und schmähen, wenn je-mand es will, und, beim Zeus, laß dir getrost diesenschimpflichen Schlag erteilen! Denn das wird nichtschlimm sein, wenn du in Wahrheit rechtschaffenbist und die Tugend übst. Wenn wir uns dann ge-meinsam geübt haben, dann wollen wir, wenn esnötig scheint, die Geschäfte des Staates in Angriffnehmen und in Beratung ziehen, was uns gutdünkt, wenn wir nämlich zur Beratung besser sindals jetzt. Denn das ist schimpflich, in dem Zustand,in dem wir uns jetzt offenbar befinden, großzutun,als wären wir etwas, während wir doch niemalsdieselbe Ansicht über dieselben Dinge, und zwardie wichtigsten Lebensfragen, hegen: so tief stehenwir in unserer Bildung! Laß uns nun den Satz, derjetzt zutage gekommen ist, gleichsam als Wegwei-ser benutzen: Er zeigt uns, daß dies die beste Le-bensweise ist, wenn man im Leben und im Todedie Gerechtigkeit und überhaupt die Tugend übt.Ihm laß uns folgen - und laß uns auch die anderendazu ermahnen -, nicht jenem Satze, auf den duvertraust und nach dem du mich ermahnst! Denn ertaugt nichts, mein lieber Kallikles.