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Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens 1 Dr. phil. Joachim Reisaus Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens Vorbemerkung Zur Zeit Griegs war Norwegen ein Land mit 1,5 Millionen Einwohnern. Musikkonservatorien oder ähnliche Einrichtungen existierten nicht. Ein Musikstudium war daher nur im Ausland möglich. Heute leben in Norwegen über 5 Millionen Menschen, und das Land besitzt 7 Kunst- und Musikhochschulen. Grieg kam 1843 in der Hafenstadt Bergen zur Welt. Sein Vater, Alexander Grieg (1806 bis 1875), war ein Handelsherr und englischer Konsul, die Mutter, Gesine Grieg geb. Hagerup (1814 bis 1875), eine angesehene Klavierlehrerin und Pianistin, die einen Musiksalon führte und selbst Theaterstücke und Gedichte verfasste. Auch der Vater spielte Klavier mit kurzen emsigen Fingern. Edvard besuchte die Tanksche Schule in seiner Heimatstadt, eine Handelsschule mit gutem Sprachunterricht. Hier wurden die künftigen Handelsunternehmer und Schiffskapitäne ausgebildet. Doch die Schuljungen zeigten sich dem Lernen nicht besonders zugetan. Sie waren zügellos, wild, die meisten von zu Hause her schlecht erzogen und manche von ihnen sogar dem Trunk und Tabak verfallen. Mit brutalen Mitteln behaupteten sich die Lehrer. Unerbittlich übten sie ihre Macht aus. Edvard litt sehr unter den Zuständen, in die er hier geraten war. Sie standen im krassen Gegensatz zur musischen Atmosphäre im Elternhaus und führten zwischen ihm und der Institution zu Spannungen, die seine Belastbarkeit übersteigen sollten. Das aggressive Verhalten der Lehrer brachte den Feinfühligen stets aufs Neue in Lernschwierigkeiten. Der junge Grieg war 12 Jahre alt und hatte seine Variationen, Opus 1 in die Schule mitgebracht. Ein Klassenkamerad meldete das dem Deutschlehrer. Der ließ sich das Notenheft geben und holte seinen Kollegen aus der Nachbarklasse hinzu. Edvard fühlte sich schon einem großen Erfolg nahe. Doch kaum hatte der andere Pädagoge das Klassenzimmer wieder verlassen, packte der Deutschlehrer Edvard an den Haaren, schüttelte ihn bis ihm schwarz vor den Augen wurde, schrie ihn an und verbot ihm das Komponieren. Der Empfindsame fühlte sich in die Tiefe geschleudert und erlitt einen Schock. Edvard blieb sitzen und musste die dritte Klasse wiederholen. Künftig sah er in jedem Lehrer seinen Feind, eine Fiktion, die immer wieder Konflikte mit Machtbefugten verursachte und schließlich zum Autoritätskomplex erstarrte. Der Erlebnisinhalt dieser überwertigen Ideen gab auch den Anstoß zur republikanischen Haltung des späteren Komponisten. Als Grieg mit 15 Jahren 1858 auf das Leipziger Konservatorium kam, sah er auch hier in den Lehrern seine Feinde. Ein Leben lang lebte Grieg im Konflikt mit diesem Institut. Hinter diesen Auseinandersetzungen stand nicht etwa die Unfähigkeit der Konservatoriumslehrer, stand auf keinen Fall ein mangelhaftes Niveau der Lehranstalt, hinter diesem Konflikt verbarg sich die Angst des Komponisten vor den Forderungen der Welt, versteckte sich Griegs Lebensangst.

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Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens

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Dr. phil. Joachim Reisaus

Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens

Vorbemerkung

Zur Zeit Griegs war Norwegen ein Land mit 1,5 Millionen Einwohnern. Musikkonservatorien oder ähnliche Einrichtungen existierten nicht. Ein Musikstudium war daher nur im Ausland möglich. Heute leben in Norwegen über 5 Millionen Menschen, und das Land besitzt 7 Kunst- und Musikhochschulen. Grieg kam 1843 in der Hafenstadt Bergen zur Welt. Sein Vater, Alexander Grieg (1806 bis 1875), war ein Handelsherr und englischer Konsul, die Mutter, Gesine Grieg geb. Hagerup (1814 bis 1875), eine angesehene Klavierlehrerin und Pianistin, die einen Musiksalon führte und selbst Theaterstücke und Gedichte verfasste. Auch der Vater spielte Klavier mit kurzen emsigen Fingern. Edvard besuchte die Tanksche Schule in seiner Heimatstadt, eine Handelsschule mit gutem Sprachunterricht. Hier wurden die künftigen Handelsunternehmer und Schiffskapitäne ausgebildet. Doch die Schuljungen zeigten sich dem Lernen nicht besonders zugetan. Sie waren zügellos, wild, die meisten von zu Hause her schlecht erzogen und manche von ihnen sogar dem Trunk und Tabak verfallen. Mit brutalen Mitteln behaupteten sich die Lehrer. Unerbittlich übten sie ihre Macht aus. Edvard litt sehr unter den Zuständen, in die er hier geraten war. Sie standen im krassen Gegensatz zur musischen Atmosphäre im Elternhaus und führten zwischen ihm und der Institution zu Spannungen, die seine Belastbarkeit übersteigen sollten. Das aggressive Verhalten der Lehrer brachte den Feinfühligen stets aufs Neue in Lernschwierigkeiten. Der junge Grieg war 12 Jahre alt und hatte seine Variationen, Opus 1 in die Schule mitgebracht. Ein Klassenkamerad meldete das dem Deutschlehrer. Der ließ sich das Notenheft geben und holte seinen Kollegen aus der Nachbarklasse hinzu. Edvard fühlte sich schon einem großen Erfolg nahe. Doch kaum hatte der andere Pädagoge das Klassenzimmer wieder verlassen, packte der Deutschlehrer Edvard an den Haaren, schüttelte ihn bis ihm schwarz vor den Augen wurde, schrie ihn an und verbot ihm das Komponieren. Der Empfindsame fühlte sich in die Tiefe geschleudert und erlitt einen Schock. Edvard blieb sitzen und musste die dritte Klasse wiederholen. Künftig sah er in jedem Lehrer seinen Feind, eine Fiktion, die immer wieder Konflikte mit Machtbefugten verursachte und schließlich zum Autoritätskomplex erstarrte. Der Erlebnisinhalt dieser überwertigen Ideen gab auch den Anstoß zur republikanischen Haltung des späteren Komponisten. Als Grieg mit 15 Jahren 1858 auf das Leipziger Konservatorium kam, sah er auch hier in den Lehrern seine Feinde. Ein Leben lang lebte Grieg im Konflikt mit diesem Institut. Hinter diesen Auseinandersetzungen stand nicht etwa die Unfähigkeit der Konservatoriumslehrer, stand auf keinen Fall ein mangelhaftes Niveau der Lehranstalt, hinter diesem Konflikt verbarg sich die Angst des Komponisten vor den Forderungen der Welt, versteckte sich Griegs Lebensangst.

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1. Innere Bedingungen der Grieg’schen Individualität

Biologische und psychische Voraussetzungen

Als feingliedriger, zurückhaltender Knabe, begabt mit lebhaftem Drang sich auszudrücken, ähnelte Grieg in seiner Kindheit mehr der Mutter und weniger dem Vater. Noch mit fünfzehn Jahren, zu Beginn des Studiums in Leipzig, sah Edvard aus wie ein Schulkind: zarte Gestalt, rundliches Gesicht sowie schlichtes, glattes Haar. Erst der Sechzehnjährige bekam allmählich männlichere Züge. Verhältnismäßig spät, weit nach dem achtzehnten Lebensjahr, nahm das Antlitz seine charakteristische Form an und wurde infolge körperlicher Reife nicht mehr von schlichtem, glattem Haar, sondern von blonden Locken umrahmt. Die Ähnlichkeit mit der Mutter verlor sich und machte der eigenen Individualität Platz. Der Hinweis aus den Erinnerungen, „wir Norweger entwickeln uns nämlich gewöhnlich zu langsam, als dass wir bereits im Alter von achtzehn Jahren vollauf zeigen können, was in uns steckt“, bestätigt, dass die Reifung sich hinauszögerte.1

Grieg war ein Mann von nur geringer Körpergröße (1,52 m), zeitlebens schlank und schmächtig, der Konstitution nach ein Astheniker. Überall fiel sein Charakterkopf auf. Zwischen der oberen Gesichtsebene mit der hohen Stirn, den buschigen Brauen sowie der leicht nach vorn ragenden Nase und der unteren Ebene, wo das Kinn - gemäß der asthenischen Konstitution - wenig ausgeprägt und kurz, etwas zurückwich, bestand ein Gegensatz, allerdings nicht so markant wie im Gesicht Richard Wagners. Seine hellblauen Augen hatten den Blick eines Kindes. Der Bartwuchs war jünglingshaft spärlich. Bis in sein Mannesalter besaß Grieg das volle Haupthaar eines Asthenikers, welches sich jedoch später zu lichten begann. Er selbst witzelte darüber, und auch Debussy (1862 bis 1918) beschrieb den Haarschwund mit Humor: „Von vorn sieht er aus wie ein genialer Photograph; von hinten lässt ihn seine

Haartracht jenen Pflanzen ähneln, welche man Sonnenblumen nennt.“ 2 Griegs Hände - dünn, klein, blutleer - erweckten den Eindruck, als wären sie zum Klavierspiel ungeeignet. Aber der Schein trog. Paris verglich seinen energievollen Anschlag mit dem Spiel von Camille Saint-Saëns (1835 bis 1921) und Nikolai Rubinstein (1835 bis 1881).3 Tschaikowski (1840 bis 1893), der dem norwegischen Tonschöpfer 1888 in Leipzig begegnete, überlieferte, wie Griegs Erscheinung auf andere wirkte: „Die Gesichtszüge dieses Mannes, dessen Äußeres sofort meine Sympathie erweckte, hatten nichts Besonderes, man konnte sie weder hübsch noch regelmäßig, wohl aber ungewöhnlich anziehend nennen.“ 4 (Abb. oben: Edvard Grieg, F. Benestad og D. Schjelderup-Ebbe „Edvard Grieg“) Verzögerte Reifung, geringe Ausprägung typisch männlicher Merkmale, allgemein schwächliche Konstitution und die klein gewachsene Gestalt deuten auf eine Insuffizienz des Hormonsystems, was sich zweifellos auch charakterlich und künstlerisch ausgewirkt haben könnte; denn die überaus zarten, poesievollen Klavierstücke und Lieder des Norwegers drücken eher weibliches als männliches Empfinden aus. Feminines Fühlen lässt sich außerdem in folgenden Worten Griegs entdecken: „Jetzt bin ich aber so matt, als hätte ich Zwillinge bekommen.“ 5 1 Zitiert nach Brock, Hella, Edvard Grieg als Musikschriftsteller, 1999, S. 47. 2 Zitiert nach Debussy, Claude, Einsame Gespräche mit Monsieur Croche, 1975, S. 86. 3 Vgl. dazu Finck, Henry T., Edvard Grieg, 1908, S. 59. 4 Zitiert nach Tschaikowski, Peter, Erinnerungen und Musikkritiken, 1974, S. 48. 5 Zitiert nach Zschinsky-Troxler, Elsa v., Edvard Grieg/Briefe an die Verleger der Edition Peters, 1932, S.70.

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Der junge Edvard Grieg

Elfjährig

Fünfzehnjährig

Sechzehnjährig

Achtzehnjährig

Quellenverzeichnis der Fotos F. Benestad og D. Schjelderup-Ebbe „Edvard Grieg“ (1) D. M. Johansen „Edvard Grieg“ (2, 3, 4)

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Deshalb trifft es sicherlich zu, dass der Persönlichkeit des norwegischen Komponisten mehr Elemente, die dem weiblichen Wesen zugeschrieben werden, beigemischt waren als dem Durchschnitt. Offensichtlich aber erzeugten gerade diese die Besonderheiten seines Schöpfertums und nutzten so der Kunst im hohen Maße. Sehr früh kam es bei Grieg zu konstitutionell bedingten reizbaren Reaktionen, die sich zunächst als Konzentrationsstörung äußerten. Oft wurde er als Kind während des Klavierunterrichtes von der Mutter und später in der Schule von den Lehrern getadelt, weil er unaufmerksam war. Anstatt aufzupassen, träumte er vor sich hin.6 Abgesehen davon, dass Kinder bis zu einem gewissen Grade immer konzentrationsschwach sind, weil sie es erst lernen müssen, aufmerksam zu sein, zeigte sich bei Grieg eine über die Kindheit hinausgehende Zerstreutheit. Als Student hatte er damit zu ringen, und auch als Erwachsener vermochte er nur kurze Zeit einem Vortrag zu folgen.7 Vermutlich versperrten ihm Gefühle und Empfindungen oder die Weiterarbeit an Klängen, Bildern und Ungeformtem den Zugang zu den augenblicklichen Forderungen der Realität, ohne dass er imstande war, dem, was ihn innerlich beschäftigte, Einhalt zu gebieten. Infolge der Fehlregulationen zeigte sich beim Schulkind zusätzlich ein ängstlicher Wesenszug, der auch im Erwachsenenalter weiter bestehen blieb. Vor jedem öffentlichen Konzertauftritt war Grieg so nervös, dass er bisweilen kein Wort hervorbringen konnte, im Künstlerzimmer ruhelos auf und ab ging mit einem Gesichtsausdruck, der Hilflosigkeit und Angst verriet. In Deutsch brachte er dann mit schwacher Stimme die Worte hervor: „Nein, ich kann nicht, ich kann nicht!“8 Oftmals musste er sich mit einigen Opiumtropfen beruhigen.9 Außerdem traten funktionelle Störungen auf, die ebenfalls durch die Übererregbarkeit seines Nervensystems hervorgerufen wurden. Noch nicht vierzig Jahre alt, litt er an einem chronischen Magenkatarrh, „den loszuwerden unmöglich erschien.“ 10 Darüber hinaus äußerte sich die Übererregbarkeit in einer erhöhten Empfindsamkeit. Der Komponist sagte selbst, dass er „etwas von einer Mimose“ an sich habe.11Als Folge davon stellten sich übernachhaltige Reaktionen ein: Grieg konnte die Konflikte mit dem Leipziger Konservatorium nicht vergessen. Sie blieben ihm ständig in Erinnerung und wirkten ein Leben lang nach. Da Grieg außerdem meinte, die Konservatoriumslehrer hätten ihn in seiner Entwicklung behindert, fühlte er sich zurückgesetzt, und um sich Geltung zu verschaffen, strebte er danach, von aller Welt anerkannt zu werden, so dass sich die Übernachhaltigkeit obendrein noch als Ehrgeiz manifestierte. Äußerungen von Zeitgenossen bestätigen, dass Grieg sprudelnd geistreich sein konnte und mit Gedankenblitzen andere in Erstaunen versetzte.12 Wie sein Bruder besaß auch er Zeichentalent. Das überlieferte Porträt seines Bergener Musiklehrers sowie eine Skizze von Larvik, alles Bleistiftzeichnungen, lassen die Schlussfolgerung zu, dass Grieg mehr ein Formbeachter und weniger ein Farbbeachter war.

6 Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O. , S.18 ff. . 7 Ebenda, a. a. O., S. 47. 8 Zitiert nach Finck, Henry T., a. a. O., S. 71. 9 Vgl. dazu Johansen, David Monrad, Edvard Grieg, Oslo 1934/Übersetzung von Eugen Schmitz, 1943, Maschinenschrift, Musikbibliothek der Stadt Leipzig, S. 16. 10 Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 261. 11 Ebenda, S. 234 12 Vgl. dazu ebenda, S. 308.

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Griegs Bleistiftzeichnungen

Musiklehrer Schediwy

Larvik (F. Benestad og D. Schjelderup-Ebbe „Edvard Grieg“)

Das Fundament seines Wesens setzte sich aus vielfältigen, polar sich gegenüberstehenden Anlagen zusammen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Kombination durch Vererbung entstand; denn Griegs Eltern waren Persönlichkeiten, die sich extrem voneinander unterschieden. Der Vater mit der heiteren, nach außen gewandten Grundstimmung, dem aber auch depressive Verstimmungen nicht fremd waren, war der eine Pol, während die nach innen gekehrte, feinfühlige, nach außen jedoch schroff und herrisch wirkende Mutter den Gegenpol verkörperte. Im Sohn vereinigten sich Persönlichkeitseigenschaften beider Eltern. Vermutlich als Erbteil des Vaters durchlebte Grieg neben Zeiten produktiven Schaffens immer wieder Perioden eines kraftlosen Zustandes, in denen er nichts hervorbrachte und ihm Untauglichkeitsgefühle bedrängten. Auch sein Bruder litt unter dem Schwanken der Gemütsverfassung, wobei in seinem Falle die Niedergeschlagenheit dominierte. Bei Edvard jedoch wechselten solche Gemütslagen „mit einer Gewaltsamkeit, die dem Schaffensakt einen

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beinahe explosiven Charakter gab“. Grieg vermochte eben nur, wie er es nannte, „ruckweise“ zu komponieren.13 Am eindrucksvollsten zeigte sich das im Jahre 1898, als der Komponist zusammen mit Svendsen (1840 bis 1911) das erste norwegische Musikfest in Bergen veranstaltete, bei dem er ein bewunderungswürdiges Organisationstalent bewies. Damals befand sich Grieg in einer derart euphorischen Gemütsverfassung, dass er nach dem Gelingen schreiben konnte, er sei zehn Jahre jünger geworden und habe sich noch nie so gesund gefühlt wie in dieser Zeit.14 Bezeichnenderweise entstanden im gleichen Jahr - seit langem wieder - Kompositionen für großes Orchester („Sinfonische Tänze über norwegische Motive“ op. 64), die innerhalb des von Kammermusik geprägten Gesamtwerkes Griegs eine Seltenheit darstellten. Ohne periodische Erregungen, die den Höhenflug im Schaffensprozess ermöglichten, wäre es dem Norweger wahrscheinlich kaum gelungen, Bleibendes zu gestalten, obwohl Depression und Leistungsversagen - vielleicht als Schutz vor Überforderung, als eine Art Psychohygiene - unabwendbar dazugehörten. Seine eigenständigsten und ausdrucksvollsten Werke schuf der Komponist nach dem 23. und vor dem 40. Lebensjahr, im Anschluss daran klagte er vermehrt über ein Schwinden der Schaffenskraft, äußerte 1882, keine Note mehr zu schreiben und wollte mit 51 Jahren ganz auf die Kunst verzichten.15 Der norwegische Arzt Finn Böe stellte ein Nachlassen der Produktivität vom 35. Lebensjahr an fest und machte dafür erbliche Faktoren verantwortlich.16 Demnach ergaben sich vermutlich diese Erscheinungen weniger aus dem Schwanken der Gemütsverfassung als vielmehr aus Griegs asthenischer Konstitution; denn vorzeitiges Altern ist bei Asthenikern ein „wichtiges biologisches Stigma“, das sich in ausgeprägten Fällen schon zwischen dem 35. und 40. Lebensjahr beobachten lässt.17 Das phasische Schwanken des Gemütszustandes jedoch wurde für Grieg nicht, wie das bei seinem Bruder der Fall gewesen war, zum lebensbedrohenden Schicksal. Vor Zerrüttung und Zerstörung schützten ihn neben seiner Kunst vermutlich phlegmatische Eigentümlichkeiten, die sich, ähnlich wie bei seinem Vater, in einer genüsslichen, bequemen Lebensart äußerten. Morgens stand Grieg spät auf, frühstückte gelassen, rauchte gemächlich eine Zigarette „und ließ es sich wohl sein“. Doch wenn er dann zu arbeiten begonnen hatte, löste er sich, seinem Phlegma entsprechend, nur schwer wieder davon. Auch das Stadtleben mit seinen Gesellschaften und Abwechslungen vermochte ihn „zur Faulheit“ zu verleiten. Nach dem Bericht des amerikanischen Dirigenten und Komponisten van Stucken, der während eines Aufenthaltes in Leipzig, wo er Griegs a-Moll-Konzert op. 16 im Gewandhaus aufführte, Gelegenheit hatte, den Norweger etwas näher kennenzulernen, konnte „eine schöne Portion Austern, Kaviar oder ein norwegisches Schneehuhn zusammen mit einem Glase guten alten Weins Grieg wunderbar aufmuntern“.18 Sonst trank der Komponist Tee, morgens stark und abends schwach. 19 Wie Richard Strauss (1864 bis 1949) liebte auch Grieg das Kartenspiel. Zusammen mit van Stucken pflegte er nach dem Mittagessen ins Leipziger Café Francais zu gehen, um dort eine 13 Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 141, S. 149 und S. 178. 14 Vgl. dazu Schjelderup, Gerhard und Walter Niemann, Edvard Grieg, 1908, S. 64 und S. 66. 15 Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 160, S.182 und S. 196. 16 Vgl. dazu Guttmann, Alfred, Ein neues Buch über Griegs Persönlichkeit, in: Schweizerische Musikzeitschrift, Heft 4, 1950, S.166 f. . 17 Vgl. dazu Kretschmer, Ernst, Körperbau und Charakter, 1961, S. 26 und S. 58 ff. . 18 Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 77, S. 142 und S. 165. 19 Vgl. dazu Finck, Henry T., a. a. O., S. 62.

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Stunde Whist zu spielen. Bei dieser Gelegenheit lernte der Amerikaner Griegs depressive Züge kennen, die sich besonders dann zeigten, wenn er mit ihm allein war. Doch Frau Nina Grieg vertrat zu des Gatten Depressionen eine eigene Ansicht und meinte, die Verstimmungen hätten nicht zum Wesen ihres Mannes gehört. Sie machte dafür die leichte Störanfälligkeit seines Gesundheitszustandes verantwortlich und wollte auf diese Weise den berühmten Gatten in ein vorteilhaftes Licht rücken. 20Die tatsächlichen Zusammenhänge jedoch sahen wie folgt aus: Grieg, der sich selbst als „melancholischen Menschen“ bezeichnete21, gehörte, genauer betrachtet, zu den depressiv-hysterischen Persönlichkeiten.22 Wahrscheinlich bildeten gemüthafte, gefühlsbetonte Anlagen zusammen mit der angeborenen Lebhaftigkeit emotionaler Abläufe die konstitutionelle Grundlage dieser Wesensart, wobei das Durchsetzungsvermögen bei gleichzeitiger Neigung zur Ängstlichkeit zurücktrat, das innere Erleben jedoch - ähnlich wie bei seiner Mutter - zur künstlerischen Gestaltung drängte. Aber erst der Widerspruch zwischen der musikalischen Begabung und den Erziehungsabsichten der Heimatschule führte - soweit sich die biografischen Quellen zurückverfolgen lassen - zur endgültigen Ausprägung der depressiv-hysterischen Persönlichkeitsstruktur. Die Schule löste im jungen Grieg eine übergroße Lebensangst aus. Dort waren Forderungen an ihn herangetragen worden, die er, da sie seiner Veranlagung sehr fern lagen, gar nicht oder nur unter Zwang erfüllen konnte. Als ihn die Lehrer daraufhin sogar von seinen Kompositionsversuchen abbringen wollten, flüchtete Grieg aus Verzweiflung und unter Missachtung der Kausalität (was für Hysteriker bezeichnend ist) in irreale Vorstellungen. Übertriebene Ideen kamen auf, „ein Prophet, ein Verkünder“ wollte er sein, und da sein Geltungsbedürfnis in der Schule unbefriedigt blieb, stellte er sich daheim vor Eltern und Geschwistern hinter einen Stuhl, ließ dem Drang nach Geltung freien Lauf und predigte drauflos, ohne Rücksicht. Als Grieg dann auf das Leipziger Konservatorium kam, hatte er trotz depressiver Verstimmungen sofort wieder hoch fliegende Pläne vom Ausgang seiner Studien. Doch wie auf der Bergener Schule erlebte er als hysterisch-depressive Persönlichkeit die neuen Verhältnisse hier einzig und allein unter dem Blickpunkt der Forderung, und, ähnlich wie in der Heimat, war er auch auf dem Konservatorium nicht imstande, den Forderungen ein Eigensein gegenüberzustellen; denn das kam noch hinzu: Infolge verzögerter Reifungsvorgänge und frustrierender Erlebnisse verzögerte sich auch die Ich-Werdung. Da Grieg fürchtete, er könne die Ansprüche, die an ihn gestellt werden, nicht erfüllen, ängstigte er sich vor dem Selbstständigwerden, vor der Last der Verantwortung und wollte deshalb lange Kind bleiben. Eigene Unzulänglichkeiten sah der Student nicht ein, und so wandelte er, als die erwünschten Erfolge ausblieben, in typisch hysterischer Weise die Selbstvorwürfe in Fremdvorwürfe um, kritisierte den Unterricht und projizierte das, was eigentlich er verschuldet hatte, auf seine Lehrer. Da durch ein Musikstudium, das die Beachtung von Regeln zur Hauptsache erhob, die Angst des Hysterikers vor Ordnung und Gesetzmäßigkeiten sogar noch verstärkt wurde, lernte es Grieg selbst in Leipzig nicht, mit der Wirklichkeit besser umzugehen. Auch nach der Studienzeit versetzten ihn die Forderungen der Welt immer wieder in große Ängste und lösten im Zusammenwirken mit den konstitutionellen Eigenheiten zeitlebens in ihm depressive Verstimmungen aus. Lebensangst war auch die Ursache dafür, dass Grieg erst relativ spät zu dem ihm gemäßen Kompositionsstil fand.

20 Siehe Grieg, Nina, Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, C. F. Peters: Mappe Grieg, Nina, Nr. 23. 21 Vgl. dazu Zschinsky-Troxler, Elsa, a. a. O., S. 101. 22 Der Terminus „depressiv-hysterisch“ wird dabei völlig wertfrei im Sinne von Fritz Riemann verwendet. Riemanns Charakterklassifizierung (Grundformen der Angst, 1996, S. 59 ff. und S. 156 ff.) gehört zum Bestand der Tiefenpsychologie, auch wenn der Begriff hysterisch heute nicht mehr zur Anwendung kommt.

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Während der Studentenzeit erwachte in Grieg das Verlangen nach dem schönen Geschlecht. Die Liebe zu den Frauen war bei ihm, soweit sich dieser Lebensbereich überblicken lässt, immer mit der Liebe zur Musik verknüpft. Seine erste Zuneigung gehörte wahrscheinlich der gleichaltrigen Theresa Berg, der hübschen, musikbegabten Tochter eines reichen Kaufmanns im südschwedischen Karlshamn. 1860 widmete er ihr drei Klavierstücke. Grieg heiratete 1867 seine zwei Jahre jüngere Cousine Nina Hagerup, Tochter eines Bruders seiner Mutter. Wie er, in Bergen geboren, war sie achtjährig mit den Eltern nach Kopenhagen übergesiedelt, wo sich beide kennenlernten. Der junge Komponist verliebte sich in die Stimme des Mädchens. Ninas Nähe beflügelte ihn. Später wurde sie die beste Interpretin seiner Lieder. Beide verlobten sich 1864. Ihre Eltern waren gegen

die Verbindung, doch das junge Paar ließ sich nicht beirren. Nina sah Edvard sehr ähnlich, teilweise sogar seiner Mutter. Verwandtschaftsgrad und Ähnlichkeit lassen vermuten, dass hinter der Wahl Griegs eine nicht überwundene Fixierung an die Mutter stand, wodurch die Angst des depressiv Hysterischen, sich von der Mutter zu lösen, eine Bestätigung erfahren würde. Die Eheleute hinterließen keine Nachkommen, beider Töchterchen Alexandra, 1868 geboren, verstarb nach mehr als einem Jahr, so dass der seit Generationen hin nachweisbare Kinderreichtum der Familie Grieg in der Ehe Edvards versiegte und dem Komponisten damit Ähnliches widerfuhr wie anderen Hochbegabten auch. (Abb. oben: Griegs Ehefrau Nina geb. Hagerup, D. M. Johansen „Edvard Grieg“.) Allem Anschein nach gestaltete sich Griegs Verhältnis zu Nina keinesfalls problemlos, sonst hätte sich der Komponist nicht zwölf Jahre nach der Eheschließung enttäuscht über die Frauen geäußert. Er meinte, dass eine Frau „das Große, Wilde, Unbegrenzte in der Liebe eines Mannes - eines Künstlers - nie erfassen“ würde und dass sich deshalb „ein Künstler nie verheiraten sollte“.23 Wie immer, so suchte Grieg auch in diesem Falle die Fehler nicht bei sich, sondern auf der Gegenseite. Als Kompensation aber zu den Enttäuschungen in seiner Ehe entstand vermutlich manch liebenswertes Werk des Norwegers, psychologisch gesehen ein Ausweg, der häufig beobachtbar ist. Sein Leben lang kränkelte der Komponist. Besonders häufig klagte er über fieberhafte Katarrhe der oberen Luftwege, die ihn mitunter wochenlang bettlägerig machten. In ständiger Angst vor Erkältungskrankheiten trank er zur Vorbeugung Kognak mit Glyzerin. Außer Bronchitis quälte ihn ein Asthmaleiden. Eine Lungenerkrankung heilte nie vollständig aus und verursachte seinen Tod, so dass eine konstitutionelle Schwäche der Atmungsorgane angenommen werden muss. Einem Brief aus Karlsbad zufolge gesellten sich zu einem chronischen Magenkatarrh noch ein Darmleiden und eine Lebervergrößerung. Im feuchten Klima von Troldhaugen plagten ihn rheumatische Beschwerden, die sich ständig wiederholten. Da er häufig anstrengende Konzertreisen ins Ausland und bis ins Alter jährlich Gebirgstouren unternahm, beurteilte der Arzt trotz allem den Gesundheitszustand nicht ungünstig. Es war mehr ein seelischer Druck, der Griegs Befinden beeinträchtigte, der ihn, den schwächlichen Mann, zeitweise in Unruhe versetzte und auf Reisen gehen ließ. Vielleicht fühlte er sich verfolgt wie in der Kindheit, als die Klassenkameraden ihn als Außenseiter durch die Straßen Bergens hetzten. 23 Zitiert nach Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 160.

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Die festgestellten habituellen Merkmale weisen insgesamt darauf hin, dass bei Grieg der Wahrscheinlichkeitsgrad, in ein psychisches Fehlverhalten mit Fehldeutungen der Umweltvorgänge zu geraten, sehr hoch war.

2. Introversion als dominierendes Persönlichkeitsmerkmal

In der autobiografischen Skizze „Mein erster Erfolg“ kennzeichnet sich Grieg selbst als nach innen gekehrt, als introvertierten Menschen und deutet damit jene psychische Einstellung an, die zu den wesentlichsten Merkmalen seiner Persönlichkeit gehörte. Einerseits förderte die Introversion als habituelle Besonderheit sein Schöpfertum, bestärkte ihn in seiner Eigenweise, bestimmte die Art seines Denkens, Fühlens und Empfindens, ja sogar seines Arbeitsstils sowie den Grad des zwischenmenschlichen Kontaktes. Andererseits aber erhöhte sich die Konfliktbereitschaft und mit ihr die Wahrscheinlichkeit einer Fehlentwicklung. Ungewöhnlich früh trat bei Grieg die Introversion in Erscheinung. Bereits vor der Pubertät wandte sich sein Denken, Fühlen und Handeln von äußeren Objekten, vom objektiv Gegebenen ab, orientierte sich am subjektiven Faktor, an den eigenen subjektiven Ansichten und betonte das innere Erleben. Weil Kinder immer beobachten wollen, was in der Umwelt vorgeht, haben sie im allgemeinen eine Einstellung, die nach außen gewandt ist. Sie sind extrovertiert. Edvard war introvertiert und gehörte dadurch bereits während der Kindheit zu einer Minderheit, aus der ihm, entsprechend einer solchen Stellung, Nachteile und Gefahren erwuchsen. Wenn die Eltern Edvard als kleinem Jungen erlaubten, an einem Begräbnis oder einer Auktion teilzunehmen, berichtete er nachfolgend nicht sachlich über das Erlebte, sondern gab den Eindruck wieder, den er gewonnen hatte, da alles, was sein Gedächtnis aufnahm, sich bei ihm schon sehr früh mit subjektiven Erlebnisinhalten verband. Allein das ruhige Leben draußen in Landaas, dem Familiensitz abseits von Bergen, kam seiner Wesensart entgegen. Im Garten befand sich eine Laube, die bald Edvards liebster Aufenthaltsort wurde. Dort verbrachte er viele Stunden. Fern aller Betriebsamkeit sann er den Träumen nach. „Was er als Knabe hier ahnend erlebte, reifte in den späteren Jahren.“24 Saß er dann vor dem Klavier, träumte er wieder vor sich hin, anstatt zu üben. Der Schritt vom Traum zur Handlung bereitete ihm ständig Schwierigkeiten und glückte nur, weil er, nach seinen eigenen Worten, der Mutter „unzähmbare Energie“ sowie deren musikalische Fähigkeit geerbt hatte. 25Noch gab sich Edvard zu dieser Zeit vollkommen passiv dem Wirken der Einbildungskräfte hin. Doch sollte sich das ändern. Aus dem passiven Walten des Vorstellungsvermögens erwuchs bald die aktive Phantasie, die höchste Geistestätigkeit des späteren Komponisten Grieg. Sogar ein Foto zeigt den Fünfzehnjährigen in jener nachdenklichen Pose, die gewollt oder ungewollt den für ihn typischen Wesenszug ausdrückt.26 Aber nichts deutet darauf hin, dass dem Heranwachsenden durch Erziehung im Elternhaus die introvertierte Einstellung aufgedrängt worden wäre. Die Tatsachen sprechen vielmehr dafür, dass der ausschlaggebende Faktor - vielleicht ein Erbteil der Mutter - in der Veranlagung gesucht werden muss. Selbst Grieg ahnte das und brachte seine Ansicht darüber in folgenden Worten zum Ausdruck: „Wenn man mir untersagt hätte, diesen kindlichen Instinkten nachzugehen (gemeint ist die subjektive Betrachtungsweise, der Verfasser), wer weiß, ob meine Phantasie in den jungen Jahren nicht unterdrückt oder eine andere Richtung eingeschlagen hätte, die ihrer Natur fremd war.“27

24 Zitiert nach Fellerer, Karl Gustav, Edvard Grieg, 1942, S. 20. 25 Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 20. 26 Siehe Foto: Der fünfzehnjährige Grieg. 27 Zitiert nach Brock, Hella, a. a. O., S. 18.

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Durch die besonders extrem ausgeprägte Introversion hätte dem jungen Grieg eines Tages der Realitätsbezug völlig verloren gehen können, wenn er nicht im rechten Augenblick zum Studium nach Leipzig geschickt worden wäre, wo man ihn zwang, die ungeordneten Vorstellungen in geordnete Bahnen zu lenken, auch wenn ihm das nicht gefiel. Da Grieg sich schon als Kind introvertiert verhielt, besaß er als Erwachsener dieses Merkmal in besonders hohem Maße. Sein Leben, im Längsschnitt untersucht, war deshalb arm an äußeren Ereignissen, dafür aber reich an innerem Geschehen. Zur depressiven Seite seiner Persönlichkeit stand die Introversion in wechselseitiger, sich ergänzender Beziehung, zu den hysterischen Strukturanteilen jedoch, wie dem unbändigen Geltungsdrang oder der durch die Angst vor dem Festgelegtwerden hervorgerufenen Unruhe, bildete das Insichgekehrtsein einen schwer überbrückbaren Gegensatz, der starke innere Spannungen hervorrief. Da aber Spannungen auf Entspannung drängen, kamen die inneren Erregungen der Produktivität zugute und konnten im Schöpferischen eliminiert werden, wie überhaupt innere und nicht äußere Vorgänge den Schaffensprozess anregten. Oftmals verzögerten sie ihn sogar, weil der Komponierende zu stark die Aufmerksamkeit auf das Innere gerichtet hielt. Immer, wenn Grieg arbeiten wollte, zog er sich zurück; die Wendung nach innen tat sich nach außen hin kund. Bereits während der Jugend hatte ihm die Mutter in Landaas eine Stabur, ein Vorratshaus auf Säulen, als Komponierhäuschen eingerichtet, damit dem genialen Sohn ein völlig ruhiger Raum zur Verfügung stand, in dem er ungestört arbeiten konnte. Da die Griegs später Landaas verkaufen mussten, mieteten sie eigens für Edvard in Sandviken, am Rande von Bergen, einen Pavillon, wo das Opernfragment „Olav Trygvason“ und das meiste der Musik zu „Per Gynt“ entstand. Als Grieg die Ausbildung in Leipzig beendet hatte, ging er für längere Zeit nach Kopenhagen, und auch dort, draußen in Rungstedt, stellte ihm Benjamin Feddersen, enthusiastischer Förderer junger Künstler, zwanzig Jahre älter als Grieg, ein kleines Arbeitshaus zur Verfügung, in dessen Abgeschiedenheit er während der Sommermonate 1865 seine einzige Klaviersonate op. 7 und die erste Violinensonate op 8 schuf. Drei Jahre später komponierte er das a-Moll-Konzert op. 16, und wiederum überließen ihm Freunde ein Gartenhaus, diesmal in Sölleröd, eine Wegstunde von Kopenhagen entfernt, wo er in Ruhe schaffen konnte. In den siebziger Jahren, als die Regierung dem Komponisten ein Stipendium zahlte, verbrachte Grieg mehrere Sommer und den Winter 1877/78 in Lofthus, einem kleinen Ort am Hardanger Fjord, deren dort ansässige Bauern im Vergleich zu anderen norwegischen Landschaften eine reichhaltige und vielgestaltige Volkskunst hervorgebracht hatten. Unter ihnen fühlte sich Grieg immer besonders wohl. Weit draußen am Rande des Fjords stand einsam auf einer schmalen, ansteigenden Halbinsel seine Arbeitshütte, nur umgeben von Wasser, Feldern und Felshängen. Keiner konnte ihn dort stören. Im einzigen Raum brachte Grieg seinen Erard-Flügel und den Schreibtisch unter. Nicht einem einzigen Komponisten von europäischem Rang wäre es in jener Zeit eingefallen, „sich in einer kleinen Hütte am Hardanger Fjord zu begraben“.28 Aber für den Norweger war die Zurückgezogenheit fruchtbringend und deshalb notwendig. Hier in der Stille entstanden unter anderem das Streichquartett op. 27, die Männerchöre op. 30 und „Den Bergtekne“, der Bergentrückte (Der Einsame) op. 32, ein Werk für Baritonsolo, Streichorchester und zwei Hörner auf Texte altnorwegischer Volkspoesie. In letzterem verbarg der Komponist - der Titel verrät es bereits - ein Stück Selbstbiografie. Einem Freund gegenüber gestand er, er habe diese Musik mit seinem Herzblut geschrieben, zu einer Zeit, als er Ruhe, Klarheit und Selbstvertiefung suchte.

28 Vgl. dazu Schjelderup, Gerhard und Walter Niemann, a. a. O., S. 52 und Stein, Richard H., Grieg, 1921, S. 71.

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Der Gesang erzählt von einem jungen Mann, welcher sich im Wald verlief, von der Tochter des Bergtrolls verhext wird und schließlich nicht mehr in sein gewohntes Leben zurückfindet. Grieg hatte eine übermäßige Scheu, während der Arbeit beobachtet zu werden, gleich, ob es sich dabei um kompositorische Tätigkeiten oder pianistische Übungen handelte. Wilhelm Peters, ein Maler, der sich ebenfalls in Lofthus niedergelassen hatte und mit Grieg freundschaftlichen Umgang pflegte, berichtete, dass der Komponist während der Arbeit niemanden in seiner Nähe duldete, nicht einmal seine Frau, und sofort das Klavier schloss und zu arbeiten aufhörte, wenn er einen Zuhörer entdeckte. „Allein schon der Gedanke an einen kritischen Lauscher brachte ihn völlig aus dem Konzept“.29 Die Vermutung liegt nahe, dass während des Schaffensprozesses hochgradige Spannungen zusammen mit der bereits nachgewiesenen Konzentrationsschwäche den Komponisten in einen Zustand versetzten, in dem er Störungen besonders stark empfand. Das Warten darauf, ob etwas Störendes eintreten könnte oder nicht, ließ die innere Erregung zusätzlich ansteigen. Als Folge davon entstand eine Erwartungsneurose, die das schöpferische Wirken belastete. Aber das war es nicht allein, was die übermäßige Scheu hervorbrachte. Minderwertigkeitsgefühle kamen hinzu. Sie ließen Grieg befürchten, dass weniger gelungene Versuche, die dem fertigen Werk oder dem perfekten Klaviervortrag vorausgingen, ihm vor den Lauschern als Künstler herabsetzen würden. Mit der gleichen Liebe, mit der Grieg an seiner Vaterstadt hing, war er auch der Landschaft zugetan, die sie umgab, und er fasste den Entschluss, dort ein eigenes Haus zu bauen. So entstand die Villa „Troldhaugen“, reizend gelegen auf einem Hügel zwischen zwei Buchten an der stillen Nordaassee. Allein die ruhige Lage des Hauses genügte dem Komponisten jedoch nicht. Er richtete sich unten am Fjord, wie schon andernorts auch, eine Arbeitshütte ein, wo er neben seinen Arbeitsmaterialien die von ihm hoch geschätzten Partituren Wagners griffbereit aufbewahrte. Bis zu seinem Lebensende hielt Grieg an den geschilderten Schaffenseigentümlichkeiten fest. Nur im Verlaufe einer einzigen Lebensphase, während der Leipziger Studienzeit, war er gezwungen, darauf keinerlei Rücksicht zu nehmen. Der Unterricht vollzog sich dort im Beisein anderer, und selbst im Quartier, bestehend aus einem einfachen Studentenzimmer, musste er am Klavier weiterarbeiten, auch wenn die Nachbarn ihm zuhörten. Dieser Umstand mag dem jungen Norweger oft zuwider gewesen sein. Da die Lebensweise in Leipzig dem psychologischen Typus nicht entsprach, wurde vermutlich auch das physiologische Wohlbefinden des Organismus schwer beeinträchtigt. Infolge starker Erschöpfungen erkrankte Griegs Lunge; deshalb konnte sich auch sein künstlerisches Talent nicht voll entfalten, ein Grund mehr, warum der Komponist das Studium später abwertete. Grieg führte eine umfangreiche Korrespondenz, und auch hier, in zahlreichen Briefen lässt sich die introvertierte Einstellung entdecken. Der Brief als eine Form der Konversation gab ihm Gelegenheit, mit anderen Kontakt aufzunehmen und dabei trotzdem ungestört über das nachzudenken, was er mitteilen wollte, da niemand die Gedanken durchkreuzte. Grieg schrieb nicht nur über Kunst und Musik, sondern beobachtete auch aufmerksam das Zeitgeschehen, interessierte sich lebhaft für soziale Fragen und legte seine Ansichten darüber dar. Viele Briefe, die die Distanz zur herrschenden Meinung erkennen lassen - was typisch für Introvertierte ist - enthalten Auffassungen mit weit in die Zukunft weisenden Vorstellungen. Aus ihnen geht hervor, dass sich die introvertierte Einstellung im Falle Griegs nicht nur auf den Schaffensprozess beschränkte, sondern alle Bereiche des Lebens umfasste. Da der 29 Zitiert nach Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 77.

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Komponist introvertiert war, setzte er sich auch problemhaft mit den Gegenwartsereignissen auseinander. Introversion führt sehr oft in die Isolierung, muss aber keinesfalls mit Kontaktschwäche verbunden sein. Die Frage, wie weit Griegs zwischenmenschliche Beziehungen davon beeinflusst wurden, ob er sich kontaktbereit oder kontaktarm verhielt, wird in den folgenden Untersuchungen für jede Lebensstufe neu gestellt. Als Schüler war Grieg schüchtern und zeigte wenig Interesse am Umgang mit den Altersgenossen. Am liebsten beschäftigte er sich allein. Aber nicht nur die Introversion, sondern auch seine musikalische Bildung behinderte die Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen und ließ ihn zum Außenseiter werden. Als im Deutschunterricht das Wort Requiem erklärt werden sollte und der Lehrer fragte, welcher Komponist ein Werk mit diesem Titel geschrieben habe, war Edvard der einzige, der den Namen „Mozart“ nannte. Alle in der Klasse starrten ihn an, und es ärgerte sie, einen besonders Hervorragenden in ihrer Mitte zu haben. Noch lange Zeit danach spotteten die Kameraden und riefen: „Da geht Mozak“. Flüchtete Edvard in eine Seitenstraße, schrien sie hinter ihm her: „Mozak, Mozak“. Grieg litt sehr darunter und „war nahe daran“, die „Mitschüler zu hassen“. Von nun an mied er die meisten von ihnen und fühlte sich verfolgt.30 Der Punkt war erreicht, wo Äußeres und Inneres aufeinanderprallten, Konflikte unvermeidbar wurden und den jungen Grieg dermaßen erschütterten, dass diese Ereignisse zu den Ursachen künftiger Fehlhaltungen zählen sollten. Trotzdem besaß der Heranwachsende die Fähigkeit, mit anderen in Kontakt zu treten. Deshalb suchte er von sich aus Anschluss und fand ihn auch; doch zu Gleichaltrigen hin wagte er sich nicht mehr. Gegenüber der Schule wohnte ein junger Leutnant, „leidenschaftlicher Musikliebhaber“ und „tüchtiger Klavierspieler“. Ihm vertraute sich der Knabe an und brachte dem Kunstbegeisterten die ersten Kompositionsversuche. Sie interessierten den Leutnant sehr. Er bat um Abschriften. Für Edvard war das der erste Erfolg, den er nie vergaß. Noch als bedeutender Komponist dachte er mit Dankbarkeit an diesen seinen Freund, den Leutnant.31 Über Griegs zwischenmenschliche Beziehungen im Verlaufe der Studienzeit geben die vorhandenen Quellen spärlich Auskunft, vielleicht deshalb, weil sich tatsächlich wenig berichten lässt. In der Autobiografie erwähnt Grieg zwar namentlich einige Kommilitonen, doch nennt er keinen davon Freund. Mit manchen von ihnen kam er während des Studiums nur selten in Berührung. Selbst Nina Grieg, gegenüber der Öffentlichkeit immer darauf bedacht, nur die vorteilhaften Seiten ihres Gatten herauszustellen, betitelt in den Angaben zur Biographie, vom Verlag Peters dazu aufgefordert, den dänischen Komponisten Emil Horneman (1840 bis 1906) lediglich als „Studienkameraden aus Leipzig“ und nicht als Studienfreund.32 Offensichtlich kam es während dieser Zeit zu keiner tiefer gehenden menschlichen Begegnung. Die Tatsachen sprechen deshalb dafür, dass die Erlebnisse der Bergener Schulzeit, inzwischen verinnerlicht, als Störfaktoren nachwirkten und ein herzliches Einvernehmen vereitelten. Introvertiertes Verhalten, das wahrscheinlich zu Beginn der Reifezeit in typischer Weise übermäßig hervortrat, mag ein Sichnäherkommen während des

30 Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 22. 31 Ebenda, S.25. 32 Vgl. dazu Grieg, Nina, a. a. O..

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Studiums zusätzlich beeinträchtigt haben, und da die Kommilitonen - speziell einige junge Engländer, wie der Komponist Arthur Sullivan (1842 bis 1900) sowie die Pianisten Franklin Taylor (1843 bis 1919) und Walter Bache (1842 bis 1888), aber auch der 1844 in Straßburg geborene und nach dem Studium in London wirkende Edwin Dannreuther - auf Grund ihrer umfangreicheren Vorkenntnisse, ihrer besseren Auffassungsgabe sowie ihres unermüdlichen Arbeitsvermögens zu Ergebnissen kamen, denen gegenüber Grieg „die eigene Unfähigkeit in niederdrückender Weise empfand“, belasteten außerdem Minderwertigkeitsgefühle das Verhältnis zu ihnen.33 Trotzdem zog sich Grieg auch in Leipzig nicht völlig zurück. Die Fähigkeit zur Kontaktaufnahme verhinderte, dass er als Fremder in totale Beziehungslosigkeit abglitt. „Welch eine Eroberung“ war es daher für ihn, als er unter den Kameraden „das erste Künstlerherz“ gewann.34 Leider blieb unbekannt, wer von den Kommilitonen gemeint war. Von Leipzig ging der junge Absolvent zurück nach Bergen, wo er ein Konzert gab, sich aber - entgegen aller Vermutung - völlig entwurzelt fühlte und „weder ein noch aus wußte“.35 Ein unbändiges Streben nach Freiheit, hervorbrechend aus der Angst des Hysterikers vor aller Einengung, ergriff den Insichgekehrten und zwang ihn, 1863 nach Kopenhagen zu reisen. Dort fand er einen Kreis Gleichgesinnter, zu dem der zwei Jahre ältere Emil Hornemann, der junge Komponist August Winding (1835 bis 1899), der Orgelvirtuose Godfred Matthison-Hansen (1832 bis 1909) und der Sänger vom Königlichen Theater Julius Sternberg (1830 bis 1911) gehörten. Mit ihnen war Grieg täglich zusammen. Sogar den berühmten Dichter Andersen (1805 bis 1875) lernte er kennen. Hier, unter den Kunstenthusiasten, steigerte sich Griegs Erregung dermaßen, dass er völlig aufgewühlt „endlich jenes Joch abschüttelte und alles von sich warf“, womit ihn „eine armselige Erziehung zu Hause und im Ausland beklemmt und gehemmt hatte“. Mit befreiter Phantasie komponierte er ein Werk nach dem anderen. Doch war seine Musik seltsam gekünstelt.36 Demnach fand er also auch in Kopenhagen nicht das, was er suchte. Die Unruhe aber blieb bestehen. Wieder begab er sich in die Heimat, kam nach kurzer Zeit voll neuer Erwartungen zurück und begegnete 1864 endlich dem Menschen, der für ihn Schicksal bestimmend werden sollte. Es war an einem Abend im Tivoli, dem Kopenhagener Vergnügungspark, als ihm die Schriftstellerin Magdalene Thoresen (1819 bis 1903) den jungen Komponisten Rikard Nordraak (1842 bis 1866) vorstellte, der sich sofort mit den Worten einführte: „Da lernen wir zwei großen Männer uns also wirklich kennen!“ Das machte Eindruck, und Nordraak, der auftrat, als wäre er „Björnson und Ole Bull“ in einer Person, eroberte den schüchternen Grieg „im Sturm“. Eine herzliche Freundschaft begann.37 Als Naturtalent, als ein Stürmer, ein Dränger, verachtete Nordraak jegliche Kompositionstechnik, liebte aber Norwegen und seine Kunst über alles. Durch ihn hasste auch Grieg „rücksichtslos alles Bestehende“ und „träumte sich in eine norwegische Zukunft hinein“.38 Zwar war in Grieg die nationale Begeisterung schon wach, ehe er den Freund traf, doch zeigte das Eingenommensein für die Heimat in der Zeit vor der Begegnung „keine Früchte“.39 Erst durch den täglichen Umgang mit Nordraak, dem Fantasten, und aufgeputscht

33 Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 42. 34 Ebenda, S. 28. 35 Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 25; S. 27; S. 29 und S. 39. 36 Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 47 f.; vgl. auch Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 38. 37 Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 38 und Schjelderup, Gerhard und Walter Niemann, a. a. O., S. 32 f. . 38 Zitiert nach Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 37. 39 Ebenda, S. 38.

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durch dessen Großmannssucht fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Schlagartig erkannte er, dass die Entwicklung im Mutterland eine Aufgabe bereithielt, die seinem innersten Streben entgegenkam. Er, der sich seit seiner Schulzeit den Gedanken, ein „Prophet“, ein „Verkünder“ zu sein, nicht mehr eingestehen wollte, fühlte sich plötzlich berufen, aus der Fülle norwegischer Volksmusik die eigenständige nationale Tonkunst zu schaffen. Eine Kompositionstechnik, welche ihm sein Vorhaben erleichtert hätte, erlangte Grieg durch die Begegnung mit dem rothaarigen Landsmann allerdings nicht, da Nordraak das, was er ersehnte, selbst nur sehr unvollkommen in Töne fassen konnte. Indem der Enthusiast aber des Schüchternen Persönlichkeit wandeln half, half er jenem Entwicklungsgeschehen in ihm zum Durchbruch, aus dem heraus der Insichgekehrte zum Nationalkomponisten Norwegens emporsteigen konnte. Die Freundschaft endete zutiefst tragisch. Nordraak, schwer an Lungentuberkulose leidend, brach zusammen, als er sich in Berlin aufhielt. Er lag, dem Tode nahe, in einer Pension und beschwor den Freund, an sein Krankenbett zu kommen. Doch Edvard kam nicht. Rikard starb allein. Noch heute erschüttert der unbeachtet gebliebene Brief Nordraaks mit den inständigen Bitten und lässt es nicht begreifen, warum sich Grieg als Freund so verhielt. Johansen entschuldigt gleichsam das Fernbleiben und meint, Grieg habe die Infektionsgefahr gefürchtet.40 Überzeugen kann diese Annahme kaum, zumal Grieg an der gleichen Krankheit litt. Schaut man sich dagegen die letzten Seiten der Autobiografie an, auf denen der Tonkünstler seinen Entwicklungsweg nach dem Studium in Form eines Ausblickes skizziert, so finden sich nur Hinweise auf die eigene Kraft, aber keine Anmerkungen über den Freund und seinen Einfluss. Auf Grund dieser Tatsache liegt die Vermutung nahe, dass sich Grieg, nunmehr im Besitz des neu entstandenen Selbstbewusstseins, gedemütigt fühlte, als er merkte, Richtung und Ziel verdanke seine Kunst nicht ihm, sondern einer Idee Nordraaks. Feindliche Gefühle, auf diese Weise entstanden, könnten daraufhin den Besuch vereitelt haben. Vollständig klären lässt sich aber das Problem nicht. Wohl immer wird die Forschung hierbei auf Mutmaßungen angewiesen bleiben. Während der „musikalisch leeren Kristianiajahre von 1868 bis 1872“, einer vermutlich depressiven Phase, fühlte sich der Komponist erneut von einer starken Persönlichkeit angezogen, von Bjönstjerne Björnson (1832 bis 1910), dem Dichter. Er, ein Vetter Nordraaks, elf Jahre älter als Grieg, äußerlich ein Hüne mit machtvoll dröhnender Stimme, von aller Welt als Kampf- und Kraftnatur gefürchtet, verstand zwar nichts von Musik, glaubte aber an das, was Grieg wollte, und machte ihm Mut. Björnson befreite den Freund von seinen Hemmungen und stützte ihn, wenn Depressionen die Verwirklichung schöpferischer Ideen vereiteln wollten. 41 Derselbe Faktor, der in der Freundschaft zu Nordraak wirkte, wirkte auch hier. Mit seinem feurigen Temperament, dem rücksichtslosen Durchsetzungsvermögen und seiner Unzähmbarkeit verfügte Björnson genauso wie Nordraak über Persönlichkeitsmerkmale, die Grieg nicht besaß. Darum fühlte sich auch der Tonkünstler, eingedenk der eigenen Schwachheit, gerade zu solchen Kraftnaturen mit unwiderstehlicher Gewalt hingezogen. Durch sie erstarkte er ebenfalls. Auch in den späteren Lebensjahren wurde immer derjenige Griegs Vertrauter, der es verstand, ihn aus Verstimmungen und Ängsten zu reißen. Zu Begegnungen, die den Komponisten als Persönlichkeit in ähnlicher Weise vorangebracht

40 Ebenda, S. 38 ff., S.53ff. . 41 Ebenda, S. 85 und Schjelderup, Gerhard und Walter Niemann, a. a. O., S. 38.

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hätten wie die Freundschaften in Kopenhagen oder Kristiania, war es in Leipzig nicht gekommen. Trotz mancher geselligen Anlage und einer gewissen Kontaktbereitschaft blieb Grieg zeitlebens ein einsamer, etwas schüchtern wirkender Mensch, der, ähnlich seiner schizoiden Mutter, nur einen bestimmten Kreis von Eingeweihten um sich ertrug. Ihm vertraute er sich an. Am liebsten aber war er allein. Zu jenen Starken, die, hingerissen von einer Idee, den Entschluss fassen, zurückgezogen zu leben, damit sie ihr Werk ungestört vollenden können, gehörte Grieg nicht. Er zog sich zurück, weil ihn sein introvertiertes Wesen sowie die damit im Zusammenhang stehende dialektische Relation von emotionaler Sensibilität und Unansprechbarkeit dazu trieben. Treffend stellte Grieg diese Seite seiner Persönlichkeit in einem Selbstzeugnis dar. „Literatur und Musik daheim zu studieren, das ist für mich das Höchste - dann hin und wieder ein Konzert oder eine dramatische Aufführung. Nach großdenkenden Menschen, im Verkehr mit denen ich etwas lernen kann, verlangt es mich sehr. Aber - wo findet man sie eigentlich?“42

3. Besonderheiten der musikalischen Begabung

Wie bei anderen Komponisten machte sich auch bei Grieg die musikalische Veranlagung sehr früh bemerkbar. Mit fünf Jahren zog es ihn zum Klavier. Wenn er dort einen Akkord zustande brachte, erschien ihm das wunderbar, er erlebte eine geheimnisvolle Befriedigung, und seine Glückseligkeit fand keine Grenzen. Auf diese Weise entdeckte Grieg als Kind, dass es eine Harmonie gibt. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass Fünfjährige zwar Klänge hören, auch mehr oder weniger sicher Tonhöhen und Rhythmen zu unterscheiden vermögen, aber keine Harmonien erfassen können. Bei Edvard war das anders. Er trieb die Experimente am Klavier sogar noch weiter und drang, vom Dreiklang ausgehend, über den Septakkord bis zur Dissonanz des Nonenakkordes vor. Wie Grieg dazu schrieb, war das „in der Tat ein Erfolg“, und „kein späterer Erfolg“ sollte ihn jemals wieder so erregen „wie dieser“.43 Von den Sinnesorganen half ihm das Ohr, die Welt zu erobern. Aber selbst noch als Erwachsener blieb ihm das eigene Harmoniegefühl ein Geheimnis. Das für ihn Unverständliche zu entschlüsseln, soll im Folgenden versucht werden. Da zwischen Anlage und Fähigkeit immer ein Entwicklungsweg liegt, sich die Fähigkeit aber im Prozess der Tätigkeit bildet, entstanden auch Griegs musikalische Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht gleichzeitig, sondern stellten sich einzeln ein, je nachdem, welchen Einflüssen seine junge Persönlichkeit gerade ausgesetzt war. Dass die Musikalität bei ihm zuerst als Harmoniehören auf den Plan trat - eine Erscheinung, die nachweisbar zu den großen Seltenheiten gehört - und nicht in anderer Gestalt, lag vermutlich an einem ausgeprägt feinen Gehör, das als Veranlagung zunächst völlig unspezifisch war und mit Musikempfinden an sich noch nichts zu tun hatte. Erst die Tatsache, dass Grieg von Geburt an auf eine Umwelt traf, in der er ständig musikalischen Einflüssen ausgesetzt war und in der er angeregt wurde, sich selbst mit Tönen zu beschäftigen, ließ die Leistungsausstattung zur überragenden Fähigkeit werden. Allein durch diese spezialisierten sich die naturgegebenen Möglichkeiten, indem manches von ihnen verwirklicht wurde, anderes aber unentwickelt liegen blieb, so dass durch die Auseinandersetzung mit der musikalischen Umwelt auf der Grundlage angeborener Funktionsweisen Griegs treffliches Harmoniegefühl entstehen konnte.

42 Zitiert nach Johansen, David Monrad. a. a. O., S.262. 43 Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 18.

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Nicht so spontan wie das Gehör, sondern unter der zielgerichteten und strengen Anleitung der Mutter, die ihm vom sechsten Lebensjahr an Klavierunterricht gab, entwickelte sich Edvards instrumentale Begabung. Im Gegensatz zum Umgang mit den Akkorden wurde ihm am Klavier bald klar, dass er zu üben hatte. Aber gerade das gefiel Edvard am wenigsten. Da er die Übereinstimmung von künstlerischer Absicht und ihrer Verwirklichung, wozu ihm die Spieltechnik hätte verhelfen sollen, noch nicht begriff, versuchte er, bei jeder Gelegenheit dem „technischen Teufelswerk“ aus dem Wege zu gehen. Dass aus ihm dennoch ein brauchbarer Pianist wurde, verdankte er allein der Strenge seiner Mutter. Zu einem Virtuosen fehlte ihm allerdings manches, was zu den notwendigen Voraussetzungen einer derartigen Interpretationspersönlichkeit gehört, wie hohe Konzentrationsfähigkeit, Willensstärke und unermüdliche Ausdauer sowie die Bereitschaft, alle Kräfte zu mobilisieren, wenn es galt, schwierige Instrumentalaufgaben zu bewältigen. Auf dem Podium schätzte man daher später mehr den trefflichen Kammermusikspieler und weniger den mittelmäßigen Konzertpianisten, der, da es seinem Vortrag an virtuosem Schwung und breitem Pathos mangelte, nie die beabsichtigte Wirkung erreichte. Grieg wusste das selbst und meinte, er besitze eben nicht die nötige Körperkraft. Alle Kritiker lobten aber die Poesie seines Spiels mit dem überaus sensiblen Pianissimo. Der eigenständige Umgang mit Tönen jedoch, entstanden auf der Suche nach reizvollen Klangverbindungen, kam den spezifischen Elementen seiner Begabung weit mehr entgegen als das Klavierspiel und erweckte in Edvard den Drang zum Komponieren. Grieg war neun Jahre alt, als er mit dem Tonsetzen begann. Bach, Händel, Beethoven, Schubert, Mendelssohn und Brahms schrieben ihre ersten Werke zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr. Aber erst die „Variationen über eine deutsche Melodie für Klavier“ bezeichnete Edvard, inzwischen zwölfjährig, mit Opus I. Ihnen waren bereits andere Klavierstücke ohne Opus-Angaben vorausgegangen. Fast alles, was in der Knabenzeit entstand, vernichtete Grieg später. Er gehörte nicht zu den Genialen, die schon als Kind Bleibendes schufen. Komponieren galt ihm als Spiel. Das sollte sich auch in den darauf folgenden Lebensabschnitten nicht ändern. Da es Grieg vornehmlich im Jugendalter durch die Wendung nach innen schwerfiel, ausreichende Beziehungen zur Realität herzustellen, versuchte er, wie bereits festgestellt, auf infantiler Stufe zu verharren, um die Widerwärtigkeiten und Benachteiligungen, die das Leben einem Erwachsenen auferlegt, als für ihn nicht vorhanden anzusehen. Die Einstellung, ein Kind zu sein, ein Kind zu bleiben, lebte als mächtigster Wunsch in ihm und steigerte sein Spielverlangen. Zwar musste auch er den Forderungen der Welt nachkommen und wurde erwachsen, doch der Drang nach dem Spiel, nach dem Spiel mit den Klängen, blieb zeitlebens in ihm erhalten. Im Vergleich zu anderen Künstlern bildete Grieg hierbei keine Ausnahme. Aus den Tagen der Kindheit aber stammten nicht nur die Antriebe zum Schöpferischen in Gestalt des Spielverlangens, sondern auch die ersten Berührungen mit der Volksmusik, zu deren Einflussnahme einiges vorausgeschickt werden muss. Grieg, dessen Lebenswerk aus dem Geiste norwegischer Lieder und Tänze zu internationalem Rang emporwuchs, wusste selbst nicht, wann er zum ersten Mal mit der Volksmusik in Berührung gekommen war. Noch 1865, nach dem der Norweger die „Humoresken für Klavier“ op. 6 komponiert hatte, behauptete er, er kenne so gut wie nichts von den heimatlichen Weisen. Das war übertrieben, war eine jener Bemerkungen Griegs, die, völlig unreflektiert geäußert, in keiner Weise mit den Tatsachen übereinstimmte; denn entgegen seiner Behauptung tauchten in den „Humoresken“ nationale Elemente wiederholt auf. Aber

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nicht erst dort, sondern bereits vor ihnen, in den vier Klavierstücken op.1 und in den Liedern für Altstimme op. 2, kam das Nationale zum Vorschein. Beide Werke entstanden in der Fremde, während des Studiums in Leipzig, also zu einer Zeit, in der die norwegische Volksmusik auf das Entstehende keinen unmittelbaren Einfluss nehmen konnte, sodass der Komponierende schon vorher, im Verlaufe der Kindheit, durch nachträglich unüberschaubare Ereignisse mit den Liedern und Tänzen seiner Heimat in Kontakt geraten sein musste. Während der Arbeit an den Stücken mit den ersten Opuszahlen reproduzierte er dann aus den frühen Klangimpressionen einzelne Gestaltungsmomente und formte daraus neue Motive, ohne dass ihm bewusst wurde, welche Beziehungen das Hervorgebrachte zu den Klängen der Heimat hatte. Es waren unbewusste, aus der Kindheit stammende Reminiszenzen, die den Schaffensprozess beeinflussten und selbstredend Griegs Behauptung vom Jahre 1865 widerlegten. Widerlegen lässt sich seine fehlerhafte Selbsteinschätzung auch aus entwicklungspsychologischer Sicht: Da Kinder schon frühzeitig, besonders aber im Alter von fünf bis sechs Jahren, äußerst eindrucksempfindlich auf akustische Erscheinungen reagieren, kann mit Sicherheit angenommen werden, dass Edvard mit seinem feinen Gehör die Akkordmelodik und die eigenartige Begleitharmonik in der Volksmusik seiner näheren Umgebung aktiver als andere wahrnahm, bis er dann, vom zehnten Lebensjahr ab, draußen in Landaas bewusster den Liedern und Tänzen der Bauern lauschte. Mit ihrer „dunklen Tiefsinnigkeit“ und den „ungeahnten harmonischen Möglichkeiten“ spiegelten sie, entstanden im jahrhundertelangen Prozess, treffend und unverwechselbar das wider, was Norwegen genannt wird.44 Von da an gehörten jene Strukturen der Heimatklänge, die dem Knaben besonders gut gefielen, als wesentliche Bestandteile zum geopsychisch bedingten Ausstattungsarsenal seiner sich entwickelnden Komponistenpersönlichkeit. Doch lief dieser prägende Vorgang keinesfalls störungsfrei ab. Im Elternhaus hörte Edvard die Werke namhafter Komponisten in Fülle, aber keine Volksmusik. Da die Gebildeten nicht nur auf ökonomischem, sondern sogar auf musikalischem Gebiet „von der Einfuhr aus dem Ausland“ lebten und Eigenes missachteten, gelangten die Lieder und Tänze des Volkes auch nicht über die Schwelle des mütterlichen Musiksalons.45 So kam es, dass der Knabe die Volksmusikklänge als unerwünscht wieder verdrängte. Für ihn als schüchternen, ängstlichen Menschen sollten sie in typischer Weise übermäßig lange Zeit unbewusst bleiben. Auch in Leipzig konnten sie nicht ins Bewusstsein dringen, andere Klänge überdeckten hier unaufhörlich die Stimme Norwegens und verhinderten - abgesehen von andere Ursachen -, dass sich Griegs Schöpferkraft hätte voll entfalten können. Die Heimatklänge aus dem Gedächtnis zu löschen, brachte aber auch das Studium nicht fertig, im Gegenteil, ein Konzerterlebnis bereitete hier sogar deren Bewusstwerdung vor: In Leipzig hörte Grieg einige Werke Gades (1817 bis 1890), der als erster dänischer Komponist nationale Intonationen nutzbar zu machen suchte. Es ist denkbar, dass dessen Musik die Heimatklänge im Studenten anrührte und sie seinem Bewusstsein wieder näher brachte. Das, was sich in Grieg verwirklichen wollte, blieb zur Zeit des Studiums unbewusst, und was er erstrebte, vermochte er nicht zu sagen, die Frühreife anderer Komponisten, die bereits vor dem achtzehnten Lebensjahr klare Zielstellungen hatten, besaß der Norweger nicht, er wollte komponieren, aber woher er die Inspiration zu nehmen gedachte, blieb für ihn ungeklärt. Völlig ungerechtfertigt waren daher die Vorwürfe Griegs, dass ihm die Konservatoriumslehrer die Wege für den Umgang mit dem heimatlichen Tonmaterial nicht geebnet hätten; denn: Indem ihm die Lehrer größere Freiheiten in der Wahl musikalischer Mittel ließen, förderten sie sein Schöpfertum und taten somit alles, was ihnen zu der Zeit, als 44 Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 274. 45 Ebenda, S. 12.

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sich in den Vorstellungen des Studenten Grieg die Richtung seines Schaffens noch nicht abzeichnete und sich Norwegen gerade erst anschickte, die eigenen Kulturwerte zu entdecken, einzig zu tun möglich war. Als Grieg nach dem Studium in der Heimat weilte, kam er von neuem mit der Volksmusik in Berührung, ohne jedoch zu erkennen, welche Bedeutung sie für sein Schaffen haben könnte. Zu jener Zeit fühlte er sich sowohl von der deutschen Musik, wie er sie in Leipzig kennengelernt hatte, als auch von der nordischen Geisteshaltung Gades angezogen. So stand er vor der Frage: Was nun? In dieser Stimmung reiste der junge Norweger - wie erwähnt - 1863 nach Kopenhagen. Um sich Klarheit zu verschaffen, besuchte er hier den großen Dänen persönlich. Die Begegnung half ihm jedoch nicht weiter. Grieg konnte sich nicht entscheiden und brachte die schwankende Gesinnung in den poetischen Tonbildern op. 3, auch zum Ausdruck. Geistig und technisch den Charakterstücken deutscher Schule nahestehend, durchzieht sie ein starker nordischer Ton. Aber erst das Nordraak-Erlebnis gab den Ausschlag und ließ das, was Grieg im Verlaufe der Kindheit verdrängt hatte, zusammen mit dem, was er und Ole Bull (1810 bis 1880) 1864 in Norwegen während eines Sommeraufenthaltes an Heimatklängen wieder zu Gehör bekamen, in den „Humoresken“ musikalische Gestalt annehmen. Da sich jedoch der gesamte Vorgang dem Bewusstsein des Schaffenden weiterhin entzog, konnte Grieg behaupten: „Ich kannte so gut wie nichts von unseren Volksweisen.“ Nordraak, dem Grieg die „Humoresken“ gewidmet hatte, nahm mit höchster Begeisterung das Werk auf und schätzte es als stärksten Ausdruck seiner Forderung nach einer eigenständigen norwegischen Tonsprache. Durch ihn, dem Stürmer und Dränger, vollzog sich dann der Aufstieg des Verdrängten ins Bewusstsein rasch und heftig. Alle Schranken niederreißend, erkannte Grieg mit einem Schlage die Bedeutung jener Klänge, welche bereits während der Kindheit in ihm freudige Zustimmung hervorgerufen hatten und die sich seit langem als Bestandteile seiner künstlerischen Ausstattung verwirklichen wollten. Indem er sie zum Ausgangspunkt seines Schaffens erhob, wurden ihm die Klangeindrücke der Heimat als Grundlage für seine Kunst vollends bewusst. Grieg fand also die Richtung, die ihn zum Repräsentanten der norwegischen Musik machen sollte, verhältnismäßig spät. Verglichen mit der Entwicklung anderer Tonsetzer verzögerte sich aber die Entfaltung seiner vollen Schöpferkraft keineswegs. Wie bei ihnen, erfolgte sie auch bei Grieg zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Grieg konnte nur schaffen, wenn er alleine war und sich im Zustand einer heiteren, unbeschwerten Gemütsruhe befand. Dann wandte er die Aufmerksamkeit von der Außenwelt ab und richtete sie nach innen, um unaufhörlich zu suchen, bis „das winzige Fleckchen eines neuen Landes“ entdeckt war. Innerlich auf der Suche sein, bedeutete ihm als Künstler größtes Glück und „höchste Freude“.46 Hervorgegangen aus dem Hang zum Träumen, begünstigten derartige Versenkungszustände das Auffinden neuer Gedanken, das Lösen musikalischer Probleme und nützten so dem Entstehenden. Wenn Grieg komponieren wollte, setzte er sich ans Klavier, ließ seinen poetischen Gefühlen freien Lauf und setzte sie in Musik um. Aus den Ideen und Vorstellungen, die dabei entstanden, gingen seine Tonstücke hervor, unreflektiert und wenig vorbereitet. Gleich Schumann schrieb Grieg nur das auf, was er am Klavier festgestellt und überprüft hatte. Kam es dagegen einmal vor, dass er das Instrument nicht benutzte, dann entschuldigte er sich

46 Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 15.

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unverzüglich für „die Haar reißenden harmonischen Kombinationen,“ die ohne Instrument entstanden waren.47 Als hysterisch strukturierte Persönlichkeit beachtete Grieg keine Theorien, keine Grundsätze, sondern folgte einzig und allein dem künstlerischen Empfinden. Er rang nicht wie Beethoven mit der Form oder der Logik in der Themenentwicklung, ließ nicht wie der Klassiker den musikalischen Einfall zum Grundlagenmaterial einer Komposition werden, sondern erhob ihn zur Hauptsache, dem sich alles andere unterzuordnen hatte. Sein Schaffensstil entsprach der zeitgenössischen Musik, und durch ihn unterschied er sich von der Wiener Klassik. Allein schon im Umgang mit dem Notenpapier kam Griegs Komponierweise zum Ausdruck. Oftmals brauchte er nur einen Bogen. Er schrieb mit Bleistift, korrigierte, radierte aus, bis der Notentext seinen Vorstellungen entsprach. Dann zog er das Geschriebene mit Tinte nach und schickte das Blatt, auf dem er begonnen hatte, zum Verleger.48 Grieg war kein Dramatiker, er war vor allem Lyriker. Zwar setzte er in einigen Werken starke dramatische Akzente, die aufhorchen ließen und zu der Hoffnung Anlass gaben, als Höhepunkt seines Schaffens werde er die skandinavische Nationaloper hervorbringen, das „norwegische Musikdrama“, wie es ihm selbst vorschwebte, „tief und groß“, „mit norwegischer Musik“, dem Wagnerschen Gesamtkunstwerk ähnlich, doch aus all den Opernplänen wurde nichts.49 Er hinterließ nur Fragmente, die vermuten lassen, dass seine Fähigkeiten doch nicht ausreichten, ein derartiges Projekt zu verwirklichen. Hinzu kamen gewisse phlegmatische Verhaltensweisen, welche manchen Plan genauso vereitelt haben mögen, wie die auf das Schwanken der Gemütsverfassung zurückzuführenden unproduktiven Phasen. Grieg selbst beschuldigte sich immer wieder, dass er „entsetzlich faul“ sei, ihm bereits die Faulheit während des ersten Klavierunterrichtes bei der Mutter, dann in der Schule und später auch auf dem Konservatorium zu schaffen gemacht habe.50 Hinter dem ständigen Lamentieren über die Studienmängel stand oftmals dasselbe Problem: Nach den Berichten David Monrad Johansens tat Grieg nichts, um das, was er an Kenntnissen so schwer vermisste, sich selbst zu erarbeiten. Wurde die Stimme des Gewissens zu heftig, zu unerbittlich, wälzte er alle Schuld auf das Leipziger Konservatorium ab. Es lässt sich deshalb auch nicht ausschließen, dass die einfachen Reihungsformen (Kennzeichen vieler Kompositionen Griegs) nicht allein auf folkloristische Einflüsse zurückzuführen sind, sondern sogar auf jene phlegmatischen Eigentümlichkeiten, die der Komponist, wie oben erwähnt, selbst an sich so oft beklagte. Die Tatsache, dass im kompositorischen Schaffen Griegs eben jene einfachen Reihungsformen zur Schablone erstarrten, könnte dafür ein Beweis sein. Ohne tiefer gehende Beziehungen fügte der Komponist in fast all seinen Klavierstücken drei Sätze aneinander, wobei er den ersten Satz als letzten Teil wiederholte. (Reprisenform: a b a). Gefiel ihm ein Einfall besonders gut, erweiterte er das Grundschema und gab ihm die Form a b a b a. Auch für die Gestaltung seiner Lieder bevorzugte er die Dreiteiligkeit. Dadurch, dass Grieg lediglich Einfall an Einfall reihte und die Weiterentwicklung des thematischen Materials umging, verringerte sich für ihn die Anstrengung. In ähnlicher Weise erleichterte er sich auch die Arbeit während der Komposition seiner Kammermusikwerke, worauf Bücken als erster hinwies, indem er feststellte: „Nicht etwa schon im Einfall liegt der Grundfehler des

47 Vgl. dazu Röntgen, Julius, Grieg, 1931, S. 56. 48 Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 145. 49 Zitiert nach Goldschmidt, Harry, Edvard Grieg, in: Musik und Gesellschaft, Heft 9, 1957, S. 174. 50 Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 20 und S. 30.

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architektonischen Aufbaus der großen Formen bei Grieg, sondern, wie seine Durchführungen beweisen, in dem Fehlen des Willens zur gestrafften Verarbeitung.“51 Dass Grieg sehr wohl die großen Formen beherrschte und mit der Technik der thematischen Arbeit umzugehen verstand, gibt sein Klavierkonzert op. 16, zu erkennen. Die Fertigkeiten dazu hatte ihm das Leipziger Konservatorium vermittelt. Folglich wurde dem Tonsetzer durch das Studium die Möglichkeit eröffnet, eigene Unzulänglichkeiten zu überwinden, sodass seine Anschuldigungen gegenüber dem Institut auch von dieser Seite her entkräftet werden können. Lüthje sieht die Ursachen für die Vorliebe Griegs, fast ausschließlich kleine Formen zu benutzen, in Minderwertigkeitsempfindungen und meint: „Versuchte er sich einmal in der großen Form, leistete er Überdurchschnittliches (Klavierkonzert a-Moll), fühlte sich aber allzu sehr im Schatten der Titanen und kehrte wieder zur kleinen Form zurück.“ 52 Werkfördernde Antriebe vielfältigster Art erwuchsen dem Norweger aus der natürlichen Umwelt. Im Sinne der Programmmusik entstanden musikalische Malereien, angeregt durch Landschaft und Natur. Stimmungen wurden eingefangen und zu Tönen umgeformt. Manches von dem, was der bereits aufkommende Impressionismus in Frankreich zur Vollendung führen sollte, nahmen Griegs reizvolle Klangspielereien mit ihren hingetupften Tönen voraus. Unmittelbar auf Griegs Leistungsfähigkeit wirkten sich die gegensätzlichen Witterungsverhältnisse der verschiedenen Jahreszeiten aus. Äußerst günstig waren für ihn sonniges Wetter sowie klare Luft, während Regen und Nebel die künstlerische Produktion größtenteils lähmten. Die meisten Werke, auch die bedeutendsten, entstanden regelmäßig im Frühjahr und Sommer, ja sogar dann, wenn er über Störungen durch Sommergäste zu klagen hatte. Kam der Herbst, versiegten die schöpferischen Kräfte; Grieg ging auf Reisen und gab Konzerte. Fast alle europäischen Länder besuchte er. Während der Fahrt mit der Eisenbahn suchte er als introvertierte Persönlichkeit keinen Kontakt zu anderen, sondern übte auf einer stummen Klaviatur. Die Motorik des Dampfzuges ging dabei vermutlich auf die eigene Motorik über, wodurch Grieg, der überaus gern träumte, gezwungen wurde, sich dieser Neigung nicht hinzugeben. Der Winter war die unproduktivste Zeit. Sausten an solchen Tagen Stürme um das Haus, rüttelten sie an Türen und Fenstern, saß Grieg mit sich und der Natur allein in einem Winkel, wie in der Kindheit, und lauschte. Zum Komponieren veranlasste ihn das kaum. Eine „werkfördernde Antriebsquelle“ anderer Art stellte für den Norweger das Streben nach sozialer Anerkennung dar. Die Erfolge flogen ihm nur so zu, mehr als manchem anderen. Nach seinen Worten war er nicht imstande, einer „schönen Orchesteraufführung eigener Werke“ und „einem sympathischen Publikum“ zu widerstehen. „Das ist es, glaube ich, was mich betört“, sagte er.53 Er brauchte die Bewunderung und hoffte mit jedem Werk von neuem auf sie, um sein Selbstvertrauen zu stärken, um dem Zweifel an sich und seiner Musik entgegentreten zu können, um Depressionen und Leere abzuwenden, auch um den Preis, dass einiges zu sehr nach dem Geschmack des Publikums geriet. Auf Orden aus der Hand adliger Gönner legte Grieg - ein echter Republikaner - nur geringen Wert. Dagegen fühlte er sich hoch geehrt, als er Mitglied der schwedischen Akademie, der Musikakademie zu Leyden, der Berliner Akademie sowie der französischen Akademie wurde und ihm die Universität Cambridge die Ehrendoktorwürde verlieh.

51 Zitiert nach Bücken, Ernst, Handbuch der Musikwissenschaft, 1929, S. 294. 52 Vgl. dazu Lüthje, Hans, Edvard Grieg, in: Die Christengemeinschaft, Nr. 1, 1967, S. 19 ff. 53 Zitiert nach Schjelderup, Gerhard und Walter Niemann, a. a. O., S. 72, auch S. 78.

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4. Die Lungenerkrankung des Studenten Grieg Im Mai 1860, während des zweiten Studienjahres, erkrankte Grieg an einer feuchten Brustfellentzündung (Pleuritis exsudativa), die, wie sich durch den weiteren Krankheitsverlauf herausstellen sollte, die Erstmanifestation einer gefährlichen Lungentuberkulose darstellte. Gleich, nachdem die Eltern die Nachricht über sein Befinden erhalten hatten, reiste die Mutter nach Leipzig und fand ihren Sohn in einem äußerst bedrohlichen Zustand. Sie nahm ihn mit nach Bergen, wo er sich nur langsam wieder erholte. Aber bereits im Herbst verließ Grieg gegen den Einwand des Arztes die Heimat und kehrte zum Studium nach Leipzig zurück. Mit Erfolg hatte sich der Körper zur Wehr gesetzt, doch beschwerdefrei wurde der Norweger in seinem Leben nie wieder. Im Laufe der Zeit schrumpfte die linke Lunge, die befallen worden war, zusammen, so dass sie nicht weiterwachsen konnte und für immer unbrauchbar blieb. Ihre Ruhigstellung aber brachte die Tuberkulose zum Stillstand; denn alles, was zur Zirrhose hinneigt, erweist sich auf Grund medizinischer Erkenntnis als gutartig, „da es die Narbe herbeiführen will“.54 Infolge der Schrumpfungsprozesse verlor die betroffenen Brustseite ihre naturgegebene Wölbung, sie wurde schmaler, die Rippen verliefen jetzt steiler und enger. Besonders ungünstig wirkten sich die linksseitigen Veränderungen auf die rechte Lunge aus und schränkten ihr Arbeitsvermögen ein.55 Um die Atemnot, die von da an auftrat, wenigstens etwas zu lindern, vielleicht auch, um die entstandene Deformation auszugleichen, hielt sich Grieg immer mit beiden Händen an den Rockaufschlägen fest, eine Haltung, die für ihn charakteristisch werden sollte und in der er sich auch oft fotografieren ließ. Sogar die musikalische Gestaltung vieler seiner Werke wurde von der Kurzatmigkeit beeinflusst. Vorrangig in den Liedern deutete Grieg Steigerungseffekte einfach nur an, anstatt sie zur vollen Entfaltung zu führen, und mehr als einmal musste er von Kritikern hören, dass auch seine größeren Werke sehr „kurzatmig“ seien.56 Erst in den letzten drei Lebensjahren, als die Atemnot merklich zunahm, schwanden die Kräfte, da das Herz in das Krankheitsgeschehen mit hineingezogen wurde. Wie die Obduktion ergab, war der funktionsfähig gebliebene Teil der Lunge inzwischen ebenfalls tuberkulös erkrankt, hatte sich emphysematisch vergrößert und zeigte an den Blutgefäßen jene altersbedingten Veränderungen, die gewöhnlich am Herzen zuerst auftreten, dort jedoch erstaunlicherweise fehlten. Als Folge des erschwerten Blutumlaufes in der Lunge litt auch die Ernährung des Herzens, und so setzte schließlich Herzlähmung dem Komponistenleben ein Ende. Die Krankheit, an der Grieg sterben musste, ging zurück auf einen multikausalen Prozess, auf das Ineinanderwirken somatischer und psychischer Faktoren: Der junge Norweger erkrankte in einer Jahreszeit, in der, bedingt durch den Wechsel vom Winter zum Frühling und durch den Mangel an Vitaminen zu diesem Zeitpunkt, die Anfälligkeit der Atmungsorgane gegenüber Infektionen zunimmt und die Zahl der Neuerkrankungen an Tuberkulose ganz allgemein steigt. Bedeutungsvoll für den Krankheitsbeginn war außerdem das Lebensalter. Grieg durchlief gerade jene kritische Umbruchsphase, die Pubertät, in der sich von jeher Frequenzsteigerungen der Lungentuberkulose beobachten lassen.57 Aber nicht nur Lebensalter und Jahreszeit begünstigten die Infektion, sondern auch konstitutionelle Faktoren. Es gilt als bewiesen, dass Astheniker der Tuberkulose den geringsten Widerstand entgegensetzen und demzufolge häufiger erkranken.58

54 Vgl. dazu Deist, Helmut und Hermann Kraus, Die Tuberkulose, 1959 S. 224. 55 Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S.23 und S. 307. 56 Vgl. dazu Stein, Richard H., a. a. O., S. 33 und Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 213. 57 Vgl. dazu Handbuch der Tuberkulose in 5 Bänden, Hrsg. Hein, J., H., Kleinschmidt und e. Uehlinger, Bd. 1, 1958, S. 532. 58 Vgl. dazu Deist, Helmut und Hermann Kraus, a. a. O., S. 159.

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Inwieweit genetisch bedingte Prädispositionen bei der Krankheitsentstehung eine Rolle spielten, bleibt unbekannt. Aus der Genealogie geht nicht hervor, dass Vorfahren oder lebende Verwandte an irgendwelchen Formen von Lungenerkrankungen gelitten hätten. Auch die Frage, ob mangelnde Ernährung den Ablauf der Tuberkuloseinfektion beeinflusst habe, muss unbeantwortet bleiben. Erinnert sei in diesem Zusammenhang jedoch an jene finanziellen Schwierigkeiten, in die der Student geriet, als einmal während des Winters die Geldanweisung aus der Heimat verloren ging, wodurch er gezwungen worden sein könnte, seine Mahlzeiten einzuschränken. Zu den psychischen Faktoren, die Infektion und Manifestation der Lungentuberkulose begünstigten, gehörten neben dem Verlust an familiärer Geborgenheit (bedingt durch den Wohnortwechsel) vor allem die persönlichkeits- und lebensgeschichtlich motivierten Störungen sowie die situationsbedingten Konfliktzustände. Als im Laufe der Konservatoriumszeit die Leistungsanforderungen stiegen, die ursprüngliche Begeisterung für das Studium nachließ und der Student sich in seiner Entfaltung stark eingeschränkt fühlte, als die Abneigung gegen die Lehrer zunahm, gleichzeitig aber vermehrt Zweifel an den eigenen Fähigkeiten entstanden, prallten Aggression und Minderwertigkeitsgefühle, Angst und Selbstüberschätzung dermaßen stark aufeinander, dass die Studiensituation für Grieg unerträglich wurde und er gesundheitlich zusammenbrach. In welcher Gemütsverfassung sich der junge Norweger befand, bevor er erkrankte, gibt die um diese Zeit in seinen Kompositionsübungen gehäuft auftretende Chromatik zu erkennen, eine klangliche „Färbung“, welche seit Jahrhunderten als Ausdrucksmittel für Schmerz und Sehnsucht benutzt wird. Die Auslösung der Erkrankung selbst lässt sich nur medizinisch erklären. Im allgemeinen werden tuberkulosefördernde Wirkungen psychosomatischer Faktoren vom vegetativen Nervensystem auf die Organsphäre übertragen. Ermüdet infolge von Überbelastung das Vegetativum, lässt auch die Aktivität der von ihm gesteuerten Abwehrfunktionen gegenüber Infektionen nach. Welches Organ dann erkrankt, hängt vorrangig, aber nicht allein, von der somatischen Bereitschaft ab. Da die Atmungsorgane die Beziehungen zum Lebensraum unmittelbar herstellen, Griegs Verhalten zur Umwelt aber grundsätzlich gestört war, wurde – so die Konstellation der Tatsachen – bei ihm die Funktion der ohnehin schwachen Lunge gestört, und er erkrankte an Tuberkulose. Mit Sicherheit kann angenommen werden, dass die Reaktionsart – die physiologische Ansprechbarkeit des jungen Norwegers auf endogene und exogene Reize – für den weiteren Krankheitsverlauf ausschlaggebend wurde. Sein blondes Haar, der Farbcharakter seiner Haut und Augen, die Überempfindlichkeit der Schleimhäute (bewiesen durch die äußerst häufigen Erkrankungen der oberen Luftwege) deuten auf eine reizbare Konstitution im physiologischen Sinne. Diese macht seine Genesung erklärbar: Tuberkulöse, die reizbare Reaktionsweisen zeigen, neigen zu Spontanheilungen. Ein derartiger Gesundungsprozess ist dann von therapeutischen Maßnahmen unabhängig.59 Griegs Wollen aber, unbedingt ein bedeutender Komponist zu werden, unterstütze die Heilung von der psychischen Seite her und verhinderte, dass er sich der Krankheit ergab.

5. Griegs Ende

Grieg fürchtete den Tod nicht. Er sah dem Sterben mit Gelassenheit entgegen. „So eine Krankheit

ist eine gute Lehre über den Tod“, schrieb er bereits 1898 an Frants Beyer. „Sie vergrößert die

Lebensanschauung und stimmt milde.“60 Einen Funken Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tode scheint sich Grieg trotz mancher Zweifel in den letzten Lebensjahren doch erhalten zu haben, sonst hätte er nicht am 31. Dezember des Jahres 1906 an Freund Röntgen schreiben können: „... solange man lebt, heißt es aber: das Haupt aufrecht halten und: vorwärts, immer

59 Vgl. dazu Deist, Helmut und Hermann Krause, a. a. O., S. 160. 60 Vgl. dazu Benestad/Schelderup-Ebbe, Edvard Grieg/Mensch und Künstler, 1993, S. 272.

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weiter, dem Nichts – oder dem Etwas entgegen!“61 Die Hoffnung war für Grieg das schönste Gefühl, das der Mensch besitzen würde. „Es lebe die Hoffnung“, begeisterte er sich bereits 1881 in einem Brief an Johan Andreas Christie.62

Im Sommer des Jahres 1907 verschlechterte sich Griegs Gesundheitszustand mehr und mehr. Unter tiefen Depressionen vertraute er seinem Tagebuch an: „Wenn man nur ein Mittel hätte,

ruhig in den Schlaf zu fallen, wenn ich es nicht aushalten kann. Obwohl – mir würde wohl der

Mut fehlen. Ich betrachte Selbstmord nicht als Feigheit. Im Gegenteil. Ich bewundere zutiefst den

Mut, den ich, wie ich spüre, nicht besitze.“63 Nina hatte ihm mehrmals in tiefstem Ernst versprechen müssen, dass sie sein Leiden verkürzen werde, wenn sich das Sterben qualvoll hinauszögern sollte. „Gott sei Lob, dass mir diese Versuchung erspart geblieben ist“, bekannte sie kurz nach der Beisetzung in einem Brief an Monastier-Schröder.64

Edvard Grieg starb am 4. September 1907 im Alter von 64 Jahren in der Stadt, in der er zur Welt kam. Krankenschwester Clara Sofie Jensen erlebte seine letzte Stunde. Jahrzehnte später, während eines Interviews im Jahre 1958, erzählte sie: „In diesem Augenblick geschah etwas

Eigenartiges. Grieg setzte sich im Bett auf, es sah fast feierlich aus, er machte eine tiefe

Verbeugung. Es war keine zufällige Bewegung, ich zweifle nicht daran, dass er sich verbeugte,

genau wie dies die Künstler vor dem Publikum tun. Dann sank er leise zurück und blieb

unbeweglich liegen“. 65

Der Vergleich, Grieg habe sich auf seinem Sterbebett wie ein Künstler vor dem Publikum verbeugt, überzeugt nicht, die Äußerung erscheint angesichts des Todes sogar banal. Griegs Verneigung war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Ehrfurchtsbezeugung, nichts anderes. Wir wissen heute, dass der Komponist selbst bereits am 17. Mai 1905 in einem Brief an Thomas Ball Barratt vorausschauend sein eigenes Sterben beschrieben hatte: „Der große

Geist des Weltalls, den wir Gott nennen, hat jedem Menschen den Drang eingehaucht, sich vor

diesem Geist zu beugen, und ich tue das auch in vollem Maße, indem ich mich in dessen Obhut

begebe, wenn ich dieses Leben verlasse. Das ist mehr und mehr zu unserer Religion geworden,

und ich empfinde, dass das nicht mehr erschüttert werden kann“.66

Schlussbetrachtung Die Berücksichtigung psychopathologischer Aspekte bei der Beantwortung der Frage nach den Hintergründen von Antrieb und Grenzen des kompositorischen Schaffens von Edvard Grieg vermittelt, wie ersichtlich, ein weitaus komplexeres Bild von der Persönlichkeit und den Schaffensprinzipien des Norwegers als jene Biografien, die eine tiefer gehende Deutung seines Entwicklungsweges außer Acht lassen. All die Konflikte, Ängste und Fehlhaltungen, die dabei aufgedeckt wurden, stehen jedoch in keinem Gegensatz zu der liebenswürdigen und bewundernswerten Persönlichkeit des norwegischen Tonschöpfers oder zu seinen genialen Leistungen, da die Auseinandersetzung mit der Lebensangst Grieg immer wieder zur Schöpfung neuer Werke veranlasste und ihn zu dem werden ließ, als der er in die Kulturgeschichte der Menschheit eingegangen ist. 61 Vgl. dazu Röntgen, Julius, a. a. O., S. 112). 62 Vgl. dazu Grieg, Edvard, Brev i utvalg, Band1, 1998, S. 139/4. 63 Vgl. dazu Benestad/Schjelderup-Ebbe a. a. O., S. 305.“ 64 Vgl. dazu ebenda, S. 305 und S. 307.

65 Vgl. dazu ebenda, S. 308. 66 Vgl. Grieg, Edvard, Bd. 1, a. a. O., S. 24 f./3.

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