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Zeitung für Psychiatrie EPPENDORFER EPPENDORFER Ausgabe 9 / 2015 Jahrgang 30 C 42725 3,95 Euro RADIO PSYCHIATRIE FILM Sonnengrau“ on air Leben mit Huntington Zurück auf den „Blender“ Es ist eine seltene Krankheit, deren Symptome nicht immer klar zuzu- ordnen sind: Bis zu 8000 Hunting- ton-Erkrankte gibt es bundesweit. Einzigartig in Norddeutschland ist die Huntington-Station des AMEOS Klinikums für Psychia- trie und Psychotherapie in Heili- genhafen. Das Angebot entstand 1998 auf Initiative von Patienten und Angehörigen. Der EPPEN- DORFER sprach mit einer Patien- tin. Seite 9 Über ein Jahr lang begleitete Su- sann Reck mit der Kamera sechs Bewohner einer Sozialpsychiatri- schen Einrichtung auf einem in Bayern gelegenen Berg namens „Blender“. Als Tochter des Heimgründers wuchs sie unter chronisch psychisch kranken Menschen auf. Nun wollte sie er- kunden, inwieweit das ihr Leben geprägt hat. Herausgekommen ist ein berührender Dokumentar- film. Seite 4 Es begann mit einem Blog, in dem Tanja Salkowski über ihre Depressionen schrieb. Aus dem Blog wurde ein Buch und aus dem Buch eine erfolgreiche und schon zweifach ausge- zeichnete Radiosendung. Ein- mal im Monat funkt „Radio Sonnengrau“ von Lübeck aus – und per Livestream im Internet in die ganze Welt. Der EPPEN- DORFER war bei einer Sen- dung dabei. Seite 3 Verbände fordern mehr Hilfen für psychisch belastete Flüchtlinge / Expertin für systematisches Screening Flucht in den Suizid Angesichts der Flüchtlingsmengen, dramatischer Fluchtszenen und der schwierigen Bedingungen in den Massenunterkünften wird der Ruf nach einem Ausbau psychiatrischer bzw. psychotherapeutischer Hilfen immer lauter. Anlässlich des Weltta- ges für Suizidprävention wiesen das Nationale Suizidpräventionspro- gramm für Deutschland (NaSPro) und die DGPPN auf das erhöhte Ri- siko für Suizidversuche hin und for- derten eine bessere Betreuung von Betroffenen – insbesondere auch über akute Krankheits- und Krisen- situationen hinaus. BERLIN. Flüchtlinge und Asylbe- werber bilden eine Hochrisikogruppe: Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung gilt die Rate für Posttraumatische Belas- tungsstörungen (PTBS) als zehnfach er- höht. Gleichzeitig treten oft weitere psychische Erkrankungen wie Depres- sionen oder Angststörungen auf, die ohne ausreichende Behandlung mit einem erhöhten Suizidrisiko verbunden sein können. Nach Angaben der Leiten- den Oberärztin der Charité im St. Hed- wig Krankenhaus sowie Leiterin des DGPPN-Fachreferates für Migration, Privatdozentin Dr. med. Meryam Schouler-Ocak, wurden bei über 80 bzw. über 60 Prozent Symptome von Angst und Depression gefunden. Das geht aus ausländischen Studien hervor. In Deutschland gebe es dazu keine Un- tersuchungen. „Wir wollten in Berlin eine Studie zu psychischen Belastungen bei Flüchtlingen durchführen, konnten jedoch bislang keine Förderung dafür finden.“ Bezüglich Suizidalität verweist Schouler-Ocak auf eine Studie aus den Niederlanden (Goosen et al. BMC Pu- blic Health 2011, 11:484). Nach der Analyse von Daten von Flüchtlingen und Asylbewerbern fanden sich dort bei männlichen Asylbewerbern deutlich er- höhte Zahlen (pro Jahr 25,6 Suizide auf 100.000 Einwohner gegenüber 15,7 bei einheimischen Männern). Als besondere Risikofaktoren für einen Suizidversuch zählt Schouler- Ocak u.a. auf: Leben in einer Aufnah- meeinrichtung, lange Antragszeiten, Singledasein, männliches Geschlecht, Zukunftsängste, psychische Krankheits- vorgeschichte, Diagnosen PTSD oder Depression, vorheriger Kontakt zum Versorgungssystem, Selbstverletzendes Verhalten in der Vorgeschichte, schwere und viele Verluste sowie Anpassungs- probleme an die neue Umgebung. Forderungen der Expertin: Erfassung von Daten auch in Deutschland, Präven- tionsmaßnahmen sowie Aufbau von Behandlungsangeboten. Mit Blick auf drohende Chronifizierungen schlägt sie zudem ein systematisches Screening zur Erfassung psychiatrischer bzw. psy- chischer Auffälligkeiten vor, wie es die aktuelle EU-Aufnahmerichtlinie ver- lange, „nämlich das Erkennen besonde- rer Schutzbedürftigkeit antragstellender Asylbewerber, hierzu gehört auch das Diagnostizieren psychiatrischer Trau- ma-Folgeerkrankungen.“ Dies sollte nicht zu früh geschehen („Man muss den Betroffenen erstmal die Gelegenheit geben, anzukommen“), aber regelhaft. „Ohne qualifizierte Dolmetscher wer- den wir diese Forderungen nicht umset- zen können“, macht sie deutlich. In ihrer gemeinsamen Pressemitteilung setzen sich NaSPro und DGPPN zudem für „die Etablierung von regionalen und lo- kalen Netzwerken“ ein, die alle an der Versorgung der Betroffenen beteiligten Gruppen einbinden. Darüber hinaus sei der regelhafte Einsatz von Sprach- und Kulturmittlern sicherzustellen. A. Hinrichs Weitere Berichte zum Thema Flucht und Trauma: Seite 5 E r umfasste 430 DIN-A4-Sei- ten und wurde im Auftrag des Bundestages von rund 200 Mitarbeitern aller Bereiche der Psychia- trie erstellt. Die Rede ist vom Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – so die offizielle Bezeichnung der Psychiatrie- Enquete, die in diesem Monat 40 Jahre alt wird! Die Bundesrepublik begann sich nach der Verfolgung und Ermor- dung psychisch Kranker im National- sozialismus erst spät mit der Situation der psychisch Kranken auseinander zu setzen. 1970 beschäftigte sich der Deut- sche Ärztetag erstmals mit der psychi- atrischen Versorgung. In den folgenden zwei Jahren wurden die Deutsche Ge- sellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) und die Aktion psychisch Kranke e. V. gegründet. Die Enquete kritisierte elende und zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnende Umstände, unter denen eine sehr große Anzahl von Patienten leben müssten. Sie wurde Ausgangspunkt umfassender Refor- men. Zu den Kernforderungen zählten u.a.: Gemeindenahe Versorgung, De- zentralisierung, getrennte Versorgung für psychisch Kranke und geistig behin- derte Menschen und Gleichstellung so- matisch und psychisch Kranker. Eine kritische Bilanz mit dem Titel „40 Jahre Psychiatrie-Enquete – Blick zurück nach vorn“ erscheint aktuell im Psychiatrie-Verlag, der auf seiner Homepage auch eine chronologische Grafik zur Verfügung stellt (www.psy- chiatrie-verlag.de). (hin) Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie in den 70ern. Foto: Ludger Ströter, LVR, LVR Archiv des Landschaftsverbandes 40 Jahre Enquete Seminar lief aus dem Ruder – Teilnehmern drohen strafrechtliche Konsequenzen Heilpraktiker im Drogenrausch – wer trägt die Verantwortung? HANDELOH (hin). Sie lagen mit Krämpfen auf dem Boden, redeten wirr, litten an Schmerzen, Luftnot und Herz- rasen, torkelten orientierungslos durch den Garten. Einige mussten wegen Hal- luzinationen sogar am Bett fixiert wer- den. So die Berichte über den Massenrausch von 29 Männern und Frauen – Heilpraktiker sollen es sein – im Alter von 24 bis 56 Jahren, die in dem Tagungszentrum „Tanzheimat Inzmühlen“ in Handeloh (Nordheide) an einem Seminar teilnahmen, das im Drogenchaos endete und zu einem Großeinsatz von rund 160 Rettungs- kräften führte. Die Tagungsteilnehmer wurden auf umliegende Kliniken verteilt, einige mussten kurzzeitig sogar auf die Inten- sivstation verlegt werden. Die Polizei leitete Strafverfahren gegen die Betei- ligten ein. Sie geht davon aus, dass die Gruppe mit dem Psychedelikum 2C-E experimentiert hat, das in Szenekreisen als „Aquarust“ bekannt und erst seit Ende 2014 verboten ist. Als Wirkungen werden im Netz u.a. Klangverzerrun- gen, erweiterte Wahrnehmung von Musik und visuelle Erscheinungen be- schrieben. Ob es sich tatsächlich um „Aquarust“ handelte, wurde bis Redak- tionsschluss nicht bestätigt, die Ergeb- nisse von Blut- und Urinproben standen noch aus. Offen blieben zunächst auch die Hintergründe – und die Frage nach den Verantwortlichkeiten. Der Präsident des Verbands Deutscher Heilpraktiker (VDH), Heinz Kropmann, äußerte sich gegenüber dem NDR entsetzt und drohte den Teilnehmern – die mögli- cherweise auch für die Kosten des Ret- tungseinsatzes herangezogen werden können – im Fall vorsätzlicher Ein- nahme mit Verbands- ausschluss. Das Tagungshaus wird von der Stiftung HEILENDE KRÄFTE IM TANZ® (HKTI) getragen. Die Tanzheimat als Vermieterin grenzte sich auf der Home- page von den Veranstaltern des Drogen- seminars ab. Dahinter stehe eine externe Gruppe. Der Vorfall weckt Erinnerungen an eine psycholytische Gruppentherapie- sitzung in Berlin, bei der der Therapeut und Mediziner Garri R. 2009 LSD bzw. Ecstasy einsetzte. Infolge von Überdo- sierungen kam es dabei zu zwei Todes- fällen. Der Therapeut wurde im Jahr 2011 zu mehr als vier Jahren Gefängnis verurteilt. Ein folgenschwerer Bericht ...

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Zeitung für Psychiatrie

EPPENDORFEREPPENDORFERAusgabe 9 / 2015 Jahrgang 30 C 42725 3,95 Euro

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RADIO PSYCHIATRIE FILM

„Sonnengrau“ on air Leben mit Huntington Zurück auf den „Blender“Es ist eine seltene Krankheit, derenSymptome nicht immer klar zuzu-ordnen sind: Bis zu 8000 Hunting-ton-Erkrankte gibt es bundesweit.Einzigartig in Norddeutschland istdie Huntington-Station desAMEOS Klinikums für Psychia-trie und Psychotherapie in Heili-genhafen. Das Angebot entstand1998 auf Initiative von Patientenund Angehörigen. Der EPPEN-DORFER sprach mit einer Patien-tin. Seite 9

Über ein Jahr lang begleitete Su-sann Reck mit der Kamera sechsBewohner einer Sozialpsychiatri-schen Einrichtung auf einem inBayern gelegenen Berg namens„Blender“. Als Tochter desHeimgründers wuchs sie unterchronisch psychisch krankenMenschen auf. Nun wollte sie er-kunden, inwieweit das ihr Lebengeprägt hat. Herausgekommen istein berührender Dokumentar-film. Seite 4

Es begann mit einem Blog, indem Tanja Salkowski über ihreDepressionen schrieb. Aus demBlog wurde ein Buch und ausdem Buch eine erfolgreicheund schon zweifach ausge-zeichnete Radiosendung. Ein-mal im Monat funkt „RadioSonnengrau“ von Lübeck aus –und per Livestream im Internetin die ganze Welt. Der EPPEN-DORFER war bei einer Sen-dung dabei. Seite 3

Verbände fordern mehr Hilfen für psychisch belasteteFlüchtlinge / Expertin für systematisches Screening

Flucht in denSuizid

Angesichts der Flüchtlingsmengen,dramatischer Fluchtszenen und derschwierigen Bedingungen in denMassenunterkünften wird der Rufnach einem Ausbau psychiatrischerbzw. psychotherapeutischer Hilfenimmer lauter. Anlässlich des Weltta-ges für Suizidprävention wiesen dasNationale Suizidpräventionspro-gramm für Deutschland (NaSPro)und die DGPPN auf das erhöhte Ri-siko für Suizidversuche hin und for-derten eine bessere Betreuung vonBetroffenen – insbesondere auchüber akute Krankheits- und Krisen-situationen hinaus.

BERLIN. Flüchtlinge und Asylbe-werber bilden eine Hochrisikogruppe:Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerunggilt die Rate für Posttraumatische Belas-tungsstörungen (PTBS) als zehnfach er-höht. Gleichzeitig treten oft weiterepsychische Erkrankungen wie Depres-sionen oder Angststörungen auf, dieohne ausreichende Behandlung miteinem erhöhten Suizidrisiko verbundensein können. Nach Angaben der Leiten-den Oberärztin der Charité im St. Hed-wig Krankenhaus sowie Leiterin desDGPPN-Fachreferates für Migration,

Privatdozentin Dr. med. MeryamSchouler-Ocak, wurden bei über 80bzw. über 60 Prozent Symptome vonAngst und Depression gefunden. Dasgeht aus ausländischen Studien hervor.In Deutschland gebe es dazu keine Un-tersuchungen. „Wir wollten in Berlineine Studie zu psychischen Belastungenbei Flüchtlingen durchführen, konntenjedoch bislang keine Förderung dafürfinden.“

Bezüglich Suizidalität verweistSchouler-Ocak auf eine Studie aus denNiederlanden (Goosen et al. BMC Pu-blic Health 2011, 11:484). Nach derAnalyse von Daten vonFlüchtlingenund Asylbewerbern fanden sich dort beimännlichen Asylbewerbern deutlich er-höhte Zahlen (pro Jahr 25,6 Suizide auf100.000 Einwohner gegenüber 15,7 beieinheimischen Männern).

Als besondere Risikofaktoren füreinen Suizidversuch zählt Schouler-Ocak u.a. auf: Leben in einer Aufnah-meeinrichtung, lange Antragszeiten,Singledasein, männliches Geschlecht,Zukunftsängste, psychische Krankheits-vorgeschichte, Diagnosen PTSD oderDepression, vorheriger Kontakt zumVersorgungssystem, SelbstverletzendesVerhalten in der Vorgeschichte, schwereund viele Verluste sowie Anpassungs-

probleme an die neue Umgebung. Forderungen der Expertin: Erfassung

von Daten auch in Deutschland, Präven-tionsmaßnahmen sowie Aufbau vonBehandlungsangeboten. Mit Blick aufdrohende Chronifizierungen schlägt siezudem ein systematisches Screeningzur Erfassung psychiatrischer bzw. psy-chischer Auffälligkeiten vor, wie es dieaktuelle EU-Aufnahmerichtlinie ver-lange, „nämlich das Erkennen besonde-rer Schutzbedürftigkeit antragstellenderAsylbewerber, hierzu gehört auch dasDiagnostizieren psychiatrischer Trau-ma-Folgeerkrankungen.“ Dies solltenicht zu früh geschehen („Man mussden Betroffenen erstmal die Gelegenheitgeben, anzukommen“), aber regelhaft.„Ohne qualifizierte Dolmetscher wer-den wir diese Forderungen nicht umset-zen können“, macht sie deutlich. In ihrergemeinsamen Pressemitteilung setzensich NaSPro und DGPPN zudem für„die Etablierung von regionalen und lo-kalen Netzwerken“ ein, die alle an derVersorgung der Betroffenen beteiligtenGruppen einbinden. Darüber hinaus seider regelhafte Einsatz von Sprach- undKulturmittlern sicherzustellen.

A. HinrichsWeitere Berichte zum Thema

Flucht und Trauma: Seite 5

Er umfasste 430 DIN-A4-Sei-ten und wurde im Auftrag desBundestages von rund 200

Mitarbeitern aller Bereiche der Psychia-trie erstellt. Die Rede ist vom Berichtüber die Lage der Psychiatrie in derBundesrepublik Deutschland – so dieoffizielle Bezeichnung der Psychiatrie-Enquete, die in diesem Monat 40 Jahrealt wird! Die Bundesrepublik begannsich nach der Verfolgung und Ermor-dung psychisch Kranker im National-sozialismus erst spät mit der Situationder psychisch Kranken auseinander zusetzen. 1970 beschäftigte sich der Deut-sche Ärztetag erstmals mit der psychi-atrischen Versorgung. In den folgendenzwei Jahren wurden die Deutsche Ge-sellschaft für Soziale Psychiatrie(DGSP) und die Aktion psychisch

Kranke e. V. gegründet. Die Enquete kritisierte elende und

zum Teil als menschenunwürdig zubezeichnende Umstände, unterdenen eine sehr große Anzahl vonPatienten leben müssten. Sie wurdeAusgangspunkt umfassender Refor-men. Zu den Kernforderungen zähltenu.a.: Gemeindenahe Versorgung, De-zentralisierung, getrennte Versorgungfür psychisch Kranke und geistig behin-derte Menschen und Gleichstellung so-matisch und psychisch Kranker.

Eine kritische Bilanz mit dem Titel„40 Jahre Psychiatrie-Enquete – Blickzurück nach vorn“ erscheint aktuell imPsychiatrie-Verlag, der auf seinerHomepage auch eine chronologischeGrafik zur Verfügung stellt (www.psy-chiatrie-verlag.de). (hin)

Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie in den 70ern.Foto: Ludger Ströter, LVR, LVR Archiv des Landschaftsverbandes

40 Jahre Enquete

Seminar lief aus dem Ruder – Teilnehmern drohen strafrechtliche Konsequenzen Heilpraktiker im Drogenrausch – wer trägt die Verantwortung?

HANDELOH (hin). Sie lagen mitKrämpfen auf dem Boden, redeten wirr,litten an Schmerzen, Luftnot und Herz-rasen, torkelten orientierungslos durchden Garten. Einige mussten wegen Hal-luzinationen sogar am Bett fixiert wer-den. So die Berichte über denMassenrausch von 29 Männern undFrauen – Heilpraktiker sollen es sein –im Alter von 24 bis 56 Jahren, die indem Tagungszentrum „TanzheimatInzmühlen“ in Handeloh (Nordheide)

an einem Seminar teilnahmen, das imDrogenchaos endete und zu einemGroßeinsatz von rund 160 Rettungs-kräften führte.

Die Tagungsteilnehmer wurden aufumliegende Kliniken verteilt, einigemussten kurzzeitig sogar auf die Inten-sivstation verlegt werden. Die Polizeileitete Strafverfahren gegen die Betei-ligten ein. Sie geht davon aus, dass dieGruppe mit dem Psychedelikum 2C-Eexperimentiert hat, das in Szenekreisen

als „Aquarust“ bekannt und erst seitEnde 2014 verboten ist. Als Wirkungenwerden im Netz u.a. Klangverzerrun-gen, erweiterte Wahrnehmung vonMusik und visuelle Erscheinungen be-schrieben. Ob es sich tatsächlich um„Aquarust“ handelte, wurde bis Redak-tionsschluss nicht bestätigt, die Ergeb-nisse von Blut- und Urinproben standennoch aus. Offen blieben zunächst auchdie Hintergründe – und die Frage nachden Verantwortlichkeiten. Der Präsident

des Verbands Deutscher Heilpraktiker(VDH), Heinz Kropmann, äußerte sichgegenüber dem NDR entsetzt unddrohte den Teilnehmern – die mögli-cherweise auch für die Kosten des Ret-tungseinsatzes herangezogen werdenkönnen – im Fall vorsätzlicher Ein-nahme mit Verbands- ausschluss. DasTagungshaus wird von der StiftungHEILENDE KRÄFTE IM TANZ®(HKTI) getragen. Die Tanzheimat alsVermieterin grenzte sich auf der Home-

page von den Veranstaltern des Drogen-seminars ab. Dahinter stehe eine externeGruppe.

Der Vorfall weckt Erinnerungen aneine psycholytische Gruppentherapie-sitzung in Berlin, bei der der Therapeutund Mediziner Garri R. 2009 LSD bzw.Ecstasy einsetzte. Infolge von Überdo-sierungen kam es dabei zu zwei Todes-fällen. Der Therapeut wurde im Jahr2011 zu mehr als vier Jahren Gefängnisverurteilt.

Ein folgenschwerer Bericht ...

V E R M I S C H T E S / A K T U E L L E S Seite 2 ! EPPENDORFER 9 / 2015

Ganz leichtfüßig begann dieheißeste Phase des Sommersim Hörsaal der guten alten

Nervenklinik der Charité. Es war irreheiß, wir schwammen schon nach we-nigen Minuten auf den Holzsitzen undhielten uns an den Wasserflaschen fest,die uns beim Einlass – als gehe es zueiner Safari –mit freundlichen Wortenüberreicht worden waren. „Raum undPsyche“ hieß die ungewöhnliche Ver-anstaltung, mit der ein Denkprozesszur Neugestaltung des Tagungsorteseingeleitet wurde. Es war nämlich ge-plant gewesen, das historische Ge-bäude samt seinen vier Gärtenaufzugeben und die Psychiatrie in dasneue Bettenhochhaus umzusiedeln; esgab Widerstand und inzwischen ist si-cher – die Psychiatrie darf bleiben.Doch wie ist sie zu-künftig zu gestal-ten, angesichts vonKonzepten wie So-teria, Home Treat-ment und Pflicht-versorgung? Wiewirken sich Räumeauf die seelischeBefindlichkeit aus?Von vielen Seiten,mit unterschied-lichsten Disziplinenund Formaten woll-te man sich auf dasThema zubewegen. Ein kleines En-semble mit Sopranistin stimmte ein,später gab es Vorträge zu Architektur,Ökonomie und Anthropologie. VieleTeilnehmer waren wegen Prof. Dr.Peter Sloterdijk gekommen, der aufeinem Stuhl sitzend frei und ausge-sprochen charmant seine Ideen entwi-ckelte. Fast noch aufregender fand ichden Beitrag des Historikers PD Dr.Thomas Beddies, der berichtete, dasseine Sozialpädagogin (!), Ruth von derLeyen, neben den vielen Psychiaterndie Arbeit in diesem ehrwürdigen Hausprägte. Sie suizidierte sich 1934. Ichnahm mir vor, hier einmal tiefer zuschürfen. Doch die meisten waren gekommen, um die Performance„Raumausloten“ der Compagnie vonSasha Waltz & Guests zu erleben: DreiTänzerinnen und drei Musiker „be-spielten“ den Hofgarten und das Ge-bäude. Fast zwei Stunden lang schauteund hörte man zu, lief mit der Equipedurch Kellergänge und Flure und ge-nierte sich bei manchen hautnahenVerrenkungen auch ein wenig. Zurückim Hörsaal hüpften die jungen Damenin ihren pastellfarbenen Gewändernsogar über die Tische, barfuß natürlich,furios begleitet von einer ganzen Blä-serformation. Sogar die abschließendePodiumsdiskussion (ohne Podium), of-

fensiv moderiert von Prof. Dr. EckartRüther, schaffte es, das glitzerndeTempo beizubehalten, bis wir, klatsch-nass, endlich alle ins Freie wankten.Gerade hat die Soteria-Station im St. Hedwigs-Krankenhaus einen Ar-chitekturpreis gewonnen. Nicht auszu-phantasieren ist das Environment deralten Nervenklinik, sollte der Geist von„Raum und Psyche“ sich hier materia-lisieren.

Auch Berlin ächzt unter denZahlen der eintreffendenFlüchtlinge, insbesondere

die Zustände auf dem Gelände des La-GeSo sorgen für Beamten-Bashing.Flüchtlinge müssen tagelang ausharrenbis sie registriert werden. Mit „BonniesRanch“ wurde eine weitere leerste-hende Anstalt für die Unterbringung

aquiriert. Fast scheutman sich angesichtsderart existenziellerProbleme gegen soetwas banales wieein Entgeltsystemdemonstrieren zugehen (http://www.pepp-stoppen.de/).Vor dem Gesund-heitsministerium inder Friedrichstraßeteilt man sich anjedem letzten Frei-tag des Monats um

15 Uhr das Gelände. Ein paar Teamsaus psychiatrischen Abteilungen sindda, samt ärztlicher Leitung, und einpaar Schritte weiter die Gegendemons-tranten von der Bundesarbeitsgemein-schaft Psychiatrie-Erfahrene. „KeinGeld für die Zwangspsychiatrie“ stehtauf deren Transparenten, die Anti-PEPPler halten selbst gemalte Schilderhoch und alle verteilen Flugblätter. DiePassanten sind verwirrt, die reichlichanwesenden Polizisten erst recht.„Weg mit PEPP, für eine humane Psy-chiatrie“ schallt es aus dem Megaphon.„Heuchler“ brüllt René Talbot vomBPE. Ilse Eichenbrenner

Brief aus der Hauptstadt

Zentrum der Macht: der einst von Christo verpackte Reichstag.

Die Autorin arbeitete alsSozialarbeiterin im So-zialpsychiatrischen

Dienst Berlin-Charlottenburgund ist seit Jahrzehnten derDeutschen Gesellschaft für So-ziale Psychiatrie und ihrem Ber-liner Landesverband engverbunden. Sie hat mehrere Bü-cher verfasst und ist Redaktions-mitglied der Zeitschrift „SozialePsychiatrie“.

Betrifft: Abs.:DATENSCHUTZPolizei speichert Hinweise aufKrankheiten oder Verhalten S. 4

TRAUMATodesangst und Überleben nachextremer Gewalt S. 5

HAMBURGMehr Psychiatrie fürMümmelmannsberg S. 7

ZWANGNachbesserungsbedarf und neue Urteile S. 8

BREMENMax Weber: Vordenker undPatient S. 10

KULTURInteraktive Zugänge zuEss-Störungen S. 11

NIEDERSACHSENEine Psychiatriefür Celle S. 12

BÜCHERAutobiografische Graphic Noveleiner Künstlerin S. 17

AUS DEM INHALT

Verlagsanschrift:Vitanas GmbH & Co. KGaAVitanas Sozialpsychiatrisches Centrum Koog-HausEppendorferKoogstraße 3225541 BrunsbüttelTelefon: (04852) 96 50-0Telefax: (04852) 96 50-65E-Mail: [email protected]

Herausgeber: Matthias RollerVitanas GruppeMichael DieckmannAMEOS Gruppe (V.i.S.d.P.)Internet: www.eppendorfer.de www.kooghaus.de www.vitanas.de www.ameos.eu

Redaktionsleitung, Layout und Satz Anke Hinrichs (hin)Redaktionsbüro NORDWORTGroße Brunnenstr. 13722763 HamburgTel.: 040 / 41358524Fax: 040 / 41358528E-Mail: [email protected]

Mitarbeiter dieser Ausgabe:Martina de Ridder, SönkeDwenger, Ilse Eichenbrenner,Michael Freitag (frg), Klaus Frieling (klf), Esther Geißlinger (est), Gesa Lampe, (gl), Dr. Verena Liebers, Annemarie Heckmann (heck), Jens Riedel (jri), (rd) steht fürRedaktion, Agentur: epd

Druck: Beig-Verlag, PinnebergEs gilt die Anzeigenpreisliste 2012.Der Eppendorfer erscheint zehnmalim Jahr und kostet jährlich 39,50 Euro. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos wird keine Gewähr übernommen.

Männer und Frauen sind gleichbe-rechtigt – aber Texte müssen auch lesbar sein. Wegen der besseren Les-barkeit hat sich die Redaktion ent- schieden, auf die zusätzliche Nutzung der weiblichen Form zu verzichten.

IMPRESSUM

„Raumausloten“

Attac, ver.di und DPWV legen 10-Punkte-Katalog vor

Attac Deutschland, ver.di und derParitätische Wohlfahrtsverbandhaben ein Bündnis initiiert undschlagen gemeinsam Alarm: Ineinem Anfang September vorge-stellten Positionspapier warnen sieeinmal mehr vor der Einführungdes Pauschalierenden Entgeltsys-tems in der Psychiatrie und Psy-chosomatik (PEPP). Dieses werdezu Verschlechterungen für Patien-ten, besonders für schwerer er-krankte, sowie für das Personalführen und müsse daher gestopptwerden. Hinter dem Bündnis ste-hen z.B. auch der DachverbandGemeindepsychiatrie und dieDeutsche Gesellschaft für SozialePsychiatrie (DGSP), aber nicht dieDeutsche Gesellschaft für Psychia-trie, Psychotherapie und Nerven-heilkunde (DGPPN).

BERLIN (rd). Tatsächlich wurdePEPP als Zugeständnis an die große

Masse an Kritikern für zwei Jahreausgesetzt. Bis Ende 2018 wird dasErlösbudget weiterhin kranken-hausindividuell vereinbart. Die Zeitsoll genutzt werden, Alternativen zudiskutieren und zu prüfen. Indes ent-scheiden sich aber nach Angaben desAnti-PEPP-Bündnisses immer mehrpsychiatrische Kliniken dafur, dasneue Entgeltsystem einzuführen. DieÄrztezeitung spricht von rund 80 Kli-niken, die die Option einer freiwilli-gen PEPP-Nutzung nutzen würden.Hinter dieser Entscheidung steht einezusätzliche finanzielle Vergütung fürdie optierenden Kliniken und die Er-wartung, durch auf das PEPP-Systembezogene interne Umstrukturierungenin den nächsten Jahren stabile odersogar höhere Einnahmen erzielen zukönnen.

Derweil fürchten die Kritiker, dassPEPP auch auf die Versorgungsland-schaft negative Auswirkungen habenwerde, da die Verzahnung von statio-närem und ambulantem Bereich zu-

nehmend erschwert werde. Das mitder Ausarbeitung der PEPP-Systema-tik betraute DRG-Institut (InEK) solledie Arbeit einstellen, so das Bündnis,das in einem 10-Punkte-Forderungs-katalog Vorschläge für ein alternativesVersorgungs- und Entgeltsystem vor-schlägt. Dies solle den realen Bedarffür die Versorgung abbilden und ver-güten.

Ein Kernpunkt: Auf allen Ebenensolle die Psychiatrie-Personalverord-nung (PsychPV) vollständig umge-setzt werden. Außerdem fordern diePEPP-Kritiker: „Umstellung voneinem Preissystem für Teilleistungenauf ein Budgetsystem mit regionalenVerhandlungen der Selbstverwaltungauf der Basis bedarfsbezogener Rela-tivgewichte, behandelter Patientenund Patientinnen und regionaler Be-sonderheiten im Landesvergleich“.

Weitere Forderungen und die voll-ständige PEPP-Kritik sind im Inter-net nachzulesen unter:www.der-paritaetische.de.

„PEPP stoppen“-Demo.

PINAH: Klinikbesuchenach Bedarf

BOCHUM (rd). In Bochum gehenTechniker Krankenkasse (TK), BAR-MER GEK, der LandschaftsverbandWestfalen-Lippe (LWL) und das Bochu-mer Universitätsklinikum gemeinsam miteinem neuartigen Modellprojekt an denStart: PINAH (Psychiatrie integrativ auseiner Hand) umfasst auch so genannte„stationsungebundene Behandlungsleis-tungen“, zu denen der Patient je nach Be-darf in die Klinik kommen kann, ohnedort ein Bett zu belegen. Und: Je nach Be-darf sucht medizinisches, therapeutischesoder pflegerisches Fachpersonal aus derLWL-Klinik den Patienten nach seinerstationären oder teilstationären Behand-lung in seiner Wohnung oder vertrautenfamiliären Umgebung auf. Auch mobileKrisen- und Notfallteams zählen zumKonzept, ebenso die Vermittlung ambu-lanter Weiterversorgung.

Onlinehilfe für depressive Schüler

DÜSSELDORF (rd). Der Schauspielerund Musiker Jörn Schlönvoigt („GuteZeiten, schlechte Zeiten“) wird Botschaf-ter für www.fideo.de – eine von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe ange-botene Plattform mit Selbsthilfe-Forumzu Depression bei jungen Menschen.FIDEO steht für „Fighting Depression

Online“ und ist ein Online-Informations-angebot mit moderiertem Selbsthilfe-Forum für junge Menschen ab 14 Jahren

Trauer um Oliver Sacks

NEW YORK (rd). Trauer um den wohlberühmtesten Neurologen der Welt: DerBrite Oliver Sacks starb im Alter von 82 Jahren an Krebs. Er hinterlässt 13 Bü-cher. Das letzte – „on the Move“ – istseineAutobiographie. Darin outet er sichals homosexuell. In frühen Jahren expe-rimentierte er viel mit Drogen, speziellAmphetaminen. Nachdem er sich, unter-stützt durch eine Psychoanalyse, von denDrogen losgesagt hatte, verfiel er demSchreiben. Der Sohn eines Allgemeinme-diziners und einer Chirurgin wurde mitFallgeschichten berühmt. In seinem Best-seller „Der Mann, der seine Frau miteinem Hut ver-wechselte“ erzähltSacks zwanzigGeschichten vonMenschen, die ausder „Normalität“gefallen sind, weilphysische Verän-derungen bzw.Verletzungen desGehirns psy-chische Störungenhervorgerufenhaben.

In aller Kürze

Oliver Sacks imJahr 2009. Foto: Luigi Novi

Sozialbündnis fordertStopp von PEPP

Es begann mit einem Blog, indem Tanja Salkowski über ihreDepressionen schrieb. Aus demBlog wurde ein Buch und ausdem Buch eine erfolgreiche undschon zweifach ausgezeichneteRadiosendung. Nathalie Klüverwar für den EPPENDORFER inLübeck live bei einer Sendungvon „Radio Sonnengrau“ dabei.

LÜBECK. Kurz bevor die rote„On Air“-Lampe angeht, gibt TanjaSalkowski noch schnell die letztenInstruktionen an die Studiogäste.Handys aus, denn das stört die Auf-nahme. Trinken bitte nur außerhalbdes Studios – Wasser und Technikvertragen sich nicht. Die Tür bittenur öffnen, wenn Musik läuft unddie Mikrolampe aus ist. Und wäh-rend sie noch die letzten Ermahnun-gen ausspricht, setzt sich dieModeratorin ihre Kopfhörer auf,wirft ein „noch eine Minute zwan-zig“ in den Raum und schließt dasFenster. Routiniert dreht sie die Reg-ler nach oben, drückt einen Knopfund ein Jingle ertönt: „Radio Son-nengrau“.

Es ist der erste Mittwoch imMonat, 19 Uhr. Zeit für die LübeckerRadiosendung, die seit April 2014im Offenen Kanal Lübeck, per Live-stream im Internet und im Archiv aufYoutube zu hören ist. Eine Radio-sendung rund um psychische Er-krankungen, die gerade erst im Junivon Bundeskanzlerin Angela Merkelmit dem startsocial Bundespreis aus-gezeichnet wurde und 2014 den mit4000 Euro dotierten Antistigmapreisvon der Deutschen Gesellschaft fürPsychiatrie und Psychotherapie,Psychosomatik und Nervenheil-kunde (DGPPN)ü b e r r e i c h tbekam.

Zwei Stundenlang wird jeweilsüber wechselndeSchwerpunktthe-men gesprochen,mal geht es umTraumata, mal um Schizophrenie,mal um Antidepressiva – zu jedemThema werden Interviews mit Ex-perten und Betroffenen gesendet,gibt es rechtliche Tipps, aber auchVeranstaltungs- oder Buchtipps,manchmal auch Interviews mit Pro-minenten. Und Musik, meistensWünsche von Hörern.

Diesmal geht es um Depressionenbei Kindern und Jugendlichen undim Studio drängen sich die Gäste,die live auf Sendung mit Moderato-rin Tanja Salkowski sprechen wer-den. Die Kinder– und Jugend-psychiaterin Anna Tauchert wartetauf ihren Einsatz vor ihrem Mikro-fon, auf einem Stuhl am Rand sitzteine Mitarbeiterin des Kinder- undJugendtelefons „Nummer gegenKummer“, neben ihr eine nervösejunge Frau, die in ihrer Jugend selbstvon starken Depressionen betroffenwar und live davon erzählen wird –ihr erstes Radiointerview, berichtetsie, ja und die Nervosität steige jetztdoch so kurz vor Sendebeginn.

Vor Tanja Salkowski blinken dreiMonitore, einer zeigt die Songliste,einer die technischen Daten über dieSendung, einer die Facebook-Fan-page von Radio Sonnengrau – denndie Hörer können noch während derSendung Fragen stellen oder kom-mentieren. Kurze Anmoderation,dann wieder ein Lied und die An-spannung weicht im kleinen Studioim Obergeschoss des Lübecker Ra-

diosenders. Ob sie noch nervös istvor den Sendungen? Nein, winktTanja Salkowski ab, mittlerweilenicht mehr, auch wenn sie freispricht und nicht abliest wie diemeisten anderen Moderatoren. Beiihrer ersten Sendung freilich, da wares noch etwas ganz anderes, sagt sie.

Die blonde Moderatorin weiß, wo-rüber sie mit ihren Studiogästenspricht und was ihren Hörern aufdem Herzen liegt. Sie hat selbst eine

schwere Depres-sion hinter sich.

Ihre Krankheithatte sie versteckt,erinnert sie sich,nach außen hinfunktioniert, dieFröhliche gespielt.Als sie nach

einem Suizidversuch in die Klinikkam, stellte sie fest, dass viele Men-schen in ihrem Umfeld überfordertwaren von der Diagnose. „Da habeich überlegt, wie man das Themanoch präsenter machen und Vorur-teile abbauen kann“, erzählt sie.

Sie begann sich auf dem Blog„Sonnengrau“ die Seele vom Leibezu schreiben, wie sie selbst sagt, undaus dem Blog entstand das gleichna-mige Buch („Sonnengrau – Ich habeDepressionen, na und?“, ManuelaKinzel Verlag, 214 Seiten, ISBN978-3955440046). Das stellte sie ineiner Sendung im Offenen Kanal vorund wurde dort prompt gefragt, obsie nicht eine eigene Sendung mode-rieren möchte. Sie sagte ja. EineBauchentscheidung, blickt sie heutezurück. Drei Monate später dann dieerste Sendung. Die, bei der sie sofurchtbar nervös war. Der Zuspruchwar überwältigend, erinnert sie sich:„Die Hotline war völlig überlastet.“

Heute hören längst nicht mehr nurLübecker „Radio Sonnengrau“.Dank Online-Livestream und You-tube sitzen die Hörer in ganzDeutschland, auch in Österreich undder Schweiz. Ein Hörer schaltet sichsogar regelmäßig aus Australien zu.Psychisch Erkrankte genauso wieAngehörige, am Thema Interes-sierte, aber auch beruflich Invol-vierte wie Psychologen oder Pflege-kräfte hören die monatliche Sen-dung, kann das Radio-Team den Zu-

schriften und Facebook-Benachrich-tigungen entnehmen. „Die Sendungist keine Einbahnstraße, Anregungenvon unseren Hörern nehmen wirdankbar entgegen“, so Tanja Sal-kowski. Es gehe darum, Betroffenezu informieren, ihnen eine Plattformund Servicetipps zu bieten, präventivzu wirken und mit Vorurteilen auf-zuräumen.

Ein 15-köpfiges ehrenamtlichesTeam bereitet die Sendungen vor,sucht und recherchiert die Themenund Studiogäste, bereitet Telefonin-

terviews vor und kümmert sich umdie Öffentlichkeitsarbeit und Spon-sorensuche. Ein Psychiater, einRechtsanwalt und ein Psychothera-peut sind fest als Experten im Team.Dadurch, dass der Großteil der Eh-renamtlichen im Team selbst voneiner psychischen Erkrankung be-troffen sei, habe man eine besondereHerangehensweise an die Themen,sagt Moderatorin Salkowski: „Wirwollen auch Mut machen, zeigen,was man als depressiv Erkrankterauf die Beine stellen kann.“

Die letzten Takte von Radioheads„Creep“ laufen, Tanja Salkowskisetzt die Hörer wieder auf. Ein vor-her aufgezeichnetes Interview miteiner Mutter einer an Depressionenerkrankten 15-Jährigen wird einge-blendet, dann ist die junge Frau dran,die über ihre Depressionen in der Ju-gend spricht. „Herzlich Willkommenlive auf Sendung, wie geht’s, wiesteht’s?“ begrüßt Tanja Salkowskisie und schafft es im Handumdrehenund mit den richtigen einleitendenFragen die Nervosität zu nehmen.Sie verwickelt den Studiogast in einlockeres Gespräch über ein ernstesThema, dann noch ein schneller Hin-weis auf ein laufendes Gewinnspiel,die Ankündigung des Rechtsexper-ten nach dem nächsten Song undschon drückt sie wieder ein Knöpf-chen. Man plaudert und lacht viel indiesen Musikpausen, bevor es wie-der konzentriert zur Sache geht.

Beflügelt von dem im Juni verlie-henen startsocial Preis will TanjaSalkowski die Radiosendung profes-sioneller ausbauen. Ein eigenesBüro, ein Podcast-Service, langfris-tig einmal auch ein eigenes Studiosind ihre Ziele: „Es ist an der Zeit,auch Tabuthemen anzusprechen undpsychische Erkrankungen in dieNormalität zu holen.“

Nathalie Klüver

Mehr im Internet unter: www.radio-sonnengrau.de. Nächste Sen-dung am 7. Oktober, 19-21 Uhr.Thema: „Psychische Erkrankungenauf dem Vormarsch – wie könnenwir uns schützen?“, Talkabend mitBetroffenen und Experten. Außen-sendung aus dem cloudsters Lübeck,Schüsselbuden 30, 23552 Lübeck,Eintritt frei, Einlass: 18 Uhr.

B L I C K P U N K T : „R A D I O S O N N E N G R A U“ Seite 3 ! EPPENDORFER 9 / 2015

Von der Seele reden

Ton ab – und los geht’s mit Radio Sonnengrau: Moderatorin Tanja Salkowski (v.li), der Rechtsexperte der SendungDieter Kunz (am hinteren Mikro) und Dietmar Schreiber vom Radioteam. Foto: Klüver

„Radio Sonnengrau“ – ein preisgekröntes Radioprojekt aus Lübeck funkt über Grenzen hinweg

Bunter Mix aus Interviews,Rechts- und Veranstal-tungstipps und Musik

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