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Ulrich Eumann Eigenwillige Kohorten der Revolution Zur regionalen Sozialgeschichte des Kommunismus in der Weimarer Republik Frankfurt am Main u.a. 2007

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Ulrich Eumann

Eigenwillige Kohorten der Revolution

Zur regionalen Sozialgeschichte des Kommunismus in der Weimarer Republik

Frankfurt am Main u.a. 2007

gewidmet meiner MutterAntonia Eumann

Vorwort 7

„Raus mit der Sprache, Doktor - was ist das?“„Das ist, äh, eine Doktorarbeit.“„Eine Doktorarbeit?“ lachte Smeik.„Jetzt bin ich aber erleichtert. Ich dachte schon, es sei eine schreckliche Krankheit.“„Das ist eine Doktorarbeit gewissermaßen auch.“1

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die Druckfassung meiner Dissertation „‚Eiserne Ko-horte‘ der Revolution? Zur regionalen Sozialgeschichte des Kommunismus in der Weimarer Republik“, die am 28. Januar 2004 am Historischen Seminar der Universität zu Köln verteidigt und angenommen wurde.

Diese Arbeit ist die Frucht einer langjährigen Auseinandersetzung mit dem Marxismus, der kommunistischen Utopie und der Geschichte der Arbeiterbewe-gung. Gleichzeitig ist sie gewissermaßen die Essenz dessen, was ich vor, wäh-rend und nach meinem Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Soziolo-gie und Philosophie und später von vielen klugen Köpfen und aus vielen Bü-chern gelernt habe.

Am Anfang stand eine Magisterarbeit. Die vielen kleineren Fragezeichen, die ich mit ihr scheinbar ausgeräumt hatte, hatten sich zu einem riesengroßen neuen Fragezeichen aufgetürmt. Meine Absicht hatte darin bestanden, in Anlehnung an den Hauptstrom der KPD-Forschung zu untersuchen, warum sich die Parteimit-glieder ihre zunehmende Entmündigung und Gängelung durch die Parteiführung hatten gefallen lassen. Daneben wollte ich die einfachen Leute in der Partei er-forschen und damit auf das seinerzeit noch gänzlich unbefestigte Gelände einer Sozialgeschichte der KPD vorstoßen. Während ich zwar einiges über das Den-ken und Leben der ‚einfachen‘ KPD-Genossen im Ruhrgebiet in Erfahrung bringen konnte, war von der von mir gesuchten „strengsten Disziplin“ kaum et-was zu sehen. Mit Macht drängte sich eine Erkenntnis auf: dass die Kommunis-tische Partei Deutschlands in der Weimarer Republik eine völlig normale Partei gewesen ist.

Ein so großes Fragezeichen war natürlich nur in einer ‚großen Arbeit‘ abzu-tragen. Mein Hauptdank geht an Prof. Dr. Wolfgang Schieder dafür, dass er dies ermöglicht hat, und meine Verstrickungen in das Thema mit viel Geduld ver-folgt hat. Prof. Dr. Wilhelm Heinz Schröder danke ich für die unkomplizierte Übernahme des Zweitgutachtens. PD Dr. Klaus-Michael Mallmann gab den ent-scheidenden Anstoß von außen, der mich mutiger machte, und regte die Kon-zeption des Regionenvergleichs an.

1 Walter Moers: Rumo & Die Wunder im Dunkeln, München 2003, S. 140.

8 Vorwort

Prof. Dr. Wolfgang Jagodzinski gab mir die Gelegenheit, meine Thesen außerhalb der Fachgrenzen mit seinen Doktoranden zu diskutieren. Prof. Dr. Hartmut Essers soziologischen Übungen schließlich verdanke eine ganze Reihe von Anstößen, deren späte Frucht diese Arbeit ist.

Auf besondere Weise verbunden fühle ich mich mit Carsten Krinn, der in Tü-bingen über die Schulungsarbeit der KPD in der Weimarer Republik promoviert hat. Keine Telefonkosten scheuend, hat er mir immer wieder den nötigen Raum für meine Selbstvergewisserungsmonologe gegeben. Barbara Köster, die ihre Doktorarbeit zur Sozialgeschichte des Kommunistischen Jugendverbandes ge-schrieben hat, danke ich am meisten für ihr aufrichtiges Lob meinen Texten gegenüber in einer Phase, in der mich starke Zweifel an der Richtung meiner Gedanken und am Weitermachen allgemein plagten.

Dr. Heinrich Eppe hat sich großes Verdienst erworben, indem er zwei selbst organisierte Workshops zur Diskussion von Promotionsprojekten zur neueren Kommunismusforschung im Archiv der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erken-schwick beherbergte. Zu danken ist in diesem Zusammenhang auch den anderen Workshop-Teilnehmern Roland Gröschel, Till Kössler, Jelena Schmitt, Joachim Schröder und Sigrid Schütz für ihre inspirierende und kritische Diskussionsbe-reitschaft.

Was wäre eine geschichtswissenschaftliche Doktorarbeit ohne ausgedehnte Archivstudien? Gerne erinnere ich mich an die außerordentliche Hilfs- und Aus-kunftsbereitschaft des Lesesaalpersonals. Besonderen Dank schulde ich Volker Lange, der meinen bohrenden Fragen auch in seiner freien Zeit während der ge-legentlichen zufälligen gemeinsamen Anreise oder Heimfahrt per S-Bahn zur Verfügung stand. Mein Freund Dr. Bernd Lemke, Lesesaalbekanntschaft aus Berlin, hat mich durch seine erfrischende Bärbeißigkeit vor dem Archivtod be-wahrt. Andreas Bowinkelmann, Astrid Bräuer und Benno Gammerl danke ich für Beherbergung in Berlin, Hilfe bei der Wohnungssuche und angenehme abendliche Ablenkung. Fritz Bilz hat meinen gesamten Opus auf seine immer inspirierende Art Korrektur gelesen. Andrea Kamphuis hat sich meine Thesen und Befunde in jedem Stadium der Erkenntnis immer wieder aufs Neue anhören müssen; die durch ihre nimmermüde Kritik ausgelösten Gedanken finden sich an vielen Stellen dieser Arbeit. Dem Herbert-Wehner-Fonds der Friedrich-Ebert-Stiftung danke ich für einen Druckkostenzuschuss in der Höhe von 1.500 Euro und Prof. Dr. Klaus Tenfelde für den freundlichen Hinweis auf diese Einrich-tung.

Vorwort 9

Inhaltsverzeichnis1 Einleitung......................................................................................................... 13

1.1 Der Gegenstand dieser Studie................................................................... 131.2 Der Forschungsstand................................................................................. 151.3 Quellenlage und Quellenkritik.................................................................. 211.4 Der theoretische Ansatz.............................................................................28

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken..................................................... 312.1 Die Vorgeschichte der KPD...................................................................... 31

2.1.1 Die Entwicklung der SPD seit 1871...................................................312.1.2 Von der Gruppe Internationale zum Spartakusbund.......................... 342.1.3 Die Entwicklung der USPD seit 1916................................................35

2.2 Struktur und Verankerung der KPD in den Bezirken................................422.2.1 Der Bezirk Berlin-Brandenburg......................................................... 442.2.2 Der Bezirk Ruhrgebiet........................................................................482.2.3 Der Bezirk Westsachsen.....................................................................512.2.4 Der Bezirk Pommern..........................................................................532.2.5 Der Bezirk Oberschlesien...................................................................57

2.3 Die Entwicklung der Mitgliedschaft in den Bezirken............................... 602.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft.............................................. 65

2.4.1 Die Reichskontrolle von 1927............................................................652.4.2 Die Reichskontrolle von 1928............................................................782.4.3 Die Entwicklung der Altersstruktur der KPD nach 1928...................85

3 Der organisatorische Hintergrund.................................................................... 873.1 Die KPD als Handlungssystem................................................................. 873.2 Die Organisationsstruktur der KPD...........................................................97

3.2.1 Die Entwicklung der formalen Parteistruktur.................................... 973.2.1.1 Die Parteistruktur in der Gründungsphase.................................. 983.2.1.2 Die Parteistruktur der VKPD...................................................... 993.2.1.3 Die Parteistruktur nach der Märzaktion.................................... 1003.2.1.4 Die Parteistruktur nach der Oktoberniederlage......................... 1033.2.1.5 Die Parteistruktur des Demokratischen Zentralismus............... 1053.2.1.6 Die Parteistruktur in den Jahren 1927 bis 1933........................ 109

3.2.2 Statutenentwicklung als Aushandlungsprozess................................1093.2.3 Stellenwert und Kenntnisstand des Status an der Basis................... 1123.2.4 Das Parteistatut in der Alltagspraxis der KPD................................. 114

3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD.................................................... 1173.3.1 Struktur und Arbeitsweise der Parteiführung...................................117

3.3.1.1 Zentrale und Zentralkomitee..................................................... 1173.3.1.2 Die Kommunikationswege der Parteiführung ..........................1183.3.1.3 Die Vermittlung von Parteitagsbeschlüssen..............................119

3.3.2 Struktur und Arbeitsweise der Bezirksleitungen..............................119

10 Vorwort

3.3.2.1 Die Struktur der Bezirksleitungen.............................................1193.3.2.2 Struktur und Tätigkeit der BL-Abteilungen.............................. 1223.3.2.3 Die Funktionäre der Bezirksleitungen.......................................127

3.3.3 Die Unterweisung der Basis durch die Bezirksleitungen.................1283.3.3.1 Einsatz und Formen von Rundschreiben...................................1283.3.3.2 Die direkte Kommunikation......................................................1313.3.3.3 Der Arbeitsplan......................................................................... 132

3.3.4 Die Kontrolle der Basistätigkeit durch die Führung........................ 1363.3.4.1 Das Berichtswesen.................................................................... 1363.3.4.2 Der Einsatz von Fragebogen..................................................... 1393.3.4.3 Der Einsatz von Instrukteuren...................................................141

3.3.5 Die Finanzierung der Parteiarbeit.....................................................1463.3.5.1 Mitgliedsbeiträge und Kassierung.............................................1463.3.5.2 Abrechnung und Mitgliederstatistik..........................................1513.3.5.3 Sonstige Einnahmen der Partei..................................................1573.3.5.4 Kosten und Ressourceneinsatz.................................................. 165

4. Die symbolische Integration der Mitglieder..................................................1714.1 Die Parteikultur....................................................................................... 171

4.1.1 Die Parteisymbole............................................................................ 1714.1.1.1 Die rote Fahne........................................................................... 1724.1.1.2 Die Abzeichen........................................................................... 1784.1.1.3 Uniformen und Devotionalien...................................................180

4.1.2 Die Parteisprache..............................................................................1814.1.3 Das Liedgut der Partei......................................................................1884.1.4 Die Festkultur der KPD....................................................................191

4.1.4.1 Die Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Feiern................................ 1934.1.4.2 Die Feiern der Oktoberrevolution............................................. 1954.1.4.3 Die Maifeiern............................................................................ 198

4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung............................................... 2044.2.1 Die Parteipresse................................................................................205

4.2.1.1 Die Tagespresse.........................................................................2054.2.1.2 Die kommunistischen Fachzeitschriften................................... 215

4.2.2 Die Literaturrezeption durch die Parteimitglieder............................2204.2.2.1 Das politische Schriftgut der Partei...........................................2224.2.2.2 Die „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus............................ 2264.2.2.3 Schöngeistige Parteiliteratur......................................................231

4.2.3 Das Schulungswesen der KPD......................................................... 2324.2.3.1 Entwicklung und Struktur der Schulungsarbeit der KPD......... 2334.2.3.2 Frequenz und Reichweite der Schulungen in den Bezirken......2364.2.3.3 Die Arbeitsweise der Schulungen............................................. 245

4.2.4 Die Vermittlung der Entwicklung der Sowjetunion.........................2484.2.4.1 Medien.......................................................................................2484.2.4.2 Veranstaltungen.........................................................................253

Vorwort 11

5 Die politische Praxis der Partei...................................................................... 2575.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit........................................... 257

5.1.1 Die Basisorganisationen................................................................... 2575.1.1.1 Die Wohnbezirke bis 1924........................................................ 2575.1.1.2 Die Reorganisation der KPD (1925-1928)................................2585.1.1.3 Die praktische Arbeit der Betriebszellen...................................2735.1.1.4 Die Straßenzellen...................................................................... 276

5.1.2 „Ehrenmitglieder“ und „Berufsrevolutionäre“.................................2805.1.2.1 Die ‚Karteileichen‘.................................................................... 2815.1.2.2 Die ehrenamtlichen Funktionäre............................................... 285

5.2 Der politische Parteialltag....................................................................... 2945.2.1 Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit.................................................. 294

5.2.1.1 Die gewerkschaftspolitische Arbeit...........................................2945.2.1.1.1 Organisationsgrad der KPD-Mitglieder............................. 2955.2.1.1.2 Parteilinie und Basisstimmungen....................................... 2985.2.1.1.3 Die Arbeit der Gewerkschaftsfraktionen............................303

5.2.1.2 Betriebspolitik........................................................................... 3115.2.1.2.1 Betriebsarbeiter und Betriebsfunktionäre...........................3115.2.1.2.2 Kommunistische Betriebsräte............................................ 314

5.2.2 Die Kommunisten im proletarischen Milieu.................................... 3275.2.2.1 Kommunisten in den Sport- und Kulturvereinen...................... 327

5.2.2.1.1 Mitgliederzahlen und Einflussverteilung........................... 3275.2.2.1.2 Fraktionsarbeit in den Arbeiterfreizeitvereinen................. 329

5.2.2.2 Der Konflikt um die Freie Schule............................................. 3345.2.3 Agitation und Propaganda................................................................ 338

5.2.3.1 Mitglieder- und Leserwerbung..................................................3385.2.3.2 Landagitation.............................................................................344

6. Resümee........................................................................................................ 3517. Quellen- und Literaturverzeichnis.................................................................361

7.1 Ungedruckte Quellen...............................................................................3617.2 Mehrfach zitierte Gedruckte Quellen...................................................... 3637.3 Mehrfach zitierte Autobiografien und Memoiren................................... 3657.4 Mehrfach zitierte Literatur...................................................................... 369

Abkürzungsverzeichnis..................................................................................... 375

Vorwort 13

„Jeder von uns dagegen in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft, dem sie in ganz spezifischem Sinne gegenüber allen anderen Kulturelementen, für die es sonst noch gilt, unterworfen und hingegeben ist: jede wissenschaftliche ‚Erfüllung‘ bedeutet neue ‚Fragen‘ und will ‚überboten‘ werden und veralten. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will.“2

1 Einleitung1.1 Der Gegenstand dieser StudieStudien über die Arbeiter und die Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik füllen inzwischen ganze Bibliotheken. Auch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ist in den drei Jahrzehnten der Hochzeit der Arbeiterbewe-gungsforschung keineswegs ,stiefmütterlich‘ behandelt worden. Es liegt eine Fülle von Monographien zu diesem Themenkomplex vor, die scheinbar alle re-levanten Aspekte der Parteigeschichte behandeln - ganz zu schweigen von den in die Hunderte gehenden Aufsätze.

Noch vor wenigen Jahren konnte der Eindruck aufkommen, dieser Gegenstand sei nun in dem Maße ausgeschöpft, wie es historischer Forschung überhaupt möglich ist. Jürgen Kocka sprach 1994 sogar schon von einer sich breit machenden „intellektuellen Langeweile“, da die Arbeiter- und Arbeiterbe-wegungsgeschichte „nicht mehr der Ort aufregender Neuentwicklungen oder heißer Kontroversen“ sei.3

Damit war er offensichtlich etwas voreilig. Seit einiger Zeit zeichnet sich nun ein Paradigmenwechsel in der Kommunismusforschung ab, durch den dieses scheinbar ,zu Tode‘ erforschte Thema unerwartet wieder mit Leben gefüllt wird. Dies ist der äußerst inspirierenden, theoretisch instruktiven, in neue Forschungs-felder vorstoßenden und fruchtbare neue Fragen aufwerfenden Habilitations-schrift von Klaus-Michael Mallmann von 1994 zu verdanken. In ihr werden erst-mals die ,einfachen Leute‘ an der Parteibasis der KPD - in der Forschung zuvor kaum mehr als die anonymen Bewohner der Mitgliederstatistik - in den Mittel-punkt einer systematischen Untersuchung gestellt, und die seit den 1970er Jah-ren geforderte Verknüpfung von Arbeitergeschichte und Arbeiterbewegungsge-schichte wird erstmals überzeugend eingelöst.4

2 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftsleh-re, Tübingen 1922, S. 534f.3 Jürgen Kocka: Arbeiterbewegung in der Bürgergesellschaft. Überlegungen zum deutschen Fall, in: GG 4/1994, S. 487-496, hier S. 487.4 Klaus-Michael Mallmann: Milieu und Avantgarde. Zur Sozialgeschichte des deutschen Kommunismus, Habil.-Schrift, Saarbrücken 1994.

14 1.1 Der Gegenstand dieser Studie

Mit der Veröffentlichung von Mallmanns Habilitationsschrift, die eine Fülle an empirischem Material vor allem aus dem doch eher marginalen Saargebiet aus-breitet, ist dieser Gegenstand sicher nicht erschöpft. Nun, da einmal ein Anfang gemacht ist, gilt es vielmehr die sozialhistorische Forschung über den Kom-munismus in der Weimarer Republik weiter zu vertiefen. Wilfried Loth, der das Vorwort zu Mallmanns Buch beisteuerte, ist uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er schreibt: „Gewiß harren manche Befunde, die am saarländischen Bei-spiel gewonnen wurden, noch der Erhärtung durch Materialien aus anderen Re-gionen“.5 Mit dem Ziel, einen kritischen Beitrag dazu zu leisten, wurde die hier vorliegende Arbeit verfasst.

Methodische Grundlage dieser Untersuchung ist ein Vergleich der Alltagspraxis in fünf verschiedenen Regionalorganisationen der KPD („Bezirke“). Bei ihrer Auswahl wurde eine möglichst breite Ausdifferenzierung der das Mitgliederver-halten beeinflussenden Bedingungskonstellationen angestrebt.

Zu diesem Zweck boten sich folgende Bezirke an: Berlin als Sitz der Partei-führung und industrielle Metropole,6 Oberschlesien wegen seiner Lage an der Peripherie, Pommern als landwirtschaftlich geprägte Region, Westsachsen (die Region um Leipzig) auf Grund der sozialdemokratischen Milieutradition und der starken linken Sozialdemokratie und das Ruhrgebiet, als schwerindustrielle Region mit extrem verzögerter Milieubildung.7 Diese fünf Bezirke umfassten Anfang 1926 knapp dreißig Prozent der Gesamtmitgliedschaft der KPD, bieten damit also eine ausreichende Grundlage und Repräsentativität für eine solche Untersuchung.

Diese Untersuchung gliedert sich in fünf Teile, deren Aufbau meinen theore-tischen Grundannahmen folgt (vgl. Abschnitt 1.4). Auf die Darstellung der his-torischen Rahmenbedingungen in den Bezirken folgt eine Untersuchung des Aufbaus der Bezirksorganisationen und der sozialen Struktur ihrer Mitglied-schaft. Danach werde ich mich mit dem organisatorischen Rahmen der Partei und den Kommunikationswegen zwischen Führung und Basis beschäftigen. Als vierter Faktor des Mitgliederverhaltens wird die symbolische Integration der Parteimitgliedschaft ins Zentrum gerückt. Auf Grundlage dieser vier Abschnitte über die Hintergründe des Mitgliederverhaltens in der KPD werde ich dann die im engeren Sinn politische Basistätigkeit in den Bezirken analysieren.

5 Klaus-Michael Mallmann: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996, S. X.6 Die zum Bezirk Berlin-Brandenburg gehörende Provinz Brandenburg habe ich aus for-schungsökonomischen Gründen nicht untersucht.7 Vgl. auch: Ulrich Eumann: „Strengste Disziplin“ oder Resistenz. Das Verhältnis von Parteibasis und politischer Führung in der KPD, Magisterarbeit, Köln 1995.

1 Einleitung 15

1.2 Der ForschungsstandDie Forschung über die KPD in der Weimarer Republik begann unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon 1948 erschien Ossip K. Flechtheims Pionierarbeit über die „Die KPD in der Weimarer Republik“.8 Mit seiner Kon-zentration auf die Parteiführung, ihre ideologischen Auseinandersetzungen („Fraktionskämpfe“) und den Einfluss der Bolschewiki, den auch schon sehr früh die zeitgenössische sozialdemokratische Publizistik akzentuiert hatte, gab er den Rahmen vor, an den sich der überwiegende Großteil der auf ihn folgenden Forschung über den Weimarer Kommunismus bis heute gehalten hat: KPD-Geschichte als politische Ereignis- und Ideengeschichte. Auch ist Flecht-heims Quellenbasis kritisch zu beurteilen, da er sich nahezu ausschließlich auf veröffentlichte Dokumente stützt.

Der nächste herausragende Beitrag war Hermann Webers 1969 unter dem Titel „Die Wandlung des deutschen Kommunismus“ erschienene Dissertation.9 In Anlehnung an Flechtheim beschäftigte er sich vor allem mit der für ihn ent-scheidenden Phase der so genannten „Stalinisierung“ zwischen 1924 und 1929. In dieser wurde die KPD nach seiner Ansicht zu

„einer monolithischen, straff disziplinierten und zentralisierten Organisation, in der die Führung mit Hilfe des hierarchisch aufgebauten Parteiapparats (...) die Mitglieder be-herrscht und die Politik im Sinne und entsprechend den Weisungen der Stalinschen KPdSU bestimmt.“10

Webers Einfluss auf die Veröffentlichungen zur KPD-Geschichte in den 1970er und 1980er Jahren kann gar nicht überschätzt werden.

Der zweite Band der „Wandlung“, der neben umfangreichen statistischen Ma-terialien über das „Führungskorps“ der KPD die Kurzbiographien von 504 hauptamtlichen Funktionären enthält, kommt als ,Kollektivbiographie‘ einer So-zialgeschichte der Parteiführung schon relativ nahe. Mit einigen Abstrichen kann die „Wandlung des deutschen Kommunismus“ generell als eine politische Geschichte des hauptamtlichen Apparats der KPD heute durchaus noch be-stehen.

Auch bei Weber ist eine quellenbedingte Verengung der Perspektive festzu-stellen. Was die Tätigkeit der Parteibasis betrifft, greift er ausschließlich auf normative Quellen zurück, die er aber nicht dahingehend befragt, ob die Anwei-sungen in die Wirklichkeit umgesetzt worden sind. Weber überschätzt, wie die seinerzeit einflussreiche Totalitarismustheorie generell, die Steuerungsmöglich-keiten einer Parteiführung. Mit dem zentralen Begriff der „Wandlung“ kon-

8 Ossip K Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 19692.9 Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt am Main 1969.10 ebenda, S. 8.

16 1.2 Der Forschungsstand

zentriert sich Weber auf die Veränderungen in der Parteispitze, die strukturellen und kulturellen Kontinuitäten fallen aber damit ganz aus der Analyse heraus.

Der Vorwurf, die Mitgliedschaft „zur Komparserie degradiert“ zu haben, den Weber dem hauptamtlichen KPD-Apparat in seiner Einleitung macht, fällt daher auf ihn selbst zurück: als historische Subjekte sind die ,einfachen‘ Mitglieder an der Basis in seiner Studie nicht existent. Statt dessen übernimmt er über weite Strecken die Selbstinterpretation der Parteiführung und ihre Perspektiven auf die Basis, die er lediglich ganz anders bewertet.11

So gesehen, stellt sich die Geschichte der KPD als ein Produkt stalinistischer Ideologie und durch Moskauer Drahtzieher ,fern gesteuerter‘ Funktionäre dar. Parteiinterne Konflikte werden - exakt wie in der Perspektive eben jener Funktionäre - nur als Auseinandersetzungen zwischen definitorisch im Vagen bleibenden „Fraktionen“ wahrgenommen. Selbst wenn er sich ausnahmsweise einmal der Parteibasis zuwendet, interessieren Weber doch wieder in erster Linie die so genannten politischen „Abweichungen“. Zu den Interessenlagen der Basismitglieder kann er nicht vordringen, weil er diesen keine Bedeutung für die Gesamtpolitik der Partei beimisst.

Der kaum zu überschätzende Einfluss Webers zeigt sich auch in Heinrich Au-gust Winklers dreibändigem Standardwerk über „Arbeiter und Arbeiterbewe-gung in der Weimarer Republik“ Was die KPD betrifft, bestätigt er die Schwer-punktsetzungen und Erkenntnisse Webers als ,herrschende Lehre‘, und teilt mit Weber dieselbe reduzierte Perspektive.12

Im ersten Band der Reihe „Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewe-gung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“ begründet Herausge-ber Gerhard A. Ritter Winklers Konzentration auf die Politik der Arbeiterbewe-gung damit, dass dies „in der Natur der Sache“ liege.13 Insofern erübrigt sich na-türlich eine theoretische Rechtfertigung der impliziten Annahme Winklers, dass der Einfluss der ,einfachen‘ Mitglieder auf die von ihm so virtuos ausgebreitete politische Geschichte der Arbeiterbewegung vernachlässigenswert gering war. Dementsprechend stellt er sie als rein passives Element im politischen Kalkül der Partei- und Gewerkschaftsführungen dar.

Zu nennen wäre noch die Forschung aus der ehemaligen DDR. Nachdem das taktische Verhältnis zur historischen Wahrheit dort in den 1960er Jahren all-11 Weber: Wandlung I, S. 11.12 Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbe-wegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin 1984; ders.: Der Schein der Nor-malität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Berlin 1986; ders.: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin 1987.13 Gerhard A. Ritter: Zum Gesamtwerk, in: Jürgen Kocka: Weder Stand noch Klasse. Unter-schichten um 1800, Bonn 1990, S. 19.

1 Einleitung 17

mählich einem nüchterneren Umgang mit den Fakten Platz gemacht hatte, ent-stand eine Fülle von Arbeiten zur KPD. Diese sind zwar mit der Bürde der Legi-timationswissenschaft belastet, breiten dennoch, wenn man sie zu lesen versteht, reichhaltiges empirisches Material aus.

Alles in allem genommen konnte Klaus Schönhovens Bilanz der KPD-For-schung, die er 1989 in einem Forschungsüberblick zog, bis weit in die 1990er Jahre hinein nur zugestimmt werden:

„Grundsätzlich kranken die meisten Studien zur KPD an ihrer ideologischen Kopflastig-keit. Sie konzentrieren sich fast ausschließlich auf die Führungsgruppen der Partei und nehmen das Mitgliederverhalten nur gebrochen wahr, nämlich so wie es sich in den Rundschreiben und Direktiven der Funktionärskader widerspiegelte.“14

Seit Flechtheims Aufbruch ist wenig mehr hinzugekommen als die Erschließung neuen Quellenmaterials. Die Konzepte hingegen, mit denen dieser Gegenstand erforscht wird, sind seit bald fünfzig Jahren mehr oder weniger die gleichen ge-blieben und allein schon deswegen inzwischen reichlich verbraucht. Nichts-destotrotz steht auch jede zukünftige Forschung zur Geschichte der KPD auf den Schultern dieser Vorläufer. Auch die vorliegende Untersuchung wäre ohne dieses Fundament, die Vorstrukturierung des Hintergrunds und das dort ausge-breitete umfangreiche empirische Material gar nicht zu leisten gewesen.

* * *

Ein erster Anfang sozialhistorischer Kommunismusforschung wurde ebenfalls schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht. Gabriel A. Almonds Studie „The Appeals of Communism“ erschien 1954.15

Auf der Basis von Interviews mit 221 ehemaligen Kommunisten aus den USA, Großbritannien, Frankreich und Italien entwickelt der Soziologe Almond ein komplexes Bild des Lebens in einer Kommunistischen Partei. Er wirft eine ganze Reihe von Fragen auf, die durch Mallmanns Monographie erst kürzlich wieder ins Zentrum der Forschung gerückt wurden. Almonds Erkenntnisse etwa über die Beitrittswege zur Partei oder über die kommunistische Identität sind auch heute noch mit Gewinn zu lesen, seine Forschungskonzepte immer noch inspirierend und sein Ausgangsgedanke erscheint heute kaum weniger aktuell als vor 50 Jahren: „We began this study with the assumption that the Communist movement is not the homogenous community of professional revolutionaries ce-lebrated in the Leninist and Stalinist Classics.“16

14 Klaus Schönhoven: Reformismus und Radikalismus. Gespaltene Arbeiterbewegung im Weimarer Sozialstaat, München 1989, S. 254.15 Gabriel A. Almond: The Appeals of Communism, Princeton 1954.16 ebenda, S. IX.

18 1.2 Der Forschungsstand

Als erste genuin sozialhistorische Arbeit zur Geschichte der KPD in der Weima-rer Republik muss wohl Eve Rosenhafts Untersuchung über politische Gewalt im kommunistischen Milieu Berlins genannt werden. Sie zeichnet in den Hin-tergrundabschnitten ein differenziertes Bild von der Beziehung zwischen Basis und Führung in der KPD, auch wenn sie dabei nur selten in die Tiefe geht. Rosenhaft beschäftigt sich damit, wie die zunehmende Arbeitslosigkeit in der KPD-Mitgliedschaft dafür sorgte, dass der Fokus ihrer politischen Tätigkeit sich allmählich vom Betrieb auf die Nachbarschaft verlagerte. Sie zeigt daran, wie wenig die KPD-Führung in der Lage war, ihre am stärksten zur Aktivität drängenden jungen Mitglieder zu disziplinieren.17

Was Rosenhaft nur anreißt, untersucht Mallmann systematisch. Er selbst beschreibt sein Forschungsprogramm wie folgt:

„Es geht nicht primär um eine Geschichte der Partei, sondern um eine der Menschen, die sich in ihr engagierten, um den Versuch, die Innenansichten und Außenbeziehungen einer Bewegung aufzudecken, um eine Geschichte der Wahrnehmungsweisen von Realität, der Interpretationsangebote und Deutungswelten, von Konsistenz und Zerfall einer politischen Teilkultur, um eine subjektbezogene Lebensweltanalyse, um eine im Spannungsfeld zwischen den Wirklichkeitsdimensionen Struktur und Erfahrung ange-siedelte Sozialgeschichte des Kommunismus”.18

Dabei wählt er als Ausgangspunkt die Cleavage-Theorie, die Stein Rokkan in den 1960er Jahren zur Analyse der Herausbildung von Parteiensystemen in der Periode der Bildung der modernen Staaten entwickelt hat und die bis heute fruchtbare wahlsoziologische Studien stimuliert. Um von der Ebene des Partei-ensystems zur Erklärung des Verhaltens in Parteien vorzudringen, benötigt Mallmann eine Brückentheorie. Zu diesem Zweck verwendet er das Milieukon-zept von M. Rainer Lepsius. Auch wenn Mallmann die Probleme des Milieube-griffs ausführlich reflektiert, bleibt in dieser Hinsicht doch einiges problema-tisch.19

Wer wie Mallmann die Widersprüche zwischen Basis und Führung der KPD derart auf den Konflikt „Milieuverwurzelung kontra Avantgardeprinzip“ zu-spitzt20 - und darin besteht meine Hauptkritik an seinem Werk - der sollte dem eine konkrete Analyse der Einbindung der Kommunisten in das Milieu zu Grunde legen. Von der sozialstrukturellen Lage der allermeisten KPD-Mitglie-

17 Eve Rosenhaft: Beating the Fascists? The German Communists and political Violence 1929-1933, Cambridge 1983.18 Mallmann: Kommunisten, S. 4f.19 M. Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80.20 Mallmann: Kommunisten, S. 19.

1 Einleitung 19

der einfach auf ihre Milieuzugehörigkeit zu schließen, wird zwar dem sozialen, aber nicht dem kulturellen Aspekt des Milieubegriffs gerecht, den Mallmann doch so hervorhebt. Eine Analyse des Milieus als Sozialisationsagentur sucht man bei Mallmann im Übrigen vergebens; vielmehr verweist er selbst mit Recht auf den Einfluss der mit dem Milieu konkurrierenden Sozialisationsinstanzen Elternhaus, Schule, Kirche, Betrieb und Militär.21 In welchem Maße sich den Anweisungen der Parteiführung verweigernde Einzelpersonen oder Basisorgani-sationen mit dem, was Mallmann „links-proletarisches Milieu“ nennt, wirklich verbunden waren, wie stark diese sich den Werten dieses Milieus wirklich ver-pflichtet fühlten, und vor allem wie sehr diese Wertorientierung und Einbindung in das Milieu das Verhalten der Mitglieder in der KPD beeinflusst hat, müsste empirisch nachgewiesen werden. Wir sind daher zu einer sehr vorsichtigen Verwendung des Milieubegriffs gezwungen, wenn aus ihm nicht doch der dann zirkulär definierte, informationsfreie „,catch-all‘-Begriff“ werden soll, vor dem Mallmann selbst warnt.22

Ansonsten gelingt es Mallmann überzeugend nachzuweisen, in welch hohem Maße bisher dem Einfluss Moskauer Drahtzieher zugeschriebene Strukturen und Strategien aus der politisch-sozialen Situation der KPD in Deutschland selbst erwuchsen und dass die Parteiführung keineswegs damit rechnen konnte, dass ihre Anweisungen und „Parteibefehle“ an der Basis automatisch in die politische Praxis umgesetzt wurden.

Mallmanns Studie hebt unsere Kenntnis über die Mitgliederentwicklung der KPD und ihre soziale Struktur auf ein neues Niveau. Er zeigt überzeugend, wel-che wichtige Rolle die sozialstrukturelle Verortung der Mitglieder für ihre poli-tischen Erwartungen an die Parteiführung und für ihr Verhalten spielte. Wir erfahren wie eingeschränkt doch eigentlich die Erfolge der Bemühungen der Parteiführung um eine umfassende Kontrolle der Tätigkeit der Parteibasis war, ja: sein musste, und wie groß die Spielräume der Mitglieder bei der Ausge-staltung kommunistischer Politik vor Ort waren.

Die Abschnitte in Mallmanns Arbeit über die Rezeption der Deutungsangebo-te der Parteiführung, über Schulungen, Presse und Literatur stellen die erste wirklich systematische und umfassende Untersuchung der politischen Kultur des Weimarer Kommunismus dar! Sie zeigen wie begrenzt der politisch-ideolo-gische Einfluss der Führung auf die Basis war, den die bisherige Forschung ohne jede nähere Untersuchung einfach vorausgesetzt hat, und welche Schwie-rigkeiten die Parteiführung bei der Übermittlung ihrer Wertvorstellungen und politischen Strategie zu überwinden hatte.

In eine ganz ähnliche Richtung wie Mallmanns Untersuchung geht Eric D. Weitz‘ Studie „Creating German Communism 1890-1990“ von 1997. Weitz

21 ebenda, S. 13.22 ebenda.

20 1.2 Der Forschungsstand

stellt am Beispiel der Arbeiter bei Krupp in Essen und bei der BASF in Leuna dar, wie die Politik der KPD vor Ort durch deren Lebensverhältnisse, Erfah-rungen und Interessen geprägt wurde. Damit versucht er, die seit mehr als zwanzig Jahren in der Literatur geforderte Rückbindung der KPD-Politik an die deutschen Verhältnisse einzulösen: „The Soviets could never create a mass-ba-sed party. The ideologies and strategies emanating from Moscow had to be translated into practices and discourses that made sense to German workers.“23

Das Hauptproblem bei der Untersuchung von Weitz liegt schon in der Aus-wahl der Regionen. Mit seiner Konzentration auf die Arbeiter der Großindustrie fällt die überwiegende Mehrheit der KPD-Mitglieder gleich aus dem Sample heraus. Die KPD war spätestens seit der Mitte der 1920er Jahre kaum noch in Großbetrieben verankert.24 Leider reflektiert Weitz überhaupt nicht die Re-präsentativität seiner an diesen Beispielen gewonnenen Ergebnisse. Interessant ist hingegen, wie er immer wieder parteiinterne Prozesse an die konjunkturelle Entwicklung anbindet, auch wenn er dabei für meine Begriffe diesen Zu-sammenhang überstrapaziert.

* * *

Die Literatur zu den fünf ausgewählten Regionen bietet ein sehr buntes Bild, in dem sich die Verwicklungen deutscher Nachkriegsgeschichte nur zu deutlich abzeichnen. Während über das Ruhrgebiet und die Stadt Berlin eine beinahe schon nicht mehr überschaubare Fülle sozialhistorischer Literatur vorliegt, hat die Forschung über die Region Leipzig-Westsachsen erst nach der Wende von 1989 Anschluss an die moderne Sozialgeschichte gewonnen, weshalb hier auch noch einiger Nachholbedarf besteht. Noch wesentlich größere Lücken weist die deutschsprachige Forschung über die beiden Regionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen fielen, auf. Über Oberschlesien gibt es inzwischen wenigs-tens eine reichhaltige industriegeschichtliche Literatur. Was die ostdeutsche For-schung betrifft, ist auf die reichhaltige lokalgeschichtliche Literatur zur KPD hinzuweisen, die seit den 1960er Jahren ein bevorzugtes Thema für Disserta-tionen war.

23 Eric. D. Weitz: Creating German Communism 1890-1990. From Popular Protests to So-cialist State, Princeton 1997, S. 14.24 Von 8.681 Mitgliedern aus dem Bezirk Ruhrgebiet, die 1927 die Fragebogen der ersten reichsweiten Mitgliederbefragung („Reichskontrolle“) ausfüllten, waren ganze 2.975 in Groß-betrieben (Betrieben mit mehr als 1.000 Beschäftigten) tätig, also nur gut ein Drittel (SAP-MO-BArch RY1/I3/18-19/29 Bl. 73f.). Von den 14.015 befragten Berliner Mitgliedern arbei-teten sogar nicht einmal zehn Prozent (1.195) in Großbetrieben (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/23, Bl. 185).

1 Einleitung 21

1.3 Quellenlage und QuellenkritikSchon auf dem Gründungsparteitag der KPD (30.12.1918-1.1.1919) hatte Fritz Heckert vorgeschlagen, ein Parteiarchiv anzulegen.25 1924 wurde Wilhelm Pieck, seit der Parteigründung Mitglied der Zentrale der KPD, die Verant-wortung für das zu gründende Parteiarchiv übertragen. Im selben Jahr beschloss die Zentrale der Partei, das Archivgut der KPD sukzessive nach Moskau zu überführen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kam das Archivgut in die Obhut des Zentralen Parteiarchivs (ZPA) der KPdSU. Zwischen 1968 und 1970 wurde das „Historische Archiv der KPD“ dem ZPA der SED übergeben.26

Leider ließen sich in den Akten des KPD-Archivs keine Unterlagen über die Arbeitsweise, das heißt insbesondere über die Sammelkriterien des KPD-Ar-chivs finden. Es hat den Anschein, dass es sich wohl selbst bei den meisten Ak-ten aus den Parteibezirken um Materialien handelt, die als Durchschläge oder Abzüge der Originale über die zentrale Ablage des ZK gesammelt wurden.

Die von mir eingesehenen Dokumente verteilen sich, wie zu erwarten war, we-der gleichmäßig auf die Bezirke noch über die Jahre. So umfasst der Bestand des Bezirks Berlin-Brandenburg 2,9 laufende Meter, während der des Bezirks Oberschlesien nur 0,4 laufende Meter aufweist. Das gleiche wiederholt sich auf der nächsttieferen Ebene: Aus der Arbeit der KPD im Berliner Verwaltungsbe-zirk Köpenick sind nur ganze neun Blätter überliefert, während es aus dem Verwaltungsbezirk Wedding über 300 sind. Der Vergleich wird daher notge-drungen nicht so symmetrisch ausfallen, wie es wünschenswert wäre. Die tiefste mit einiger Regelmäßigkeit der Quellenüberlieferung erreichbare Parteiebene sind im übrigen die Unterbezirke. Aus den eigentlichen Basisorganisationen liegen fast nur Momentaufnahmen vor.

Was die zeitliche Verteilung betrifft, ist die Periode der relativen Stabilisierung der Weimarer Republik am besten dokumentiert: Die Unterlagen aus den Jahren 1925-28 machen den größten Teil der von mir eingesehen Doku-mente aus. Dies hat naturgemäß ein entsprechendes Schwergewicht dieser Un-tersuchung auf diesen Jahren zur Folge. Die ersten beiden konstitutiven Jahre der Parteigeschichte sind hingegen ganz besonders schlecht dokumentiert. Dasselbe gilt für das Jahr 1932, das letzte der legalen Existenz der KPD.

Die im „Historischen Archiv der KPD“ zusammengetragenen Dokumente aus der Alltagstätigkeit der Partei umfassen verschiedene Quellengattungen. Da sind zunächst die Protokolle, die in solche von Leitungssitzungen und Parteiver-25 Hermann Weber (Hg.): Der Gründungsparteitag der KPD. Protokoll und Materialien, Frankfurt 1969, S. 285.26 Gerhard Nitzsche: Das „Historische Archiv der KPD“ im Zentralen Parteiarchiv, in: Institut für Marxismus-Leninismus (Hg.), Fünfzehn Jahre Zentrales Parteiarchiv der SED 1963-1978, Berlin (DDR) 1978, S. 11-13, hier: S. 11.

22 1.3 Quellenlage und Quellenkritik

sammlungen zu unterscheiden sind. Hinzu kommt die Korrespondenz der Be-zirksleitungen zum einen mit den höheren bzw. mit den niedrigeren Instanzen. Zu ersteren zählen neben dem allgemeinen Schriftwechsel die Tätigkeitsberichte der Bezirksleitungen und ihrer einzelnen Ressorts. Zu der anderen Gruppe gehö-ren die Rundschreiben der Bezirksleitungen und ihrer Ressorts an die unteren Instanzen. Hinzu kommen noch die Berichte der von der Parteiführung in die Bezirke entsendeten Instrukteure und Referenten (vgl. Abschnitt 3.3.4.3).

Auf Grund der geringen Zahl an hauptamtlichen Funktionären war es der KPD-Führung - worunter ich hier die Zentrale, die ab 1925 Zentralkomitee genannt wurde, und die Bezirksleitungen verstehe, weil im Allgemeinen nur dort haupt-amtliche Funktionäre tätig waren - nicht möglich, die alltägliche Tätigkeit der Mitglieder an der Basis - hier definiert als die satzungsmäßig kleinsten Organi-sationseinheiten - kontinuierlich zu überwachen. Dem sollte die regelmäßige monatliche Berichterstattung der unteren Leitungsgremien abhelfen, die schon Anfang der 1920er Jahre eingeführt und seit dem 10. Parteitag 1925 offiziell von allen Parteileitungen verlangt wurde. Zu ihrer Vereinfachung gab die Parteifüh-rung ebenfalls schon sehr früh gedruckte Fragebogen heraus, die aber einerseits inhaltlich nur statistische Eckdaten erfassten und andererseits offenbar nur un-gern von den ehrenamtlichen Funktionären an der Basis ausgefüllt wurden (vgl. Abschnitt 3.3.4).

Zusätzlich wurden sowohl durch die Zentrale bzw. das ZK als auch durch die Bezirksleitungen so genannte Instrukteure eingesetzt. Aber auch dort schlug das Problem der knappen Personalressourcen voll durch: Ein flächendeckender und regelmäßiger Einsatz von Instrukteuren war der KPD-Führung nicht möglich (vgl. Abschnitt 3.3.4.3). Auch die von der Führung in die Gemeinden geschick-ten Wahl- und Versammlungsredner („Referenten“) sollten tunlichst Berichte über ihre Erfahrungen vor Ort anfertigen.

Zusammen genommen waren dies die Hauptquellen der Kenntnis der Parteifüh-rung von dem, was an der Basis geschah. Nicht zu vergessen ist natürlich die mündliche Kommunikation zwischen den Funktionären der verschiedenen Ebenen, die ein geografisches Zentrum in den Büros der Bezirksleitungen in den Bezirksvororten hatte.

Generell lässt sich also sagen, dass die ,Stimme der Basis‘ nur in den wenigs-ten Akten unmittelbar zu hören ist, so dass wir in den meisten Fällen die Basi-stätigkeit nur aus der Perspektive der hauptamtlichen Parteifunktionäre betrach-ten können, die ihre ganz eigenen Kriterien für die Relevanz von Basisaktivitä-ten hatten:

„Dies impliziert, daß die Basis nur fragmentarisch, selektiv und gewissermaßen gebro-chen in den Blick geriet, daß deren Praktiken höchstens dann als berichtenswert und da-mit überlieferungswürdig galten, wenn sie ,auffällig‘ wurden. Dies geschah gewöhnlich dann, wenn sie sich sperrig gegenüber der Beschlußlage erwiesen - vorausgesetzt, die

1 Einleitung 23

höheren Parteiinstanzen bekamen dies überhaupt mit. Dieser in der Fülle der KPD-inter-nen Überlieferung vorhandene Filter läßt sich nicht umgehen.“27

Durch ihren zumeist eher bescheidenen Bildungshintergrund und die vor allem durch ‚learning by doing‘ geprägte ,Ausbildung‘ der Funktionäre in der KPD waren die meisten Quellenproduzenten kaum in der Lage, differenzierte und pragmatische Ursachenforschung zu betreiben, selbst wenn ihnen ihre Arbeits-überlastung dafür die nötige Zeit gelassen hätte. Hinzu kommt die Funktion der marxistisch-leninistischen Ideologie als vorgeschalteter Wahrnehmungsfilter: Was die Quellenproduzenten überhaupt als Problem erachteten und wie sie es überlieferten, war in den meisten Fällen schon ideologisch determiniert. Die von der KPD-Bürokratie produzierten Quellen strotzen daher nur so von politisch korrekten Diskursen. Deshalb finden sich immer wieder die gleichen Kausal-hypothesen.

Eine beliebte Methode der Problemerklärung war die Aufklärungshypothese. Wann immer es mit der Umsetzung von Anweisungen durch die Basis haperte, wann immer dort eine wirkliche oder vermeintliche Passivität festzustellen war, griffen die Funktionäre reflexartig zu dieser Erklärung. Ein typisches Beispiel dafür ist die folgende Äußerung von Paul Grobis, dem politischen Leiter des Unterbezirks Frankfurt/Oder, vor dem Bezirksparteitag der KPD Berlin-Brandenburg am 16. März 1929:

„Ich möchte hier die Behauptung aufstellen, daß ein großer Teil unserer Parteimitglied-schaft noch nicht an die akute Kriegsgefahr glaubt. Wenn das [der Glaube] vorhanden wäre, dann würden die Aktionen gegen die Kriegsgefahr, die die Partei in der Vergangenheit durchgeführt hat, besser durchgeführt worden sein und dann wäre das Volksbegehren gegen den Panzerkreuzer-Bau erfolgreicher gewesen.“28

Auf den ersten Blick erscheint der hier unterstellte kausale Zusammenhang plausibel: je besser die Mitglieder über die jeweils aktuellen politischen Themen und die entsprechenden Beschlüsse der Partei informiert sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie diese Beschlüsse auch umsetzen und den Sympathi-santen der Partei vermitteln können. Durch ihre offenbar durch keinerlei Kriteri-en beschränkte wahllose Verwendung aber wurde die ,Aufklärungshypothese‘ zu einer naiven Form der Komplexitätsreduzierung. Die Durchführung von Beschlüssen war eben nur zum Teil ein Informationsproblem.

Hinter diesem Erklärungsansatz stand unausgesprochen die mehr oder weniger bewusste Vorstellung vieler Funktionäre, die ,einfachen‘ Mitglieder sei-en „black boxes“, die bloß im Sinne der als unzweifelhaft wahr gesetzten Auf-fassungen der Parteiführung zu programmieren sind. Der hier verwendete Auf-klärungsbegriff besaß eine ausgeprägt organisatorisch-instrumentelle und ,erzie-herische‘ Konnotation, die das folgende Zitat aus einer Rede des Politischen

27 Mallmann: Kommunisten, S. 15.28 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/8, Bl. 208.

24 1.3 Quellenlage und Quellenkritik

Leiters des 5. Berliner Verwaltungsbezirks Friedrichshain, Theo Mölders, auf der Sitzung der Bezirksleitung Berlin-Brandenburg am 10./11.11.1928 exakt wiedergibt: „Wo sind die Beschlüsse [des 11. Parteitags] von Essen, des 9. Plen-ums der Erweiterten Exekutive [EKKI] eingehämmert worden in die Köpfe der Mitgliedschaft?“29

Kaum weniger problematisch wirkt sich der zweite Strang ideologischer Erklä-rungsversuche aus, die beinahe schon mystisch zu nennende ‚Organisations-hypothese‘. Wenn ein Problem einmal nicht auf die unzureichende Erziehung der Mitglieder zurückgeführt wurde, lag es in den Augen der Quellenpro-duzenten gewöhnlich an der ungenügenden Planmäßigkeit bei der Organisierung der Parteiarbeit. Objektive politische, ökonomische und soziale Hemmnisse kamen als Erklärungen generell nicht in Betracht. Es war alles bloß eine Frage der entsprechenden Planung, was aus der Perspektive der Funktionäre insoweit Sinn machte, da sie den Hebel nur dort ansetzen konnten. Am prägnantesten kommt dies in folgendem Zitat aus einer Rede des Genossen Nr. 1 auf der Sitzung der Bezirksleitung Berlin-Brandenburg am 18. Dezember 1924 zum Ausdruck, der sich über unerwartete Zusammenhänge zwischen der Organisierung des Wahlkampfs in einzelnen Berliner Verwaltungsbezirken und den dort erzielten Stimmenanteilen bei den Reichstagswahlen vom 7. Dezember 1924 wunderte:

„Was mich am meisten erstaunt hat bei den Wahlergebnissen, war daß einzelne Bezirke, die miserabel gearbeitet haben, geradezu glänzend abgeschnitten haben, z.B. Reini-ckendorf und Tempelhof, währenddem der 4. und 5. Bezirk [Prenzlauer Berg und Fried-richshain] außerordentlich gut gearbeitet haben und doch schlechtere Ergebnisse auf-weisen.“30

Ähnlich zwiespältig für die Bewertung der Glaubwürdigkeit der Quellen wirken sich die Interessen der Quellenproduzenten aus. Die von der Parteiführung an die Brennpunkte entsandten Instrukteure etwa waren mitnichten reine Beobach-ter. Zu ihrem Aufgabenbereich gehörte das selbständige Eingreifen bei der Be-hebung von Problemen. Sie wurden damit selbst zu Interessenten, die von oben einigem Druck ausgesetzt waren, und ihre Tätigkeit zu rechtfertigen und ent-sprechende Erfolge nachzuweisen hatten.

Das gleiche gilt für die Berichte aus den Bezirken. Eine ausführliche Aufzäh-lung von Problemen etwa in der Intention, die eigene Unentbehrlichkeit nachzu-

29 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/20, Bl. 158 (Hervorhebung von mir, U.E.).30 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/17, Bl. 112. Während der Illegalität der KPD (11.11.1923-28.2.1924) war man dazu übergegangen, in den Protokollen der Bezirksleitungssitzungen die teilnehmenden Genossen durchzunummerieren, damit ihre Namen nicht in die Hände der Po-litischen Polizei fielen. In Berlin hat man dies teilweise auch später beibehalten. Leider ist es mir nicht gelungen, den Namen dieses Funktionärs zu ermitteln.

1 Einleitung 25

weisen, konnte in Berlin den fatalen Eindruck erwecken, dass der Autor seinem Amt nicht gewachsen war. Da in solchen Fällen die Gefahr einer Prestige mindernden Versetzung oder Degradierung bestand und es darüber hinaus für ehemalige hauptamtliche KPD-Funktionäre ziemlich aussichtslos war, einen normalen Arbeitsplatz zu finden, galt es diesen Eindruck auf jeden Fall zu vermeiden. Die Politischen Leiter der Bezirke und die Instrukteure konnten nor-malerweise aber davon ausgehen, dass ihnen Unwahrheiten kaum nachzuweisen waren. Die Berichterstatter der Bezirksleitungen durften das Positive aber auch nicht zu dick auftragen. Ein Bericht ohne jegliche Erwähnung der Kategorie „Fehler und Mängel“ hätte in Berlin Misstrauen und sogar eine eventuelle Prü-fung der geschilderten Tatsachen auslösen können.

Ebenfalls einen Beitrag dazu, dass der reale Parteialltag an der Basis in seiner Vielfalt in den Quellen nicht völlig unter den Tisch fiel, leistete der kommunis-tische Kult der Selbstkritik, auch wenn sich bei näherem Hinschauen die Selbst-kritik zumeist als Kritik an anderen entpuppt.31

Die Rundschreiben der Bezirksleitungen an die Ortsgruppen und Zellenorgani-sationen enthielten ebenfalls zumeist eine Rubrik „Fehler und Mängel“, in der sehr viel detaillierter als in den knapp gehaltenen Berichten nach ,oben‘ die Pro-bleme der Parteiarbeit vor Ort angesprochen wurden. Allerdings gilt, was vor-stehend über die Berichterstattung gesagt wurde, im Prinzip auch für die Kom-munikation nach ,unten‘. Schließlich lasen die ZK-Funktionäre in Berlin mit, denn die Parteiführung bekam Durchschläge der Rundschreiben zugeschickt. Der Quellenwert dieser Rundschreiben nimmt um etwa 1930 rapide ab. Die Kategorie „Fehler und Mängel“ entfällt, an ihre Stelle rückt eine Litanei immer hektischerer Anweisungen, die die Basistätigkeit nur noch als extrem verzerrtes Negativ widerspiegelt.

Das zentrale methodische Problem aber liegt in den vielfach völlig überzogenen Vorstellungen der Hauptamtlichen von den Möglichkeiten der Arbeit an der Ba-sis. Ihren oft völlig unrealistischen Erwartungen an die Aktivität der Mitglieder lag anscheinend eine Verwechslung des Wunschbildes des bolschewistischen Revolutionärs mit der tristen Wirklichkeit zu Grunde. Klagen über die Untätig-keit der Mitglieder vor Ort ziehen sich wie ein breiter roter Faden durch die Quellen. Einem Hauptamtlichen, der mit dem Maßstab seiner eigenen Bereit-schaft zum Engagement und des eigenen aufreibenden Zehn-, Zwölf- oder Vierzehnstundentages im Dienst der Partei an die Bewertung der Leistungsfä-higkeit der ehrenamtlichen Funktionäre und ,einfachen‘ Genossen heranging,

31 Nicht weiter verwunderlich ist daher das Verlangen eines Genossen Walter Schmidt auf einer Parteiarbeiterkonferenz des Berliner Verwaltungsbezirks Prenzlauer Berg am 23. Ok-tober 1928, „daß Selbstkritik auch gegenüber dem ZK geübt werde.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/33, Bl. 2).

26 1.3 Quellenlage und Quellenkritik

dürfte sich die Parteibasis als Hort der schlimmsten Desorganisation dargestellt haben.

Sicher spielte bei der Generierung von Vorgaben auch die in der KPD beson-ders beliebte Vorgesetztentaktik eine Rolle, durch Zuschläge auf das Machbare am Ende etwas mehr aus den Mitgliedern herauszuholen, als vielleicht aus prag-matischer Perspektive zu erwarten gewesen wäre, um damit im Wettbewerb der Bezirke gut abzuschneiden. Auch der Schematismus der am ,grünen Tisch‘ aus-geheckten Zielvorgaben trug seinen Teil zu dieser Wahrnehmungsverzerrung bei. Verschärft wurde das Problem unrealistischer Erwartungen weiterhin durch ad-hoc-Anweisungen, die ungeachtet der die Mitglieder bereits in Anspruch nehmenden laufenden Kampagnen erteilt wurden, und durch die Widersprüche in verschiedenen auf einander folgenden Anweisungen selbst.

Dazu ein Beispiel: im Herbst 1925 rief das ZK die Mitglieder dazu auf, die Partei vor dem Bankrott zu retten. Dazu sollten sie während der so genannten „Partei in Not“-Kampagne, die von November 1925 bis Januar 1926 durchge-führt wurde, in der Partei und bei den Sympathisanten die völlig überzogene Summe von einer Million Reichsmark sammeln.32 Wer nun bei der Lektüre der Dokumente über das „Parteinotopfer“ aus der Perspektive der höheren Funktio-näre etwa die im Berliner Bezirk gesammelte stolze Summe von 56.916,49 RM,33 im Vergleich mit dem auf den Bezirk entfallenden Sollbetrag von 180.000 RM kurzschlüssig als Fehlschlag, als Ausdruck einer Verweigerungshaltung an der Basis verbuchen würde, würde es sich zu einfach machen. Er würde die wichtigste Voraussetzung für die Umsetzung von Anweisungen übersehen: ihre Umsetzbarkeit!

Ich musste daher von Fall zu Fall entscheiden, in welchem Maße die jeweils konkreten Erwartungen der Parteiführung wirklichkeitsgerecht waren, um die in den Quellen verbuchten Differenzen zwischen Soll- und Istzuständen richtig be-werten zu können. Zur allgemeinen Orientierung habe ich dabei auf die Ergeb-nisse der sozialwissenschaftlichen Parteienforschung zurückgegriffen. Vor dem Wissen, dass in den heutigen Parteien etwa nur 20 bis 25 Prozent der Parteimit-glieder als „(nicht nur sporadisch) aktiv“ bezeichnet werden,34 erscheint die aus dem Ideal des Bolschewiken geschöpfte utopische Gleichsetzung von Mitglied-schaft und aktiver Betätigung im Parteistatut als Maßstab zur Bewertung des empirisch vorfindlichen Mitgliederengagements ungeeignet. Somit relativieren sich Vorwürfe von Funktionären der KPD wie zum Beispiel im Mitteilungsblatt der Bezirksleitung Berlin-Brandenburg vom 6. Juli 1923, dass sich sechzig Pro-zent der Genossen nicht aktiv an der Parteiarbeit beteiligten.

32 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/85, Bl. 2.33 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 149.34 Oskar Niedermayer: Innerparteiliche Partizipation. Zur Analyse der Beteiligung von Parteimitgliedern am parteiinternen Willensbildungsprozess, in: APuZ B 11/1989, S. 15-25, hier: S. 20. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 107.

1 Einleitung 27

Angesichts der Begrenztheit der durch den hauptamtlichen Apparat der KPD produzierten Quellen ist es erfreulich, dass es eine zweite Quellengattung gibt, die einen anderen Entstehungszusammenhang aufweist: die Memoiren und Autobiografien ehemaliger Mitglieder der KPD. Ich habe daher zusätzlich die veröffentlichten Erinnerungen von 122 ehemaligen Mitgliedern der KPD her-angezogen.

Selbstverständlich sind auch Selbstzeugnisse keine problemlose Quelle, sie sind selektive, gestaltete und daher keineswegs unmittelbare Zeugnisse der Ge-schichte. Auch hier ist die Frage nach der Glaubwürdigkeit zu stellen. Dies gilt insbesondere für die in der DDR geschriebenen und herausgegebenen Selbstzeugnisse. Sie sind dadurch belastet, daß sie fast immer auf Anregung von SED-Organen verfasst worden sind, die natürlich auf ideologische Vorgaben nicht verzichtet haben. Des weiteren wurden sie dann von Historikern oder Lektoren - wenn es überhaupt noch nötig war - so getrimmt, dass sie da, wo sie politische Entwicklungen schildern, zu sprachlich beinahe völlig sterilen, ,volks-pädagogisch‘ vielseitig verwendbaren ,marxistisch-leninistischen Idealbiografi-en‘ wurden. Als solche konnten sie als retrospektive biografisch-empirische ,Be-stätigungen‘ der SED-Interpretation der Geschichte der deutschen Arbeiterbe-wegung im Sinne eines ,Die Partei hat immer Recht gehabt!‘ dienen, deren Prot-agonisten ex post immer millimetergenau auf der Generallinie gestanden haben.

Wer sich vierzig oder fünfzig Jahre nach dem faktischen Verbot der KPD im Februar 1933 an seine Memoiren machte, wird vieles nicht mehr korrekt rekon-struiert haben können, es sei denn, er konnte zur Gedankenstütze auf eigene Un-terlagen zurückgreifen. Hinzu kommt das Problem der Auswahl relevanter Erlebnisse. Ebenso wie die Unzuverlässigkeit des Erinnerns wirken sich auch weltanschauliche Brüche aus. Allgemein gilt die Faustregel, dass die Selbstzeugnisse von ,Renegaten‘ reflektierter und (selbst-) kritischer sind als die von Autoren, die zum Zeitpunkt der Niederschrift noch Mitglied der SED oder der DKP waren, und damit von größerem Quellenwert, falls die zwischenzeitli-che ideologische Umorientierung nicht zu einer nachträglichen ,Verbesserung‘ der eigenen Biografie im Sinne der neuen Einsichten geführt hat.35

Besonders gravierend für eine Untersuchung mit alltagsgeschichtlichem Inter-esse ist die durch die Arbeitsweise des Langzeitgedächtnisses bedingte Tatsache, dass die Selbstzeugen sich kaum noch an einzelne alltägliche Routinetätigkeiten oder serielle Ereignisse wie etwa Mitgliederversammlungen erinnern. Statt dessen ziehen sie sie vielmehr oft zu einem vermeintlichen ,Idealtypus‘ zu-sammen. Eine Ausnahme von dieser Regel gilt für besonders zentrale biogra-fische Ereignisse.

Insgesamt bieten die hier verwendeten Selbstzeugnisse ausreichend Einblicke in die von den parteiinternen Dokumenten vernachlässigten Dimensionen. So wäre zum Beispiel eine Untersuchung der Wahrnehmungs- und Sichtweisen der 35 Vgl. zur Renegatenliteratur Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991.

28 1.3 Quellenlage und Quellenkritik

,einfachen‘ Mitglieder an der Basis kaum realisierbar. Das gleiche gilt für die Erforschung der Rezeption der Deutungsangebote der Parteiführung. Die Quellen aus dem „Historischen Archiv der KPD“ steuern dazu kaum mehr bei als den technisch-organisatorischen Rahmen, etwa Zahlenangaben über die von der Partei durchgeführten Schulungen oder die von ihr herausgegebene Litera-tur. Die Domäne der Selbstzeugnisse sind die Mentalitäten der Genossen an der Basis der KPD.

Bleibt schließlich das Problem der Repräsentativität. Unter den Selbstzeugen findet sich einerseits ein übermäßiger Anteil späterer hauptamtlicher Funktio-näre und andererseits einer der aufstiegsorientierten Angehörigen der „intellek-tuellen Elite der Arbeiterklasse“.36 Letztlich repräsentieren die Autoren der Memoiren und Autobiografien also mitnichten die Gesamtmitgliedschaft der KPD, sondern einzig und allein sich selbst.

1.4 Der theoretische AnsatzUntrennbar mit dem Paradigma der Historischen Sozialwissenschaft, dem ich mich verpflichtet fühle, ist der Hinweis auf die Theoriebedürftigkeit historischer Forschung verbunden. Ich habe mich konkret für einen allgemeinen theore-tischen Rahmen, den „Methodologischen Individualismus“, sowie eine spezi-fische Theorie, die organisationssoziologische ,Aushandlungstheorie‘ von Mi-chel Crozier und Erhard Friedberg entschieden.

Das inzwischen reichlich in die Jahre gekommene Argument, sozialwissen-schaftliche Theorien seien, da gegenwartsbezogen, für die historische Forschung nicht oder nur in engen Grenzen verwendbar, kann meiner Ansicht nach für die Geschichte der KPD relativ leicht entkräftet werden. Lässt man sich nicht von der bombastischen terminologischen Fassade des Weimarer Kommunismus blenden, so erkennt man hinter der natürlich sehr speziellen und sicher nicht auf demokratischen Prinzipien fußenden Ideologie eine soziologisch nahezu völlig ,normale‘ Partei, bei der sich fast alle Problemfelder moderner sozialer Organi-sationen finden lassen:

• die Einbindung in die soziale und politische Organisationsumwelt, und damit das Verhältnis zu dieser

• die Rekrutierung, Integration und Mobilisierung der Mitglieder• die Rekrutierung des haupt- und ehrenamtlichen Führungspersonals• der hierarchische Aufbau: also die Organisationsstruktur, und damit das Problem der

Bürokratisierung sowie das der informellen Strukturen• die innerparteiliche Demokratie: konkret die Kommunikation zwischen den Ebenen,

die Mitgliederpartizipation und die Austragung innerparteilicher Konflikte• die Definition der primären und abgeleiteten Organisationsziele und ihre praktische

Auslegung

36 Barrington Moore: Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand, Frankfurt am Main 1982, S. 262.

1 Einleitung 29

• die Generierung von (richtigen) Entscheidungen, ihre Legitimierung gegenüber den Mitgliedern und der Umwelt und ihre praktische Umsetzung

• die Ausstattung mit finanziellen, materiellen, personellen und kognitiven Ressourcen und ihr effizienter Einsatz.

Als metatheoretischen Rahmen dieser Untersuchung habe ich mich für das For-schungsprogramm des „Methodologischen Individualismus“ entschieden. Seine Zielsetzung lässt sich wie folgt beschreiben:

„Entscheidendes Merkmal des individualistischen Programms ist generell der Versuch, mit Hilfe von Hypothesen über individuelle Akteure nicht allein deren Verhalten (...) zu erklären, sondern auch kollektive Phänomene, Merkmale von und Prozesse in komple-xen N-Personen-Systemen.“37

Wie der Methodologische Individualismus für die historische Forschung frucht-bar gemacht werden kann, zeigt Thomas Welskopp in seiner sehr instruktiven sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Studie über die Frühzeit der deut-schen Sozialdemokratie:

„Ausgangspunkt und Instrument der Interpretation ist ein zeitgemäßer ‚methodolo-gischer Individualismus‘, der in den handelnden Akteuren die Grundeinheit historischer Analyse sieht. Das historische Subjekt ist immer bereits in soziale Beziehungen und ak-tuelle Diskurse eingebunden, die es keineswegs beherrscht und nur teilweise reflektiert. Trotzdem ist der Akteur der Träger sozialer Praxis und archimedischer Punkt seiner Weltbildkonstruktion. Er ist Produkt der sozialen Strukturen, die seinen Kosmos ausma-chen. Trotzdem ist die Reproduktion und Veränderung dieser sozialen Welt von seinem Handeln und dessen nur teilweise beabsichtigten Folgen abhängig.“38

Der Methodologische Individualismus versucht in einem dreistufigen Erklä-rungsprozess, ausgehend von den gesellschaftlichen Strukturen, die dem jewei-ligen individuellen Handeln vorgegeben sind, zu einer Erklärung des individu-ellen Handelns vorzudringen, um von da aus wiederum die Strukturen zu erklä-ren, die er als die „meist unbeabsichtigten ... Folgen des stets nur subjektiv mo-tivierten Handelns von Menschen“ begreift.39

Methodisch folgt daraus die folgende Vorgehensweise: Zur Erklärung eines be-stimmten kollektiven Phänomens sind erstens die von den Menschen in ihren Handlungssituationen vorgefundenden objektiven Bedingungen wie Strukturen, Institutionen, Normen und Regeln zu untersuchen, da sie die den Akteuren zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen festlegen. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die vom Akteur kontrollierten Ressourcen. Darauf folgt zwei-

37 Werner Raub/Thomas Voss: Individuelles Handeln und gesellschaftliche Folgen. Das indi-vidualistische Programm in den Sozialwissenschaften, Neuwied 1981, S. 57.38 Thomas Welskopp: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 28.39 Esser: Soziologie, S. 1.

30 1.4 Der theoretische Ansatz

tens die Analyse der so genannten „Präferenzen“ des Akteurs - „jene mentalen Dispositionen, die dazu befähigen, unter gleichermaßen zugänglichen Optionen eine Wahl zu treffen“40 - also seine Wertvorstellungen, Intentionen und Ziele. Dabei erzwingt die Quellenlage und die nicht vorhandene Möglichkeit einer Befragung der Akteure eine Fokussierung auf die Prägung der Präferenzen in und durch die Partei. Schließlich folgt drittens die Übertragung der Erklärung des individuellen Handelns auf die kollektive Ebene.

Diesem dreistufigen Modell der soziologischen Erklärung folgt im Prinzip auch die Gliederung der vorliegenden Arbeit. Das zu erklärende kollektive Handeln in der KPD wird im Schlussabschnitt dieser Untersuchung analysiert. Die ersten beiden Hintergrundabschnitte über die Regionen und die Partei-organisation befassen sich mit den strukturellen Handlungsbedingungen, wäh-rend Abschnitt vier sich vor allem mit der Prägung der subjektiven Seite der Handlungssituationen in der KPD beschäftigt.

40 Hansjörg Siegenthaler: Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: GG 2/1999, S. 276-301, hier: S. 284.

1 Einleitung 31

Regionalgeschichte „zeichnet quellennah und detailgetreu ein Bild der Vergangenheit ... Jedoch zugleich reflektiert sie kritisch die Allgemeingeschichte und den Gang der Forschung, um zwischen diesen beiden Ebenen ... ein Netz gegenseitiger Informationen zu spannen.“41

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken2.1 Die Vorgeschichte der KPDAm 30. Dezember 1918 wurde im Preußischen Abgeordnetenhaus in der Ber-liner Wilhelmstraße die KPD gegründet. Dieser formale Beschluss der 127 De-legierten des Gründungsparteitags beendete die erste Phase der Spaltung der deutschen politischen Arbeiterbewegung. Gemeinsam mit dem Beschluss zur Gründung der Kommunistischen Internationale vom März 1919 bildete er gleichzeitig den Auftakt zur zweiten Phase. Dieser Parteigründungsbeschluss markiert ein wichtiges Datum in der Geschichte der Weimarer Republik, sollte aber in seiner Bedeutung auch nicht überschätzt werden. Die Konstitution eines komplexen sozialen Gebildes wie einer Partei kann nur als Prozess begriffen werden.

Auf welche Weise sich die SPD im Kaiserreich in den hier behandelten Bezir-ken durchsetzte, wie sich in ihr später die innerparteiliche Opposition entwi-ckelte, und vor allem wie aus dieser später die KPD hervorging, hat die regiona-len und lokalen Organisationen der KPD bis weit in die Weimarer Republik hin-ein politisch, kulturell, und auf der individuellen Ebene auch biografisch-emo-tional geprägt. Aus unterschiedlichen Perspektiven zeigt sich die KPD als eine Erbin ihrer beiden größeren Vorläufer. Als solche konnte sie zwar in mancher Hinsicht von der Vorarbeit ihrer Vorgängerorganisationen profitieren. Es gelang ihr aber auch oft genug nicht, die schon der SPD (und der USPD) gesetzten Grenzen zu überwinden.

2.1.1 Die Entwicklung der SPD seit 1871Ein guter Indikator für die Verankerung der Sozialdemokratie in den Regionen sind ihre Ergebnisse bei den Reichstagswahlen nach dem Ende des Sozialis-tengesetzes im Jahr 1890. Vor allen anderen Regionen ist das sozialdemokra-tische „Stammland“ Sachsen zu nennen, in dem die SPD schon bei den Wahlen zum zweiten Reichstag 1874 mit 35,8 Prozent der Stimmen die stärkste Partei wurde. Bei den Reichstagswahlen von 1903 gelang es ihr sogar 22 der 23 säch-sischen Reichstagswahlkreise zu erobern. Im 13. Wahlkreis (Leipzig-Land) brachte die SPD 1874 erstmals ihren Kandidaten für den Reichstag durch. Im Leipziger Stadtwahlkreis konnte die Sozialdemokratie in der Stichwahl von 1881 erstmals einen Stimmenanteil von über vierzig Prozent erreichen, und in

41 Frank Bajohr: Zwischen Krupp und Kommune. Sozialdemokratie, Arbeiterschaft und Stadt-verwaltung in Essen vor 1914, Essen 1988, S. 11.

32 2.1 Die Vorgeschichte der KPD

der Stichwahl von 1903 zum ersten Mal, wenn auch nur vorübergehend, die ab-solute Mehrheit der Stimmen. Im Wahlkreis Leipzig-Land hingegen hielt sie be-reits seit 1881 die absolute Mehrheit der Wähler. Ihr bestes Ergebnis erreichte sie dort 1903 mit 68,8 Prozent.42

In der industriellen Metropole Berlin konnte die SPD ebenfalls schon sehr früh, nämlich bei den Reichstagswahlen von 1890 die absolute Mehrheit der Stimmen gewinnen. Bis zu den Reichstagswahlen von 1912 steigerte sie ihren Stimmenanteil auf eine unglaubliche Dreiviertelmehrheit.43

Trotz der in vielerlei Hinsicht mit Westsachsen und Berlin vergleichbaren ökonomischen Entwicklung konnte die SPD in der Industrieregion Ruhrgebiet erst mit einer Verspätung von einigen Jahrzehnten zur stärksten Partei auf-steigen. Mit einem Stimmenanteil von 29,1 Prozent gelang es ihr 1903 erstmals das Zentrum in der Wählergunst im Revier zu überrunden. Auf der lokalen Ebene erreichte sie im Ruhrgebiet ihre erste relative Mehrheit bei einer Ersatz-wahl im Jahr 1893 in Dortmund mit 34,5 Prozent. In Essen hingegen dauerte es bis zum Durchbruch für die SPD noch weitere zehn Jahre. Dort gewann sie erst-mals bei den Reichstagswahlen von 1903 mit 28,3 Prozent der Stimmen eine re-lative Mehrheit, nachdem sie noch 1898 mit 7,1 Prozent ein unbedeutender Fak-tor gewesen war. In Oberhausen - bis weit in die Weimarer Zeit hinein die Zentrumshochburg im Ruhrgebiet - schaffte die SPD erst 1907 mit Hilfe von Leihstimmen aus der Wählerschaft des Zentrums in der Stichwahl die relative Mehrheit, die sie erst in der Stichwahl von 1912 wieder bestätigen konnte.44

Im Unterschied zu diesen drei urban-industriellen Regionen waren Pommern und Oberschlesien von Beginn sozialdemokratischer Tätigkeit an Diasporage-biete. Schon eine relative Mehrheit der Wählerstimmen war für die SPD in beiden Regionen absolut unerreichbar. Bei den Reichstagswahlen von 1907 er-reichte die SPD im Agitationsbezirk Kattowitz (Oberschlesien) weit unterdurch-schnittliche 6,7 Prozent. Im Agitationsbezirk Pommern kam sie immerhin auf 20,0 Prozent (Reich: 28,9). Bis 1912 konnte sie ihren Stimmenanteil aber in beiden Gebieten steigern: auf 14,5 Prozent in Oberschlesien und auf 24,0 Pro-zent in Pommern (Reich: 34,8).45

42 Karsten Rudolph: Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik 1871-1923, Weimar u.a. 1995, S. 44 bzw. S. 56. Adam: Arbeitermilieu, S. 287ff.43 Detlef Lehnert: Das „rote“ Berlin: Hauptstadt der deutschen Arbeiterbewegung, in: Gert-Joachim Glaeßner/Detlef Lehnert/Klaus Sühl: Studien zur Arbeiterbewegung und Arbei-terkultur in Berlin, Berlin 1989, S. 1-36, hier: S. 2.44 Karl Rohe: Vom Revier zum Ruhrgebiet. Wahlen, Parteien, Politische Kultur, Essen 1986, S. 45. Hans Graf: Die Entwicklung der Wahlen und politischen Parteien in Groß-Dortmund, Hannover 1958, S. 26f. Bajohr: Krupp, S. 37f. bzw. S. 83. Fritz Mogs: Die sozialgeschichtli-che Entwicklung der Stadt Oberhausen zwischen 1850 und 1933, Diss., Köln 1956, S. 145.45 Gerhard A.Ritter: Die Sozialdemokratie im Deutschen Kaiserreich in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: HZ 249/1989, S. 295-362, hier: S. 323 bzw. 325.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 33

Ein ganz ähnliches Entwicklungsmuster wie bei den Stimmenanteilen der Sozi-aldemokratie bei den Reichstagswahlen zeigt sich auch auf der Ebene der sozi-aldemokratischen Parteiorganisation (Tabelle 1).

Tabelle 1: Mitglieder in den Agitationsbezirken der SPD 1907-1912Berlin Leipzig Dortmund Pommern Kattowitz

SPD-Mitglieder 1907 78.364 26.760 13.412 5.997 598Bevölkerungsanteil 1907 (%) 2,3 2,8 0,6 0,4 0,03SPD-Mitglieder 1912 119.769 41.171 21.750 11.804 2.064Bevölkerungsanteil 1912 (%) 3,1 4,0 0,8 0,7 0,1

Quelle: Ritter: Sozialdemokratie, S. 323ff.

Mit Abstand mitgliederstärkster Agitationsbezirk der SPD war Groß-Berlin, aus dem 1912 12,35 Prozent aller deutschen Sozialdemokraten stammten. Die Leip-ziger Partei war in Bezug auf den Anteil der Sozialdemokraten an der Bevölke-rung noch vor Berlin die insgesamt drittbeste Parteiorganisation im Reich. Der Agitationsbezirk Westliches Westfalen (Dortmund), der den größten Teil des Ruhrgebiets umfasste, blieb demgegenüber von der absoluten Mitgliederzahl klar zurück, und erreichte einen Bevölkerungsanteil, der nur unwesentlich über dem der SPD in der Agrarprovinz Pommern lag. Die Bezirke Pommern und, noch stärker, Oberschlesien fristeten auch in Bezug auf die Organisations-entwicklung eine Randexistenz. Auffällig ist, dass die Sozialdemokraten in der stark industrialisierten Region Oberschlesien 1912, trotz des Anstiegs der Mit-gliederzahl um 245,15 Prozent gegenüber 1907, immer noch nicht den Bevölke-rungsanteil in die Partei hatten bringen können, den sie in der landwirtschaftlich geprägten Provinz Pommern schon 1907 erreicht hatten. Ein wichtiger Grund dafür war die Existenz der polnischen Sozialdemokratie (PPS), die der Aus-breitung der ,deutschen‘ Partei enge Grenzen zog.

Diese regionalen Unterschiede in der Entwicklung der sozialdemokratischen Bezirksorganisationen vor dem Ersten Weltkrieg lassen sich auch in den Antei-len der schon vor 1918 organisierten Sozialdemokraten an der Mitgliedschaft der hier untersuchten KPD-Bezirke wiederfinden. Im Rahmen der 1927 vorge-nommenen Mitgliederbefragung („Reichskontrolle“) wurde auch nach der Dauer einer früheren Mitgliedschaft in der SPD gefragt.46 Leider konnte ich hierzu keine Ergebnisse aus Pommern und Oberschlesien ermitteln. Von den drei ver-bleibenden Bezirken weist der Bezirk Westsachsen mit 13,70 Prozent den höchsten Anteil an Mitgliedern mit mehr als zehnjähriger SPD-Zugehörigkeit auf (Gesamtpartei: 11,31 Prozent), gefolgt vom Bezirk Berlin-Brandenburg mit

46 Vgl. zu einigen reichsweiten Ergebnissen Wienand Kaasch: Die soziale Struktur der KPD, in: Die Kommunistische Internationale 9/1928, S. 1050-1067. Zu der Erhebung der Daten vgl. Abschnitt 2.4.1.

34 2.1 Die Vorgeschichte der KPD

12,74 Prozent. Im Vergleich damit verweist das Ergebnis aus dem Bezirk Ruhrgebiet erneut auf das ,Zuspätkommen‘ der SPD im Revier: nur 8,62 Prozent der KPD-Mitglieder von 1927 waren mehr als zehn Jahre in der SPD organisiert gewesen.47

2.1.2 Von der Gruppe Internationale zum SpartakusbundAuch die Spartakusgruppe hatte ihre Schwerpunkte in den urban-industriellen Zentren. Insgesamt kam sie kaum über den Status einer von ,oben‘ gegründeten Berliner Organisation mit ein paar Stützpunkten in anderen traditionellen SPD-Hochburgen sowie einer Handvoll von Verbindungsleuten in der ,Provinz‘ hin-aus. Und selbst in der Reichshauptstadt, in der die Mehrheit ihrer heraus-ragenden Köpfe ansässig war, blieb der Umfang der Spartakusgruppe eng be-grenzt. Der Berliner Spartakusbund kam bei seiner Gründung am 11. November 1918 auf gerade einmal 50 Mitglieder.48

Im Ruhrgebiet war die Spartakusgruppe, die sich dort nicht der USPD ange-schlossen hatte, „zahlenmäßig ... unbedeutend“. In Essen soll es eine kleine Gruppe von Spartakisten gegeben haben, die sich wahrscheinlich am 26. No-vember 1918 als Spartakusbund konstituierten. Außerdem wird von einer kleinen Spartakusgruppe in Duisburg berichtet, deren fünf bis zehn Mitglieder sich aber bald der drohenden Einberufung zum Militär durch die Flucht nach Amsterdam entzogen. Daneben finden sich nur noch „kleinere Organisationsan-sätze“ in Dortmund und Mülheim.49

In der Region Leipzig-Westsachsen sollen schon Ende 1914 einige linke Sozi-aldemokraten eine Vereinigung gebildet haben, die sich als „Liebknechtgruppe“ bezeichnet hat. Trotzdem scheint auch hier die Spartakusgruppe nicht über eine marginale Existenz hinaus gekommen zu sein. So hatte der Leipziger Spartakus-bund im November 1918 nur 50 Mitglieder, während die im Dezember ge-gründete Gruppe in Borna wohl noch wesentlich kleiner war.50

47 SAPMO-BArch RY1/I3/10/125 (Westsachsen). Kaasch: Struktur, S. 1063 (Reich). SAP-MO-BArch RY1/I3/1-2/23 (Berlin). SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29 (Ruhrgebiet).48 Manfred Scharrer: Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung, Stuttgart 1985, S. 133. Bezirksleitung Berlin der SED, Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung (Hg.): Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 2: Von 1917 bis 1945, Berlin (DDR) 1987, S. 62.49 Erhard Lucas: Märzrevolution im Ruhrgebiet, 1. Bd.: Vom Generalstreik gegen den Militär-putsch zum bewaffneten Arbeiteraufstand, Frankfurt am Main 1970, S. 33 (erstes Zitat). Larry Dean Peterson: German communism, workers’ protest, and labor unions. The politics of the United Front in Rhineland-Westphalia 1920-1924, Amsterdam 1993, S. 37. Herbert Kühr: Parteien und Wahlen im Stadt- und Landkreis Essen in der Zeit der Weimarer Republik. Unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Sozialstruktur und politischen Wahlen, Düsseldorf 1973, S. 112. Sigrid Koch-Baumgarten: Aufstand der Avantgarde. Die Märzaktion der KPD, Frankfurt 1986, S. 232 (zweites Zitat).50 Kommission: Revolution, S. 34 bzw. S. 46. Rudolph: Sozialdemokratie, S. 170.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 35

Aus Pommern wird nur von einer kleinen Anhängerschaft der Spartakus-gruppe in Stettin berichtet. In den bergbaulich-industriell geprägten oberschlesischen Kleinstädten scheint sie wesentlich größer gewesen zu sein. Je-denfalls soll es in Königshütte wie auch in Beuthen schon früh Organisationen der Spartakusgruppe gegeben haben. Diese konstituierten am 20. Dezember 1918 in Beuthen den Spartakusbund für Oberschlesien.51

2.1.3 Die Entwicklung der USPD seit 1916Weitaus bedeutender als der doch politisch eher marginale Spartakusbund und sein Fusionspartner bei der KPD-Gründung 1918, die Internationalen Kom-munisten Deutschlands (IKD), und auch wesentlich prägender für die spätere Geschichte der KPD war die Entwicklung der USPD. Sie steuerte bei der Vereinigung ihres linken Flügels mit der KPD Ende 1920 die große Mehrheit der Mitglieder der nun Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands (VKPD) genannten Organisation bei. Das waren maximal 370.000 von sehr optimistisch geschätzten 448.500 VKPD-Mitgliedern am 1. Januar 1921, also 82,50 Prozent der Mitglieder der vereinten Partei. In der Forschung ist die entscheidende Rolle der USPD für die weitere Entwicklung der KPD nicht ausreichend gewürdigt worden. Auf welche Weise sich die Entwicklung der USPD seit 1917 gestaltete und wie ihre Spaltung 1920 regional und lokal vollzogen wurde, prägte für lange Zeit das Verhältnis zwischen den der KPD beigetretenen ehemaligen Sozi-aldemokraten und ihren früheren Genossen in der 1922 wieder vereinigten SPD, wie auch die Entwicklung der lokalen Arbeitermilieus auf Jahre hinaus.52

Schaut man sich die Entwicklung der USPD und insbesondere ihres linken Flügels in den einzelnen Bezirken näher an, zeigt sich schnell, wie sehr die spä-teren Chancen der KPD etwa auf die Majorität im proletarischen Lager in dieser Phase vorstrukturiert worden sind. Am wenigsten typisch war dabei die immer noch erklärungsbedürftige Entwicklung in Leipzig. Schon früh hatte sich eine überwältigende Mehrheit der Leipziger Sozialdemokraten gegen die Bewilli-gung weiterer Kriegskredite ausgesprochen. Nachdem der Parteiverein Leipzig-Stadt im Mai 1915 gegen eine weitere Kriegskreditbewilligung gestimmt hatte, folgte ihm im Juni 1915 der Leipziger Gesamtbezirk.53

Auf einer außerordentlichen Landesversammlung der sächsischen SPD am 11. Februar 1917 kam es schließlich zur Spaltung der Partei, die auf einer Ver-sammlung der Leipziger SPD am 8. März 1917 durch den Beschluss, eine oppo-

51 Janitz: Herausbildung, S. 55. Matull: Arbeiterbewegung, S. 193.52 Winkler: Revolution, S. 504. Vgl. dazu die fünf Verlaufstypen der Milieuentwicklung bei Mallmann: Kommunisten, S. 44f.53 Rudolph: Sozialdemokratie, S. 100. Frank Heidenreich: Demokratie und kulturelle Befrei-ung. Arbeiterkulturbewegung und Sozialdemokratie in Sachsen vor 1933, Weimar 1995, S. 131.

36 2.1 Die Vorgeschichte der KPD

sitionelle Landesorganisation zu bilden, unumkehrbar gemacht wurde. Zehn Tage später wurde die Parteispaltung des Leipziger Wahlkreisvereins dadurch vollzogen, dass 62 von insgesamt 30.556 Sozialdemokraten aus der Partei aus-traten und eine MSPD-Ortsgruppe neu gründeten, während die übergroße Mehr-heit die USPD konstituierte. Bis zur Novemberrevolution blieb die MSPD im Bezirk Leipzig eine Splitterorganisation mit kaum mehr als 250 Mitgliedern.54

Im Reichsgebiet sprachen sich bei der Urwahl in der USPD über die 21 Be-dingungen zur Aufnahme in die Kommunistische Internationale (KI) im Oktober 1920 insgesamt 57,83 Prozent der Teilnehmer für einen Anschluss an die KI aus. Eine der wichtigsten Hochburgen der KI-Gegner war bei dieser Abstim-mung die sächsische Landesorganisation, deren Bezirke bis auf Dresden alle gegen den Beitritt zur KI stimmten. In Sachsen konnten die Anschlussbefür-worter nur 37,63 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen und erhielten nur 21 von insgesamt 70 Delegierten für den außerordentlichen Parteitag in Halle (12.-17.10.1920). Im Bezirk Leipzig kamen die USPD-Linken bei der dort am 3. Ok-tober 1920 durchgeführten Urwahl bei einer Wahlbeteiligung von 35,03 Prozent nur auf etwas bessere 39,91 Prozent der abgegebenen Stimmen. Bei der darauf folgenden Parteispaltung verlor die USPD im Bezirk Leipzig etwa 16.000 Mit-glieder an die Parteilinken, von denen ca. 11.000 in die VKPD gegangen sein sollen, wo sie sich mit höchstens ein paar hundert Kommunisten vereinigten.55

Im Bezirk Westsachsen startete die VKPD also Ende 1920 als Minderheitsbe-wegung im proletarischen Lager. Und das blieb sie bis 1933. Bis zum Ende der Weimarer Republik stagnierte ihre Mitgliederzahl bei ca. einem Viertel der Mit-gliederzahl der SPD. Auch bei den Reichstagswahlen konnte sie der SPD den ersten Rang im Arbeiterlager nie streitig machen. Am 6. November 1932 er-reichte die KPD ihr bestes Ergebnis im Wahlkreis Leipzig mit 20,7 Prozent, sie blieb damit aber immer noch 11,5 Prozentpunkte hinter der SPD. Bei der Reichstagswahl von 1928 lag sie in den meisten ihrer Unterbezirksvororte (Bor-na, Wurzen, Grimma) bei einem Viertel bis einem Drittel der Stimmenzahl der SPD.56 Die Sozialdemokratie war daher und auch wegen der Vorherrschaft der Linken in der Leipziger SPD während der gesamten Weimarer Republik noch wesentlich stärker Bezugspunkt und Maßstab kommunistischer Politik und Strategie, als sie es auf Reichsebene ohnehin war.

54 Heidenreich: Demokratie, S. 133f. Adam: Arbeitermilieu, S. 278. Rudolph: Sozialdemokra-tie, S. 126 bzw. S. 254.55 Robert F. Wheeler: USPD und Internationale. Sozialistischer Internationalismus in der Zeit der Revolution, Frankfurt 1975, S. 248 bzw. S. 142. Rudolph: Sozialdemokratie, S. 273. Adam: Arbeitermilieu, S. 278f.56 Jürgen. W. Falter/Dirk Hänisch: Wahl- und Sozialdaten der Kreise und Gemeinden des Deutschen Reiches von 1920 bis 1933, Datenbank, 1989.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 37

Auch in Berlin konnte die linke Opposition in der SPD früh die Partei über-nehmen. Schon 1916 unterstützte eine Mehrheit der Berliner Parteiorganisa-tionen die 20 aus der Partei ausgeschlossenen sozialdemokratischen Reichstags-mitglieder. Elf Tage nach dem Parteiausschluss der Teilnehmer an der Konfe-renz der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft (SAG) vom 7. Januar 1917 ging der Wahlkreisverein Potsdam-Niederbarnim, zu dem auch einige der spä-teren Groß-Berliner Verwaltungsbezirke gehörten, fast geschlossen zur Opposi-tion über. Weitere drei Wochen später wurde auf einer Generalversammlung des SPD-Wahlvereins Berlin-Stadt am 27. Januar 1917 ein neuer, oppositioneller Vorstand gewählt. Am 29. April 1917 musste daher auch in Berlin die MSPD als Minderheitspartei neu gegründet werden.57

In Berlin kam es auch schon bald nach der Gründung der KPD zu ersten ge-schlossenen Übertritten einzelner USPD-Vereine, die zum Beispiel am 31. De-zember 1918 die KPD-Ortsgruppen in Spandau und in Neukölln gründeten. Ebenfalls früh sprachen sich einzelne Berliner USPD-Bezirksverbände für den Anschluss an die im März 1919 gegründete KI aus. So etwa im Oktober 1919 die Wahlkreisvereine Teltow-Beeskow und Potsdam-Niederbarnim. Auch auf dem Parteitag des dritten und größten Berliner USPD-Bezirks, Berlin-Stadt, Anfang November 1919, soll es nach Robert F. Wheeler eine prinzipielle Dele-giertenmehrheit für den KI-Beitritt gegeben haben.58

Als Anfang Oktober 1920 in den Berliner Bezirken die Urwahl über den KI-Beitritt stattfand, erreichten die Beitrittsbefürworter im Bezirk Berlin-Stadt die Mehrheit in 16 von 18 Unterbezirken, im Bezirk Teltow-Beeskow waren es zehn von 16 und im Bezirk Potsdam-Niederbarnim 18 von 20. Insgesamt nahmen von den 140.824 Berliner USPD-Mitgliedern 59.505 (42,25 Prozent) an der Urwahl teil. Davon stimmten 32.108 (53,96 Prozent) für und 27.397 gegen den KI-An-schluss. Die Anhänger des KI-Anschlusses gewannen damit 29 von 54 Berliner Delegierten für den außerordentlichen Parteitag. Nach der Spaltung der USPD kamen zu den etwa 3.400 Kommunisten in Berlin fast 50.000 ehemalige Un-abhängige Sozialdemokraten hinzu, die aber den gesamten Berliner Parteiappa-rat der Rest-USPD überlassen mussten. Erst diese Entwicklung machte die KPD „zu einem politischen Faktor“ in der Stadt.59

57 Wheeler: USPD, S. 20. Ingo Materna: Die revolutionäre Berliner Arbeiterbewegung 1914 - 1919, die Herausbildung der KPD, Diss., Berlin (DDR) 1984, S. 89. Paul Schwenk: Die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands. Berliner Genossen berichten von der Entstehung der KPD, hg. von der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung bei der BL der SED Groß-Berlin, Berlin (DDR) 1960, S. 15. Materna: Arbeiterbewegung, S. 111.58 Annemarie Lange: Berlin in der Weimarer Republik, Berlin (DDR) 1987, S. 142. Bezirks-leitung: Geschichte, S. 70. Wheeler: USPD, S. 139.59 Wheeler: USPD, S. 243 bzw. S. 248. Koch-Baumgarten: Aufstand, S. 88. Winkler: Revolu-tion (Zitat), S. 505. Bericht 7. Parteitag, S. 65.

38 2.1 Die Vorgeschichte der KPD

Von dieser günstigen Ausgangsbasis konnte die KPD aber in Berlin nicht lange profitieren. Sie schaffte es hier zwar durchgängig mehr Wählerstimmen auf sich zu vereinigen als im Reichsdurchschnitt, konnte die SPD aber erst bei den Reichstagswahlen von 1930 mit 33 gegenüber 28 Prozent übertreffen. Bei dieser Wahl wurde sie auch erstmals in zehn der zwanzig Berliner Verwaltungs-bezirke stärkste Arbeiterpartei. Auch in Bezug auf die Mitgliederzahlen war die Berliner KPD nur die zweitstärkste Arbeiterpartei. 1923 kam die Groß-Berliner KPD auf etwa zwei Drittel des Umfangs der SPD-Mitgliedschaft. Dieser Anteil sank bis 1930 auf unter dreißig Prozent, um dann wieder etwas anzusteigen.60

Im Ruhrgebiet war die USPD offenbar erst recht spät gegründet worden, weshalb sich der rasante Wachstumsprozess, der die Partei 1919 insgesamt kennzeichnete, noch stärker bemerkbar machte. Ende 1918 hatte die USPD im Bezirk Westliches Westfalen erst 2.000 Mitglieder, im Oktober 1919 waren es schon 37.000 und ein Jahr später sogar 131.599.61

In einem stärkeren Maße als in den Berliner Organisationen kam es im Ruhrgebiet gleich nach der KPD-Gründung zu Übertritten von einzelnen Mit-gliedern bis hin zu ganzen Kreisorganisationen der USPD zu den Kommunisten. Auf einer Mitgliederversammlung am 5. Januar 1919 trat zum Beispiel die Ham-borner USPD zur KPD über. Eine Woche später beschlossen die USPD-Kreise Duisburg, Mülheim und Oberhausen den Übertritt zur KPD. Bald darauf wurde durch ehemalige USPD-Mitglieder die Dortmunder KPD gegründet.62

Die in der USPD verbliebenen Linken drängten im Ruhrgebiet wie in Berlin schon früh auf eine Vereinigung mit der KPD. Ein Antrag der USPD-Unterglie-derung Bochum-Gelsenkirchen hatte diese schon auf dem zweiten Parteitag der USPD im März 1919 verlangt. Der Bezirksparteitag der USPD Westliches Westfalen forderte im Oktober 1919 gleichfalls den Anschluss an die KI. Die Befürworter eines Beitritts zur KI konnten daher bei der Urwahl im Bezirk eine klare Mehrheit für sich verbuchen, und auf Grund des Verhältniswahlrechts 17 der 21 Delegierten des Bezirks für den außerordentlichen Parteitag gewinnen. Auf der Ebene der Unterbezirke gab es klare pro-KI-Mehrheiten in Bochum, Gelsenkirchen, Buer, Recklinghausen und Essen, von denen der letztere das „Ruhr-Echo“ mitbrachte, das spätere Bezirksorgan der KPD. Auch die Mehrheit der Dortmunder USPD ging zur KPD, während in Duisburg nur individuelle Übertritte in die VKPD stattfanden. In Rheinhausen und Moers erfolgte die

60 Falter/Hänisch: Wahl- und Sozialdaten. Harold Hurwitz/Klaus Sühl: Autoritäre Tradierung und Demokratiepotential in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, Köln 1984, S. 92.61 Stefan Goch: Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur im Ruhrgebiet 1848-1975, Düsseldorf 1990, S. 260ff.62 Erhard Lucas: Zwei Formen von Radikalismus in der Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 1976, S. 183. G. Uebel/J. Rieß: Zur Herausbildung örtlicher Parteiorganisationen der KPD in der ersten Hälfte des Jahres 1919, in: BGA 2/1959, S. 373-385, hier: S. 375f.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 39

Gründung der VKPD als solcher erst durch die übergetretenen USPD-Linken. „Thus the USPD-left in Rhineland-Westphalia brought the KPD a mass mem-bership, a regionwide organization, and leadership resources.“ 50 Prozent der USPD-Mitglieder im Bezirk Westliches Westfalen wechselten zur VKPD über, insgesamt sollen in Rheinland-Westfalen ca. 80.000 unabhängige Sozialdemo-kraten zur VKPD gegangen sein, und sich dort mit 9.200 Kommunisten zu-sammengeschlossen haben.63

Die Folge war, dass der SPD im Ruhrgebiet, noch bevor sie sich richtig in der Region verankert hatte, durch die Spaltung der USPD eine starke Konkurrenz erwuchs, auch wenn diese nie die Mitgliederzahlen der SPD erreichen konnte.64 Schaut man aber auf die Stimmenanteile, konnte die KPD die SPD in den meis-ten Städten ein erstes Mal bei den Reichstagswahlen am 4. Mai 1924 vorüberge-hend überflügeln, und dann spätestens bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 endgültig überholen.65

Die Entwicklung der politischen Arbeiterbewegung in Pommern und Oberschlesien zwischen 1917 und 1920 ist weniger gut dokumentiert. Schon Anfang November 1919 hatte sich der erste Parteitag des USPD-Bezirks Pom-mern, der 13.000 Mitglieder hatte, mit großer Mehrheit für den Anschluss an die KI ausgesprochen. Bei der Urwahl im Oktober 1920 wurde in Groß-Stettin der KI-Anschluss nur knapp abgelehnt, obwohl eine ganze Reihe von Stettiner Mit-gliederversammlungen für ihn gestimmt hatten. Insgesamt - genaue Zahlen über die Ergebnisse der Urwahl liegen leider nicht vor - bekam die USPD-Linke in Pommern fünf von acht Delegierten für den Sonderparteitag in Halle, musste aber wie in Berlin, den Parteiapparat nach der Spaltung der Rest-USPD über-lassen.66

63 Goch: Arbeiterbewegung, S. 259ff. Wheeler: USPD, S. 147. Graf: Entwicklung, S. 30. Pe-terson: Communism, S. 51ff. (Zitat). Koch-Baumgarten: Aufstand, S. 234.64 Die KPD hatte im Vergleich zur SPD mit einem dauerhaften Mobilisierungsdefizit zu kämpfen. Der KPD gelang es nicht, einen vergleichbaren Anteil ihrer Wähler in die Partei zu holen wie die SPD. Der Anteil der Mitglieder an den SPD-Wählern bei den Reichstagswahlen vom 7. Dezember 1924 lag bei fast 16 Prozent, während er bei der KPD nur gut vier Prozent ausmachte. Daran änderte sich in den folgenden Jahre nicht viel, so dass die SPD bei den letz-ten regulären Reichstagswahlen am 6. November 1932 immer noch knapp 14 Prozent ihrer Wähler organisiert hatte, während sich die KPD nur auf knapp fünf Prozent verbessern konnte (SPD-Mitglieder nach Karen Hagemann: Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 571, Wähler nach Jürgen Falter/Thomas Lindenberger/Siegfried Schumann: Wahlen und Abstim-mungen in der Weimarer Republik. Materialien zum Wahlverhalten 1919-1933, S. 41).65 Falter/Hänisch: Wahl- und Sozialdaten. Beatrix Herlemann: Kommunalpolitik der KPD im Ruhrgebiet 1924-1933, Wuppertal 1977, S. 322ff 66 Wheeler: USPD, S. 156 bzw. S. 248f.

40 2.1 Die Vorgeschichte der KPD

Trotzdem blieb die KPD in Pommern die Minderheitspartei im proletarischen Lager. Ihr bestes Ergebnis bei Reichstagswahlen erreichte sie am 6. November 1932 mit deutlich unterdurchschnittlichen 12,1 Prozent (SPD 19,8 Prozent). Die gleiche Entwicklung zeigte sich in der Provinzhauptstadt Stettin. Ein nur schwa-cher Trost dafür waren einige der kleinstädtischen USPD-Hochburgen von 1920, die die KPD hatte erben können, wie zum Beispiel Falkenburg (1930 24,90 Pro-zent) und Rummelsburg (25,07 Prozent). 67

In Oberschlesien hatte sich der Bezirksparteitag der USPD am 1. November 1919 in Kattowitz, der einem KI-Anschluss positiv gegenüberstand, für den Ver-such entschieden, die Mitgliedsparteien der 2. Internationale unter Ausschluss der „Reformisten“ möglichst vollständig in eine mit der KI vereinigte Gesamt-bewegung führen zu wollen. Dort erhielt die USPD-Linke bei der Urwahl den einzigen dem Bezirk zustehenden Delegierten.68 Die SPD, die sich ohnehin erst mit großer Verspätung im oberschlesischen Revier hatte halbwegs etablieren können, wurde zwar bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 stärkste Arbeiterpartei in Oberschlesien, konnte diese Position aber nicht halten. Nach dem Aufstieg und der Spaltung der USPD wurde sie schon 1920 zur struk-turellen Minderheitspartei im proletarischen Lager, während die KPD die Erb-schaft der USPD antrat. Schon bei der Nachwahl zur Reichstagswahl von 1920 am 19. November 1922, die wegen der politischen Auseinandersetzungen und der Teilung Oberschlesiens im Oktober 1921 verschoben worden war, gewann die KPD mit 7,3 Prozent ihr reichsweit bestes Ergebnis. Sie steigerte sich bis zu den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 auf (im Reichsmaßstab durchschnittli-che) 17,0 Prozent, mit denen sie weit abgeschlagen hinter dem Zentrum und der NSDAP drittstärkste Partei wurde (SPD 9,1 Prozent). Schaut man sich einzelne Ergebnisse auf Gemeindeebene in Oberschlesien näher an, wird die Minderheitsposition der Sozialdemokratie noch deutlicher. Mit wenigen Aus-nahmen wie zum Beispiel der Stadt Leobschütz holte die KPD 1930 überall eine Mehrheit der Stimmen, die für eine der beiden Arbeiterparteien abgegeben wurden. 69

Bei der Reichskontrolle der KPD von 1927 gaben insgesamt 30,88 Prozent der Mitglieder an, vorher in der USPD organisiert gewesen zu sein. Wieder liegen hierzu keine Zahlen aus den Bezirken Pommern und Oberschlesien vor. Im Be-zirk Berlin-Brandenburg umfassten die ehemaligen Unabhängigen Sozialdemo-kraten 39,44 Prozent der KPD-Mitgliedschaft und in Westsachsen waren es 35,04 Prozent. Im Bezirk Ruhrgebiet sind die ehemaligen Unabhängigen hin-gegen mit nur 18,27 Prozent sehr stark unterrepräsentiert. Diese auffällige Diskrepanz ist wohl in erster Linie auf die besonders hohen Mitgliederverluste

67 Falter/Hänisch: Wahl- und Sozialdaten.68 Wheeler: USPD, S. 157 bzw. S. 248.69 Falter/Hänisch: Wahl- und Sozialdaten.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 41

des Bezirks Ruhrgebiet nach dem Fehlschlag der Märzaktion von 1921 zurück-zuführen. Im Ruhrgebiet wären demnach von den ca. 45.000 ehemaligen USPD-Linken, die 1920 in die VKPD übergetreten waren, 1927 nur noch maximal 3,52 Prozent (1.586 Personen) übrig geblieben.70

Mallmann befindet sich im Irrtum, wenn er den Anteil von 30,88 Prozent ehe-maligen Unabhängigen einfach zu den 30,27 Prozent der Mitglieder von 1927 addiert, die vor ihrem Beitritt zur KPD in der SPD organisiert waren, und dann daraus schließt, dass „61 % aller Kommunisten ... radikalisierte Sozialdemo-kraten“ waren. Schon Kaasch hatte in seinem Aufsatz zur Reichskontrolle aus-drücklich auf mögliche Doppelmitgliedschaften hingewiesen.71 Leider gibt es keine Daten darüber, wie viele der fast 600.000 neuen Mitglieder, die 1919/20 in die USPD hineinströmten, schon einmal in der SPD organisiert waren. Es wird aber in der Forschung allgemein davon ausgegangen, dass ein großer Teil der neuen USPD-Mitglieder erst durch den Krieg politisiert worden ist.72

Ich werde nun versuchen, den Anteil dieser erst durch den Krieg politisierten USPD-Mitglieder in den drei Bezirken, aus denen dazu Zahlen vorliegen, näher zu bestimmen. Leider wurde bei der Reichskontrolle von 1927 ausgerechnet bei der Frage nach der USPD-Mitgliedschaft entgegen den sonstigen Gepflogenhei-ten nicht nach dem Beitrittsjahr, sondern nach der Mitgliedschaftsdauer (ein bis fünf Jahre) gefragt. Da erstens aber der überwiegende Großteil der ehemaligen unabhängigen Sozialdemokraten in der KPD 1920 nach der Spaltung der USPD mit zur VKPD gegangen ist und zweitens die überwältigende Mehrzahl der Mit-glieder 1919 und 1920 zur USPD gestoßen war, dürfte sich die große Mehrheit der durch den Krieg radikalisierten Arbeiter unter den ehemaligen USPD-Mit-gliedern mit ein- und zweijähriger Mitgliedschaft finden lassen. In diese Katego-rie fallen laut Reichskontrolle insgesamt 17,76 Prozent der KPD-Mitglieder von 1927. Das waren 57,51 Prozent aller ehemaligen USPD-Mitglieder in der KPD von 1927. Im Ruhrgebiet waren 11,70 Prozent der KPD-Mitglieder von 1927 ein bis zwei Jahre Mitglied der USPD gewesen (64,06 Prozent aller ehemaligen USPD-Mitglieder), in Westsachsen waren es 16,68 (47,60) und in Berlin 21,39

70 Kaasch: Struktur, S. 1063 (Reich); SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/23 (Berlin); SAPMO-BArch RY1/I3/10/125 (Westsachsen); SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29 (Ruhrgebiet). Bei der Prozentangabe handelt es sich um eine Schätzung, da die Zuschnitte des USPD-Bezirks Westliches Westfalen von 1920 und des KPD-Bezirks Ruhrgebiet von 1927 räumlich nicht deckungsgleich sind. Vgl. zur Vorgehensweise bei der Reichskontrolle und der Validität der Ergebnisse Abschnitt 2.4.1.71 Mallmann: Kommunisten, S. 118. Kaasch: Struktur, S. 1064.72 Winkler: Revolution, S. 251 bzw. S. 474. Vergleicht man die SPD-Mitgliederzahl vom März 1914 (1.085.905) mit der Summe der USPD-Mitglieder im Oktober 1920 und der SPD-Mitglieder am 31. März 1921 (2.114.982), haben sich - wenn man die Fluktuation in beiden Parteien vor und nach dem Ersten Weltkrieg mit null ansetzt - mindestens 48,66 Prozent der Mitglieder von USPD und SPD von 1920/21 erst nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs einer sozialdemokratischen Partei angeschlossen.

42 2.1 Die Vorgeschichte der KPD

(54,23). Bei den restlichen 13,12 Prozent (35,94 Prozent aller ehemaligen USPD-Mitglieder) der KPD-Mitglieder von 1927, handelt es sich um Personen mit mehr als zweijähriger USPD-Mitgliedschaft, die zu einem Großteil wohl vor ihrem Beitritt zur USPD in der SPD organisiert gewesen waren.

Insgesamt hatten demnach auf Reichsebene 43,39 Prozent der KPD-Mitglie-der von 1927 - 30,27 Prozent kamen direkt aus der SPD und geschätzte 13,12 Prozent über die USPD - ihre ersten politischen Organisationserfahrungen in der SPD gemacht, während geschätzte 17,76 Prozent erst durch Krieg und Revoluti-on politisiert worden waren und nach einem kurzen Gastspiel in der USPD zur KPD kamen. Dementsprechend erlebten maximal 38,85 Prozent ihre politische Sozialisation erst in der KPD.

2.2 Struktur und Verankerung der KPD in den BezirkenDie formale Einteilung der Parteibezirke blieb unmittelbar nach der Parteigründung zunächst offen. Bei ihrer Abgrenzung orientierten sich die Parteimitglieder in den einzelnen Regionen in den meisten Fällen an der über-kommenen Bezirksstruktur der SPD. Die von ihnen diesbezüglich getroffenen Entscheidungen wurden durch die Parteikonferenz der KPD am 14./15.6.1919 in Berlin in den meisten Fällen bestätigt. Dort wurde die Einrichtung von 22 Parteibezirken beschlossen, zu denen sich die Ortsgruppen „nach Wirtschaftsge-bieten“ zusammenschließen sollten. Zu den ersten hier formell konstituierten Bezirken zählten Berlin-Brandenburg, Westfalen, Mitteldeutschland, Pommern und Oberschlesien.73

Leider gibt es kaum Hinweise auf die dem Zuschnitt der Bezirke zu Grunde liegenden Kriterien. Der Gedanke einer, so weit möglich, gleichmäßigen Ressourcenverteilung auf die einzelnen Bezirke hat dabei anscheinend keine besondere Rolle gespielt. Auch der Notwendigkeit der Bezirke, ihre Einrich-tungen und ihre Tätigkeit selbst finanzieren zu können, wurde nicht Rechnung getragen. In drei der fünf hier untersuchten Bezirke orientierte man sich an der verwaltungsrechtlichen Grenzziehung. So entsprach das Gebiet des Bezirks Pommern exakt dem der preußischen Provinz Pommern. Ähnlich der Bezirk Oberschlesien: Er umfasste Anfang 1919 den zur Provinz Schlesien gehörenden Regierungsbezirk Oppeln, aus dem am 14. Oktober 1919 die zwei Jahre später geteilte preußische Provinz Oberschlesien wurde. Auch der erste Bezirk Berlin-Brandenburg 1919 basierte auf der verwaltungsrechtlichen Geografie: der preu-ßischen Provinz Brandenburg und der Stadt Berlin.

Ein Bezirk Westsachsen hingegen wurde 1919 noch nicht eingerichtet. Der im Januar 1919 gegründete Bezirk Mitteldeutschland umfasste den preußischen Re-gierungsbezirk Halle und die sächsischen Amtshauptmannschaften Leipzig, Bor-

73 Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. VII, 1. Halbbd.: Februar 1919 bis De-zember 1921, Berlin (DDR) 1966, S. 103 (Satzungsentwurf der KPD vom Juni 1919). Weber: Gründungsparteitag, S. 309.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 43

na, Grimma, Oschatz, Großenhain und Döbeln. Er ist damit der einzige der fünf Bezirke, dessen führende Mitglieder sich bei der Gründung sogar über Landes-grenzen hinweg an das im Statut vorgesehene Prinzip des einheitlichen Wirt-schaftsgebietes gehalten haben.

Recht kompliziert ist die Lage beim Ruhrgebiet, das ja, aufgeteilt auf drei Re-gierungsbezirke und zwei preußische Provinzen, keine eigene verwaltungsrecht-liche Entität bildete. Anfang 1919 wurde der Bezirk Rheinland-Westfalen ge-gründet, der die beiden preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen um-fasste. Im Juli 1920 wurde dieser Riesenbezirk in drei Teile geteilt: in die Bezir-ke Östliches Westfalen - die Region nordöstlich von Dortmund -, Westliches Westfalen - das den Hauptteil des Ruhrgebiets umfasste - und Niederrhein.74

Bei dieser Einteilung blieb es im Großen und Ganzen bis zur Vereinigung mit der linken USPD. Die zaghaften Ansätze der KPD, die ausschließlich für eine effiziente Wahlagitation geschaffene Bezirkseinteilung der SPD zu überwinden, wurden durch die diesbezüglichen Beschlüsse des Vereinigungsparteitags, die sich zwecks Erleichterung der Fusion stark am Aufbau der USPD orientierten, gleich wieder zunichte gemacht.

Der Vereinigungsparteitag richtete 28 Bezirke ein. Neu kam unter anderem der Bezirk Lausitz hinzu. Die den Verwaltungsgrenzen entsprechenden Bezirke Pommern und Oberschlesien blieben unverändert. Zu den schon bestehenden drei Bezirken Rheinland-Westfalens kam der Bezirk Mittelrhein hinzu. Der Be-zirk Mitteldeutschland wurde entlang der Landesgrenze zwischen Preußen und Sachsen in die beiden Bezirke Westsachsen und Halle-Merseburg unterteilt.75

Mit wenigen Umstellungen behielt diese Bezirkseinteilung Gültigkeit bis 1933. Eine gravierende Änderung betraf den Bezirk Oberschlesien, der zwi-schen dem Januar 1922 und dem 1. Juni 1924 nur als Unterbezirk des Bezirks Schlesien geführt wurde. Im Herbst 1924 wurde der Bezirk Lausitz - der nach dem Bericht der Zentrale an den 9. Parteitag siebzig Ortsgruppen und 2.375 Mit-glieder hatte - aufgelöst und zum Teil dem Bezirk Berlin-Brandenburg zuge-schlagen. Um diese Zeit fand endlich auch die KPD im Ruhrgebiet ihre endgül-tige Struktur. Nach der fehl geschlagenen Märzaktion 1921 wurden die beiden größten Bezirke Rheinland-Westfalens, Niederrhein und Westliches Westfalen, wieder zum Superbezirk Rheinland-Westfalen mit dem Vorort Essen zu-sammengefasst. Im Sommer 1921 kamen die kleineren Bezirke Östliches Westfalen und Mittelrhein dazu, wobei aus ersterem der Unterbezirk Bielefeld wurde. Dieses Oberbezirk genannte Gebilde war allerdings zu groß, um wirklich funktionsfähig zu sein. Daher wurde es im September 1921, unter formaler 74 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/12, Bl. 1.75 Bericht über die Verhandlungen des Vereinigungsparteitags der U.S.P.D. (Linke) und der K.P.D. (Spartakusbund). Abgehalten in Berlin vom 4. bis 7. Dezember 1920, Berlin 1921, nachgedruckt in: Protokolle der Parteitage der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Band 3: 1920, Glashütten im Taunus 1976, S. 247.

44 2.2 Struktur und Verankerung der KPD in den Bezirken

Beibehaltung des Oberbezirks, mit einem anderen Zuschnitt als 1919 in Rhein-land-Westfalen-Nord und -Süd geteilt. Der neue Bezirk Rheinland-Westfalen-Nord bekam bei dieser Teilung das Gebiet um Duisburg hinzu und umfasste so-mit endlich das gesamte Ruhrgebiet. Die beiden ostwestfälischen Unterbezirke Münster (bis 1926) und Bielefeld (bis 1929) wurden vorübergehend an die Be-zirke Nordwest (Bremen) und Niedersachsen abgegeben. Der Bezirk Rheinland-Westfalen-Nord muss dann zwischen Herbst 1923 und März 1924 in „Ruhrge-biet“ umbenannt worden sein - unter diesem Namen wird er im Protokoll des 9. Parteitags (April 1924) erstmals geführt.76

Den fünf Bezirken, mit denen sich diese Untersuchung beschäftigt, gehörten 1926 insgesamt 29,04 Prozent der durchschnittlichen abgerechneten Mitglieder der KPD an. Auf den größten Bezirk Berlin-Brandenburg entfielen allein 13,78 Prozent der KPD-Mitglieder. Die Bezirke Ruhrgebiet und Westsachsen waren mit 6,90 bzw. 6,31 Prozent etwa gleich groß. Dem Bezirk Pommern gehörten 1,44 und dem Bezirk Oberschlesien 0,62 Prozent der Gesamtmitgliedschaft von 1926 an.77

2.2.1 Der Bezirk Berlin-BrandenburgGleich nach der Novemberrevolution begann der Spartakusbund damit, seine Bezirksorganisationen in Berlin aufzubauen. Am 12. Dezember 1918 soll sich als erste die Parteigruppe im 6. Bezirk (Weißensee, Heinersdorf, Hohenschön-hausen, Berlin-Nordost) konstituiert haben. Bis zum 23. Dezember 1918 ent-standen die restlichen 17 Bezirke des Berliner Spartakusbundes. Bevor sich der KPD-Bezirk Berlin-Brandenburg aber organisatorisch einigermaßen gefestigt hatte, brach er wieder zusammen. Nachdem sich die große Mehrheit der Berliner Mitglieder gegen die auf dem zweiten Parteitag im Oktober 1919 verabschiede-ten moderaten politischen Leitsätze ausgesprochen hatte, brach der latente Kon-flikt zwischen der Berliner Bezirksleitung (BL) und der Zentrale offen aus. Dies führte schließlich zum Ausschluss der kompletten Berliner Parteiorganisation durch den 3. Parteitag im Februar 1920. Der Bezirk Berlin-Brandenburg musste

76 R.S. Reichmann: The German Communist Party in Rhineland-Westphalia 1918-1925. A lo-cal study, Diss., Oxford 1974, S. 120. Bericht über die Verhandlungen des IX. Parteitags der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Abge-halten in Frankfurt am Main vom 7. bis 10. April 1924, Berlin 1924, S. 58. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/17, Bl. 33. Peterson: Communism, S. 87. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/6, Bl. 1.77 Die auf den Abrechnungen der Mitglieder basierenden Zahlen sind zwar einerseits exakter als die Angaben über die virtuelle Gesamtmitgliedschaft, schwanken aber auch je nach Ab-rechnungsdisziplin stark, so dass Monatsangaben immer nur eine Momentaufnahme sein können (Vgl. zur Methode und Validität der kommunistischen Mitgliederstatistik Abschnitt 3.3.5.2).

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 45

daher mit den noch verbliebenen etwa 800 Mitgliedern völlig neu aufgebaut werden.78

Am 30. Januar 1919 veröffentlichte die noch provisorische Berliner Partei-leitung eine erste Liste der 18 Berliner Unterbezirke.79 Die vom preußischen Landtag beschlossene Gründung Groß-Berlins am 1. Oktober 1920, mit der sich Alt-Berlin80 und die sieben brandenburgischen Städte Charlottenburg, Wilmers-dorf, Schöneberg, Neukölln, Lichtenberg, Köpenick und Spandau sowie 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke zusammenschlossen, machte eine Änderung im Zuschnitt der Parteiorganisation erforderlich. Sie wurde entspre-chend dem verwaltungsrechtlichen Aufbau der Stadt vorgenommen. Für jeden der nun zwanzig Verwaltungsbezirke Groß-Berlins wurde auch ein, parteiintern ebenfalls Verwaltungsbezirk genannter Unterbezirk eingerichtet. Eine zeitlang gab es außerdem einen KPD-Verwaltungsbezirk 2a, Westen, der 1926 im Verwaltungsbezirk Schöneberg aufging. Bei dieser wohl Anfang 1921 vorge-nommenen Einteilung der Berliner Parteiorganisation entsprechend der Verwaltungsbezirke blieb es im Prinzip bis zum Dezember 1929. 81

Die Ausgangsbedingungen für die Entwicklung der KPD in den zwanzig Ber-liner Verwaltungsbezirken waren so unterschiedlich wie die Strukturen der Verwaltungsbezirke selbst (Tabelle 2). Ihren Mitgliederschwerpunkt hatte die KPD 1925 in den drei großen Arbeiterbezirken - dem Wedding, dem Friedrichs-hain und Neukölln. Im Wedding etwa lebten 12,74 Prozent der abgerechneten KPD-Mitglieder vom November 1925, aber nur 8,74 Prozent der Berliner Ein-wohner vom Juni 1925. Entsprechend schwach war die KPD in den großen, bürgerlich geprägten Verwaltungsbezirken Charlottenburg und Schöneberg vertreten, wo zwar 14,33 Prozent der Berliner lebten, in denen aber nur 7,02 Prozent der Berliner Kommunisten. Insgesamt kam im November 1925 eine Mehrheit von 55,79 Prozent der Berliner KPD-Mitglieder aus den fünf Verwaltungsbezirken Wedding, Friedrichshain, Neukölln, Kreuzberg und Prenz-lauer Berg, in denen im Juni 1925 41,80 Prozent der Berliner lebten, während in den fünf kleinsten Verwaltungsbezirken der KPD, Zehlendorf, Tempelhof,

78 Bezirksleitung: Geschichte, S. 62. Lange: Berlin, S. 142 bzw. S. 250.79 Uebel/Rieß: Herausbildung, S. 377.80 Die späteren Verwaltungsbezirke Mitte, Tiergarten, Wedding, Friedrichshain, Prenzlauer Berg und Kreuzberg.81 Nach dem Bezirksstatut vom 27. Mai 1922 gab es in Berlin die folgenden 20 Verwaltungs-bezirke: 1 Mitte, 2 Moabit, 3 Wedding, 4 Prenzlauer Berg, 5 Friedrichshain, 6 Kreuzberg, 7 Charlottenburg, 8 Spandau, 9 Wilmersdorf, 10 Zehlendorf, 11 Schöneberg, 12 Steglitz, 13 Tempelhof, 14 Neukölln, 15 Treptow, 16 Köpenick, 17 Lichtenberg, 18 Weißensee, 19 Pan-kow, 20 Reinickendorf (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 60).

46 2.2 Struktur und Verankerung der KPD in den Bezirken

Weißensee, Wilmersdorf und Spandau nur 5,39 Prozent der Kommunisten, aber 11,35 Prozent der Berliner lebten.82

Tabelle 2: Berliner Verwaltungsbezirke 1924/25Verwaltungsbezirk Bevölkerung Arbeiteranteil (%) Wähler (%) MitgliederKreuzberg 377.253 45,96 15,39 1.218Wedding 351.798 59,58 29,33 1.877Charlottenburg 345.139 29,74 9,59 272Friedrichshain 336.338 55,39 22,76 1.428Prenzlauer Berg 326.311 49,32 18,98 1.306Mitte 295.837 42,04 14,75 919Neukölln 290.327 53,84 22,10 1.605Tiergarten 283.581 37,18 12,88 737Schöneberg 231.664 23,54 7,49 664Lichtenberg 198.832 48,87 21,12 965Wilmersdorf 174.884 16,32 4,86 202Steglitz 160.580 23,62 6,76 184Spandau 111.629 53,57 11,64 129Reinickendorf 105.467 47,50 22,27 420Pankow 100.825 38,45 15,10 351Treptow 97.524 50,09 17,76 440Tempelhof 68.009 37,51 11,99 203Köpenick 65.765 47,67 21,63 270Weißensee 58.114 55,13 18,75 174Zehlendorf 44.288 19,33 3,73 19Groß-Berlin gesamt 4.024.165 43,04 16,23 13.363

Quellen: Falter/Hänisch: Wahl- und Sozialdaten (Bevölkerung und Arbeiter und Angehö-rige 1925, Reichstagswahlen 7.12.1924), SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 39 (Mitglieder Dezember 1924).

Das gleiche Muster zeigt sich in Bezug auf die Berliner Hochburgen der KPD bei den Reichstagswahlen. Am 7. Dezember 1924 erreichte die KPD in den fünf Berliner Verwaltungsbezirken Wedding, Friedrichshain, Neukölln, Kreuzberg und Prenzlauer Berg 56,17 Prozent ihrer Berliner Wählerstimmen, obwohl dort nur 42,23 Prozent der Wahlberechtigten wohnten. In ihren fünf schwächsten Verwaltungsbezirken Zehlendorf, Tempelhof, Wilmersdorf, Weißensee und Kö-penick, in denen 11,02 Prozent der Berliner Wahlberechtigten lebten, konnte sie nur 5,85 Prozent ihrer Berliner Wählerstimmen holen.

Ein recht guter Indikator für die Verankerung einer Partei in der Region ist der Anteil ihrer Mitglieder an der Bevölkerung. Im Dezember 1924 gehörte etwa

82 Mitgliederzahlen nach SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 39, Einwohner nach der Volkszäh-lung von 1925 aus Falter/Hänisch: Wahl- und Sozialdaten.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 47

jeder dreihundertste Einwohner Groß-Berlins der KPD an, während auf der Reichsebene nur einer von 546 Einwohnern Kommunist war. Die Extreme für das Gebiet Groß-Berlin reichten von einem Kommunisten auf 2.331 Bewohner im Verwaltungsbezirk Zehlendorf bis zu 181 Bewohnern auf einen Genossen im Verwaltungsbezirk Neukölln.

Nach den aus der Sicht der Berliner Bezirksleitung äußerst unzureichenden Ergebnissen der Kommunisten bei den Betriebsratswahlen im März 1929 und der nur geringen Resonanz ihres Aufrufs zum „Massenstreik gegen Arbei-termord!“ vom 2. Mai 1929 war die Ursache für diese Fehlschläge schnell aus-gemacht: der „Opportunismus in der Praxis“. Da sich nach Auffassung Walter Ulbrichts, der im Februar 1929 politischer Leiter des Bezirks geworden war, die Autorität der Verwaltungsbezirksleitungen als zu schwach erwiesen hatte, ver-fiel man auf eine ad-hoc-Strukturreform. Ihr Hauptziel war eine direktere und damit bessere Kontrolle der Tätigkeit der Mitgliedschaft durch die Bezirkslei-tung, die auf Grund des Ausmaßes des Bezirks bisher nur schlecht hatte bewerk-stelligt werden können: „Bei der Größe der Organisation war es ihr [der Bezirks-leitung] unmöglich, auf allen Gebieten der Parteiarbeit rechtzeitig einzugreifen und die Linie der Partei durchzusetzen.“83

Die Berliner Parteiorganisation wurde daher im Dezember 1929 auf dem Reißbrett völlig neu zugeschnitten. Jeweils einige benachbarte Verwaltungsbe-zirke wurden vereinigt und mit den angrenzenden Ortsgruppen der Provinz zu-sammengeschlossen. So wurden zum Beispiel die bisherigen Verwaltungsbezir-ke Moabit, Charlottenburg und Spandau mit den angrenzenden Ortsgruppen Fahrland, Fehrbellin, Friesack, Ketzin, Nauen, Nowawes, Potsdam und Wus-termark zum Unterbezirk West vereinigt, wobei der Verwaltungsbezirk Moabit zum Sitz der neuen Unterbezirksleitung bestimmt wurde. Einzige Ausnahme waren die beiden zentral gelegenen Verwaltungsbezirke Mitte und Kreuzberg, die zum Unterbezirk Zentrum zusammengelegt wurden.84

Die Folge dieser Bezirksreform war eine Verringerung der Zahl der Berliner Unterbezirke von 20 auf sieben. Die übrig gebliebenen Ortsgruppen in der Pro-vinz Brandenburg wurden auf acht neu eingerichtete Unterbezirke verteilt. Diese

83 Bericht des Sekretariats der Bezirksleitung Berlin vom 7.7.1930 (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/78, Bl. 8).84 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/73, Bl. 25. Aus den Verwaltungsbezirken Moabit, Charlotten-burg und Spandau entstand der Unterbezirk West, der Unterbezirk Südwest wurde aus den Verwaltungsbezirken Wilmersdorf, Zehlendorf, Schöneberg und Steglitz gebildet, der Un-terbezirk Süd aus den Verwaltungsbezirken Tempelhof, Neukölln und Treptow, zum Unterbe-zirk Nord wurden die Verwaltungsbezirke Wedding und Reinickendorf zusammenge-schlossen, zum Unterbezirk Nordost die Verwaltungsbezirke Prenzlauer Berg, Weißensee und Pankow und zum Unterbezirk Ost die Verwaltungsbezirke Friedrichshain, Köpenick und Lichtenberg. Letzterer reichte vom an Berlin-Mitte angrenzenden Verwaltungsbezirk Fried-richshain bis nach Frankfurt/Oder - eine Strecke von über 70 km Luftlinie.

48 2.2 Struktur und Verankerung der KPD in den Bezirken

am grünen Tisch getroffene schematische Einteilung entpuppte sich schnell als Fehlentscheidung. Manche der so geschaffenen neuen Berliner Unterbezirke hatten nun mehr Mitglieder als die Bezirke Pommern und Oberschlesien zu-sammen. Albert Kuntz, der im Sommer 1930 Organisatorischer Leiter des Be-zirks wurde, fasste die Situation in einem undatierten Bericht aus dem Jahr 1930 wie folgt zusammen:

„Bei allen organisatorischen Erfolgen und Fortschritten der Berliner Organisation be-wältigen die UB.- [Unterbezirks-] Leitungen mit ihrem Instrukteurapparat die Arbeit nicht. Die Gebiete sind einfach zu groß, die Kontrolle über die einzelnen Parteieinheiten zu gering und unregelmäßig und die direkte Verbindung der UB.-Leitungen zu den ent-scheidenden Zellen und Betrieben völlig ungenügend.85

Die neuen Superunterbezirke mussten daher wieder aufwändig unterteilt werden, so dass zum Zeitpunkt der Abfassung des obigen Berichts schon wieder neun neue, insgesamt also 24 Unterbezirke existierten. Das Ergebnis all dieser ad-hoc-Umstellungen war kaum mehr als eine längere Lahmlegung der Partei-apparate unterhalb der Bezirksebene, die erst mühsam zusammengelegt und dann - nach einem anderen Prinzip als vor 1929 - wieder auseinander gerissen wurden. Damit wurden gleichzeitig wertvolle Ressourcen vernichtet. Umso mehr überrascht das völlige Fehlen einer kontroversen Diskussion über die Neu-einteilung des Bezirks in den Akten.

2.2.2 Der Bezirk RuhrgebietAuch im Ruhrgebiet wurden schon Anfang Januar 1919 die ersten Ortsgruppen der KPD gegründet, zum Beispiel in Duisburg, Herne, Mülheim und Oberhausen. In den darauf folgenden Wochen kamen Ortsgruppen in Dortmund, Essen, Hamborn und Dorsten hinzu. Der vom Vereinigungsparteitag eingerich-tete Bezirk Westliches Westfalen bestand Anfang 1921 aus den sechs Unterbe-zirken Bochum, Dortmund, Gelsenkirchen, Hagen, Münster und Reckling-hausen.86

Im Oktober 1921, einen Monat nach seiner Gründung, hatte der Bezirk Rhein-land-Westfalen-Nord folgende neun Unterbezirke mit insgesamt 215 Orts-gruppen: Bielefeld (30 Ortsgruppen), Bochum (31), Buer (26), Dortmund (35), Duisburg (15), Essen (48), Gelsenkirchen (8), Hamborn (11), und Hamm (11). Der größte Unterbezirk war Essen mit 33,37 Prozent der Gesamtmitgliedschaft des Bezirks, der kleinste war Hamm mit 3,00 Prozent. Nachdem der Unterbezirk Bielefeld an den Bezirk Niedersachsen abgegeben worden war, da er von seiner sozialökonomischen Struktur besser zu ihm zu passen schien, blieben acht Un-terbezirke übrig.87

85 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/70, Bl. 138.86 Uebel/Rieß: Herausbildung, S. 376. Goch: Arbeiterbewegung, S. 265. Koch-Baumgarten: Aufstand, S. 234.87 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29 Bl. 106.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 49

Zum Teil chaotische politische Zustände in einzelnen Unterbezirken und eine offenbar ihren Aufgaben nicht gewachsene Bezirksleitung, in der sich 1924/25 drei verschiedene politische Leiter die Klinke in die Hand gegeben hatten, bis das ZK Mitte November 1925 Wilhelm Florin einsetzte, machten aus Sicht der Parteiführung einen Eingriff in die Struktur des Bezirks notwendig.88 Daher beschloss das Polbüro des ZK am 30. November 1925 eine Organisationsreform des Ruhrbezirks. Zunächst wurden die Unterbezirke Duisburg und Hamborn bzw. Dortmund und Hamm zusammengelegt. Entsprechend der Beschlüsse des zehnten Parteitags - das neue Statut verlangte die Auflösung der Parteileitung des Bezirksvororts -, übernahm die Bezirksleitung die Geschäfte der Leitung des Unterbezirks Essen. Auch die Unterbezirke Gelsenkirchen, Bochum und Buer scheinen zumindest vorübergehend von der Bezirksleitung mit verwaltet worden zu sein.

Wienand Kaasch, der wohl kurz zuvor organisatorischer Leiter des Ruhrbe-zirks geworden war, wies in seinem Bericht an das ZK vom 11. Mai 1926 darauf hin, dass der Bezirk - nach Berlin immerhin der „zweitwichtigste Bezirk der Partei“ - im Oktober 1925 „teils aus finanziellen Gründen, teils aus parteitaktischen Gründen“ nur noch in drei Unterbezirke eingeteilt war. Dabei sei der Unterbezirk Essen so groß geworden, dass ihn die Bezirksleitung nicht mehr habe bearbeiten können. Die Bezirksleitung hätte daher vor kurzem beschlossen, den Bezirk wieder in acht Unterbezirke einzuteilen, wie sie auch schon vor den Umstrukturierungen von 1925 bestanden hatten: Bochum, Buer, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hamborn und Hamm.89

Bei diesen acht Unterbezirken blieb es bis 1927. Der Unterbezirk Buer wurde aufgelöst, nachdem im Zusammenhang mit der kommunalen Neugliederung des Ruhrgebiets 1926 die Städte Buer, Horst und Gelsenkirchen zusammenge-schlossen worden waren. An seine Stelle trat der neu eingerichtete Unterbezirk Recklinghausen, der die nordöstlichen Gebiete des ehemaligen Unterbezirks Buer übernahm. Außerdem wurden die Unterbezirke Duisburg und Hamborn - wie auch die beiden Städte 1926 - zwischen 1928 und 1930 zusammengelegt, und der Unterbezirk Oberhausen 1927/28 neu eingerichtet. Der Bezirk Ruhrge-biet umfasste daher im Mai 1930 - nachdem im November 1929 der Unterbezirk Bielefeld wieder vom Bezirk Niedersachsen zurück gekommen war - neun Un-terbezirke: Bielefeld, Bochum, Dortmund, Duisburg-Hamborn, Essen, Gelsen-kirchen, Hamm, Oberhausen und Recklinghausen.90

88 Kurt Rosenbaum war von März bis April 1924 Polleiter, Wilhelm Schwan von April 1924 bis Januar 1925, Theodor Neubauer von Januar bis Juni 1925 und wieder Schwan vom Juli bis zum November 1925.89 Bericht über die Verhandlungen des X. Parteitags der Kommunistischen Partei Deutsch-lands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Berlin vom 12. bis 17. Juli 1925, Berlin 1926, S. 235. Herlemann: Kommunalpolitik, S. 68. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/28, Bl. 82f.90 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/3, Bl. 92.

50 2.2 Struktur und Verankerung der KPD in den Bezirken

Tabelle 3: Städte im Ruhrgebiet 1924Stadt Bevölkerung Arbeiteranteil (%) Wähler (%) MitgliederEssen 439.000 41,82 25,4 1.725Dortmund 295.000 34,45 30,8 600Duisburg 244.000 22,2 650Gelsenkirchen 168.500 35,1 480Bochum 143.000 40,52 25,3 450Buer 88.600 32,1 300Bottrop 71.000 69,83 30,6 88Herne 64.000 50,49 31,0 170Recklinghausen 60.600 62,58 22,0 46Hamm 45.700 44,11 11,8 32Witten 43.700 36,50 17,9 75Hörde 33.000 25,5 53Ahlen 25.000 66,07 25,5 88Hattingen 25.000 24,4 32Gesamt 1.746.100 4.789

Quellen: SAPMO-BArch RY1/I3/20-21/12, Bl. 52 (Mitglieder September 1924; Bevölke-rung; KPD-Anteile Reichstagswahlen am 4.5.1924, Essener Mitglieder (Januar 1926) von mir eingefügt), Falter/Hänisch: Wahl- und Sozialdaten (Anteil Arbeiter und Angehörige).

Der statistische Vergleich der Einwohner, Wähler und Mitglieder der KPD in den Unterbezirken des Ruhrgebiets (Tabelle 3) lässt sich leider nicht so einfach durchführen, wie im Fall Berlin, weil die Parteistruktur mit der politischen Geo-grafie der Gemeinden nicht identisch war. Die Daten über die Mitgliederzahlen der Unterbezirke des Ruhrgebiets konnten daher nicht mit den statistischen Da-ten der Volkszählung von 1925 kommensurabel gemacht werden. Aus diesem Grund habe ich auf eine recht unvollständige Berechnung der KPD-Bezirkslei-tung zurückgegriffen.

Da die durch die obige Übersicht erfassten 4.789 Mitglieder nur den kleineren Teil der im September 1924 ingesamt dem Bezirk angehörenden 11.073 abge-rechneten Mitglieder ausmachen (43,25 Prozent), ist die Aussagekraft der oben angegebenen Zahlen begrenzt. Ihre Auswertung zeigt, dass die KPD im Ruhrge-biet - ganz wie schon die SPD im Kaiserreich - nicht so gut in der Region veran-kert war wie etwa in Berlin, wenn auch der Rückstand nicht mehr so groß war wie bei der SPD von 1912. In den oben aufgeführten Städten kam insgesamt auf fast 365 Bewohner ein Mitglied der KPD; das heißt, dass 0,27 Prozent der Be-völkerung KPD-Mitglieder waren (Berlin 0,33; Reich 0,18 Prozent). Die beiden Extreme bilden dabei Hamm und Essen, in denen auf ein eingeschriebenes KPD-Mitglied 1.428 bzw. 254 Einwohner kamen.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 51

2.2.3 Der Bezirk WestsachsenDie Gründungsversammlung der KPD-Ortsgruppe in Leipzig wurde am 4. Janu-ar 1919 durchgeführt. Ebenfalls noch im Januar wurden die Ortsgruppen Borna und Thräna gegründet. Als im Februar 1919 in Leipzig die Gründungskonferenz des Bezirks Mitteldeutschland stattfand, gab es auch schon Parteigruppen in Al-tenburg, Großdeuben, Güntheritz und Riesa. Bis zum Juli 1919 kamen Orts-gruppen in Frohburg, Gößnitz, Oschatz und Wurzen hinzu. Ende 1919 gab es im Bezirk Mitteldeutschland, der später ja in die Bezirke Westsachsen und Halle-Merseburg geteilt wurde, insgesamt schon 65 Ortsgruppen.91

Der vom Vereinigungsparteitag eingerichtete Bezirk Westsachsen hatte, folgt man dem Bericht der Bezirksleitung an den siebten Parteitag der KPD (22.-26.8.1921), sieben Unterbezirke und 78 Ortsgruppen. Der Bezirk Westsachsen wurde von der einzigen Großstadt Leipzig dominiert. Auf sie konzentrierte sich auch die Bezirksleitung in ihrer Arbeit. Von den 12.557 Mitgliedern, die der Be-zirk im August 1921 hatte, kamen 11.149 (88,79 Prozent) aus dem Unterbezirk Leipzig, dessen Mitgliedermehrheit wiederum die 7.617 Genossen aus der Stadt Groß-Leipzig (68,32 Prozent) stellten, die damit ingesamt 60,66 Prozent der westsächsischen Mitgliedschaft umfassten.92

Im März 1922 kam es auf Grund eines Beschlusses der Zentrale noch einmal zur Abgabe von zwölf preußischen Ortsgruppen an den Bezirk Halle-Merseburg, so dass dem Bezirk Westsachsen nun 60 Ortsgruppen blieben. Am 1. Oktober 1924 hatte der Bezirk acht Unterbezirke - Borna, Grimma, Groß-Leipzig (Stadt-gebiet), Leipzig (Land), Meuselwitz, Oschatz, Riesa und Wurzen - die sich in 107 Ortsgruppen unterteilten. Die zwischenzeitliche Teilung des Unterbezirks Leipzig in zwei Unterbezirke, die schon 1926 nicht mehr bestand, scheint sich nicht bewährt zu haben.93

Leider liegen auch für den Bezirk Westsachsen keine Unterlagen über den ex-akten Zuschnitt der Unterbezirke vor. Daher musste ich auf die für die lokale Ebene vorliegenden Mitgliederzahlen von Februar 1922 zurückgreifen, was na-türlich die Vergleichbarkeit mit den Volkszählungsdaten von 1925 erschwert. Außerdem musste ich daraus diejenigen Städte auswählen, zu denen auch Wahl- und Sozialdaten vorhanden sind. Daher erfolgen die Berechnungen (Tabelle 4) nur auf der Basis von 68,73 Prozent der 12.497 Mitglieder vom Februar 1922. Demnach waren die Leipziger Kommunisten im Vergleich zu den Bevölke-91 Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der Be-zirksleitung Leipzig der SED (Hg.): In der Revolution geboren, in den Klassenkämpfen be-währt. Geschichte der KPD-Bezirksorganisation Leipzig-Westsachsen, Leipzig 1986, S. 46 bzw. S. 59. Uebel/Rieß: Herausbildung, S. 376.92 Bericht über die Verhandlungen des 2. [7.] Parteitags der Kommunistischen Partei Deutsch-lands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Abgehalten in Jena vom 22. bis 26. Au-gust 1921, Berlin 1922, S. 83. SAPMO-BArch RY1/I3/10/126 Bl. 4.93 SAPMO-BArch RY1/I3/10/126, Bl. 6b bzw. Bl. 63. SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 17f.

52 2.2 Struktur und Verankerung der KPD in den Bezirken

rungsanteilen (Leipzig 74,26 Prozent) noch etwas überrepräsentiert (87,26 Pro-zent), während die Genossen im an der östlichen Bezirksgrenze gelegenen Riesa mit 0,35 Prozent der Mitglieder bei 2,73 Prozent der Einwohner am stärksten unterrepräsentiert waren. Der Unterbezirk Riesa konnte zwar seine Mitglieder-zahl von 45 im Februar 1922 auf 159 im März 1925 deutlich steigern, blieb aber trotzdem der mitgliederschwächste Unterbezirk der westsächsischen KPD. Auch in Bezug auf die Wählerstimmen von 1928, ist Groß-Leipzig mit 81,48 Prozent des kommunistischen Elektorats im Bezirk im Verhältnis zur Einwohnerzahl et-was über- und Riesa mit 2,27 Prozent wieder etwas unterrepräsentiert.

Tabelle 4: Städte in Westsachsen 1922/24/25Stadt Bevölkerung Arbeiteranteil (%) Wähler (%) MitgliederLeipzig 713.470 41,11 12,86 7.495Altenburg 95.547 61,58 4,00 73Riesa 26.248 49,19 (13,33) 30Wurzen 18.961 52,14 12,77 75Großenhain 13.510 43,91 4,46 4Markkleeberg 13.331 (17,87) 48Grimma 12.213 42,54 10,25 73Borna 12.126 48,04 8,98 136Meuselwitz 11.571 59,11 20,13 151Oschatz 10.744 49,20 4,00 40Markranstädt 9.173 17,64 141Taucha 7.417 22,54 162Groitzsch 5.814 11,74 17Colditz 5.427 8,46 71Liebertwolkwitz 5.197 15,54 83Gesamt 960.749 8.589

Quellen: Falter/Hänisch: Wahl- und Sozialdaten (Bevölkerung und Arbeiter und Angehö-rige nach der Volkszählung von 1925; Reichstagswahlen vom 7.12.1924; für Riesa und Markkleeberg vom 20.5.1928) SAPMO-BArch RY1/I3/10/126 Bl. 4 (Mitglieder Februar 1922).

Ganz der regionalen Tradition der Arbeiterbewegung entsprechend, gelang es der KPD in keinem der fünf von mir untersuchten Bezirke einen so großen Be-völkerungsanteil in die Partei zu holen, wie in Westsachsen. Dort kam ein Mit-glied auf 112 Einwohner (0,89 Prozent der Bevölkerung, Reich 0,18). Dabei rei-chen die Extreme von 46 Einwohnern auf einen Kommunisten in Taucha bis zu 3.377 Einwohnern auf ein KPD-Mitglied in Großenhain.

1927 hatte der Bezirk Westsachsen 89 Ortsgruppen in den folgenden sechs Un-terbezirken: Borna (14 Ortsgruppen), Grimma (7), Meuselwitz (16), Riesa (7), Wurzen (7) und Leipzig (38). Der Unterbezirk Oschatz, der seit 1921 bestanden

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 53

hatte, und insoweit ein Unikum gewesen war, als er nur aus einer einzigen Orts-gruppe bestanden hatte, war zwischenzeitlich aufgelöst und die Ortsgruppe Oschatz dem Unterbezirk Riesa zugeschlagen worden.94

Bei dieser Bezirksstruktur blieb es dann bis Ende 1929. Aus Anlass der Verluste bei den Kommunalwahlen in Leipzig am 17. November 1929 - der Stimmenanteil der KPD war von 18,8 auf 12,6 Prozent gefallen - und um auch hier wie in Berlin den Kampf gegen „opportunistische“ und „sektiererische“ Abweichungen in der Mitgliedschaft besser führen zu können, wurde Anfang Dezember 1929 durch das ZK beschlossen, die drei sächsischen Bezirke West-sachsen, Ostsachsen und Erzgebirge-Vogtland zu einem neuen Bezirk Sachsen zusammenzulegen. Gleichzeitig wurde bei dieser Fusion der Unterbezirk Alten-burg (vormals: Meuselwitz) nun analog zu den Verwaltungsgrenzen an den Be-zirk Thüringen abgegeben, womit die Geografie des Bezirk Sachsen exakt der des Landes Sachsen entsprach, was - gut sozialdemokratisch gedacht - auch die Führung von Landtagswahlkämpfen erleichterte.

Der erste Entwurf zum Aufbau des neuen Bezirks Sachsen vom 4. Dezember 1929 schlug die Einrichtung von zehn Unterbezirken und als Bezirksvorort die Landeshauptstadt Dresden vor. Die Landeskonferenz der KPD am 22. Dezember 1929 sprach sich hingegen für 20 Unterbezirke aus, die wohl auch eingerichtet worden sind. Zu ihnen gehörten unter anderem die früheren westsächsischen Unterbezirke Borna, Riesa und Wurzen. Größter sächsischer Unterbezirk wurde der Unterbezirk Leipzig mit 4.133 Mitgliedern. Nachdem man im Frühjahr 1931 die Zahl der sächsischen Unterbezirke von 19 auf neun reduziert hatte, und die Unterbezirke Wurzen und Borna dabei dem Unterbezirk Leipzig zugeschlagen worden waren, hatte der Unterbezirk Leipzig fast wieder die Größe des vorma-ligen Bezirks Westsachsen.95

2.2.4 Der Bezirk PommernWie der Bezirk Berlin-Brandenburg durch die Stadt Berlin und der Bezirk West-sachsen durch die Stadt Leipzig wurde auch der Bezirk Pommern durch seine einzige Großstadt Stettin dominiert, die selbstverständlich Sitz der im Sommer 1919 eingerichteten Bezirksleitung wurde. Die dortige Ortsgruppe wurde im Ja-nuar oder Februar 1919 gegründet, und hielt am 3. April 1919 ihre erste öffentli-che Versammlung ab. Über die Parteigründung in den anderen Gemeinden Pom-merns liegen leider keine Informationen vor.96

94 Monatsbericht der Bezirksleitung vom November 1927 (SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 151).95 SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/142, Bl. 2. Karlheinz Schaller: Die Bezirksparteiorganisation Sachsen der KPD von ihrer Gründung im Dezember 1929 bis zum 2. Bezirksparteitag im März 1932, Diss., Karl-Marx-Stadt 1983, S. 8f. SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/155, Bl. 41.96 Uebel/Rieß: Herausbildung, S. 376. Gerhard Janitz: Zur Herausbildung der KPD im Re-gierungsbezirk Stettin (1917-1920), in: Bezirksleitung Rostock der SED u.a. (Hg.): Zur Ge-schichte der Arbeiterbewegung in Pommern 1917-1945. Beiträge zur Geschichte der örtlichen

54 2.2 Struktur und Verankerung der KPD in den Bezirken

Die pommersche KPD soll aber im Mai 1921 schon 54 Ortsgruppen gehabt haben, die zu diesem Zeitpunkt anscheinend alle von der Stettiner Bezirkslei-tung direkt angeleitet wurden, da der Bezirk noch nicht in Unterbezirke einge-teilt war. Die pommersche Bezirksleitung führte diese besondere Situation in ih-rem Bericht an den siebten Parteitag im August 1921 auf folgende Ursachen zu-rück:

„Da auch der ehemalige Bezirk Pommern der KPD. [vor der Vereinigung mit der linken USPD] organisatorisch sehr schwach war, war die Zusammenfassung der Parteiorgani-sation nach dem Vereinigungsparteitag außerordentlich schwierig. Bei der ungeheuren Ausdehnung des Bezirks und bei dem Kräftemangel ... ging der Aufbau der neuen Organisation sehr langsam von statten.“97

Die Zahl der Pommerschen Ortsgruppen bewegte sich seit dieser Zeit zumeist in einer Größenordnung von etwa 60 - bei insgesamt 4.500 Gemeinden und Guts-bezirken.98 Diese scheinbar stabile Zahl von 60 Ortsgruppen suggeriert eine Kontinuität, von der im Bezirk Pommern gar keine Rede sein konnte.

Die Hauptursache dafür lag in dem spezifischen Strukturproblem des pommer-schen Bezirks: Eine riesige Fläche - 1932 waren das 31.142 Quadratkilometer - bei einer verhältnismäßig geringen Zahl an Mitgliedern. Die im Westen des Be-zirks in Stettin angesiedelte Bezirksleitung war daher nicht in der Lage, eine kontinuierliche direkte Kommunikation mit den Ortsgruppen herzustellen. Ich habe einmal mit einer handelsüblichen Kartensoftware anhand einer Liste von Ortsgruppennamen aus den Jahren 1922/23 die Luftlinienentfernungen im Be-zirk Pommern ermittelt. Von Stettin aus - nur ca. 150 km von Berlin entfernt - waren es in nördliche Richtung ca. 70 km bis Cammin, ca. 240 km östlich an der Grenze zu Polen lag Lauenburg, ca. 150 km nordwestlich von Stettin lag Barth an der Ostsee und ca. 30 km südlich des Bezirksvororts Pyritz.99

Um all seine Ortsgruppen kontinuierlich anzuleiten, hätte der Bezirk eine besondere finanzielle Ausstattung benötigt. Um diese selbst bereitzustellen, hatte er aber zu wenige und zu finanzschwache Mitglieder. Das ZK sub-ventionierte den Bezirk zwar relativ regelmäßig (vgl. Abschnitt 3.3.5.3), tat dies

Arbeiterbewegung, Rostock 1965, S. 50-56, hier: S. 55.97 Bezirksfragebogen Mai 1921 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/27, Bl. 16). Bericht 7. Parteitag 1921, S. 70.98 Brief von Polleiter Erich Steffen an die Org-Abteilung des ZK, 15.3.1926 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/27, Bl. 43).99 Rainer Eckert: Arbeiter in der preußischen Provinz. Rheinprovinz, Schlesien und Pommern 1933 bis 1939 im Vergleich, Frankfurt am Main 1997, S. 190. TopWare D-Atlas Version 1.1 (1996). Zum Vergleich: Die östlichste Stadt des Bezirks Westsachsen, Riesa, lag nur ca. 60 km und die südlichste, Altenburg, nur ca. 40 km vom nordwestlich gelegenen Hauptort Leip-zig entfernt, während im Bezirk Ruhrgebiet mit Ausnahme des ca. 120 km vom Vorort Essen entfernten Bielefeld alle wichtigen Orte im Umkreis von 30 km lagen.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 55

aber wegen seiner geringen strategischen Bedeutung nur halbherzig, so dass er gerade überleben konnte. Aus diesem Grund war die Bezirksleitung gezwungen, sich in viel stärkerem Maße als andere Bezirksleitungen der schriftlichen Kom-munikation mit den unteren Parteiinstanzen zu bedienen.100

Eine Folge dieser Vorgehensweise war, dass ein Teil der pommerschen Un-tergliederungen immer nur virtuell existierte. Von den oben genannten 60 Orts-gruppen bestanden viele nur auf dem Papier, weil ehrgeizige Funktionäre der Bezirksleitung Gemeinden mit kommunistischen Vertrauensleuten - der Vor-stufe zur institutionalisierten Parteigruppe - wohl kurzerhand in der Fragebogen-rubrik „Ortsgruppen“ ablegten. Diese virtuellen Ortsgruppen mussten deshalb regelmäßig gestrichen werden.101

Außer durch die Ausweitung der schriftlichen Kommunikation versuchte die BL in Stettin das Problem der Bezirksgröße durch die Einrichtung zahlreicher Unterbezirke in den Griff zu bekommen. Zu Anfang war der Bezirk entspre-chend der drei Regierungsbezirke Stralsund, Stettin und Köslin in die drei Un-terbezirke Vorpommern, Mittelpommern und Hinterpommern eingeteilt ge-wesen. Die BL übersah bei ihren Bemühungen aber, dass Unterbezirke, wenn sie wirklich arbeitsfähige Unterbezirksleitungen haben sollten, auch finanziert werden müssen. Zwischen 1922 und 1923 wurden schließlich 13 Unterbezirke eingerichtet (darunter Köslin, Stargard, Stettin, Stralsund und Torgelow) - mehr also als im Bezirk Ruhrgebiet, der das Zehnfache an Mitgliedern hatte! Schon im Juli 1924 musste der ZK-Instrukteur Wienand Kaasch feststellen, dass im Bezirk „fast die ganze Organisation kaputt ist. In vielen Unterbezirken bestehen keine Unterbezirksleitungen.“ Und ein Instrukteur namens Kern schrieb am 24. Juli 1924 an die Zentrale, dass die Unterbezirke „absolut keinerlei selbständige Arbeit“ leisteten: „Alles müsse von der B.L. gemacht werden und da eben, wie gesagt, hierzu die notwendigen Mittel fehlen, könne von einer systematischen Arbeit im ganzen Bezirk nicht gesprochen werden.“102

Der Bezirksparteitag vom 12./13.12.1925 zog daraus die Konsequenzen und beschloss, aus den dreizehn papiernen Unterbezirken vier wirklich funktionierende zu machen - jeweils zwei für Vorpommern und Hinterpommern. Bei diesen vier Unterbezirken blieb es wohl zunächst, doch das prinzipielle

100 Im Tätigkeitsbericht des Orgbüros der Zentrale an das EKKI-Präsidium für den Zeitraum 10.4.-1.10.1924 hieß es dazu: „Pommern ist ein typischer Landbezirk, in dem die Partei ihre Hauptkräfte auf die Landarbeiterbewegung werfen muß. [...] Wenn die Zentrale imstande wäre, mehrere Unterbezirkssekretariate zu errichten und den Genossen zur Agitation in dem räumlich ungeheuer ausgedehnten Bezirk etwas mehr Geld zur Verfügung zu stellen, so würde in mehreren Monaten die Mitgliederzahl stark gesteigert und der Funktionärkörper gefestigt werden können“ (SAPMO-BArch RY1/I2/4/24, Bl. 43f.).101 Bezirksleitung Pommern an Zentrale, 9.10.1924: „Von den 85 Ortsgruppen bestand ein großer Teil nur aus Vertrauensleuten respektiv 3 bis 4 Genossen. Wir haben daher eine Strei-chung vorgenommen.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/3/19, Bl. 67).102 SAPMO-BArch RY1/I3/3/18, Bl. 3. SAPMO-BArch RY1/I2/3/182, Bl. 19.

56 2.2 Struktur und Verankerung der KPD in den Bezirken

strukturelle Problem des Bezirks war damit nicht gelöst. Daher scheint es im Frühjahr 1929 schon wieder mehr als vier Unterbezirke gegeben zu haben, denen die Bezirksleitung aber nur höchst ungleichmäßige Aufmerksamkeit wid-mete. Polleiter Max Strötzel schlug auf der Sitzung der engeren Bezirksleitung am 3. April 1929 etwa vor, sich hauptsächlich auf die wichtigsten Unterbezirke Vorpommern, Kolberg, Ueckermünde und Stettin zu konzentrieren.103

Tabelle 5: Städte in Pommern 1924/25Stadt Bevölkerung Arbeiteranteil (%) Wähler (%) Mitgl. StandStettin 270.474 44,09 12,26 680 März 1926Stolp 45.299 41,83 1,39 12 Mai 1927Stralsund 43.630 2,70 80 Juli 1924Kolberg 33.735 32,42 12,81 70 Aug. 1926Köslin 30.389 39,52 3,01 34 Juni 1926Belgard 13.543 35,45 2,86 17 Aug. 1926Gollnow 13.175 38,89 1,63 10 Dez. 1922Greifenhagen 8.938 12,14 12 Nov. 1929Barth/Ostsee 7.657 6,94 35 Aug. 1926Lauenburg 6.947 12,60 158 Juli 1926Gesamt 474.060 9,37 1.108

Quelle: Falter/Hänisch: Wahl- und Sozialdaten (Bevölkerung und Arbeiter und Angehö-rige nach der Volkszählung von 1925; Reichstagswahlen vom 20.5.1928)

Eine Liste mit den Mitgliederzahlen der einzelnen Städte im Bezirk ist leider nicht überliefert. Ich musste die Mitgliederzahlen (Tabelle 5) daher aus ver-schiedenen Berichten aus verschiedenen Jahren zusammenstellen und habe des-wegen den Monat der Quellenerwähnung vermerkt. Da der Bezirk Pommern im Januar 1925 1.431 Mitglieder gehabt haben soll, machen die hier erfassten 1.108 Mitglieder unter der theoretischen Voraussetzung, dass die Ortsgruppen 1925 exakt so groß waren wie zum jeweils angegebenen Zeitpunkt, 77,43 Prozent der Gesamtmitgliedschaft aus.

Auf den ersten Blick fällt die hervorgehobene Stellung Stettins auf. Es war nicht nur die größte Stadt, sondern hatte auch den höchsten Anteil von Arbeitern und Angehörigen an der Bevölkerung und die meisten Mitglieder (55,06 % dieser virtuellen Gesamtmitgliedschaft). Stettin repräsentierte damit genau sei-nen Bevölkerungsanteil. Dazu passt auch, dass die KPD in Stettin 1928 73,34 Prozent der Gesamtstimmen aus den zehn Städten holen konnte. Insgesamt kam die KPD bei den Reichstagswahlen am 20. Mai 1928 in der Provinz Pommern auf 6,1 Prozent der Stimmen. In ihren oben aufgeführten Hochburgen Kolberg, Lauenburg, Stettin und Greifenhagen erreichte sie den (im Vergleich zum Ge-

103 Brief von Polleiter Erich Steffen an Org-Abteilung des ZK, 15.3.1926 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/27, Bl. 43). SAPMO-BArch RY1/I3/3/14, Bl. 306.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 57

samtergebnis auf Reichsebene immer noch unterdurchschnittlichen) doppelten Stimmenanteil, während sie in Köslin, Belgard, Stralsund und Stolp nur die Hälfte des Bezirksdurchschnitts oder weniger erzielen konnte.

Die Bewohner Pommerns waren auch in noch geringerem Maße geneigt, der KPD beizutreten, als die der bisher behandelten drei Bezirke. Nur einer von 428 Einwohnern Pommerns war Mitglied der KPD (0,23 Prozent der Bevölkerung; Reich 0,18). Den höchsten Bevölkerungsanteil erfasste die KPD in Lauenburg, wo ihr 2,27 Prozent der Einwohner angehörten, den kleinsten in Stolp mit 0,03 Prozent.

2.2.5 Der Bezirk OberschlesienOppositionelle aus dem Arbeiter- und Soldatenrat in Beuthen kamen der Reichs-partei mit der Gründung der Kommunistischen Partei Oberschlesiens am 20. De-zember 1918 um elf Tage zuvor. Im Januar und Februar 1919 entstanden weitere Ortsgruppen in Königshütte, Gleiwitz, sowie in einigen Industriedörfern wie zum Beispiel Eichenau, Michalkowitz und Rodzin. An der Konstitution der oberschlesischen Ortsgruppen waren häufig polnischsprachige Arbeiter beteiligt. Ende April 1919 soll der Bezirk Oberschlesien schon über 40 Ortsgruppen ge-habt haben.104

Am 19. Januar 1919 fand in Beuthen eine Konferenz mit den Vertretern der oberschlesischen Ortsgruppen statt. Sie sprach sich für den Anschluss an die KPD als Bezirk Oberschlesien aus. Im Januar oder Februar wurde die Bezirks-leitung Oberschlesien in Beuthen installiert und schon am 18. Mai 1919 konnte die oberschlesische KPD ihren ersten Bezirksparteitag abhalten.105

Die sich überstürzenden politischen Ereignisse in Oberschlesien wirkten sich natürlich auch auf die Bezirksorganisation der KPD aus. Zunächst forderte der Aufstand vom August 1919 Tribut: die oberschlesische KPD brach zusammen. Es scheint für eine gewisse Zeit nur eine polnische KP in Oberschlesien gegeben zu haben, denn im Geschäftsbericht der Zentrale an den 2. Parteitag (20.-24.10.1919) heißt es, dass der Bezirk „in den letzten Monaten von der pol-nischen Sektion [der KI] bearbeitet“ worden sei. Am 7. November 1920 vereinigte sich die neu aufgebaute KPD in Oberschlesien mit der linken USPD und der am 26. September 1920 von der PPS abgespaltenen polnischen KP Oberschlesiens zur Kommunistischen Partei Oberschlesiens/Kommunistyczna Partia Górnego Słąska (KPO/S), die am 5. Dezember 1920 ihren Gründungs-parteitag abhielt und deren Mitglieder zu etwa einem Viertel polnischer Herkunft gewesen sein sollen.106

104 Ralph Schattkowsky: Zum gemeinsamen Kampf deutscher und polnischer Kommunisten in Oberschlesien im Zeitraum 1918/19 bis 1933, Diss., Rostock 1982, S. 20. Wilhelm Matull: Ostdeutschlands Arbeiterbewegung. Abriß ihrer Geschichte, Leistung und Opfer, Würzburg 1973, S. 193. Uebel/Rieß: Herausbildung, S. 376.105 Schattkowsky: Kampf, S. 21. Uebel/Rieß: Herausbildung, S. 376.

58 2.2 Struktur und Verankerung der KPD in den Bezirken

Auf Grund der Bevölkerungsstruktur des Bezirks sprach sich am 14. Novem-ber 1920 die Bezirksleitung der oberschlesischen KP in einem Brief an die Zentrale der KPD für eine Autonomie der KPO/S aus:

„Einen direkten Anschluß an die deutsche oder polnische Kommunistische Partei kann die Kommunistische Partei Oberschlesiens auf Grund der jetzigen Situation einstweilen nicht vornehmen, weil die Masse der oberschlesischen Arbeiter infolge der mit außer-ordentlichen Mitteln erfolgreichen nationalistischen Verhetzung sich in zwei nationale Parteien gespalten hat, welche sich unter dem Einfluß der nationalen Agitatoren feind-lich gegenüberstehen.“107

Am 27. November 1920 fand daher eine Konferenz der KPD, der Kommunis-tischen Polnischen Arbeiterpartei (KPRP) und der KPO/S in Berlin statt. Dort wurde beschlossen, die KPO/S weder der KPD noch der KPRP anzuschließen, sondern sie als selbständige Organisation zu führen. Bald kam es jedoch zu „Auseinandersetzungen und Kompetenzstreitigkeiten“ in der KPO/S, weshalb sie nun doch als oberschlesischer Bezirk an die KPD angeschlossen wurde. Nach „lebhaftem Widerstand unter den Mitgliedern der KPO/S“ musste erneut über den Status der oberschlesischen KP verhandelt werden. Ein Kompromiss vom 13. Februar 1921 definierte die KPO/S als halbautonome gesamt-oberschlesische Partei mit organisatorischer Anbindung an die KPD und institu-tionalisierten Beziehungen zur KPRP.108

Dieser Zustand galt bis Ende 1921. Durch die Teilung Oberschlesiens am 20. Oktober 1921 entstand neuer Verhandlungsbedarf. Auf einer Unterredung zwi-schen Vertretern der KPO/S, der KPD und der KPRP mit Lenin im Dezember 1921 in Moskau wurde die Auflösung der KPO/S und die Aufteilung ihrer Mit-glieder zwischen der KPD und der KPRP beschlossen. Am 11. Dezember 1921 sprach sich dann eine Konferenz der KPD in Breslau dafür aus, die oberschlesische KPD als Unterbezirk dem Bezirk Schlesien anzuschließen. Dieser übernahm nach der Auflösung der KPO/S im Januar 1922 etwa 1.000 der ungefähr 4.000 Mitglieder.109

Aber auch der Anschluss an den Bezirk Schlesien war keine dauerhafte Lö-sung, da damit eine Industrieregion einem eher landwirtschaftlich geprägten Be-zirk unterstellt wurde. Um dieses Problem zu beseitigen, schickte die Zentrale im Mai 1924 den Instrukteur Max Schütz nach Oberschlesien. In seinem Bericht vom 16. Mai 1924 verwies dieser auf das sehr gespannte Verhältnis zwischen der Bezirksleitung in Breslau und der Unterbezirksleitung im ca. 150 km ent-106 Geschäftsbericht der Zentrale (Bericht über den 3. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) am 25. und 26. Februar 1920 [in Karlsruhe], o.O. o.J., S. 34).Bericht über den 2. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) vom 20.-24.10.1919 [in Heidelberg], o.O. o.J., S. 27. Schattkowsky: Kampf, S. 31.107 SAPMO-BArch RY1/I3/6/13, Bl. 1. 108 Schattkowsky: Kampf, S. 31f.109 Ebenda, S. 44

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 59

fernten Gleiwitz. Dieses führte er auf die Unabhängigkeitsbestrebungen letzterer zurück, und darauf, dass sich die Bezirksleitung kaum um den Unterbezirk Oberschlesien kümmere. Ein Stein des Anstoßes war zum Beispiel, dass der Un-terbezirk Oberschlesien bei der Wahl der schlesischen Delegierten für den 9. Parteitag übergangen worden war. Daher schlug Schütz der Zentrale vor, den Autonomiewünschen der oberschlesischen Kommunisten zu entsprechen und wieder einen eigenen Bezirk Oberschlesien einzurichten.110

Auf einer Konferenz mit Vertretern der Zentrale und der Bezirksleitung Schlesien am 1. Juni 1924 wurde darüber diskutiert, wie die inzwischen von der Zentrale beschlossene Gründung eines Bezirks Oberschlesien umgesetzt werden könnte. Dem neuen Bezirk wurde eine Frist von zwei Monaten eingeräumt, nach der er sich selbst finanziell und organisatorisch zu tragen hatte. Die endgültige Konstituierung fand dann auf dem inzwischen dritten Gründungsparteitag einer oberschlesischen KP am 22. Juni 1924 statt.111

Ende 1924 soll der neue Bezirk 1.800 Mitglieder in 55 Ortsgruppen gehabt haben, von denen aber nur 600 abgerechnet hatten. Bis zum Ende der 1920er Jahre kam der Bezirk nie über eintausend abgerechnete Mitglieder hinaus. Diese Mitgliederschwäche beschäftigte die Bezirksleitung nicht erst in ihrem Bericht an den 10. Parteitag vom Juli 1925:

„In Oberschlesien fehlt seit jeher jene Organisation des Proletariats, wie sie sonst im üb-rigen Deutschland überall zu finden ist. Der oberschlesische Proletarier läßt sich schwer organisieren, obwohl er bei revolutionären Kämpfen in vorderster Front steht.“112

Im März 1926 hatte der Bezirk, der sich in westöstlicher Richtung ca. 130 km und in nördsüdlicher Richtung ca. 100 km ausdehnte, drei Unterbezirke, Glei-witz, Oppeln und Neustadt, bis zum Oktober 1926 kam der Unterbezirk Ratibor hinzu. Bei diesen vier Unterbezirken blieb es bis mindestens 1930. Das starke Schwanken der Angaben über die Zahl der Ortsgruppen im Bezirk, das oben für den Bezirk Pommern festgestellt wurde, findet sich auch hier. Auch in Oberschlesien mussten regelmäßig virtuelle Ortsgruppen gestrichen werden, so dass der Bezirk am 15. Juli 1930 nur noch 43 Ortsgruppen hatte, nachdem im Oktober 1924 sogar einmal von 71 Ortsgruppen die Rede gewesen war. Nach einem Bericht des Instrukteurs Otto Schreiber vom 2. September 1930 soll die oberschlesische KPD aber immerhin in 91 Orten über Vertrauensleute verfügt haben.113

110 Bericht 9. Parteitag, S. 217. SAPMO-BArch RY1/I3/6/12, Bl. 8f.111 SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 2f.112 Bericht 10. Parteitag, S. 139.113 SAPMO-BArch RY1/I3/6/16, Bl. 109. SAPMO-BArch RY1/I3/6/17, Bl. 205. SAPMO-BArch RY1/I2/5/32a, Bl. 57.

60 2.2 Struktur und Verankerung der KPD in den Bezirken

Auch die Statistik belegt die Mitgliederschwäche der oberschlesischen KPD (Tabelle 6): Im Bezirk Oberschlesien war nur einer von 594 Einwohnern einge-schriebenes Mitglied der KPD. Er war damit als einziger der fünf untersuchten Bezirke schwächer in der Region verankert als der Durchschnitt der Bezirke. Die oberschlesische KPD organisierte nur karge 0,17 Prozent der Bevölkerung, also die Hälfte des Bevölkerungsanteils, den zum Beispiel die Berliner KPD in ihre Reihen aufnehmen konnte. Den höchsten Einwohneranteil hatte die Orts-gruppe Cosel (dort kam ein Kommunist auf 375 Einwohner), den niedrigsten gab es in Groß Strehlitz, wo nur ein einziger der 11.000 Einwohner den Weg in die Partei gefunden hatte.

Tabelle 6: Städte in Oberschlesien 1925/28Stadt Bevölkerung Arbeiteranteil (%) Wähler (%) MitgliederHindenburg 130.433 27,70 278Gleiwitz 111.062 17,31 147Beuthen 100.584 28,32 18,18 154Ratibor 51.680 33,74 9,54 39Oppeln 44.680 34,33 11,29 119Neiße 35.037 30,55 3,49 50Neustadt 17.738 46,53 9,23 48Groß Strehlitz 11.000 5,27 1Cosel 9.371 7,62 25Gesamt 511.585 16,89 861

Quellen: Falter/Hänisch: Wahl- und Sozialdaten (Bevölkerung und Arbeiter und Angehö-rige nach der Volkszählung von 1925; Reichstagswahlen vom 20.5.1928), SAPMO-BArch RY1/I3/6/16, Bl. 109 (Mitglieder März 1926).

Über zwei Drittel (67,25 Prozent) der oberschlesischen KPD-Mitglieder kamen aus den drei Großstädten Hindenburg, Gleiwitz und Beuthen, in denen auch ge-nau zwei Drittel der Einwohner der neun angegebenen Städte sowie 82,89 Pro-zent der KPD-Wähler von 1928 wohnten. Am stärksten überrepräsentiert waren die Kommunisten in Oppeln, wo 13,82 Prozent der Gesamtmitgliedschaft, aber nur 8,73 Prozent der Einwohner lebten.

2.3 Die Entwicklung der Mitgliedschaft in den BezirkenEine kontinuierliche Übersicht über die jährliche Mitgliederentwicklung auf gleich bleibender Berechnungsgrundlage ist bis heute ein Desiderat geblieben. Die bisher in der Forschung angeführten Mitgliederzahlen der KPD sind als punktuelle Zufallsfunde viel zu disparat. In der Aufstellung Hermann Webers folgt etwa auf die Zahl vom vierten Quartal 1924 eine zum Stichtag 1. April 1925. Bei den von Ossip K. Flechtheim zusammengetragenen und zuletzt von Klaus-Michael Mallmann ergänzten Mitgliederzahlen der KPD handelt es sich außerdem teils um Angaben über eingetragene und teils um solche über abge-

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 61

rechnete Mitglieder - werden eigentlich nicht vergleichbare Kategorien mitein-ander gleichgesetzt.114

Im Prinzip gab es in der KPD zwei verschiedene Arten der Mitgliederzählung. Das Ziel bestand eigentlich darin, einen vollständigen Überblick über die Ge-samtzahl der eingeschriebenen Mitglieder zu erreichen. Um dies zu gewährleis-ten, führte die Zentrale im Herbst 1921 die so genannten Kartothekkarten ein, wovon in den Basiseinheiten für jedes Mitglied eine anzulegen war. Die ordent-liche und kontinuierliche Führung der Kartothek scheint vielen Funktionären aber zu zeitaufwendig gewesen zu sein. So stellte sich zum Beispiel bei einer Kontrolle der Ortsgruppe Bochum im Oktober 1925 heraus, dass dort gar keine Kartothek vorhanden war, weshalb die Mitgliederzahl nur geschätzt werden konnte.115

Man kann wohl davon ausgehen, dass wenn auch nicht alle, so doch der über-wiegende Großteil der Mitglieder zumeist beim Parteibeitritt im Zusammenhang mit der Ausstellung eines Mitgliedsbuches einmal karteimäßig erfasst worden ist. Die Probleme einer Berechnung der Gesamtmitgliederzahl liegen demnach weniger auf der Zugangs- als auf der Abgangsseite: bei der Streichung von Mit-gliedern etwa nach dem Tod, vor allem aber nach dem Parteiaustritt. Da die un-teren Einheiten keine laufende Austrittsstatistik führten und Austritte auch nicht immer regelrecht erklärt wurden, konnte man über die jeweilige Zahl wirklich vorhandener Mitglieder nur spekulieren. Verschärft wurde dieses Problem da-durch, dass neue Genossen oft schon nach Wochen - teilweise noch vor der Aus-stellung eines Mitgliedsbuchs - schon wieder ausgetreten waren, was etwa im Bezirk Berlin-Brandenburg für 3.170 der 6.057 im Jahr 1928 eingetretenen Mit-glieder zutraf.116

Die Mitgliederstatistik der KPD hat daher immer einen gewissen Prozentsatz an längst nicht mehr der Partei angehörenden ehemaligen Mitgliedern mitge-schleppt. Die auf der Basis der Kartotheken gewonnenen Angaben über die Mit-gliedschaft sind also immer Artefakte, weshalb auch Mallmanns Warnung vor allzu stark gerundeten Mitgliederangaben aus der KPD etwas in die Irre geht.

114 Weber: Wandlung I, S. 363. Flechtheim: KPD, S. 347. Mallmann: Kommunisten, S. 87.115 Dies scheint im Übrigen keineswegs eine Bochumer Spezialität gewesen zu sein. Ursula Büttner zitiert in ihrer Arbeit über die KPD in Hamburg aus einem dem sozialdemokratischen „Hamburger Echo“ zugespielten, und am 30. Oktober 1928 veröffentlichten Stimmungsbe-richt aus der KPD: „In ganzen Stadtteilen fehlt jegliche Kontrolle, Kartotheken sind in alle Winde zerstreut, Kassenberichte völlig überflüssig, die Beitragskassierer wechseln wie der Sand am Meer.“ (Ursula Büttner: Politik und Entwicklung der KPD in Hamburg 1924-1933, in: A. Voß/U. Büttner/H. Weber: Vom Hamburger Aufstand zur politischen Isolierung. Kom-munistische Politik 1923-1933 in Hamburg und im Deutschen Reich, Hamburg 1983, S. 55-184, hier: S. 62). Während der Illegalität der Partei 1923/24 wurden außerdem in großem Maßstab Kartothekkarten vernichtet, um der Polizei keine Handhabe gegen die Mitglieder zu liefern.116 SAPMO-BArch RY1/I2/4/6, Bl. 9.

62 2.3 Die Entwicklung der Mitgliedschaft in den Bezirken

Die scheinbar bis auf die Einerstellen genauen Zahlen sind nicht mehr als in-formierte Schätzungen.117

Tabelle 7: Abgerechnete Mitglieder der KPD 1921-1932 (Jahresdurch-schnitt)Jahr Reich Berlin Ruhrgebiet Westsachsen Pommern Oberschlesien 1921 126.710 17.178 7.793 10.588 2.2361922 166.537 23.146 16.270 8.317 1.6551923 184.460 30.169 17.564 9.456 1.5611924 117.118 19.522 7.966 7.854 1.005 4691925 125.978 18.452 8.993 9.784 966 5741926 129.822 17.896 8.891 8.188 1.865 8011927 122.516 17.369 8.262 7.405 1.721 8341928 121.734 19.639 8.409 9.392 1.824 7911929 118.661 18.484 8.046 1.824 9321930 130.826 21.233 11.163 2.416 1.0101931 210.833 24.600 20.070 3.655 1.8891932 282.571 31.834 29.888

Quellen: Reich: SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 173 (Halbjahreszahlen 1921-29), I2/4/33, Bl. 234 (Halbjahreszahlen 1930-32) [1932 nur 1. Halbjahr]. Bezirke: I2/4/27, Bl. 201 (1.1926-5.1927) [Jahresdurchschnitte nach Monatsangaben berechnet]. Berlin: I3/1-2/23, Bl. 38 (1.-12.1922), I3/1-2/71, Bl. 143f. (3.1924-10.1926), I3/1-2/23, Bl. 169 (1.-9.1927), I3/1-2/74, Bl. 34 (1.1929-10.1930), I3/1-2/70, Bl. 146 (1.-9.1932) und diverse Si-gnaturen [Berechnungsgrundlage bei unvollständigen Monatsdaten: 1928 vier Monate, 1923, 1924, 1930 und 1932 je zehn sowie 1931 elf]. Ruhrgebiet: I3/20-21/11, Bl. 204 (1.-11.1926), I3/18-19/29 Bl. 135 (1.1929-11.1930), I3/18-19/29 Bl. 183 (10.1931-3.1932) und diverse Signaturen [Berechnungsgrundlage: 1932 drei, 1922 fünf, 1923 sieben, 1921 und 1931 je neun, 1924 und 1925 je zehn, 1927 und 1930 je elf Monate]. Westsachsen: di-verse Signaturen [Berechnungsgrundlage: 1922 fünf, 1923 neun, 1925 zehn, 1927 elf Mo-nate]. Pommern: I3/3/2 Bl. 40 (8.1924-3.1925), I3/3/7, Bl. 29 (11.1927-12.1928), I3/3/27 Bl. 56 (1.1929-10.1930) und diverse Signaturen [Berechnungsgrundlage: 1922 und 1931 je sechs, 1923 acht, 1924 und 1930 je zehn Monate)]. Oberschlesien: diverse Signaturen [Be-rechnungsgrundlage: 1924 sieben, 1931 sechs, 1930 zehn, 1925 und 1927 je elf Monate.]

Ich habe daher bei der Berechnung der durchschnittlichen Jahresmitgliedschaft auf die Angaben über die Mitgliederabrechnung (Tabelle 7) zurückgegriffen.118 Um die Zahl der abgerechneten Mitglieder eines Monats zu ermitteln, wurde in der KPD der gesamte Monatsumsatz an Beitragsmarken eines Bezirks durch

117 Mallmann: Kommunisten, S. 183.118 Leider lässt die Regelmäßigkeit der Überlieferung der monatlichen abgerechneten Mit-gliedschaft in den Quellen oft zu wünschen übrig, weshalb ich die Berechnung des Jahres-durchschnitts in vielen Fällen auf der Basis von weniger als 12 Monatsangaben vornehmen musste. Die obige Übersicht ist dennoch informativer als die Summe der bisher vorliegenden disparaten Informationen.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 63

eine vorher von der Kassenabteilung des ZK festgelegte Zahl an Wochen geteilt, da die Beiträge wöchentlich erhoben wurden (vgl. Abschnitt 3.3.5.1).

Die Angaben über abgerechnete Mitglieder erfassen nicht alle eingeschriebenen Mitglieder, da es der KPD in keinem einzigen Monat gelang, einmal alle Mit-glieder zu kassieren. So gab es im August 1926 im Bezirk Westsachsen angeblich insgesamt 8.703 eingeschriebene Mitglieder, von denen aber nur 7.619 abgerechnet werden konnten (87,54 Prozent). Im Bezirk Ruhrgebiet sollen 1931 durchschnittlich 88 Prozent der Mitglieder regelmäßig kassiert worden sein, während es im Bezirk Oberschlesien mit seiner im Vergleich zu anderen Industrieregionen schlechter bezahlten Arbeiterschaft laut ZK-Angaben im Sep-tember 1925 nur siebzig Prozent waren.119 In der Gesamtpartei werden monat-lich durchschnittlich etwa achtzig bis neunzig Prozent der eingeschriebenen Mit-glieder kassentechnisch erfasst worden sein (vgl. Abschnitt 3.3.5.2).120

Hinter dieser Durchschnittsquote verbirgt sich jedoch ein teilweise beträchtli-ches Schwanken des durch die Abrechnung erfassten Mitgliederanteils von Mo-nat zu Monat. Wenn etwa Teile der Mitgliedschaft nicht geleistete Beiträge auf einen Schlag nachzahlten, konnte die Abrechnungsquote sogar auf über einhundert Prozent (der theoretischen Gesamtmitgliedschaft) steigen. Aber nicht nur die Beitragsdisziplin der einzelnen Genossen, auch das Engagement der Ortsgruppenkassierer ließ zu wünschen übrig. In diesem Sinne handelt es sich also auch bei den Angaben über abgerechnete Mitglieder um Artefakte. Ihre mo-natlichen Schwankungen können aber durch die Bildung von Jahresdurch-schnittszahlen ausgeglichen werden. Sie haben außerdem gegenüber den theore-tischen Angaben zur Gesamtmitgliedschaft den entscheidenden Vorzug, dass die Methode ihrer Ermittlung bekannt ist und über die Jahre immer die Gleiche war.

Nach den von mir ermittelten Durchschnittszahlen hat die KPD 1923 in Bezug auf die abgerechneten Mitglieder einen ersten Höhepunkt erreicht, verharrte bis etwa 1930 auf einem Stand von 120.-130.000 Mitgliedern, und wuchs dann wieder rapide an. Dies entspricht im Großen und Ganzen auch den bisherigen Erkenntnissen über die Mitgliederentwicklung der KPD. Überraschend sind demgegenüber die Angaben zum Jahr 1921. Eine Aufstellung der Organisations-abteilung des ZK von Ende 1926 jedenfalls gibt die Zahl der abgerechneten Mit-glieder im März 1921 mit 77.078 an. Seit Flechtheim wurde in der Forschungsli-

119 Auf einer Sitzung der Bezirksleitung Oberschlesien meinte Arthur Wyschka, der Agit-propleiter der BL, dass die Ortsgruppen durchschnittlich 50-80 Prozent ihrer Mitglieder ab-rechnen würden. Die Extreme dabei wären die Ortsgruppe Cosel, die 100 Prozent, und die Ortsgruppen Beuthen und Zaborze, die gar nichts abrechnen und die Beitragsanteile der Be-zirksleitung und des ZK einfach einbehalten würden (SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 53).120 SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 419. Materialien zum Bezirksparteitag Ruhrgebiet im Dezember 1932 (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 174). Bezirks-Information Nr. 4, 19.12.1925 (SAPMO-BArch RY1/I2/706/5, Bl. 28).

64 2.3 Die Entwicklung der Mitgliedschaft in den Bezirken

teratur für den März 1921 aber immer von einer Gesamtmitgliederzahl von 359.000 ausgegangen.121

Wie ist nun diese ausgeprägte Diskrepanz zu erklären, die sich ja auf der Ebene der Bezirke wiederholt? Ich nehme an, dass der Kassiererapparat der VKPD, der im Großen und Ganzen immer noch der alte Apparat der kleinen KPD war, mit der Bewältigung der Mitgliedermassen einfach überfordert war. Für diese These spricht auch die Übereinstimmung der obigen Angaben mit den Mitgliederzahlen der KPD vor der Vereinigung (Oktober 1920 78.715). Dem-nach wäre es der VKPD also erst im Sommer 1921 gelungen, die allgemeine Kassierung der Mitglieder zu erreichen.

Die hier untersuchten Bezirke umfassten über die Jahre zwischen 23,82 (1931) und 32,90 Prozent (1928) der abgerechneten Gesamtmitgliedschaft der KPD. Dem größten Bezirk Berlin-Brandenburg waren fast ein Sechstel der KPD-Mit-glieder im Reich angeschlossen, den Bezirken Ruhrgebiet und Westsachsen rund sieben bzw. acht Prozent. Für die beiden einwohnerschwachen Diasporabezirke Pommern und Oberschlesien, die 1928 1,50 bzw. 0,65 Prozent der Gesamtmit-gliedschaft organisierten, blieben solche Mitgliederzahlen utopisch.

Interessant sind auch die Veränderungen der durchschnittlich abgerechneten Mitgliederzahl über die Jahre. So hatte der Bezirk Ruhrgebiet überdurchschnitt-lich unter der Abwanderung von Mitgliedern während der Illegalität der Partei vom 23. November 1923 bis zum 28. Februar 1924 zu leiden, die im Bezirk Westsachsen moderat ausfiel. Während der Weltwirtschaftskrise verdoppelten die drei kleineren Bezirke ihre Mitgliedschaft, und wuchsen damit um einiges schneller als etwa der Bezirk Berlin-Brandenburg. Der Bezirk Pommern schließ-lich konnte 1927-30 durchgängig ein überdurchschnittliches Mitgliederwachs-tum erreichen, mit dem er seinen Anteil an der abgerechneten Gesamtmitglied-schaft von 1,40 Prozent auf 1,85 Prozent steigern konnte.

Um auch eine Vorstellung davon zu vermitteln, welche Varianz sich hinter diesen Jahresdurchschnittszahlen verbirgt, habe ich die komplett überlieferten durchschnittlichen abgerechneten monatlichen Mitgliederzahlen der Bezirke des Jahres 1926 angegeben (Tabelle 8). Auf den ersten Blick erkennt man die starke Schwankungsbreite. Dabei fällt vor allem die Entwicklung des Bezirks West-sachsen auf. Dort wurden im Januar nur 43,53 Prozent der durchschnittlichen abgerechneten Mitglieder des Jahres erreicht, während es im Dezember 1926 stolze 202,83 Prozent waren - also ein Wachstum auf das mehr als vierfache der Mitgliedschaft vom Januar.

121 Flechtheim: KPD, S. 347.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 65

Tabelle 8: Abgerechnete Mitglieder in den Bezirken 1926Monat Berlin Ruhrgebiet Westsachsen Pommern OberschlesienJanuar 17.390 4.746 3.564 1.593 560Februar 16.192 7.677 10.836 1.723 748März 17.467 9.814 6.205 1.561 817April 21.962 8.783 9.194 2.042 772Mai 18.478 9.628 8.091 1.803 748Juni 13.828 9.095 6.903 1.954 820Juli 16.359 9.087 8.864 1.843 750August 16.574 9.225 7.620 1.968 886September 16.225 9.656 5.906 1.577 773Oktober 17.386 9.346 7.343 2.189 1.000November 18.935 9.578 7.121 2.405 898Dezember 23.950 10.052 16.608 1.720 839Durchschnitt 17.896 8.891 8.188 1.865 801

Quellen: Siehe Tabelle 7.

Da dieser Effekt zu stark ist, um in dieser Phase der Stagnation der KPD-Mit-gliederzahl allein auf dem Beitritt neuer Mitglieder zu beruhen, muss er auf die Schwankungen der Beitragsdisziplin zurückgeführt werden. Nicht nur im Bezirk Westsachsen scheint es unter den KPD-Mitgliedern üblich gewesen zu sein, im Dezember ausstehende Beiträge nachzuzahlen und dies dann im Januar durch eine starke Zurückhaltung wieder auszugleichen. Schon im Dezember 1925 war in Westsachsen ein Spitzenwert von 17.323 abgerechneten Mitgliedern ermittelt worden, auf den im Januar ein Rückgang auf fast ein Fünftel (3.564) folgte. Das gleiche wiederholte sich ein Jahr später im Januar 1927, als die westsächsische KPD nur noch knapp fünfzig Prozent der Mitglieder vom Vormonat kassieren konnte (8.351 abgerechnete Mitglieder). Auch die Bezirke Berlin-Brandenburg und Ruhrgebiet erreichten im Dezember den Mitglieder- bzw. Beitragshöhe-punkt. In Pommern war es der November und in Oberschlesien der Oktober - wobei die oberschlesische Mitgliederzahl wahrscheinlich nur geschätzt war. Der Bezirk Pommern weist in Bezug auf die Entwicklung der Monatszahlen von allen fünf Bezirken die geringste Schwankungsbreite auf, der Höchstwert vom November liegt nur um 54,07 Prozent über dem Tiefstwert vom März.122

2.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft2.4.1 Die Reichskontrolle von 1927Umfangreiches Quellenmaterial über die Zusammensetzung der Mitgliedschaft bieten die ab 1927 durchgeführten Mitgliederbefragungen - im viel sagenden Parteijargon „Reichskontrolle“ genannt. Dabei handelt es sich freilich nicht um

122 Vgl. zu den Beitragskonjunkturen auch Abschnitt 3.3.5.2.

66 2.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft

Daten, die unreflektiert benutzt werden sollten, wie es etwa bei Hartmann Wunderer, der 1975 die erste ausführliche Analyse auf Grundlage der Reichs-kontrolldaten vorgelegt hat, oder zuletzt bei Mallmann und Weitz festzustellen ist.123

Über die Hintergründe der Reichskontrollen der KPD lagen der Forschung bisher kaum Informationen vor. Eine Einschätzung der Validität ihrer Ergeb-nisse war auf dieser unzureichenden Basis nicht möglich. Das nun von mir erst-mals herangezogene interne Quellenmaterial über die Durchführung der Reichs-kontrolle, bietet die Möglichkeit, hinter die Kulissen zu schauen, und zu erfah-ren, wie die Reichskontrollen durchgeführt wurden und damit wie die Ergeb-nisse überhaupt zustande kamen. Ein Exemplar des den Mitgliedern 1927 vorge-legten Fragebogens konnte ich leider nicht ausfindig machen. Die unmittelbar an der Basis gewonnen konkreten Ergebnisse müssen wohl als verloren gelten; was erhalten blieb, sind immer schon aggregierte Daten.

Ursprünglich sollte die Reichskontrolle von 1927, die unter anderem das Ziel hatte, „den Einfluß der Partei in den Betrieben, das gewerkschaftliche Organisa-tionsverhältnis der Mitgliedschaft und ihre Zugehörigkeit zu anderen prole-tarischen Organisationen festzustellen“, zwischen dem 1. und dem 25. April 1927 durchgeführt werden.124 Bei der Festlegung des Abschlusstermins scheinen aber extreme Optimisten am Werk gewesen zu sein. Er konnte natürlich nicht eingehalten werden und wurde schließlich mehrfach verschoben. Am 3. Juni 1927 wies etwa die Bezirksleitung Westsachsen in einem Rundschreiben die Leipziger Genossen darauf hin, dass die Fragebogen bis zum 15. Juni ausgefüllt sein müssen. Sie musste aber schon bald den Abgabetermin bis zum 1. Oktober 1927 verlängern. Trotz aller terminlichen Zugeständnisse an die unwilligen Ge-nossen in Westsachsen, fand in zehn Ortsgruppen und 13 Betriebszellen des Un-terbezirks Leipzig die Reichskontrolle 1927 überhaupt nicht statt. Die pommer-sche Bezirksleitung räumte in ihrem Monatsbericht an das ZK von Juli 1927 ein, dass sich der Abschluss der Mitgliederbefragung im Bezirk noch verzögere, da der zuständige Genosse aus „Eheangelegenheiten“ die Partei verlassen habe. Im gleichen Monat berichtete die oberschlesische Bezirksleitung, dass die Reichs-kontrolle im Bezirk „vollkommen zusammengebrochen“ sei. Merkwürdiger-weise behauptete ebenfalls im Juli 1927 die Organisationsabteilung des ZK, entweder aus Unkenntnis oder um sich keinen Rüffel der Parteiführung oder des

123 Hartmann Wunderer: Materialien zur Soziologie der Mitgliedschaft und Wählerschaft der KPD zur Zeit der Weimarer Republik, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie, Band 5, Frankfurt am Main 1975, S. 257-281. Mallmann: Kommunisten, Abschnitt 3.2. Weitz: Communism, S. 245.124 1927 wurde auch in der KPdSU eine Parteizählung durchgeführt (Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917 bis 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialis-tischen Staates, München 1998, S. 212).

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 67

EKKI einzuhandeln, dass es gelungen sei, die Reichskontrolle in den Bezirken zu neunzig bis hundert Prozent durchzuführen.125

Endgültig konnte die Reichskontrolle von 1927 schließlich erst am 30. Januar 1928 abgeschlossen werden. Das heißt, sie wurde nicht, wie angestrebt, von allen Bezirken zum gleichen Stichtag, „sondern zu verschiedenen Terminen durchgeführt“. Es gelang im Übrigen auch nicht, die Reichskontrolle in allen Bezirken durchzuführen. Da die Bezirke Ostsachsen und Erzgebirge-Vogtland kurz vorher erst Bezirkskontrollen durchgeführt hatten, liegen aus ihnen keine Ergebnisse vor.126

Diese Widrigkeiten bei der Abwicklung der ersten Reichskontrolle von 1927 sind sicherlich zum Teil auf die fehlende Erfahrung der KPD-Bürokraten mit der Durchführung einer solchen Befragung zurückzuführen.127 Zum größeren Teil aber lag das nur schleppende Eintreffen der Ergebnisse bei den Bezirksleitungen an der 1927 noch recht lebendigen antibürokratischen Reserve vieler Mitglieder und Funktionäre sowie an dem ausgeprägten Misstrauen gegenüber Neuerungen an der Basis. Das ZK jedenfalls rechnete klug von vornherein mit Widerstand gegenüber der Reichskontrolle: „Um diesem Widerstand zu begegnen, führte die Org[anisations]-Abteilung des ZK vorher eine gründliche politische Aufklärung über die Notwendigkeit der Kontrolle durch.“ Doch scheint die Aufklärung allein hier nicht ausgereicht zu haben, wie ein Bericht der Organisationsabtei-lung des ZK von Juli 1927 nahelegt: „Anfänglich ergaben sich Widerstände, in-dem einzelne Parteileitungen und Genossen sich der Durchführung der Kon-trolle widersetzten, diese für Bürokratismus hielten.“ Auch aus dem Bezirk Ber-lin-Brandenburg wird von Misstrauen der Genossen gegenüber der Reichskon-trolle berichtet. Dort konnten wohl auch deshalb letzten Endes nur 78,7 Prozent der abgerechneten Mitglieder erfasst werden.128

Die technische Vorgehensweise bei der Reichskontrolle wird ausführlich in einem Rundschreiben der Bezirksleitung Westsachsen vom 18. März 1927 be-schrieben.

125 Kaasch: Struktur, S. 1050. SAPMO-BArch RY1/I3/10/124, Bl. 97. Bericht des Orgbüros der Bezirksleitung Westsachsen über die Ergebnisse der Reichskontrolle (SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 444). SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 130. SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 92. SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 208.126 SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 7f.127 In einem undatierten Bericht der Org-Abteilung der BL Westsachsen von 1927 über die Reichskontrolle heißt es dazu: „Von einigen Ortsgruppen und Zellen wurde die Reichskon-trolle mangelhaft durchgeführt. Es fiel unseren Genossen schwer, sich in das Material hin-einzuarbeiten; oft fehlte auch die notwendige Zeit, so daß die Bogen zum Teil schlecht ausge-füllt waren.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 444 - Hervorhebung im Original).128 Kaasch: Struktur, S. 1051 (erstes Zitat). SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 208 (zweites Zi-tat). Bericht Bezirksleitung Berlin, November 1927 (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/23, Bl. 179).

68 2.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft

„Das Material (Reichskontrollefragebogen 1927, Hilfsbogen, Berichtsbogen sowie Erfassungsmarken) ist an die Ortsgruppen direkt gegangen. Die U.B. [Unterbezirks]- und A.G. [Arbeitsgruppen]-Leitungen sind für die Durchführung der Reichskontrolle verantwortlich. Die Ortsgruppen haben mit Unterstützung der A.G. und U.B. die Kon-trolle ihrer Mitglieder durchzuführen, den Reichskontrollfragebogen auszufüllen, dem erfaßten Mitglied die Marke in das Mitgliedsbuch (Monat März) einzukleben und die Fragebogen auf den Hilfsbogen zu übertragen. Es ist zu empfehlen, Mitgliederversamm-lungen einzuberufen und in diesen die Ausfüllung der Fragebogen vorzunehmen. Jene Mitglieder, die in den Versammlungen nicht anwesend sind, müssen in der Wohnung von den besten [!] Funktionären aufgesucht werden und erfaßt werden. Fragebogen, Hilfs- und Berichtsbogen gehen nach Abschluß der Kontrolle in den Ortsgruppen an die U.B.- bezw. A.G.-Leitungen. Diese stellt die Ergebnisse der Ortsgruppen im A.G.- oder U.B.-Maßstabe zusammen auf einem Hilfsbogen und sendet diesen, sowohl wie auch den Berichtsbogen an die Bezirksleitung.“129

Im Bezirk Ruhrgebiet konzentrierte die Organisationsabteilung der Bezirkslei-tung ihre Ressourcen so sehr auf die Reichskontrolle, dass sie sogar die Organi-sation der antiimperialistischen China-Kampagne der Abteilung für Agitation und Propaganda überlassen musste. Dort wurde das Material den Ortsgruppen und Stadtteilorganisation übrigens nicht per Post, sondern persönlich übergeben. Weiter heißt es im Bericht der Orgabteilung der Bezirksleitung vom 7. Mai 1927:

„In allen Unterbezirken wurden vor der Reichskontrolle Org-Abtlg.-Sitzungen und spä-ter Org-Konferenzen einberufen. In diesen Org-Konferenzen wurde die Durchführung der Reichskontrolle sehr gründlich besprochen. Dann wurde im ,Parteiarbeiter‘130 die Frage der Reichskontrolle aufgerollt und ständig durch Hinweisung (Kästen in der Zeitung) unterstützt. Kontrollbogen wurden nicht per Post verschickt, sondern in allen Stadtteilen und Ortsgruppen des Bezirks wurden Sitzungen der Leitungen mit den Be-triebs-, Straßenzellen-Pol- und Org-Leitern angesetzt. Zu diesen Sitzungen wurde ein Instrukteur mit dem Material der Org-Abtlg. (Fragebogen und Marken) entsandt. Eben-so wurde nach den Kontrolltagen dieses Material durch den Instrukteur wieder eingezo-gen. Die Fragebogen wurden in den Unterbezirken zusammengetragen und unverarbei-tet sind sämtliche Kontrollbogen an die Bezirksleitung weitergeleitet worden. Wir haben den Unterbezirken für diese Arbeit bestimmte Termine gesetzt, die fast restlos eingehalten worden sind. Im Bezirk [in der Bezirksleitung] haben wir dieses Material verarbeitet unter Anwesenheit des [jeweiligen] U.B.-Sekretärs und U.B.-Org-Leiters.“131

Die Bezirksleitung des Ruhrgebiets beanspruchte daher mit 98,9 Prozent reichs-weit die beste Rücklaufquote erreicht zu haben. Diese Angabe ist aber mit Si-cherheit zu hoch. Auch die scheinbar realistische Gesamtrücklaufquote von 80,81 Prozent der abgerechneten Mitglieder ist womöglich zu hoch angesetzt. In den Materialien, die die Agitprop-Abteilung des ZK den Parteilehrern 1928 oder 1929 an die Hand gab, ist nur noch von 65 Prozent der Gesamtmitgliedschaft die

129 SAPMO-BArch RY1/I3/10/124, Bl. 96.130 „Der Parteiarbeiter“ war die Funktionärszeitschrift der KPD (vgl. Abschnitt 4.2.1.2).131 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/28, Bl. 136.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 69

Rede, die durch die Reichskontrolle von 1927 erreicht worden sei. Leider ist da-mit ihre Repräsentativität ganz und gar ungeklärt.132

Insgesamt umfasste die Reichskontrolle von 1927 13 Fragenkomplexe. Ein voll-ständiges Ergebnis liegt nur aus dem Bezirk Berlin-Brandenburg vor. Aus der Gesamtpartei und den Bezirken Ruhrgebiet und Westsachsen fehlen wenige Teilangaben, während aus Pommern und Oberschlesien überhaupt nur zu der Frage nach dem Alter der Mitglieder Ergebnisse vorliegen. Was die Ebene un-terhalb der Bezirke betrifft, so konnte ich leider nur die recht unvollständigen Ergebnisse aus den Berliner Verwaltungsbezirken Friedrichshain und Kreuzberg ermitteln, sowie die kompletten Ergebnisse von 49 Ortsgruppen der drei Un-terbezirke Bochum, Hamborn und Gelsenkirchen, auf deren Basis sich die Er-kenntnisse etwas vertiefen lassen.

Tabelle 9: Reichskontrolle 1927: Altersstruktur der KPD-Mitglieder (in Prozent)

Alterskohorten (Jahre)Bezirk 18-25 26-30 31-40 41-50 über 50Berlin-Brandenburg 10,87 17,15 31,76 24,40 15,82Ruhrgebiet 9,98 20,69 33,68 22,86 12,79Westsachsen 15,72 19,28 29,98 21,58 13,44Pommern 15,66 21,52 31,31 18,69 12,83Oberschlesien 13,46 24,41 39,71 15,70 6,73Reich 12,3 19,5 32,7 21,9 13,6

Quellen: Berlin: SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/23, Bl. 179-187; Ruhrgebiet: I3/18-19/29, Bl. 73f.; Westsachsen: I3/10/125, Bl. 444ff.; Pommern und Oberschlesien: I2/4/28, Bl. 9; Reich: Kaasch: Struktur, S. 1051. Prozentangaben der Bezirke auf Basis der Mitglieder be-rechnet, die Angaben über ihr Alter gemacht haben.

Der erste Fragenkomplex der Reichskontrolle befasste sich mit der Altersstruk-tur der Mitgliedschaft (Tabelle 9). Der aus der sozialwissenschaftlichen For-schung bekannte Lebenszykluseffekt politischer Partizipation lässt sich sehr schön erkennen. Auf Grund des Zuschnitts der Alterskohorten liegt der Schwer-punkt bei der Gruppe der 31- bis 40-Jährigen, die je zwischen dreißig und vier-zig Prozent der Mitglieder umfasst.133 Dabei zeigt sich die oberschlesische KPD als eine etwas stärker von jüngeren Kohorten geprägte Bezirksorganisation als etwa die Berlin-Brandenburgs. War der übergroße Teil der oberschlesischen Mitglieder von 77,57 Prozent jünger als vierzig Jahre, so waren es in Berlin-Brandenburg ‚nur‘ 59,78 Prozent. Um einen Eindruck von der Streubreite zu

132 SAPMO-BArch RY1/I2/707/98, Bl. 2.133 Zum Lebenszykluseffekt vgl. Oskar Niedermayer: Innerparteiliche Partizipation, Opladen 1989, S. 81.

70 2.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft

vermitteln, die sich hinter diesen Durchschnittszahlen verbergen, seien hier zwei Extrembeispiele aus dem Ruhrgebiet angeführt. Dort waren insgesamt 64,35 Prozent der Mitglieder jünger als vierzig Jahre. Im Vergleich dazu war die Mit-gliedschaft der Ortsgruppe Werne schon in reichlich fortgeschrittenem Alter. Dort war eine Mehrheit von 64,44 Prozent der 45 Befragten älter als vierzig Jah-re. In der Bochumer Stadtteilorganisation V hingegen bildeten schon die 18-30-Jährigen eine Mehrheit von 62,50 Prozent der 32 Befragten, die zusammen mit den 31-40-Jährigen sogar ein Übergewicht von sechs Siebteln der Mitglieder ausmachten.134 Es ist anzunehmen, dass sich in Folge der unterschiedlichen Alters- und damit Erfahrungsstruktur bzw. der unterschiedlichen Lebenszy-klussituation und damit Interessenlage der Mitglieder in Werne und dem Bochu-mer Stadtteil V auch eine unterschiedliche Nuancierung bei der Exekution der Politik der Parteiführung finden lassen müsste.

Im Vergleich mit der Altersstruktur der Gesamtbevölkerung zum Zeitpunkt der Volkszählung von 1925 präsentiert sich die KPD als eine von recht jungen Menschen geprägte Partei. Insgesamt 64,5 Prozent der KPD-Mitglieder waren achtzehn bis vierzig Jahre alt, während bei der Gesamtbevölkerung 1925 nur 32,6 Prozent 20 bis 39 Jahre alt waren. Augenscheinlich ist die Altersstruktur der Gesamtbevölkerung nicht der richtige Maßstab zur Bewertung des ,Alters‘ der Parteimitgliedschaft. Sinnvoller ist da schon ein Vergleich mit der Mitglied-schaft ähnlicher Organisationen oder mit der erwerbstätigen Bevölkerung. Dabei zeigt sich, dass es sich bei dieser relativen Jugend der Kommunisten im Ver-gleich zur Gesamtbevölkerung keineswegs um eine Besonderheit handelte. Die Mitglieder des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV) von 1919 waren noch um einiges jünger. Von ihnen waren sogar 76,78 Prozent unter vierzig Jah-re alt. Und die männlichen Arbeiter in Industrie und Handwerk 1925 - inklusive der Lehrlinge und Jungarbeiter unter achtzehn Jahren - waren sogar zu 41,6 Pro-zent unter 25 und zu 85,4 Prozent unter 50 Jahren alt (KPD 12,3 bzw. 86,40 Pro-zent)! Der Lebenszyklus der Parteimitgliedschaft war also offenbar mit dem der Erwerbstätigkeit verknüpft.135

In Bezug auf die Angaben über die Schulbildung unterscheidet sich die Struktur der Mitglieder in den fünf untersuchten Bezirken ebenfalls nur graduell, aber doch auf interessante Weise. Von den 115.702 insgesamt befragten Mitgliedern hatten 109.454 (94,60 Prozent) lediglich die Volksschule besucht. Im Bezirk Berlin-Brandenburg waren es mit 89,27 Prozent gut fünf Prozentpunkte weniger. Dafür hatte der Berliner Bezirk auf der anderen Seite 2,42 Prozent Hochschulbesucher unter seiner Mitgliedschaft, während es im Ruhrgebiet nur 134 Ergebnisse aus den Ortsgruppen und Stadtteilen des Ruhrgebiet nach SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 208ff.135 Falter u.a.: Wahlen, S. 34. Heinrich Potthoff: Gewerkschaften und Politik zwischen Revo-lution und Inflation, Düsseldorf 1979, S. 58. Josef Mooser: Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970, Frankfurt am Main 1984, S. 37.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 71

ganze 21 Mitglieder (0,24 Prozent) auf eine Universität geschafft hatten und 98,65 Prozent nur die Volksschule besucht hatten (Westsachsen 0,60 bzw. 93,11 Prozent).136

Nicht weniger aufschlussreich sind die Angaben zur Beschäftigungsstruktur der Mitglieder der verschiedenen Bezirke. Insgesamt waren 81,65 Prozent der befragten Mitglieder des Bezirks Ruhrgebiet Industriearbeiter. 58,93 Prozent von ihnen hatten eine einschlägige Lehre absolviert (48,12 Prozent der befragten Mitglieder). Etwas kleiner war der Anteil der Industriearbeiter im Unterbezirk Gelsenkirchen (1.007 Befragte) mit 80,34 Prozent, während er in der zu diesem Unterbezirk gehörenden Ortsgruppe Recklinghausen (144 Befragte) mit 88,19 Prozent recht hoch war und im Recklinghäuser Stadtteil I (70 Befragte) sogar 98,57 Prozent erreichte. Dabei dominieren, ganz wie im Bezirk, auf allen drei Ebenen die gelernten Industriearbeiter, die sogar fast zwei Drittel der befragten Mitglieder des Stadtteils Recklinghausen I ausmachen. Allerdings muss bei der Frage nach der Absolvierung einer Lehre mit Irrtümern gerechnet werden. Wahrscheinlich haben sich etwa zahlreiche Bergarbeiter, die ja eigentlich, da es erst ab 1922 eine formalisierte Hauerausbildung gab, als angelernte Facharbeiter zu betrachten sind, möglicherweise als gelernte eingetragen, weil sie mit den Feinheiten der Unterscheidung zwischen einem Anlernberuf und einer formellen Ausbildung nicht so vertraut waren.

Um einiges kleiner war der Anteil der Industriearbeiter an der Mitgliedschaft im Bezirk Berlin-Brandenburg mit nur 59,27 Prozent. Von diesen hatte aber mit 61,51 Prozent ein wesentlich größerer Anteil eine Lehre hinter sich gebracht (36,46 der Mitglieder). Im Bezirk Westsachsen lag der Anteil der Industriearbei-ter mit 69,69 Prozent (davon 53,38 Prozent gelernte, was 37,20 Prozent der Befragten entspricht) relativ nahe am Durchschnitt der Gesamtpartei, deren Mit-glieder zu 68,10 Prozent Industriearbeiter waren (davon 58,62 Prozent gelernte, gleich 39,92 Prozent der Befragten). Die Mitgliedschaft des Bezirks Ruhrgebiet war also noch etwas ,proletarischer‘ als die der Gesamtpartei. Diese wies - im Vergleich zum Anteil der Arbeiter in Industrie und Handwerk an den Erwerbstä-tigen von 1925 von 30,56 Prozent (ohne berufslose Selbständige) und erst recht im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil von 15,68 Prozent - ohnehin schon eine äußerst homogene soziale Struktur auf.137

Nicht nur die Art der Beschäftigung und die Ausbildung der Mitglieder prägte die Partei in ihrem Alltag vor Ort in den Bezirken, sondern vielleicht noch stär-ker die Struktur, und vor allem die Größe der Betriebe, in denen die Genossen

136 Die 342 Berliner Mitglieder, die die Kategorie „Hochschule“ wählten, machten 32,85 Pro-zent aller Hochschulbesucher unter der KPD-Mitgliedschaft aus, obwohl der Bezirk insgesamt nur 12,11 Prozent der durch die Reichskontrolle erfassten Mitglieder gestellt hatte.137 Falter u.a.: Wahlen, S. 36.

72 2.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft

beschäftigt waren. Leider lassen sich hier die Antwortkategorien der Reichskon-trolle mit denen der Volkszählung von 1925 nur recht grob vergleichen. Laut Volkszählung von 1925 arbeiteten 19,8 Prozent der Arbeiter in Industrie und Handwerk in Großbetrieben mit mehr als eintausend Beschäftigten. Von den überhaupt betriebstätigen Mitgliedern der KPD, die 1927 befragt wurden (53,28 Prozent der Befragten), arbeitete mit 20,76 Prozent ein nur unwesentlich stärke-rer Anteil in den so definierten Großbetrieben. Vergleicht man damit die Ergeb-nisse auf Ebene der Bezirke, so waren im Bezirk Ruhrgebiet die in Großbe-trieben beschäftigten Genossen mit 62,95 Prozent der betriebstätigen Mitglieder stark überrepräsentiert - bei einem Anteil der betriebstätigen Genossen von 54,28 Prozent der Befragten -, während im Bezirk Berlin-Brandenburg nur 16,44 Prozent der betriebstätigen Genossen (51,7 Prozent der Befragten) in Großbetrieben arbeiteten.

Laut Volkszählung von 1925 waren 35 Prozent der Erwerbstätigen in Indus-trie und Handwerk in Kleinbetrieben mit bis zu fünfzig Beschäftigten tätig, das traf auch auf 36,35 Prozent der betriebstätigen KPD-Mitglieder zu. Im Ruhrbe-zirk arbeiteten 17,57 Prozent der betriebstätigen Mitglieder in den so definierten Kleinbetrieben und in Berliner Bezirk waren es 36,17 Prozent.

Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Verteilung der betrieb-stätigen Mitglieder der Gesamtpartei von 1927 wie der Berliner KPD recht ge-nau den Proportionen der Verteilung der Erwerbstätigen in Industrie und Hand-werk nach der Volkszählung von 1925 entspricht. Gemessen an diesem Maßstab war die KPD also mitnichten die in der Literatur so oft unterstellte Partei der Klein- und Mittelbetriebe. Es handelt sich offenbar um einen Fehlschluss, der sich darauf zurückführen lässt, dass man bisher, wie auch schon Wienand Kaasch in seiner Auswertung der Ergebnisse der Reichskontrolle, immer nur die Verteilung der KPD-Mitglieder selbst betrachtet hat. Die KPD hatte unbestritten ihren - seitens der Führung vielfach beklagten - Schwerpunkt in den Betrieben mit bis zu 1.000 Beschäftigten (79,69 Prozent), doch stimmte ihre Mitglied-schaft darin mit der Gesamtarbeiterschaft in Industrie und Handwerk (80,20 Pro-zent) fast exakt überein. Anders die KPD im Ruhrgebiet, die 1927 genau wie die KPD im Saargebiet, eine Partei mit dem Schwerpunkt in den Großbetrieben war, aber damit wohl auch nur die besondere Betriebsstruktur der Region wider-spiegelte.138

Gewerkschaftlich organisiert waren 61,7 Prozent der Mitglieder der Gesamt-partei. Im Vergleich mit dem Organisationsgrad der Arbeiter von 30,7 Prozent (1925), war das eine recht ansehnliche Quote.139 Den höchsten Anteil an Ge-werkschaftsmitgliedern hatte der Bezirk Westsachsen (74,63 Prozent), der damit

138 Mooser: Arbeiterleben, S. 45. Kaasch: Struktur, S. 1055. SAPMO RY1/I3/18-19/29 Bl. 73. Weber: Wandlung I, S. 269. Mallmann: Kommunisten, S. 203.139 Mooser: Arbeiterleben, S. 192.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 73

der zweitbeste Bezirk insgesamt war. Dieses Ergebnis spiegelt wohl die dort schon früh stattgefundene Milieuentwicklung wieder, umgekehrt gilt das auch für die Bezirke Ruhrgebiet und Oberschlesien, in denen sich die Gewerkschaften erst sehr spät durchsetzen konnten. Dementsprechend weisen sie auch nur Organisationsquoten von 49,95 bzw. 47,69 Prozent auf. Dazu wieder ein Blick in die Ergebnisse aus den Orts- und Stadtteilgruppen des Ruhrgebiets. Hier bilden die beiden Bochumer Stadtteile III und IV die Extreme, wenn man, um Zufallseffekte auszuschließen, nur Einheiten mit mehr als zwanzig Befragten be-rücksichtigt. Während 70 Prozent der 70 Befragten des Bochumer Stadtteils IV organisiert waren, waren es nur 23,68 Prozent der 38 befragten Genossen des benachbarten Stadtteils III.

Der Bezirk Pommern lag in Bezug auf die Organisationsquote mit 60,41 Pro-zent nahe am Durchschnitt. Angesichts der Schwäche des Deutschen Landarbei-ter-Verbandes im Jahr 1927 ist das ein Indiz dafür, dass auch im Agrarbezirk Pommern die Industriearbeiterschaft die Hauptträgerschicht der KPD-Basis bildete. Für den Bezirk Berlin-Brandenburg liegen zwei unterschiedliche Zah-lenangaben vor, nach denen die Organisationsquote bei 65,47 bzw. 72,26 Pro-zent lag. Insgesamt waren 1927 ca. 71.000 KPD-Mitglieder zumeist freigewerk-schaftlich organisiert. Sie bildeten damit einen marginalen Anteil von 1,71 Pro-zent der Gesamtmitgliedschaft des ADGB.140

Zwischen 85 und 100 Prozent der organisierten Mitglieder in den Bezirken machten außerdem Angaben zu der Gewerkschaft, der sie angehörten. Mit ins-gesamt 17,73 Prozent war auf Reichsebene die größte Gruppe der organisierten Genossen dem DMV angeschlossen. In den Bezirken gehörten ihm zwischen 18,73 (Oberschlesien) und 30,11 Prozent (Berlin-Brandenburg) der organisierten KPD-Mitglieder an. Im Bezirk Oberschlesien und noch mehr im Bezirk Ruhrge-biet dominierten erwartungsgemäß die Mitglieder des Deutschen Bergarbeiter-Verbandes (BAV) mit 33,43 bzw. 46,14 Prozent (Reich 4,06 Prozent der organisierten Genossen). Bemerkenswert ist auch der hohe Anteil an Mitglie-dern des Baugewerksbundes (BGB) in den Bezirken Westsachsen (17,52 Pro-zent) und Pommern (16,97 Prozent) (Reich 7,27 Prozent).141

Ebenfalls sehr aufschlussreich sind die Angaben über das Beitrittsjahr zur Ge-werkschaft. So sind 11,10 Prozent der Gesamtmitgliedschaft zwischen 1919 und 1920 ihrem Verband beigetreten. Bei ihnen dürfte es sich zum größten Teil er-neut um die durch Krieg und Revolution politisierten Arbeiter handeln, die in jenen Jahren zur Verfünffachung der Mitgliederzahl der Freien Gewerkschaften

140 Zahl der ADGB-Mitglieder von 1927 nach Hagemann: Frauenalltag, S. 469. Nach einer Aufstellung der ZK-Orgabteilung zur Reichskontrolle von 1927 (SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 18) waren in Berlin 10.127 Mitglieder gewerkschaftlich organisiert, wäh-rend es nach dem Bericht der Berliner Bezirksleitung über die Ergebnisse der Reichskontrolle nur 9.175 Genossen waren (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/23, Bll. 179-187).141 Kaasch: Struktur, S. 1060. Gerhard Laubscher: Die Opposition im Allgemeinen Gewerk-schaftsbund 1918-1923, Frankfurt am Main 1979, S. 27.

74 2.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft

beigetragen haben. Zu ihnen zählten 13,04 Prozent der befragten Mitglieder des Bezirks Westsachsen, 9,05 Prozent aus Berlin-Brandenburg, aber nur 8,05 Pro-zent der Genossen aus dem Ruhrgebiet. Die 10,81 Prozent der Mitglieder, die zwischen 1921 und 1925 einer Gewerkschaft beigetreten waren (Berlin-Brandenburg 14,41, Westsachsen 13,70 und Ruhrgebiet 10,04 Prozent) haben sich demgegenüber eher antizyklisch verhalten, da sie in einer Phase des Mit-gliederrückgangs eingetreten sind. Interessanter ist aber wohl der Anteil der Mit-glieder, die schon vor dem Ersten Weltkrieg einer Gewerkschaft beigetreten waren, und die also schon mindestens vier Jahre Gewerkschaftsmitglieder ge-wesen waren, bevor die KPD überhaupt gegründet wurde. Das waren 25,55 Pro-zent der Gesamtmitgliedschaft und 41,41 Prozent der organisierten Mitglieder. Ihr Anteil an den Mitgliedern der einzelnen Bezirke liegt zwischen 32,42 (West-sachsen) und 17,58 Prozent (Ruhrgebiet) - was wieder einmal die unterschiedli-che Milieuentwicklung in den beiden Bezirken widerspiegelt. Ein recht hoher Anteil der KPD-Mitglieder von 1927 wurde also in seinem Organisationsverhal-ten durch eine Gewerkschaft, und nicht durch die Kommunistische Partei ge-prägt.

Aus den Unterbezirken des Bezirks Ruhrgebiet liegen außerdem sehr auf-schlussreiche Angaben über die gewerkschaftliche und betriebliche Veranke-rung der Mitglieder vor, die wohl dort im Rahmen der Reichskontrolle gleich mit erhoben worden sind. Danach waren 52,42 Prozent der Mitglieder des Ruhr-bezirks Betriebsarbeiter. Ihr Anteil lag in den einzelnen Unterbezirken zwischen 45,82 (Essen) und 59,50 Prozent (Buer). Insgesamt waren 48,80 Prozent142 der Gesamtmitgliedschaft des Bezirks, und zwischen 43,56 (Bochum) und 54,59 Prozent (Duisburg) der Mitglieder der einzelnen Unterbezirke gewerkschaftlich organisiert. Die Zahl der organisierten Mitglieder machte maximal 93,08 Pro-zent der Betriebsarbeiter im Bezirk und lag auf der Ebene der Unterbezirker ma-ximal zwischen 73,22 (Buer) und 117,22 Prozent (Essen). Nur im Unterbezirk Essen also war wahrscheinlich noch ein erklecklicher Teil der aus dem Arbeits-leben ausgeschiedenen Genossen in der Gewerkschaft verblieben.

Aufschlussreicher noch sind die Angaben zu den Funktionen der Mitglieder im Bezirk Ruhrgebiet. Insgesamt hatten 5,78 Prozent von ihnen Betriebsrats-funktionen und 9,92 Prozent gewerkschaftliche Funktionen. Von den 791 Ge-nossen mit gewerkschaftlichen Funktionen waren 70 erste Vorsitzende einer Zahlstelle oder einer Ortsverwaltung. In den Unterbezirken des Ruhrgebiets lag der Anteil der Gewerkschaftsfunktionäre an den Mitgliedern zwischen 6,72 (Dortmund) und 13,73 Prozent (Hamm), und der Anteil der Betriebsräte zwi-schen 2,66 (Essen) und 10,32 Prozent (Bochum). Da die Anzahl der gewerk-schaftlich organisierten Mitglieder ein sinnvollerer Maßstab zur Bewertung der Anzahl der Gewerkschaftsfunktionäre ist als die Gesamtzahl der Mitglieder, sei 142 Bei der Übermittlung von Daten waren offenbar genau einhundert organisierte Mitglieder verloren gegangen oder vorher versehentlich addiert worden.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 75

ihr Verhältnis hier noch kurz angegeben. Im Bezirk Ruhrgebiet waren maximal 20,33 Prozent der kommunistischen Gewerkschaftsmitglieder auch Gewerk-schaftsfunktionäre. In den einzelnen Unterbezirken waren es zwischen 14,17 (Dortmund) und 30,98 Prozent (Hamm). Die Zahl der kommunistischen Be-triebsräte wiederum ist aussagekräftiger, wenn man sie auf Basis der Betriebs-arbeiter prozentuiert. So waren im Gesamtbezirk 11,03 Prozent der kommunis-tischen Betriebsarbeiter auch Betriebsräte, während es in den Unterbezirken zwischen 5,52 (Dortmund) und 17,99 Prozent (Bochum) waren.143

Tabelle 10: Reichskontrolle 1927: Mitgliedschaft in proletarischen Organisationen

Organisation (in Prozent)

BezirkRote Hilfe

Genossen-schaft

Frei-denker RFB Sport Mieter IAH

Klein-gärtner

Berlin-Brdbg. 62,64 31,49 43,12 16,20 12,11 5,22 7,25 4,45Ruhrgebiet 56,01 25,91 34,54 33,97 5,93 11,22 6,27 0,79Westsachsen 72,28 35,50 39,20 18,59 20,09 10,29 4,89 5,50Reich 55,58 32,87 31,28 22,11 15,74 9,73 4,93 3,09

Quellen: Siehe Tabelle 9. Zahlen berechnet auf der Basis der Gesamtteilnehmer.

Da die Parteiführung mit der Reichskontrolle von 1927 auch den Einfluss der KPD in den Organisationen des Arbeitermilieus ermitteln wollte, hat sie auch die Mitgliedschaft der Genossen in den wichtigsten anderen proletarischen Organisationen erhoben (Tabelle 10). Demnach war jedes befragte Mitglied der KPD im Reich 1927 im Durchschnitt noch weiteren 1,84 Organisationen ange-schlossen. Addiert man dazu die Gewerkschaftsmitgliedschaften, waren sie so-gar durchschnittlich jeweils 2,45 proletarischen Organisationen angeschlossen - wobei auch hier unter Berücksichtigung einer unbekannten Anzahl von Ant-wortausfällen die wirkliche Zahl der Vereinsmitgliedschaften wohl noch etwas höher liegen dürfte. Am höchsten war diese Quote - angesichts der höchst unter-schiedlichen Milieuentwicklung in den drei Bezirken, aus denen Ergebnisse vor-liegen, nicht überraschend - im Bezirk Westsachsen mit durchschnittlich 2,13 bzw. 2,88 Mitgliedschaften. Im Bezirk Berlin-Brandenburg waren es 1,94 bzw. 2,57 und im Bezirk Ruhrgebiet ,nur‘ 1,82 bzw. 2,32 durchschnittliche Ver-einszugehörigkeiten pro Mitglied. Die Extreme unter den größeren Orts- und Stadtteilgruppen des Ruhrgebiets bildeten die Ortsgruppe Hattingen mit 2,84 bzw. 3,53 durchschnittlichen Vereinszugehörigkeiten jedes der 43 Befragten und die Oberhausener Stadtteilgruppe Altstaden mit nur 0,85 bzw. 1,36 durchschnitt-lichen Mitgliedschaften der 33 Befragten.

Diese Zahlen werden noch aussagekräftiger, wenn man sie mit dem Anteil der in proletarischen Vereinen überhaupt organisierten Arbeiter vergleicht, was bis-

143 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/55, Bl. 95f.

76 2.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft

her noch nicht unternommen worden ist. Leider sind die Mitgliederzahlen der reichsweiten Dachverbände oft nur bruch-stückhaft überliefert. Für das Jahr 1928 sind immerhin die Mitgliederzahlen von 14 bedeutenden Arbeiterfreizeit-organisationen bekannt. Diesen waren insgesamt 9.269.638 Menschen ange-schlossen.144 Rechnet man kurzerhand die 446.013 Mitglieder des Verbandes der Freidenker für Feuerbestattung (VFF) und die 30.000 Mitglieder der Internatio-nalen Arbeiterhilfe (IAH) aus dem Vorjahr hinzu, kommt man auf 9.745.651 Mitglieder in den größten und wichtigsten Milieuorganisationen. Diesen fast zehn Millionen Menschen stehen insgesamt laut Volkszählung von 1925 14.434.355 erwerbstätige Arbeiter (ohne Angehörige) gegenüber. Das heißt, dass - unter der Annahme, dass nur Arbeiter in den Vereinen organisiert waren und dass kein einziger Arbeiter in mehr als einem Verein Mitglied war - 67,52 Prozent der Arbeiter in diesen proletarischen Sport- und Kulturvereinen organisiert gewesen wären. Legt man nur die Summe der Arbeiter aus Industrie und Handwerk zu Grunde, waren maximal 99,61 Prozent von ihnen diesen Vereinen angeschlossen. Die Kommunisten von 1927 waren also in einem viel höherem Maße in den Vereinen des Arbeitermilieus organisiert, als die Arbeiter insgesamt.

Zieht man nun die Verbände heraus, zu denen sowohl Zahlen zur Gesamtmit-gliedschaft 1927/28 als auch Ergebnisse der Reichskontrolle vorliegen, kommen wir auf insgesamt 9.277.115 Mitglieder, von denen - ungeachtet der Mehrfach-mitgliedschaften - 263.210 Kommunisten waren (2,84 Prozent). Lässt man die Freien Gewerkschaften außen vor, bleiben 4.623.529 Mitglieder übrig, von denen 191.822 Kommunisten waren (4,15 Prozent). Die KPD-Mitglieder waren also in den proletarischen Sport- und Kulturorganisationen noch um einiges stär-ker verankert als in den Freien Gewerkschaften (1927 1,53 Prozent). Was die einzelnen Organisationen betrifft, so waren zwar ,nur‘ 1,36 Prozent der Mitglie-der der ZdK-Konsumgenossenschaften auch Mitglieder der KPD, aber 3,19 Pro-zent der Mitglieder des ATSB, 5,32 Prozent der Mitglieder des Arbeiter-Samari-ter-Bundes, wegen der Vielzahl von Freidenkerverbänden maximal 8,11 Prozent des VFF und sogar 21,29 Prozent der Mitglieder des Arbeiter-Schützen-Bundes.

Dass die Organisationsquoten der Mitglieder in den Milieuorganisationen, insbesondere im Vergleich zwischen dem Ruhrgebiet und Westsachsen, recht genau die historische Entwicklung des regionalen Arbeitermilieus und seiner Vereine wiedergibt, wurde oben schon ermittelt. Ich habe nun in einem weiteren Schritt die Angehörigen der kommunistischen Massenorganisationen aus der Summe der kommunistischen Mitglieder von Milieuvereinen herausgezogen.

144 Im Einzelnen sind das 4.653.586 Mitglieder der Freien Gewerkschaften, 2.803.232 der ZdK- Konsumgenossenschaften, 770.058 des Arbeiter-Turn- und Sportbundes (ATSB), 270.000 des Deutschen Arbeitersänger-Bundes (DASB), 220.316 des Arbeiter-Radfahrer-bundes „Solidarität“ (ARB), 200.000 der Roten Hilfe Deutschlands (RHD), 106.000 des Ro-ten Frontkämpferbundes (RFB), sowie 190.321 Mitglieder in sechs weiteren Verbänden (vgl. Abschnitt 5.2.2.1).

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 77

Dieses Vorgehen fördert Interessantes zu Tage. Die Kommunisten im Ruhrge-biet waren - verglichen mit ihren Genossen in Westsachsen - nicht nur generell etwas schwächer in den Arbeitervereinen verankert, sondern gehörten gleichzei-tig in einem viel höheren Maße den ab 1921 ins Leben gerufenen kommunis-tischen Milieuorganisationen an. Waren in Westsachsen ,nur‘ 34,24 Prozent der Mitglieder auch Mitglieder von RHD, RFB, RFMB, RJ, IAH und des Internatio-nalen Bundes der Opfer des Krieges und der Arbeit (IB), so waren es im Bezirk Ruhrgebiet weit überdurchschnittliche 43,69 Prozent (Gesamtpartei 34,91 Pro-zent). Von den 2,32 durchschnittlichen Mitgliedschaften der Kommunisten im Ruhrgebiet bleiben also ,nur‘ 1,88 durchschnittliche Mitgliedschaften in nicht-kommunistischen Milieuverbänden übrig, während es im Bezirk Westsachsen (2,88) immer noch 2,54 sind. Die westsächsischen Parteimitglieder waren dementsprechend, im Vergleich zu ihren Genossen aus dem Ruhrgebiet, noch stärker in den traditionellen, sozialdemokratisch dominierten Milieuorganisa-tionen vertreten, als ohnehin anzunehmen war. Für die Gesamtpartei komme ich auf eine Zahl von 2,1 und für den Bezirk Berlin auf eine von 2,23 durchschnittli-chen Mitgliedschaften in nichtkommunistischen Vereinen.

Tabelle 11: Reichskontrolle 1927: Beitrittsjahre der KPD-Mitglieder (in Prozent)

BeitrittsjahrBezirk 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927Berlin-Brandenburg 31,35 8,98 7,00 14,08 5,74 9,92 16,99 5,94Ruhrgebiet 33,33 7,79 6,34 11,25 6,06 12,10 9,35 13,78Westsachsen 26,86 15,22 7,12 15,22 6,41 9,43 13,02 6,73Reich 27,79 14,42 6,80 13,34 6,61 9,15 14,73 7,88

Quellen: Siehe Tabelle 9. Zahlen für Bezirke berechnet auf Basis der Mitglieder, die Angaben über ihr Beitrittsjahr machten.

Als letzten Aspekt der Reichskontrolle von 1927 möchte ich die Angaben zum Parteibeitrittsjahr behandeln (Tabelle 11). Dabei ist eine Bemerkung zur Metho-de vorauszuschicken. Merkwürdigerweise wurde bei der Reichskontrolle auch danach gefragt, ob man 1919 oder 1920 Mitglied des Spartakusbundes ge-worden ist. In dieser Stellung der Frage war die Konfusion bei den Befragten schon angelegt, da es in den beiden genannten Jahren zwar keinen Spartakus-bund mehr gab, aber eine Partei, die sich auf ihrem Gründungsparteitag den Namen „Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund)“ gegeben hatte. Es kam daher zu einer Reihe von Irrtümern über die zeitliche Einordnung des Spartakusbundes seitens der Befragten.“ Auch die Mathematik hilft hier nicht weiter: die addierten Summen der Zahlen über die Beitrittsjahre zum Spartakus-bund und zur KPD sind höher als die Gesamtteilnehmerzahlen der Reichskon-trolle. So haben etwa aus dem Bezirk Westsachsen 7.181 von 7.183 befragten Mitgliedern sich für ein Betrittsjahr zwischen 1920 und 1927 entschieden, aber

78 2.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft

zusätzlich haben 506 Mitglieder einen Beitritt zum Spartakusbund im Jahre 1919 angegeben, so dass also mindestens 504 westsächsische Mitglieder in beiden Kategorien geantwortet haben. Ein Vergleich der Anzahl der Genossen von 1927, die schon vor der Vereinigung mit der USPD in der KPD organisiert waren, mit dem Anteil der 1920 über die USPD beigetretenen Mitglieder, mit dem ein höchst aufschlussreiches Licht auf das Ausmaß der in der Partei ver-bliebenen ehemaligen Unabhängigen Sozialdemokraten hätte geworfen werden können, ist daher leider nicht durchführbar.

Bleiben wir bei dem, was den Ergebnissen entnommen werden kann. Das Schwergewicht in allen Bezirken liegt im Jahr 1920, was auch nicht weiter verwunderlich ist, da die KPD in keinem anderen Jahr bis 1927 einen solchen absoluten Zuwachs erzielt hat. Dabei ist der Schwerpunkt bei den ,1920ern‘ im Ruhrgebiet noch etwas stärker ausgeprägt als im Reich, während sie in West-sachsen etwas unterrepräsentiert sind.

2.4.2 Die Reichskontrolle von 1928Die Erfahrungen mit der ersten Reichskontrolle und die Möglichkeiten, die das Zahlenmaterial für die strategische Planung nach innen eröffnete, scheinen für die Parteiführung so erfreulich gewesen zu sein, dass sie für den Herbst 1928 gleich die nächste Reichskontrolle anberaumte. Diese aber war - wie Mallmann ganz richtig feststellt - „keine systematische Fortschreibung“ der ersten. Die Reichskontrolle von 1928, die vom 1. bis zum 21. Oktober 1928 durchgeführt werden sollte, diente viel konkreteren politischen und organisationspolitischen Zielen als die erste. Zu letzteren zählte unter anderem die Aufdeckung der säu-migen Beitragszahler unter den Genossen. Auf diese Weise und durch die Aus-stellung neuer Mitgliedsbücher zum 1. Januar 1929, wollte die Parteileitung einen Überblick über die wirklich vorhandene Mitgliederzahl gewinnen und sich nebenher gleichzeitig von den ,Karteileichen‘ trennen. Es ist bezeichnend für die Führung der Mitgliederkartei und der Kassenbücher der KPD, dass ein Über-blick über die Zahl der eingeschriebenen Mitglieder nur mit einem solchen Auf-wand zu erreichen war.145

Bei der Reichskontrolle von 1928 ging es auch darum, den Kenntnisstand über den Einfluss in den Arbeiterfreizeitorganisationen zu vertiefen, diesmal allerdings mit ganz konkreten Zielen. Deshalb wurde nun nicht mehr nach der Vereinszugehörigkeit, sondern nach den Funktionen der Genossen in den prole-tarischen Massenorganisationen gefragt. Hauptziel dabei war es, die Zahl der mehr schlecht als recht funktionierenden Parteifraktionen in den Gewerk-schaften, Kultur- und Sportvereinen zu vergrößern und besser kontrollieren zu können. Außerdem sollte ermittelt werden, wie viele und vor allem welche Ge-nossen sich bisher hartnäckig der Fraktionsarbeit in den Milieuorganisationen entzogen hatten (vgl. Abschnitt 5.2.2.1). Schließlich sollten die in den Straßen-145 Mallmann: Kommunisten, S. 94. Vgl. Rundschreiben der Organisationsabteilung der Be-zirksleitung Ruhrgebiet vom 3.9.1928 (HStAD Regierung Düsseldorf 30657a).

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 79

zellen verbliebenen Betriebsarbeiter ermittelt werden, um sie an die für sie zu-ständigen Betriebszellen zu überweisen.

Da die Unwilligkeit vieler Mitglieder, die Fragebogen auszufüllen, vom Vor-jahr noch präsent war, warnte etwa die Bezirksleitung Pommern die Genossen im Arbeitsplan für den August 1928 eindringlich vor einer Wiederholung der schlechten Beteiligung von 1927: „Es darf nicht wieder vorkommen, daß einige Ortsgruppen erst nach Monaten oder überhaupt nicht das Material zurückgeben.“ Zugleich beschrieb die BL dort die Vorgehensweise:

„Jede Ortsgruppe erhält Mitte September genügend Fragebogen und Berichtsbogen. Die Ortsgruppenleitung bestimmt je nach der Größe der Ortsgruppe 1 bis 5 schreibgewandte [!] und aufgeweckte Genossen, die die Mitglieder aufsuchen, die Fragen stellen und da-nach die Fragebogen ausfüllen. Alle Mitgliedsbücher der Organisationen, denen die Mitglieder angehören, müssen vorgelegt werden.“146

Das ZK hatte ebenfalls aus den Erfahrungen von 1927 gelernt, und ließ deshalb eine Sondernummer der Funktionärszeitschrift „Der Parteiarbeiter“ auflegen, in der ausführliche Hinweise zur Durchführung gegeben wurden. Alle Organisa-tionsleiter der Parteiortsgruppen und -zellen sollten sie bestellen. Nach der ursprünglichen Planung sollte das neue Mitgliedsbuch nur denjenigen Genossen ausgehändigt werden, die über die Reichskontrollmarke, die ihnen nach dem Ausfüllen des Fragebogens ins Mitgliedsbuch geklebt wurde, ihre Beteiligung und damit letztlich ihre regelmäßige Beitragszahlung nachweisen konnten. Da das aber den kompletten Ruin mancher Bezirke wie zum Beispiel Oberschlesien bedeutet hätte und auch kein einziges Dokument vorliegt, wonach auch nur ein säumiger Genosse ausgeschlossen worden ist, scheint von diesem selbstzerstöre-rischen Vorhaben in der Praxis am Ende kaum etwas übrig geblieben zu sein. So lag etwa die Mitgliederzahl im Bezirk Oberschlesien, der bekannt war für die besonders schlechte Abrechnungsdisziplin seiner Mitglieder, im Januar 1929 um 155 über der Zahl der durch die Reichskontrolle von 1928 befragten Ge-nossen.147

Natürlich schaffte man es auch diesmal nicht mit dem Abschluss zum vorher festgesetzten Termin. So fehlten aus dem Bezirk Pommern Ende November immer noch die Daten von 24 der angeblich etwa 70 Ortsgruppen, während der Bezirk Oberschlesien besondere Probleme mit den abwesenden Saisonarbeitern unter der Mitgliedschaft hatte und der Organisationsabteilung der Bezirksleitung des Ruhrgebiets die Durchführung des kommunistischen Volksentscheids gegen den Bau des Panzerkreuzers A in die Quere kam.148

146 SAPMO-BArch RY1/I3/3/29, Bl. 13f.147 Bericht der Organisationsabteilung der Bezirksleitung Oberschlesien vom 1.9.1928 (SAP-MO-BArch RY1/I3/6/16, Bl. 59).148 Rundschreiben Bezirksleitung Pommern, 1.12.1928 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/29, Bl. 25). Bericht der Orgabteilung der Bezirksleitung Oberschlesien, 23.10.1928 (SAPMO-BArch RY1/I3/6/16, Bl. 65).

80 2.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft

Tabelle 12: Reichskontrolle 1928: Funktionäre unter den KPD-Mitglie-dern (in Prozent)

Funktionär von

Bezirk KPD RFB RHD IAHSport-verein

Kultur-verein

Summe (ohne KPD)

Berlin-Brandenburg 23,82 5,27 5,48 0,77 7,63 3,05 22,19Ruhrgebiet 23,31 6,99 4,79 0,98 5,37 7,35 25,49Westsachsen 17,54Pommern 22,16 9,92 5,19 0,63 9,52 2,48 27,76Oberschlesien 32,14 13,33 7,62 1,43 4,52 5,12 32,02Reich 20,99 5,71 5,14 0,93 8,19 4,94 24,91

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 18-91.

Die Ergebnisse der Reichskontrolle von 1928 - von denen aus dem Bezirk West-sachsen leider fast gar nichts vorliegt - vertiefen teilweise die Erkenntnisse aus dem Jahr 1927. Gerade die Ergebnisse der Frage nach den Funktionen, die die Mitglieder inne hatten, sind sehr aufschlussreich (Tabelle 12). Ihrer Interpretati-on muss aber noch ein methodischer Hinweis vorausgeschickt werden. Die se-mantische Grenze zwischen einem „Funktionär“ und einer „Funktion“ war im Sprachgebrauch der KPD offenbar nur unzureichend definiert. Es gab generell immer mehr Funktionen als Funktionäre. So wurden bei der Reichskontrolle von 1928 insgesamt 24.878 Parteifunktionen angegeben, die von insgesamt 22.132 Funktionären ausgefüllt wurden. Demnach müssten also theoretisch mindestens 2.746 Funktionen in Personalunion mit mindestens einer anderen ausgefüllt worden sein. In Wirklichkeit dürfte der Anteil der ,multiplen Funktionäre‘ wohl noch um einiges höher gewesen sein (vgl. Abschnitt 5.1.2.2). Den Genossen in den Bezirken Ruhrgebiet und Pommern scheint der Unterschied zwischen Funktionen und Funktionären nicht geläufig gewesen zu sein, weshalb dort die Angaben für beide identisch sind und wohl der niedrigeren Anzahl der Funktio-näre entsprechen.149

Auf den ersten Blick fällt der große Anteil der Funktionäre sowohl der Partei als auch der kommunistischen Nebenorganisationen an der Mitgliedschaft im Bezirk Oberschlesien auf. Dieses Ergebnis verweist auf das wichtigste struk-turelle Spezifikum des oberschlesischen Bezirks, dessen politischer Einfluss in der Provinz und dessen Stärke in den Arbeiterfreizeitvereinen seine dünne Per-sonaldecke äußerst stark beanspruchte. Dort waren theoretisch - da manche Ge-nossen eben Funktionen in der Partei und in weiteren Organisationen besaßen - maximal fast zwei Drittel aller Mitglieder Partei- und Verbandsfunktionäre und davon jeweils die Hälfte innerhalb und außerhalb der KPD.

149 SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 81.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 81

Nimmt man nur die Funktionäre der Sport- und Kulturvereine heraus, so waren das auf Reichsebene maximal 13,13 Prozent aller Mitglieder - der Mitgliederan-teil, der besonders gut in das proletarische Milieu integriert war! Die vier Bezir-ke, aus denen dazu Zahlen vorliegen, liegen alle unter dieser Durchschnittsquo-te. Am schwächsten schneidet der Bezirk Oberschlesien ab (9,64 Prozent), wo das Netz der Arbeiterfreizeitvereine ja auch nur recht schwach ausgeprägt war. Am besten schneidet überraschend der Bezirk Ruhrgebiet ab, dessen Mitglieder nach der Reichskontrolle von 1927 ja vergleichsweise schwach im Milieu veran-kert waren. In Westsachsen wird der Anteil der Funktionäre der Arbeitervereine an den Mitgliedern wahrscheinlich höher als der Reichsdurchschnitt gewesen sein, das aber bleibt leider Spekulation.

Ich hätte nun zusätzlich gerne den Anteil der Funktionäre an den kommunis-tischen Mitgliedern der Sport- und Kulturvereine berechnet. Leider gibt es aber keine Hinweise darauf, wie die einzelnen Vereine, zu denen Ergebnisse von 1927 vorliegen, 1928 in die Kategorien „Kultur“ und „Sport“ eingeordnet wurden. Das Verhältnis von Mitgliedern und Funktionären kann daher nur für die Partei und ihre Nebenorganisationen ermittelt werden. Nimmt man alle vier Organisationen - KPD, RHD, RFB und IAH - zusammen, kommt man auf 201.052 Mitglieder (1927) und 34.550 Funktionäre (1928). Das bedeutet, dass - unter der Annahme, dass die Mitglieder von 1927 auch noch 1928 Mitglieder waren und kein neues hinzugekommen ist - 17,18 Prozent der kommunistischen Mitglieder dieser Organisationen auch Funktionäre waren. Den höchsten Anteil der Funktionäre an der Mitgliedschaft hatte der RFB mit 23,52 Prozent noch vor der Partei (20,99 Prozent), und den kleinsten die Rote Hilfe mit nur 8,42 Pro-zent, die aber auch die mitgliederstärkste kommunistische Nebenorganisation war.

Kommunistische Funktionäre gab es aber nicht nur in der Partei und den Massenorganisationen des Weimarer Proletariats. Sie gab es auch in den Ge-meinden, Betrieben und Krankenkassen (Tabelle 13). Nicht zu vergessen die Gewerkschaften, über die leider keine detaillierten bezirklichen Angaben vor-liegen. Die Organisationsabteilung des ZK der KPD führte dazu an, dass 1928 1.301 Mitglieder Arbeiterräte, 141 Angestelltenräte, 697 Betriebsgewerkschafts-kassierer, 3.863 Gewerkschaftsvertrauensleute und 131 Genossen Knappschaft-sälteste waren. Auf Bezirksebene hatten zwischen 11,18 (Berlin-Brandenburg) und 22,26 Prozent (Oberschlesien) der Mitglieder kommunale Funktionen, von denen zwischen 18,34 (Berlin-Brandenburg) und 37,43 Prozent (Oberschlesien) Stadtverordnete waren. Wieder zeigt sich die dünne Personaldecke des oberschlesischen Bezirks, dessen Bezirksleitung sich schon am 10. Februar 1925 in einem Brief an die Zentrale darüber beklagt hatte, dass sie sogar in Ge-meinden ohne eine KPD-Ortsgruppe die absolute Mehrheit der Sitze im Kom-munalparlament besäßen. Ich nehme daher an, dass die oberschlesischen Kom-munisten trotz des hohen Mitgliederanteils an Funktionären längst nicht alle

82 2.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft

Mandate, die sie in Vereinen, Gewerkschaften, Betrieben und Kommunen erhielten, auch besetzen konnten.150

Tabelle 13: Reichskontrolle 1928: Funktionäre unter den KPD-Mitglie-dern II (in Prozent)

Bezirk

Stadt-verord-nete

Kom-mune (gesamt)

besoldete Betriebs-räte

unbes. Betriebs-räte

Betrieb (gesamt)

Kranken-kasse

Berlin-Brandenburg 2,05 11,18 0,23 5,93 12,76 0,71Ruhrgebiet 4,74 17,54 0,59 5,07 11,28 1,01Pommern 4,79 12,81 0,06 3,00 5,54 1,62Oberschlesien 8,33 22,26 1,19 8,45 17,02 1,31Reich 0,15 5,55 12,25

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 18-91.

Gut zu erkennen ist auch, dass der Bezirk Oberschlesien einen wesentlich höhe-ren Anteil an Betriebsfunktionären aufzuweisen hatte als die Gesamtpartei.151 Auffällig ist des weiteren der nur schwache Anteil der betrieblichen Funktionäre an der pommerschen KPD-Mitgliedschaft, der mit dem sehr geringen Betriebs-arbeiteranteil des Bezirks korrespondiert. Dieser lag im Januar 1929 nur noch bei 22,6 Prozent, während im Ruhrgebiet 37,8, in Berlin-Brandenburg 56,9 und in Oberschlesien 61 Prozent der Genossen noch betriebstätig gewesen sein sollen. Berechnet man entsprechend den Anteil der Betriebsfunktionäre auf der Basis der betriebstätigen Mitglieder, so hatten maximal zwischen 22,43 (Berlin-Brandenburg) und 29,83 Prozent (Ruhrgebiet) der Betriebsarbeiter auch be-triebliche Funktionen (Oberschlesien 27,91 Prozent). Der Bezirk Pommern hätte demnach mit 24,51 Prozent sogar einen etwas größeren Anteil als Berlin-Brandenburg gehabt.152

Unter den Mitgliedern der vier Bezirke, aus denen Zahlenmaterial vorliegt, waren insgesamt 100 freigestellte Betriebsräte. Das waren 63,69 Prozent aller 157 freigestellten kommunistischen Betriebsräte, obwohl die vier Bezirke nur 26,24 Prozent der Mitglieder umfassten. Von Ihnen kamen allein 38 aus dem Bezirk-Berlin-Brandenburg. Insgesamt stellten die vier Bezirke einen ihrem Mitgliederanteil entsprechenden Anteil von 27,24 Prozent aller kommunis-tischen Betriebsräte. Die laut Reichskontrolle von 1928 6.013 kommunistischen Betriebsräte umfassten 4,53 Prozent der Gesamtzahl der Betriebsräte von 1931

150 SAPMO-BArch RY1/I3/6/13, Bl. 83.151 Laut dem Politischen Bericht der BL Oberschlesien für den September 1925 hatte die KPD im Bezirk bei den letzten Betriebsratswahlen 60 Prozent aller Betriebsratsmandate gewonnen (SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 64).152 Bericht des KPD-Organisationsleiters August Creutzburg vor dem 11. EKKI-Plenum im April 1931 (SAPMO-BArch RY1/I2/4/29, Bl. 150).

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 83

(132.851). Dies scheint eine ziemlich niedrige Quote zu sein. Gemessen jedoch am Anteil der kommunistischen Betriebsarbeiter (laut Reichskontrolle von 1928 ca. 65.700 Mitglieder) an der Zahl der Arbeiter in Industrie und Handwerk von 1925 (9.783.786) - kommunistische Betriebsarbeiter stellten also nur 0,67 Pro-zent aller Arbeiter in Industrie und Handwerk -, waren die Parteimitglieder bei den Betriebsrätemandaten fast um das siebenfache überrepräsentiert. Insgesamt waren 1928 9,15 Prozent aller kommunistischen Betriebsarbeiter auch Betriebs-räte. Ihr Anteil in den Bezirken lag zwischen 10,84 (Berlin-Brandenburg) und 15,81 Prozent (Oberschlesien) lag (Ruhrgebiet 14,98 und Pommern 13,53 Pro-zent). Wenn man eine wirklich aussagekräftige Prozentuierungsbasis heranzieht, zeigt sich immer wieder die außerordentlich starke Verankerung der Kommunis-ten in den Institutionen der Betriebe, der Gewerkschaften und der proletarischen Freizeitvereine.153

Schließlich sei noch die Summe aller Funktionäre der Mitgliederzahl der Be-zirke gegenübergestellt. Wie schon bei den Einzelergebnissen zu sehen war, liegt Oberschlesien auch hier einsam an der Spitze: maximal 103,45 Prozent der befragten Mitglieder waren auch Funktionäre (869 Funktionäre bei 840 Befrag-ten). Im Ruhrgebiet waren es maximal 77,61 Prozent und in den Bezirken Ber-lin-Brandenburg und Pommern 69,95 bzw. 68,26 Prozent (vgl. Abschnitt 5.1.2.2).

Nach der Reichskontrolle von 1928 waren im Reich 88.213 der 105.459 befrag-ten Mitglieder gewerkschaftlich organisationsfähig (83,65 Prozent). In den Be-zirken waren das zwischen 77,24 (Berlin-Brandenburg) und 85,59 Prozent (Oberschlesien). Davon waren wirklich organisiert: im Reich 64.124 (72,69 Pro-zent der organisationsfähigen Mitglieder) und in den Bezirken zwischen 46,68 (Oberschlesien) und 85,74 Prozent (Berlin-Brandenburg) der organisationsfä-higen Mitglieder.

Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse aus Pommern. Dort waren nach der Volkszählung von 1933 53,58 Prozent der gut 800.000 Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft tätig, aber nur 19,12 Prozent in Industrie und Handwerk. Der Deutsche Landarbeiterverband (DLV) war nach dem kurzen nachrevolutionären Aufschwung schon 1923 wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, und hatte 1926 in Pommern nur noch eine kleine Minderheit von ca. 9.000 Landarbeitern in seinen Reihen. Im Vergleich damit fällt der hohe Anteil von organisierten Mitgliedern der pommerschen KPD von 56,78 Prozent auf, bei denen man vermuten darf, dass es sich wohl zu-meist um Industriearbeiter handelt.154

153 Betriebsräte 1931 nach Michael Schneider: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn 1989, S. 202. Betriebsarbei-teranteil 1928 (62,3 Prozent) nach SAPMO-BArch RY1/I3/4/28, Bl. 177. 154 Falter/Hänisch: Wahl- und Sozialdaten. Wolfram Pyta: Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918-1933. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten

84 2.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft

Bezieht man nun den Anteil der organisierten Mitglieder auf die Zahl der Be-triebsarbeiter, so waren auf Reichsebene - unter der durchaus plausiblen Annahme, dass fast alle Genossen nach Eintreten der Arbeitslosigkeit auch den Gewerkschaften den Rücken kehrten - maximal 97,60 Prozent der kommunis-tischen Betriebsarbeiter organisiert. Interessant sind hier insbesondere die Ergebnisse aus den beiden Diaspora-Bezirken. Während in Pommern der Anteil der organisierten Genossen an den Betriebsarbeitern 251,24 Prozent ausmachte, lag er in Oberschlesien nur bei 65,77 Prozent. Die Kommunisten in Pommern blieben also in einem wesentlich stärkeren Maße ihrer Gewerkschaft auch nach einer Entlassung aus dem Betrieb treu, als ihre Genossen in Oberschlesien. Letz-tere waren nicht nur generell relativ schwach in den Gewerkschaften verankert, sondern erklärten offenbar auch sofort den Gewerkschaftsaustritt, wenn sie ihren Arbeitsplatz verloren hatten - ganz gleich wie die jeweilige Linie der Partei gegenüber den Gewerkschaften nun aussah. Der Vergleich der Organisations-quoten der Mitglieder von 1927 und 1928 bestätigt das nur. Diese lag nämlich in Pommern 1928 um 5,13 Prozentpunkte über der von 1927, während sie in Oberschlesien 5,6 Prozentpunkte niedriger war.

Diese Feststellung scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem hohen Anteil der betrieblichen Funktionäre unter den oberschlesischen Betriebsarbei-tern zu stehen, von denen nach dem Bericht der Bezirksleitung an den Bezirks-parteitag am 13./14.4.1929 auch noch 33 Prozent gewerkschaftliche Funktionen ausübten155 - so dass also insgesamt maximal 136,45 Prozent der oberschlesischen KPD-Mitglieder Funktionen inne hatten. Diese vermeintliche Diskrepanz lässt sich relativ leicht erklären, wenn man annimmt, dass eine recht große Minderheit der oberschlesischen Kommunisten außerordentlich stark in Betrieb und Gewerkschaft engagiert war. Diese Mitglieder waren nicht nur in allen relevanten proletarischen Organisationen verankert, sondern übernahmen auch mitunter zahlreiche Funktionen. Ihnen gegenüber stand eine Mehrheit, die sich gegenüber den Gewerkschaften wie die traditionell sehr utilitaristisch gesinnte große Mehrheit der oberschlesischen Arbeiter verhielt.

Im Rahmen der Reichskontrolle von 1928 wurde schließlich auch noch danach gefragt, wie viele Mitglieder aus der Kirche ausgetreten waren. 1922 war beschlossen worden, dass alle Funktionäre aus der Kirche austreten müssen. Den ‚einfachen‘ Mitgliedern wurde der Austritt wiederholt nahegelegt, auch wenn sich keine Parteitagsmehrheit für den mehrfach beantragten formalen Beschluss hatte finden lassen. Insgesamt gaben auf Reichsebene 63,57 Prozent der Mitglie-der an, aus der Kirche ausgetreten zu sein. Die Bezirke Berlin-Brandenburg und Ruhrgebiet lagen mit 78,45 und 68,20 Prozent über dem Reichsdurchschnitt, während die Genossen im protestantisch geprägten Diaspora-Bezirk Pommern

Deutschlands in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1996, S. 100.155 SAPMO-BArch RY1/I3/6/5, Bl. 8.

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 85

mit 51,76 und die Mitglieder im vielleicht noch stärker durch die katholische Kirche geprägten Oberschlesien mit bemerkenswerten 32,02 Prozent unter ihm lagen. Die Klagen über den Einfluss der Kirche auf die Genossen in Oberschlesien reißen während der Jahre der Weimarer Republik in den Quellen nie ab, und so manchem oberschlesischen Genossen stand die Kirche in seiner persönlichen Wertehierarchie sogar noch vor der Partei156

2.4.3 Die Entwicklung der Altersstruktur der KPD nach 1928Die Fülle an statistischen Informationen reißt leider nach 1928 ab. Für die letz-ten vier Jahre der legalen Existenz der KPD liegen nur noch punktuelle Daten vor, vor deren Verallgemeinerung nur gewarnt werden kann.

Hervorheben möchte ich davon drei Übersichten zur Altersstruktur der Mit-glieder aus den 1930er Jahren. Diese bestätigen Mallmanns Befund, dass die wenigen Daten über die Altersstruktur der KPD in den 1930er Jahren erhebliche Unterschiede aufweisen. Dies mag neben allen regionalen Unterschieden nicht zuletzt darin begründet liegen, dass die vorliegenden Daten Momentaufnahmen waren. Auf Grund der gigantischen Fluktuation der KPD-Mitgliedschaft in den 1930er Jahren hat sich die Altersstruktur der Mitglieder wahrscheinlich von Mo-nat zu Monat verändert. Das Sekretariat der BL Berlin-Brandenburg ging in sei-nem Rundschreiben vom 2. Juni 1930 jedenfalls davon aus, dass „wir über die Hälfte der neueingetretenen neuen Mitglieder in sehr kurzer Zeit wieder“ ver-lieren. Falls es in erster Linie die jüngeren unter den neuen Genossen gewesen sind, die sich nach relativ kurzer Zeit in der Partei gleich wieder abwendeten, müsste insgesamt die bisher in der Literatur vorherrschende Auffassung, nach der sich die Mitgliedschaft der KPD während der Weltwirtschaftskrise stark ver-jüngte, relativiert werden. 157

Noch 1927 waren nur 31,8 Prozent der durch die Reichskontrolle befragten Genossen jünger als 30 Jahre alt gewesen. Nach Mallmann waren die 1930 auf-genommenen Mitglieder des Berliner Unterbezirks Zentrum zu 58,4 Prozent bis zu 30 Jahre alt. Von den 9.152 insgesamt im Jahr 1930 dem Berliner Bezirk beigetretenen Mitgliedern, machten 8.780 Angaben zu ihrem Alter. Von diesen waren 57,04 Prozent bis zu 30 Jahre alt, 21,84 Prozent zwischen 30 und 40, und nur 17,06 Prozent älter als 40 Jahre. Diesem Befund widersprechen zum Bei-spiel die Angaben der 3.992 Mitglieder des Berliner Unterbezirks Nord, die im März 1931 immer noch zu 62,25 Prozent älter als 30 Jahre alt waren. Die unter 30 Jahre alten Genossen dominierten hingegen im März 1932 mit 63,52 Prozent die 488 neu eingetretenen Mitglieder des Berliner Unterbezirks Südwest, wäh-rend ihr Anteil an den 8.297 zwischen dem 1. Januar und dem 15. April neu ge-worbenen Mitgliedern im Bezirk Ruhrgebiet wiederum nur 51,57 Prozent be-

156 Winkler: Schein, S. 449.157 Mallmann: Kommunisten, S. 108. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/77, Bl. 53 (Hervorhebung im Original).

86 2.4 Die Sozialstruktur der KPD-Mitgliedschaft

trägt. Die Frage nach der Entwicklung der Altersstruktur lässt sich also auch auf der Basis dieses Materials nicht eindeutig beantworten.158

158 Mallmann: Kommunisten, S. 108. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/74, Bl. 45. Mitglieder Un-terbezirk Nord (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/57, Bl. 16), Neumitglieder Unterbezirk Südwest (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/56, Bl. 32f.) und Ruhrgebiet (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29 Bl. 185).

2 Die Entwicklung der KPD in den Bezirken 87

„Jedes organisatorische Gefüge, wie starr es uns auch immer erscheinen mag, ist ein Ergebnis sozialen Handelns.“159

3 Der organisatorische HintergrundNach der regionalen Organisationsgeschichte und der Sozialstruktur bilden die Institutionen der Partei den nächsten entscheidenden Faktor für das Mitglieder-verhalten in der KPD. Sie sind vor allem deswegen von maßgeblicher Bedeu-tung, da sie die Verhaltensalternativen, die den ‚einfachen‘ Mitgliedern über-haupt zur Verfügung standen, definierten.

3.1 Die KPD als HandlungssystemDas Handlungsfeld eines KPD-Mitglieds war durch eine ganze Reihe von Regeln relativ eng umrissen. Das Parteistatut etwa legte fest, welche formellen Rechte und Pflichten das Mitglied in der Partei hatte, in welcher Organisations-form es tätig werden konnte oder wie es sich an der Willensbildung der Partei beteiligen konnte. Darüber hinaus regelte die Geschäftsordnung den Ablauf der Mitgliederversammlungen.

Die moderne strukturgeschichtliche Arbeiterbewegungsforschung hat sich, wie lange Zeit auch die Organisationssoziologie, auf die Formalstruktur von Organisationen konzentriert, die quellenmäßig leicht zugänglich und methodisch mit verhältnismäßig geringem Aufwand zu untersuchen ist. Das Ergebnis war bezogen auf die KPD ein anthropomorphes Zerrbild einer homogenen Partei, die mit rationalen Methoden auf ein klar definiertes Ziel hinarbeitet. Dies ist aber kaum mit der vielschichtigen Lebenswirklichkeit realer Organisationen in Ein-klang zu bringen.

Inzwischen hat sich das Blatt, zumindest in der Organisationssoziologie, schon seit vielen Jahren gewendet. Komplexere und somit realitätsnähere Modelle von Organisationen traten an die Stelle des klassischen strukturalis-tischen Ansatzes. Ihr Fokus liegt auf der Mikroebene, weil es nicht die Struk-turen sind, die handeln. Es sind immer Menschen, die Strukturen nach ihren Vorstellungen und Bedürfnissen gestalten, sie also errichten, erhalten, verändern oder abschaffen. Wenn Menschen im Sinne der Strukturen handeln, handeln selbstverständlich sie und nicht die Strukturen. Strukturen können, auch wenn sie relativ dauerhaft und auch gegen die Intentionen relevanter Gruppen von Ak-teuren existieren, nur prozesshaft gedacht werden. Strukturen definieren zwar den Handlungsrahmen und beschränken die den Akteuren zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen, doch das machen sie einzig und allein durch

159 Wolfgang Sofsky/Rainer Paris: Figurationen sozialer Macht. Autorität, Stellvertretung, Ko-alition, Frankfurt 1991, S. 11.

88 3.1 Die KPD als Handlungssystem

das Handeln von Menschen. Strukturen sind somit in erster Linie relativ stabile Handlungserwartungen, die Menschen an Menschen richten.

Diese Untersuchung gründet sich auf die Annahme, dass die Organisationsge-schichte der KPD in der Weimarer Republik im Sinne der organisationssoziolo-gischen Handlungstheorie von Crozier und Friedberg als ein unausgesetzter Pro-zess der Aushandlung zwischen Akteuren mit ihren spezifischen Präferenzen und ganz unterschiedlichen individuellen Einflussmöglichkeiten verstanden und untersucht werden kann. Aus dieser Perspektive stellt sich die Geschichte der KPD als das von keinem einzelnen Akteur bewusst so geplante Ensemble der unintendierten Folgen eines an jeweils konkreten Nahzielen und Problemlö-sungen orientierten intentionalen Handelns der individuellen Angehörigen des Kollektivs KPD dar.

Dies bedeutet nicht notwendig, dass dabei generell die Interessen der Mehr-heit der Mitglieder - die ja auch keineswegs homogen waren - quasi automatisch durchgesetzt worden wären. Auf Grund der Komplexität einer derart großen Organisation nahm der alltägliche Aushandlungsprozess ganz unterschiedliche Entwicklungsrichtungen und produzierte ebenso unterschiedliche Ergebnisse. Das zeigt sich beispielsweise bei der Umsetzung der politischen Strategie der Parteiführung in die Praxis. Die daraus hervorgehenden Anweisungen der Füh-rung wurden vor Ort abgeschwächt, angepasst oder verworfen, aber eben auch buchstäblich umgesetzt oder sogar radikalisiert.

Längst nicht alle Mitglieder der Partei waren ständig bewusst aktiv an diesem Aushandlungsprozess beteiligt. Die Motive für ein bewusstes Engagement waren vielfältig und die Schwelle je nach Handlungssituation unterschiedlich hoch. Am sichersten noch war mit Reaktionen seitens der Basis zu rechnen, wenn die Parteiführung Beschlüsse fasste, die zu zusätzlichen finanziellen Be-lastungen für die Mitglieder führen konnten (vgl. Abschnitt 3.3.5.1). Es geht mir auch keineswegs darum, den permanenten Krieg zwischen den ,einfachen‘ Mit-gliedern, den ehrenamtlichen Funktionären und den Angehörigen der Parteifüh-rung zu unterstellen. Ich will vielmehr unterstreichen, dass einerseits die Füh-rung die Interessen und Bedürfnisse der ‚einfachen‘ Mitglieder an der Parteiba-sis bei Gefahr der Wirkungslosigkeit nicht vollständig ignorieren durfte, und andererseits die Genossen an der Basis ihre ,Trümpfe‘ im Aushandlungsprozess auch ohne Bedenken ausspielten, wenn es um für sie relevante Entscheidungen ging.

Auf Grund der hierarchischen Struktur der KPD gab es unterschiedliche Einflusssphären für die verschiedenen Mitgliedergruppen. Die Domäne der ,einfachen‘ Mitglieder an der Basis war die praktische Umsetzung von Anwei-sungen der Führung vor Ort. Demgegenüber war der unmittelbare Einfluss der ,einfachen‘ Genossen auf die Festlegung und Formulierung der Strategie und Taktik der Partei sowie auf die daraus resultierenden Anweisungen der Partei-führung relativ gering - wenn auch keineswegs unbedeutend. Auch Aushand-

3 Der organisatorische Hintergrund 89

lungsaktivitäten innerhalb der Führung haben normalerweise einen Bezug zur Tätigkeit der Parteibasis. Die Akteure in der Parteiführung mussten, sofern sie auch nur ein Minimum an Effizienz anstrebten, die Bereitschaft der Basis, ihre Ideen umzusetzen, reflektieren. Die Notwendigkeit, im Vorfeld des Erlasses von Anweisungen über ihre Realisierungschance nachzudenken, ergab sich nicht zu-letzt aus der Tatsache, dass die KPD eine so genannte „freiwillige Vereinigung“ war, deren Mitgliedern jederzeit der Austritt offenstand.

Nicht alle Akteure hatten im parteiinternen Aushandlungsprozess das gleiche Gewicht. Zweifellos war der Einfluss Stalins um ein Vielfaches größer als etwa der von Helmut Damerius, der 1924 Gruppenkassierer einer Parteizelle in Ber-lin-Steglitz war.160 Aushandlungsmacht wird durch die Ressourcen konstituiert, die ein Akteur kontrollieren kann. Insoweit die Führung daran interessiert war, alle Mitglieder zu aktivieren, konnte aber sogar die ,Passivität‘ der ,Karteilei-chen‘ eine im Aushandlungsprozess mobilisierbare Ressource sein. Die wohl wichtigste Rolle aber kam der Ressource ,Mitarbeit‘ des individuellen ,einfa-chen‘ Genossen an der Basis. Sei es nur über die implizite Drohung nach ,oben‘, die Aktivität zu verringern oder ganz einzustellen, sollte die Führung auf be-stimmten Anweisungen beharren. Wie ein solcher Zusammenhang in der KPD kommuniziert wurde, zeigt das folgende Zitat aus einem Redebeitrag eines Funktionärs namens Tauch auf der Sitzung der Bezirksleitung Berlin-Branden-burg am 14. November 1926:

„Wenn der innerparteiliche Kurs mit solcher Schärfe wie bisher weiter geführt wird, werden die politischen Differenzen sich noch vergrößern. In der Mitgliedschaft ist allge-mein die Auffassung vertreten, daß die Schärfe des Tones die Parteidifferenzen ver-stärkt hat. Wenn heute im 6. Bezirk [dem Verwaltungsbezirk Kreuzberg] ein Teil der Genossen müde und unlustig zur Parteiarbeit ist, so ist das nicht darauf zurückzuführen, daß diese Genossen oppositionell eingestellt sind, sondern weil sie angeekelt sind von den Maßnahmen, die von der Parteileitung durchgeführt werden.“161

Dabei kam es im konkreten Fall selbstverständlich auch darauf an, wie groß einerseits der Anteil von Genossen war, die mit Inaktivität reagieren konnten und andererseits, ob diese sich an strategisch zentralen Positionen in der Partei bzw. an wichtigen Brückenköpfen zur Parteiumwelt befanden. Man denke dabei etwa an die gegen Ende der 1920er Jahre schrumpfende Zahl kommunistischer Betriebsräte, die den im Betrieb verbliebenen Betriebsräten wachsende Auf-merksamkeit seitens der Parteiführung, aber auch wachsendes strategisches Ge-wicht und damit Aushandlungsmacht verschaffte (vgl. Abschnitt 5.2.1.2). Ähnli-ches Gewicht hatten die ,Spezialisten‘ in der Partei, die ihre besondere Kompe-tenz, ihre besonderen Beziehungen zur Organisationsumwelt oder bestimmte

160 Helmut Damerius: Über zehn Meere zum Mittelpunkt der Welt - Erinnerungen an die „Ko-lonne Links“, Berlin (DDR) 1977, S. 17.161 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/18, Bl. 577.

90 3.1 Die KPD als Handlungssystem

herausragende Fähigkeiten in die Waagschale werfen konnten, um der Parteifüh-rung Zugeständnisse abzutrotzen.

Auch die Aktivitätsbereitschaft von ganzen Zellen oder Ortsgruppen ver-schaffte diesen ein erhebliches Maß an Unabhängigkeit, erst recht, wenn sie mit überdurchschnittlichen politischen Erfolgen verbunden war. In diesem Fall brachten disziplinierende Eingriffe seitens der Führung in ihre Tätigkeit immer die Gefahr mit sich, im jeweiligen Betrieb oder in der jeweiligen Gemeinde dann als Partei (zumindest eine zeitlang) vielleicht gar nicht mehr präsent zu sein oder den vorher gewonnenen politischen Einfluss bei den Wählern oder in relevanten Organisationen wieder zu verlieren.

* * *

Das vielleicht bemerkenswerteste Beispiel für das Maß an Autonomie, das sich eine Basisorganisation durch engagierte Arbeit für die Partei verschaffen konnte, ist die insgesamt eher untypische Entwicklung der Ortsgruppe in der ca. 160 km östlich vom pommerschen Bezirksvorort Stettin gelegenen Kreisstadt Köslin. Erstmals wurde die Ortsgruppe Köslin als Problemfall auf der Sitzung der Be-zirksleitung am 7. März 1923 in einer Rede Wilhelm Obendieks erwähnt. Er kri-tisierte, dass die dortigen Genossen „den Standpunkt vertreten, lieber eine kleine, reine Partei zu sein, ehe sie Massenpartei werden wollen.“ In einem Be-richt der Bezirksleitung über die Unterbezirks-Konferenz in Köslin am 7. Juni 1923 wird das wie folgt erklärt: „Unsere Kösliner Genossen sind infolge ihrer Abgelegenheit vom Parteivorort gegen die gesamte Politik unserer Partei einge-stellt.“162 Drei Jahre später fasste der Politische Leiter des Bezirks, Erich Steffen, die Entwicklung der Differenzen mit der Ortsgruppe Köslin in einem Brief vom 8. Juni 1926 an das ZK zusammen:

„Die Ortsgruppe Köslin steht seit vielen Jahren zu jeder Bezirks- und Zentralleitung in Opposition. Sie lehnen [sic!] alle Resolutionen und Beschlüsse ab und vertreten die Auffassung, daß die Entwicklung der Partei zu einer Verschmelzung mit der Amster-damer Internationale [dem IGB] führt. (...) Bis zum Herbst vergangenen Jahres lehnte sie sogar es ab, das Ortskartell [des ADGB] zu übernehmen, obgleich die Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter hinter uns stand. Die Zahl der Mitglieder be-trägt 34, es könnten bestimmt 200 sein, aber die Ortsgruppe [lehnt] fast regelmäßig Neuaufnahmen ab und verlangt, daß jeder Neueintretende sofort 100 % Kommunist ist und die Gewähr dafür bietet mit der Ortsgruppenleitung gemeinsam die Politik der Op-position gegen B.L. und Z.K. fortzusetzen. Die Gründung neuer Ortsgruppen im Kreise wird von der Kösliner Ortsgruppe abgelehnt ebenfalls mit der Motivation, das doch [dort] keine guten Kommunisten seien [sic!].“163

Das strategische Hauptproblem der Bezirksleitung in Stettin mit den unbotmä-ßigen Genossen in Köslin bestand nun darin, dass sich die Ortsgruppe Köslin 162 SAPMO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 4. SAPMO-BArch RY1/I3/3/22, Bl. 4.163 SAPMO-BArch RY1/I3/3/19, Bl. 216.

3 Der organisatorische Hintergrund 91

vor allen anderen pommerschen Ortsgruppen dadurch auszeichnete, dass sie als aktive Minderheit in der lokalen Arbeiterbewegung nicht nur die Arbeitersport-bewegung, sondern auch - als zu diesem Zeitpunkt einzige Ortsgruppe in Pom-mern! - das ADGB-Kartell dominierte. Sie beherrschte damit einen ganz ent-scheidenden Brückenkopf zur Parteiumwelt, mit dem auch die pommersche Be-zirksleitung, die ansonsten nicht eben viele Erfolge vorzuweisen hatte, gegen-über dem ZK renommieren konnte. Daher entschloss sich die Bezirksleitung zu einer ‚Taktik der stillschweigenden Tolerierung‘, was in dem oben schon zi-tierten Brief Steffens folgendermaßen begründet wurde:

„Bisher hatte die B.L. stets davon abgesehen, mit organisatorischen Maßnahmen vorzugehen, weil die Ortsgruppe trotz ihrer falschen ideologischen Einstellung über einen guten Kern von Proletariern verfügt. Die Disziplin ist mustergültig. Kein Genosse darf sich betrinken, jeder ist gewerkschaftlich organisiert, die Mitgliederversammlung sind [sic!] meist immer [sic!] 100prozentig besucht, Landagitation wird regelmäßig be-trieben, Literaturumsatz ist meist monatlich an 70 M, die Monatsabrechnungen laufen pünktlich und richtig ein, die öffentlichen Veranstaltungen sind gut besucht, der Einfluß der Ortsgruppe in der Arbeiterschaft ist sehr stark.“164

Der Konflikt zwischen der Ortsgruppe und der BL eskalierte Mitte 1926, als fünf Kösliner KPD-Mitglieder beschlossen, eine Abteilung des Roten Front-kämpferbundes (RFB) zu gründen. Warum sich der Streit ausgerechnet an diesem Sachverhalt entzündete, wird in den Quellen nicht ganz klar - eventuell spielten persönliche Rivalitäten dabei eine Rolle. Sicher ist jedoch, dass sich et-was später eine Mitgliederversammlung der KPD mehrheitlich gegen eine RFB-Gründung aussprach. Auf der gleichen Versammlung oder bald darauf wurden die fünf RFB-Gründungsmitglieder aus der Partei ausgeschlossen. Diese wand-ten sich daraufhin an die Bezirksleitung, die Parteiausschlüsse zu bestätigen hatte. Dieser Schritt entzog der Bezirksleitung den Boden für ihre bisherige Taktik. Da der Konflikt über den engeren Kreis der lokalen Akteure hinausge-tragen worden war, bestand für sie die Gefahr, dass das ZK eingeschaltet, und die pommersche Parteiführung dann von zwei Seiten unter Beschuss geraten würde.

Bezirkssekretär Steffen fuhr daher persönlich nach Köslin. Auf einer Mitglie-derversammlung setzte er sich für die Ausgeschlossenen und die durch sie vollzogene RFB-Gründung ein, versicherte sie der Unterstützung der Bezirkslei-tung, und erklärte ihre Ausschlüsse für nichtig. Sein Einschreiten auf Seiten der Kösliner ,Rebellen‘ führte dazu, dass diese Anfang Juni 1926 eine zweite KPD-Ortsgruppe in Köslin gründen mussten. Die ,alte‘ Ortsgruppe weigerte sich hart-näckig, die Unwirksamkeit der Ausschlüsse zu akzeptieren, und die RFB-Gründer wieder aufzunehmen. Daraufhin wandte sich Steffen mit der Bitte um Klärung am 8. Juni 1926 schriftlich an das ZK.

164 Ebenda.

92 3.1 Die KPD als Handlungssystem

Am gleichen Tag setzte sich auch der Polleiter der alten Ortsgruppe Köslin, Fritz Latzke, brieflich unter Umgehung des „bürokratisch vorgeschriebenen Wegs über die Bezirksleitung“ direkt mit dem ZK in Verbindung. Er warf darin der Bezirksleitung vor, seit längerer Zeit an der Zerstörung der Ortsgruppe Kös-lin zu arbeiten, was nun darin gipfele, die wegen „Disziplinbruch“ - also aus dem schwerwiegendsten Grund überhaupt - vorgenommenen Ausschlüsse nicht zu bestätigen: „Wir halten es aber für selbstverständlich und zur Gesundung der Partei für unbedingt notwendig, daß innerhalb der Partei das Selbstbestim-mungsrecht der Mitglieder gewahrt wird.“ Er fügte hinzu, falls das ZK nicht im Sinne der alten Ortsgruppe entscheiden sollte, „so sind wir um die Erkenntnis reicher, daß die K.P.D., der wir seit Gründung angehören, kein Faktor der Revo-lution ist, sondern daß dieselbe wie die S.P.D. zum Selbstzweck geworden ist.“ Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, stellte die „Ortsgruppe Köslin (Latzke)“ am 21. Juli 1926 den Literaturvertrieb für die Partei mit der Be-gründung ein, dass auch die zweite Ortsgruppe von der Bezirksleitung mit Lite-ratur beliefert worden sei. Bald darauf beendete sie zusätzlich die Abführung der Beitragsanteile für die Bezirksleitung und das ZK.165

Trotz ihrer offenen Widerspenstigkeit gelang es der alten Ortsgruppe der aus ihrer Sicht illegitimen Konkurrenzorganisation allmählich das Wasser abzu-graben. Dazu mag beigetragen haben, dass der Kassierer des RFB 1926 mit der Kasse durchgebrannt war. Die Gegenortsgruppe brach daher wohl 1928 zu-sammen, nachdem sich ihre Hauptträger resigniert zurückgezogen hatten. Dass es zu einem derart friedlichen Ende kam, hatte vielleicht auch damit zu tun, dass der pommersche Polleiter Steffen Ende Mai 1927 durch Max Strötzel abgelöst worden war. Strötzel konnte ohne die Gefahr eines Gesichtsverlustes, auf einen Kompromiss mit der alten Ortsgruppe hinarbeiten. Er bekam für diese Vorge-hensweise eine glänzende Bestätigung durch das bezirksweit herausragende Kö-sliner Ergebnis beim kommunistischen Volksbegehren gegen den Panzer-kreuzerbau vom 3. bis 16.10.1928.166

165 SAPMO-BArch RY1/I3/3/19, Bl. 219. Brief der BL Pommern an das ZK vom 21.7.1926 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/19, Bl. 312). Bericht der Bezirksleitung über die Ortsgruppe Kös-lin (Herbst 1926) (SAPMO-BArch RY1/I3/3/19, Bl. 6).166 Sitzung der erweiterten Bezirksleitung am 7./8.7.1928 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/14, Bl. 198). Protokoll der engeren Bezirksleitung vom 18.10.1928 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/14, Bl. 257). Bericht der BL Pommern über die Ortsgruppe Köslin [Herbst 1926] (SAPMO-BArch RY1/I3/3/22, Bl. 6). Die Position Latzkes - er war 1900 in Köslin geboren worden, hatte Tischler gelernt und war 1920 der KPD beigetreten - in der pommerschen KPD blieb auch nach diesen Vorkommnissen noch stark, so dass er 1929 zum Russlanddelegierten ge-wählt und 1932 erfolgreich als Reichstagskandidat aufgestellt wurde (SAPMO-BArch RY1/I3/3/29, Bl. 115; Hermann Weber/Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Bio-graphisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2004, S. 442f.).

3 Der organisatorische Hintergrund 93

Man mag darüber streiten, ob eine solche Tolerierungspolitik gegenüber einer unbotmäßigen Ortsgruppe auch noch in späteren Jahren möglich gewesen wäre. Es spricht einiges dafür, dass führende Funktionäre während der zweiten ultralinken Phase der KPD ab 1928 immer seltener die Skrupel hatten, auch um den Preis des totalen Einflussverlustes, mit allen zur Verfügung stehenden Dis-ziplinierungsmitteln gegen eigensinnige Mitglieder oder Basisorganisationen vorzugehen. Übereifrige Funktionäre waren davor auch schon früher nicht zu-rückgeschreckt.

Sicher hatten im oben beschriebenen Fall auch die Probleme der pommer-schen Bezirksleitung, einen regelmäßigen persönlichen Kontakt mit den weit übers Land verstreuten Ortsgruppen herzustellen, dazu beigetragen, dass die Ortsgruppe Köslin dieses Maß an Autonomie erringen konnte. Renitente Parteihochburgen, die mit der Haltung: ,Wir haben unsere Hausaufgaben ge-macht!‘ zäh ihre Autonomie gegen jede Einmischung von ,oben‘ verteidigten, und das auch bis zu einem gewissen Grad mit Erfolg, gab es aber in jeder Regi-on, selbst in Berlin, in unmittelbarer Nähe des Karl-Liebknecht-Hauses. Das grundsätzliche Problem der Parteiführung, die auf Grund knapper finanzieller und personeller Ressourcen gar nicht in der Lage war, überall und rechtzeitig einzuschreiten, bringt das folgende Zitat aus einem Bericht des Sekretariats der Bezirksleitung Berlin vom 7. Juli 1930 exakt auf den Punkt: „Sie [die BL Ber-lin-Brandenburg] konnte nur gegen die ihr bekannt gewordenen und besonders kraß zutage tretenden Fälle des Opportunismus in der Praxis den Kampf führen.“167

* * *

Stieg ein ,einfaches‘ Mitglied der KPD zum ehrenamtlichen Funktionär auf, ein Status, der in der KPD, wie auch heutzutage in den meisten Parteien, relativ leicht zu erreichen war,168 wuchs auch der Bereich der Ressourcen, die er kon-

167 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/78, Bl. 8 (Hervorhebung von mir, U.E.). Vgl. dazu den Be-richt Helmuth Warnkes über die KPD-Ortsgruppe in Langenhorn bei Hamburg: „Seit der Wittorf-Affäre [Herbst 1928] ... mißtrauten wir der Parteileitung, das wurde nach dem Volks-entscheid [1931 gemeinsam mit Stahlhelm und NSDAP] noch stärker. Wir kümmerten uns nur noch wenig um Parteidirektiven. Wir machten stur unsere Parteiarbeit. Wir verstärkten so-gar noch unsere Aktivität. Wir wollten gewissermaßen der Leitung beweisen, daß wir mit der ‚falschen Linie‘, die uns Langenhorner Kommunisten von oben nachgesagt wurde, die besseren Parteiarbeiter waren und größere Erfolge erzielen konnten.“ (Helmuth Warnke: Der verratene Traum. Langenhorn. Das kurze Leben einer Hamburger Arbeitersiedlung, Hamburg 1983, S. 109).168 „Auf der ersten Straßenzellenversammlung, an der ich als neugebackenes Mitglied der KPD teilnahm, wollte man mich gleich zum Politischen Leiter dieser Zelle machen, weil ich mich sofort an der Diskussion beteiligt und offenbar kein dummes Zeug geredet hatte.“ (Bru-no Retzlaff-Kresse: Illegalität - Kerker - Exil. Erinnerungen aus dem antifaschistischen Kampf, Berlin (DDR) 1980, S. 21).

94 3.1 Die KPD als Handlungssystem

trollieren konnte. Die vielleicht wichtigste Ressource auf dieser Ebene der Zellen- oder Ortsgruppenfunktionäre war die Einsatzbereitschaft, oder besser gesagt: die Unentbehrlichkeit. Ein nicht geringer Teil der ehrenamtlichen Orts-gruppen- oder Zellenleiter nahm aus eigenem Antrieb oder gezwungen durch die Passivität vieler ,einfacher‘ Genossen möglichst alle Arbeiten selbst in die Hand und konnte oder wollte nicht delegieren (vgl. Abschnitt 5.1.2.2). In einem Be-richt des ZK-Mitarbeiters Edwin Hoernle über eine Kreiskommunalkonferenz in Stralsund und Barth von Juli oder August 1928 heißt es etwa: „Im Allgemeinen ist die Ortsgruppe [Stralsund] durchaus passiv. Alle Arbeit wird vom Genossen Willi Harder erledigt. Er ist seit Jahren erwerbslos, erhält keinerlei Unter-stützung und lebt bei den Eltern seiner Braut, die ihn vollkommen mit erhalten.“169 Diese Unentbehrlichkeit konnte ein Zellen- oder Ortsgruppenleiter natürlich gegenüber der Parteiführung in die Waagschale werfen - wenn er wollte! Dabei kam es auch hier einerseits auf die strategische Positionierung des Funktionärs und andererseits auf seine ‚Sichtbarkeit‘ durch die übergeordneten Leitungen an.

Der ehrenamtliche Funktionär einer Zelle oder Ortsgruppe kontrollierte aber eine vielleicht noch wichtigere Ressource. Er kannte seinen Tätigkeitsbereich, aus dem er die Informationen lieferte, die die höheren Ebenen bis hin zur Partei-führung für die Planung der politischen Arbeit der Partei benötigten, besser als jeder andere. Den Apparat der Parteiführung hätte es ins Unermessliche und Un-finanzierbare aufgebläht, wenn sie versucht hätte, alle vor Ort relevanten In-formationen selbst zu erheben und zu verwalten (vgl. Abschnitt 3.3.4.1). Diesen Wissensvorsprung konnte der ehrenamtliche Funktionär dazu verwenden, die Entscheidungen der Führung über die Informationen, die er ihr zugehen ließ, in eine Richtung zu beeinflussen, die seinen Interessen entsprach. Über diesen Weg konnte er auch Anordnungen der Parteiführung ins Leere laufen lassen. Folgt man dem Bericht der ZK-Org-Abteilung an den 12. Parteitag (1929) wurde dieser Weg von zahlreichen Betriebszellen eingeschlagen, die versuchten, sich um die Umsetzung des Beschlusses zu drücken, auf kommunistischen Betriebs-ratslisten nun auch gewerkschaftlich Unorganisierte aufzustellen:

„In der Praxis zeigte sich aber, daß in sehr viel Betrieben unsere Parteigenossen entwe-der stillschweigend diese Linie gar nicht anwandten oder dort, wo sie von seiten der übergeordneten Parteileitungen gedrängt wurden, durch allerhand Manöver versuchten auszuweichen, indem sie erklärten, in ihren Betrieben gebe es keine Unorganisierten, die als Kandidaten in Frage kämen.“170

Was in diesem Fall am Misstrauen oder am ideologisch bedingten Schematis-mus der Funktionäre der Organisationsabteilung des ZK scheiterte, ist in vielen anderen Fällen gelungen, da es - wie gesagt - der Parteiführung gar nicht möglich war, alle wichtigen Informationen, die von ,unten‘ nach ,oben‘ geliefert 169 SAPMO-BArch RY1/I3/3/22, Bl. 74 (Hervorhebung im Original).170 SAPMO-BArch RY1/I2/4/29, Bl. 43.

3 Der organisatorische Hintergrund 95

wurden, zu überprüfen. Mit den Informationen über seine Gebietsorganisation, die beim Zellen- oder Ortsgruppenleiter zusammenliefen, konnte er auch noch unmittelbarer die Tätigkeit der übergeordneten Instanzen manipulieren. Der um-sichtige Funktionär, der seine Manipulationsmöglichkeiten im Aushandlungs-prozess mit den übergeordneten Instanzen einzusetzen dachte, tat allerdings gut daran, sich vorher der generellen Rückendeckung zumindest des Großteils der Aktivisten seiner Organisation zu vergewissern.

Dieses Monopol der Angehörigen der unteren Parteileitungen auf abschnittss-pezifische Informationen, wozu natürlich auch die so sensiblen Informationen über die Umsetzung der Anweisungen der höheren Ebenen gehörten, zählt neben einem unauffälligen Engagement für die Partei - also das pünktliche Einhalten aller (leicht feststellbaren) formalen Verpflichtungen -, zu den Haupt-quellen der relativen Autonomie der Basisverbände.

Wie die ,einfachen‘ Mitglieder und unteren Funktionäre hatten die Hauptamtli-chen in den Bezirksleitungen und in der Zentrale bzw. dem ZK ihrerseits ein Monopol über die Informationen, die bei ihnen zusammen kamen. Und die Angehörigen der Parteiführung nutzen ihr ,Herrschaftswissen‘, wenn es aus ih-rer Sicht angebracht war, ohne zu zögern.

Dies lässt sich am besten am Beispiel der Parteipresse aufzeigen - die, ursprünglich relativ autonom und in der Hand lokaler Genossenschaften, sich die Parteiführung über die Jahre immer stärker unterordnen konnte.171 Man den-ke nur an die Verhinderung einer Diskussion über die Kritik Paul Levis und sei-ner Anhänger an der Märzaktion und der „Offensivtheorie“ 1921. Die gleiche Strategie wurde 1928 angewendet, nachdem durch eine Veröffentlichung in der Zeitung „Volkswille“ des Leninbundes am 31. August 1928 ruchbar geworden war, dass Thälmann Unterschlagungen seines Freund John Wittorf vertuscht hatte. Auch hier war eine Mischung aus Verschweigen und disziplinarischen Maßnahmen erfolgreich. Es gelang die unerlaubte Diskussion abzuwürgen, nachdem die Genossen über die Affäre Thälmann-Wittorf Dampf abgelassen hatten.172

Eine solche Kommunikationsstrategie der Führung konnte natürlich nur dann funktionieren, wenn das Thema erstens für große Mitgliederkreise keine akut herausragende Relevanz besaß und zweitens diese nicht auf andere Kommunika-tionskanäle und Medien zurückgreifen konnten, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Anders als ihre russischen Genossen waren die KPD-Mitglieder aber grundsätzlich immer in der Lage, eine andere Interpretation über die so genannte bürgerliche Presse einzuholen. Im Übrigen waren es die ,einfachen‘ Mitglieder

171 Vgl. Herbert Girardet: Der wirtschaftliche Aufbau der kommunistischen Tagespresse in Deutschland von 1918 bis 1933, unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Re-gierungsbezirk Düsseldorf, Diss., Leipzig 1938. Weber: Wandlung I, S. 272ff.172 Vgl. Koch-Baumgarten: Aufstand, S. 334ff.

96 3.1 Die KPD als Handlungssystem

der KPD, die sich tagtäglich am Arbeitsplatz oder an der Stempelstelle die kri-tischen Kommentare ihrer anders gesinnten Kollegen zur Politik ihrer Partei anhören mussten. Sie waren also im Prinzip - anders als so mancher ZK-Funktionär - gar nicht in der Lage, sich autistisch in das Schneckenhaus des einzig wahren Parteistandpunktes zurückzuziehen. Von daher musste auch die Parteiführung eine gewisse Vorsicht bei der Manipulation von Informationen üben.

Andererseits konnte die Parteiführung aber auch immer mit einem gewissem Maß an Gutgläubigkeit der Mitglieder ihr gegenüber rechnen, wenn sie es nur mit der Manipulation von Informationen nicht übertrieb, wie etwa bei der Be-richterstattung der „Roten Fahne“ über die Antikriegsdemonstration am 1. Au-gust 1927, die ihr einen geharnischten Brief des Polleiters des 9. Berliner Verwaltungsbezirks Wilmersdorf eintrug:

„Ich bitte, endlich einmal mit aller Entschiedenheit gegen die verlogene Bericht-erstattung der ,Roten Fahne‘ über die Veranstaltungen der Partei sich zu wenden. ,Auf-marsch von 120 000 im Lustgarten‘ zu schreiben, wirkt einfach lächerlich und schadet unserer Agitation unter der Arbeiterschaft. Wenn die Berichterstatter der ,Roten Fahne‘ alles doppelt und dreifach sehen, soll man sie in eine Augenklinik, aber nicht in das Zentralorgan unserer Partei schicken.“173

Das Haupthindernis einer totalen Herrschaft der Parteiführung aber war die durch keinen Beschluss aufhebbare Knappheit der finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen, die der Partei zur Verfügung standen. Von den Vertre-tern des politikhistorischen Ansatzes ist dies mit schöner Regelmäßigkeit ,über-sehen‘ worden. Die KPD-Führung musste sich kräftig nach der Decke strecken, um alle ihre Aufgaben zu erfüllen. Qualifiziertes Personal, welches an einer Stelle eingesetzt wurde, stand naturgemäß in dieser Zeit für andere Tätigkeiten nicht mehr zur Verfügung. Die physische Belastbarkeit auch der engagiertesten Genossen hatte ihre Grenzen.

Diesem Zustand hätte vielleicht dadurch Abhilfe geschaffen werden können, dass man sich führungsintern zweckrational auf eine jeweils verbindliche Liste von Prioritäten geeinigt hätte. Eine solche Einigung war aber schon deswegen nicht dauerhaft möglich, weil die Partei immer wieder ad hoc auf tagesaktuelle Entwicklungen reagieren musste. Dies hat wohl neben der vorrangig praktischen ‚Ausbildung‘ der führenden Funktionäre zu einem vielfach durch Improvisation geprägten Umgang mit knappen Ressourcen geführt. Außerdem standen einer solchen Grundübereinkunft - und das war wahrscheinlich gravierender - die Eifersüchteleien zwischen den verschiedenen Funktionären entgegen, denen es darum ging, jeweils für ihr persönliches ,Steckenpferd‘ das Optimum an

173 Auszüge des Briefs wurden durch die Org-Abteilung der Bezirksleitung Berlin-Branden-burg am 15. August 1927 an das ZK-Sekretariat und die Redaktion der „Roten Fahne“ wei-tergeleitet (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/75, Bl. 315).

3 Der organisatorische Hintergrund 97

Ressourcen zum Einsatz zu bringen.174 Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Überproduktion an Anweisungen als Kampf um die knappe Ressource ,Mit-gliederaktivität‘ interpretieren.

3.2 Die Organisationsstruktur der KPDEine der wichtigsten Machtquellen liegt nach Crozier und Friedberg in der „Benutzung organisatorischer Regeln“ Für eine historische Untersuchung über die KPD in der Weimarer Republik bedeutet dies, dass der formalen Struktur, wie sie in den Statuten der Partei festgehalten wurde, gebührende Aufmerksam-keit zu widmen ist, aber gleichzeitig die quellenmäßig und methodisch viel schwieriger zu ermittelnde informelle Struktur zu identifizieren und als Produkt des alltäglichen Handelns haupt- oder ehrenamtlicher Funktionäre sowie ,einfa-cher‘ Mitglieder zu analysieren ist.175

3.2.1 Die Entwicklung der formalen ParteistrukturDie Entwicklung des Parteistatuts im Laufe der Jahre spiegelt den Prozess der Einbindung einer zum Zweck der Durchführung der sozialistischen Revolution gegründeten Organisation in die Weimarer Gesellschaft wieder. Die KPD hatte nach zwei Aufstandsversuchen erkennen müssen, dass die Revolution nicht mehr auf der Tagesordnung stand, und sich daher ganz pragmatisch eine Struk-tur gegeben, mit der die Probleme, die im politischen Alltag im System der Weimarer Republik entstanden, halbwegs effizient gelöst werden konnten. Die, wenn auch negative, Integration der KPD in die Weimarer Parteienlandschaft führte in Verbindung mit dem Heranwachsen zur Massenpartei zur Ausdiffe-renzierung der internen Organisationsrollen, zur Spezialisierung und Professio-nalisierung der Parteifunktionen; allgemein gesprochen: zur Oligarchisierung und Bürokratisierung der Partei. Die KPD absolvierte einen Prozess, in dem es der Parteiführung gelang, sich die Parteiorganisation zumindest dem Buchstaben des Statuts nach allmählich zu unterwerfen. Einen Beitrag dazu leistete die aus-geprägte Bereitwilligkeit vieler Parteitagsdelegierter, aus einer sorgfältig durch die Parteiführung inszenierten Atmosphäre des Optimismus heraus auch die weitreichendsten Satzungsänderungen ohne nähere Prüfung zu beschließen.176

174 Dazu ein Beispiel: Um dem Zustand des als Kopfblatt der Breslauer „Schlesischen Arbei-terzeitung“ dahin siechenden Bezirksorgans abzuhelfen, schlug Walter Gollmick, Redakteur der „Oberschlesischen Rote Fahne“, auf der Sitzung der oberschlesischen Bezirksleitung am 9. März 1926 vor: „Die gesamte Organisation der Partei muß in den Dienst der Zeitung ge-stellt werden.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 209).175 Crozier/Friedberg: Macht, S. 53 bzw. S. 26.176 Die Kehrseite dieser Bereitschaft war, dass viele der so gefassten Beschlüsse, sobald der Optimismus nach Beendigung des Parteitags wieder abgeflaut war, in der Praxis ohne Wirkung blieben. Das KPD-Statut war übrigens weder durch eine besondere Antragsfrist noch durch ein Quorum vor Änderungen geschützt, was bei anderen Organisationen des Arbeitermilieus, etwa den Konsumgenossenschaften, auch damals durchaus schon üblich war.

98 3.2 Die Organisationsstruktur der KPD

Die sukzessive Übernahme der leninistischen Organisationsprinzipien - die so genannte „Bolschewisierung“ der KPD in der Mitte der 1920er Jahre - war vor diesem Hintergrund die spezifische Antwort einer spezifischen politischen Kultur auf das Problem, in einer politisch als repräsentative parlamentarische Demokratie verfassten, arbeitsteilig ausdifferenzierten, hochkomplexen moder-nen Industriegesellschaft, die Kooperation unter den Organisationsangehörigen zu sichern; sie war die spezifische Lösung für das alle größeren Organisationen betreffende Dilemma von Effizienz und Partizipation.

3.2.1.1 Die Parteistruktur in der GründungsphaseDer organisatorische Aufbau der KPD verlief zu Anfang ungeplant und urwüch-sig. Da bis zur ersten Reichskonferenz der KPD (14./15.6.1919) keine offizielle Parteisatzung existierte, behalfen sich die Akteure der ersten Stunde mit den In-stitutionen, die sie aus den Organisationen kannten, denen sie früher angehört hatten, und die sich dort ihrer Ansicht nach bewährt hatten. Ein Einfluss des Sta-tuts, das Lenin 1903 für die RSDAP entworfen hatte, auf die erste Satzung der KPD ist hingegen nicht zu erkennen.177 Den frisch gebackenen deutschen Kom-munisten waren noch ihre eigenen Erfahrungen näher als die ihrer russischen Genossen. Über den von der SPD übernommenen Wohnbezirksorganisationen und einigen aus der USPD stammenden Betriebsorganisationen erstreckten sich die Ortsgruppen, die sich zu Bezirken zusammenschlossen. Mit der Verabschie-dung der ersten Satzung durch den zweiten Parteitag der KPD (20.-24.10.1919), wurde das, was sich im Parteialltag mehr oder weniger spontan herausgebildet hatte, ohne Aussprache insgesamt bestätigt und systematisiert.178

Das erste Statut der KPD war ein Dokument, das ebenso stark den Ablösungs-prozess von der SPD wie die revolutionäre Naherwartung widerspiegelte. Noch waren die Erfahrungen der ehemals sozialdemokratischen Kriegsgegner mit dem Parteivorstand der SPD recht lebendig, und daher auch ihre antiautoritäre und sogar antiorganisatorische Attitüde.179 Daher wurde eine weitgehende Autono-mie der „in ihrer Organisationsarbeit und ihren Aktionen im Rahmen der Parteigrundsätze und Parteibeschlüsse“ (§ 2) selbständigen Ortsgruppen im Sta-tut verankert. Die Parteiführung („Zentrale“) sollte demgegenüber nicht viel

177 V.I. Lenin: Entwurf des Statuts der RSDAP, in: ders., Werke, Bd. 6, S. 476f.178 Satzung der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund), in: Bericht 2. Partei-tag, S. 67.179 Dazu Hugo Eberlein auf dem 2. Parteitag: „Viele glaubten, daß ein umfangreicher organi-satorischer Apparat, wie überhaupt eine organisatorische Zusammenfassung der Genossen nicht notwendig sei, da doch in Kürze das Proletariat die Herrschaft übernehmen werde und dann im Rätesystem auch die politische Organisation aufgehen würde. Die Gründung von Mitgliedschaften, die Beitragszahlung erschien vielen Genossen als überflüssiger Ballast und erst allmählich kamen unsere Genossen zum organisatorischen Aufbau.“ (Bericht 2. Parteitag, S. 26).

3 Der organisatorische Hintergrund 99

mehr als eine koordinierende Service-Einrichtung für die Ortsgruppen sein. Als Kontrollinstanz des Parteivorstandes wurde der sozialdemokratische Bezirksaus-schuss unter dem Namen „Zentralausschuss“ übernommen, dessen Mitglieder, wie in der SPD, durch die Bezirksorganisationen gewählt wurden. Dem räte-demokratischen Zeitgeist entsprach die Bestimmung in § 8, dass Angestellte der Partei jederzeit durch die Instanz, die sie in ihr Amt gewählt hatte, wieder abbe-rufen werden konnten.

3.2.1.2 Die Parteistruktur der VKPDAuf dem Vereinigungsparteitag der KPD und der linken USPD (4.-7.12.1920) wurde das Statut als Tagesordnungspunkt drei nach dem Aktionsprogramm der VKPD und dem Agrarprogramm behandelt. Die Methoden, mit denen die KPD auch später über ihre Formalstruktur befunden hat, sind hier schon ausgebildet: Die Parteiführung ließ einen Satzungsentwurf herstellen, der gemeinsam mit den entsprechenden Anträgen der Bezirke der vom Parteitag gewählten Organisa-tions- oder Statutenberatungskommission vorgelegt wurde. Ihre Aufgabe war es dann, aus dem vorgegebenen Material einen zweiten Entwurf zu destillieren, den sie schließlich durch ihren Berichterstatter dem Plenum zur Beschlussfassung empfahl.

Das erste noch recht knappe Statut von 1919 mochte vielleicht für die Be-lange einer kleinen, halbwegs noch überschaubaren Partei genügen, die die KPD ja Anfang 1920 mit etwa 50.000 Mitgliedern noch gewesen war. Sicherlich ge-nügte es nicht den Ansprüchen einer Massenpartei mit vielleicht mehr als 400.000 Mitgliedern. Die Vergrößerung der Partei spiegelt sich daher in einigen Bestimmungen des vom Vereinigungsparteitags verabschiedeten Statuts wieder.180 Was den Parteiaufbau betraf, wurde nun zum ersten Mal eine Unter-gliederung der Ortsgruppen in Distrikte und Straßengruppen eingeführt (§ 4). Im Bereich der Willensbildung kam alternativ zur Mitgliedervollversammlung die Vertreterversammlung hinzu (§ 5). Außerdem wurden die aus der USPD über-nommenen Betriebsfraktionen erstmals in das Statut aufgenommen.

Das Statut von 1920 zeigt auch schon eine gewisse Abkehr vom antiautoritär-en Geist der unmittelbaren Nachkriegszeit. Einflussreiche Vertreter aus der lin-ken USPD wie der Berichterstatter der Organisationskommission, Wilhelm Koenen, verstanden sich als Leninisten und bemängelten die eher lockere Organisationsform der USPD. Sie plädierten, wie schon seit einiger Zeit auch die Zentrale der KPD, für eine „festere zentralistische Kampforganisation“ zur Eroberung der politischen Macht. Da nach Meinung wohl der meisten Dele-gierten die Revolution unmittelbar bevorstand, traf Koenens Begründung des Statutenentwurfs - „in Kämpfen ist Disziplin alles“ - bei den 485 Teilnehmern des Parteitags ohne weiteres auf Zustimmung. Die moderate Zentralisierung

180 Satzung der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands, in: Bericht Vereinigungs-parteitag, S. 242-247.

100 3.2 Die Organisationsstruktur der KPD

zeigte sich etwa in der Bestimmung, dass die Parteiangestellten nun nur noch „im Einverständnis mit der Zentrale“ angestellt werden durften.181

Im Großen und Ganzen blieb es aber bei den Einrichtungen der KPD. Sie wurden nun erstmals ausführlicher definiert. Die Mitglieder hatten nun zum Bei-spiel die Pflicht, „im Sinne der Grundsätze und Taktik der Partei zu wirken und deren Beschlüsse durchzuführen.“ (§2). Darüber hinaus wurden die Beschlüsse der Bezirksparteitage (§ 6), der Parteitage (§ 7) sowie der Zentrale (§ 8) als für die Mitglieder bindend erklärt, wodurch die drei Instanzen trotz ihrer unter-schiedlichen Dignität in ihrer Wirkung gleichgestellt wurden. Dies wurde damit begründet, dass nur so die „Aktionsfähigkeit“ der Partei hergestellt werden kann, die eben erfordere, dass einmal getroffene Entscheidungen auch ohne wei-tere Diskussion ausgeführt werden.182

Das vom Vereinigungsparteitag beschlossene Statut behandelte gleichzeitig erstmals ausführlicher die Kriterien und die Verfahrensweise des Parteiaus-schlusses: „Wer gegen Programm, Satzungen und Beschlüsse der Partei und der Kommunistischen Internationale verstößt, wird aus der Partei ausgeschlossen.“ (§ 15). Damit hatte man aus den revolutionären Phantasien auf die profane Erde zurückgefunden, weshalb nun versucht werden sollte, die Disziplin in der Partei zu erzwingen, anstatt weiterhin darauf zu setzen, dass sie sich als spontane Selbstdisziplin aus der Identifikation der Genossen mit dem Organisationsziel ergab.

Außerdem wurde von den Mitgliedern im Sinne der „21 Bedingungen“, die für den Beitritt befreundeter Parteien in die KI vom 2. Weltkongress (19.7.-7.8.1920) beschlossen worden waren, verlangt, sich in den Betrieben sowie in den Gewerkschaften und Genossenschaften zu „Fraktionen“ zusammenzu-schließen und dort „einheitlich nach den Richtlinien und unter Kontrolle der zu-ständigen Parteiorganisation ... für die Kommunistische Bewegung zu wirken.“ (§2).

Insgesamt blieb das Statut von 1920 ein Provisorium. Dennoch wurde hier schon die Richtung vorgezeichnet, in die sich die formale Struktur der KPD in den Folgejahren entwickeln würde.

3.2.1.3 Die Parteistruktur nach der MärzaktionDie nächste Reform des Parteistatuts wurde schon auf dem ersten ordentlichen Parteitag der vereinigten Partei (22.-26.8.1921), diesmal aber nach ausgiebiger Diskussion verabschiedet.183 Der Fehlschlag der Märzaktion, die darauf folgende Kontroverse, sowie die Umstellung der Parteiführung und die Herausdrängung der Kritiker hatte die nun verantwortlichen Kreise zu der Schlussfolgerung ge-führt, dass die Partei von ihrem immer noch sehr ‚sozialdemokratischen‘ Aufbau

181 Bericht Vereinigungsparteitag, S. 120f.182 Ebenda, S. 112.183 Bericht 7. Parteitag, S. 432-436.

3 Der organisatorische Hintergrund 101

her nicht in der Lage war, eine revolutionäre Aktion erfolgreich zu Ende zu füh-ren. Für die nun in der Zentrale dominierenden Parteilinken konnte die Konse-quenz daraus, dass sich ganze Bezirke der Exekution der Linie der Zentrale in den Märzkämpfen verweigert hatten, nur in weiterer Zentralisierung liegen. Sie konnten dabei auf das Modell der Bol’ševiki zurückgreifen, das 1917 seine Be-währungsprobe als das Modell der revolutionären Partei in den Augen der Parteimitglieder bravourös bestanden hatte, und damit bei ihnen über ein hohes Maß an Legitimation verfügte. Diese erneute Stärkung der Macht der Parteifüh-rung war daher, weil sie in bolschewistischem Gewand daherkam, relativ leicht durchsetzbar. Erstmals wurde nun das Bekenntnis zum Demokratischen Zentralismus als Prinzip des Parteiaufbaus in das Statut (§ 2) hineingeschrieben, während generell der bisherige Aufbau mit wenigen Änderungen erhalten blieb.

Der Fehlschlag der Märzaktion - es kam kaum zu größeren Solidaritäts-aktionen mit den Streikenden in Mitteldeutschland und bis auf ein paar Demons-trationen im Ruhrgebiet, in Hamburg und Berlin war es ruhig geblieben -, hatte die Parteiführung auf die Idee gebracht, die Ortsgruppen zur Erleichterung der Kontrolle schematisch in die in der deutschen Arbeiterbewegung bislang unbe-kannte Organisationsform der so genannten Zehnergruppen zu unterteilen, was im Mai 1921 mit der Vorlage eines neuen Statutenentwurfs durch die Zentrale geschah:

„Es zeigte sich die Notwendigkeit, die Parteiorganisation überhaupt erst einmal unseren Aufgaben entsprechend aufzubauen. Fast überall waren die Mitglieder nur zu losen Vereinen zusammengeschlossen, die Organisation trug noch den Charakter der alten so-zialistischen Wahlvereine, in denen nur eine ganz lose Verbindung der Mitglieder bestand.“184

Ob die Zehnergruppen wirklich zu lebensfähigen Basisorganisationen der Partei wurden, lässt sich anhand der Quellen kaum einschätzen. Im Bereich der Stadt Berlin scheint die Umstellung der Partei halbwegs funktioniert zu haben. Die Bezirksleitung sprach in ihrem Politischen Bericht vom November 1922 von einer bewährten Einrichtung. Anders war es im Bezirk Rheinland-Westfalen-Nord. In einem Brief der Bezirksleitung an die Organisationsabteilung der Zentrale vom 23. Januar 1922 hieß es dazu: „Die Durchorganisierung (Zehnergruppen) war erst in Angriff genommen, weiter hatten wir auch mit einer großen Lauheit in den Kreisen der Genossen zu rechnen.“185

Die ebenfalls nach der Märzaktion eingeführten Oberbezirke, die die Kon-trolle der Bezirksleitungen durch die Zentrale verbessern sollte, wurden nach längerer Diskussion nicht in das Statut aufgenommen, aber in der Praxis noch eine Zeit lang beibehalten. Erstmals wurde nun außerdem ein umfassender Pflichtenkatalog für die Mitglieder festgelegt:

184 Vgl. Sigrid Koch-Baumgarten: Die Märzaktion der KPD 1921, Köln 1987. Bericht der Ab-teilung für Propaganda der Zentrale an den 7. Parteitag (Bericht 7. Parteitag, S. 23).185 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/23, Bl. 38.

102 3.2 Die Organisationsstruktur der KPD

„Mitglied der Partei kann jede Person werden, die Programm, Satzungen und die Beschlüsse der Partei und der Kommunistischen Internationale als für sich bindend an-erkennt, an der täglichen Parteiarbeit teilnimmt, regelmäßig die Parteibeiträge zahlt, die Parteizeitung abonniert und für sie wirbt.“186

Wilhelm Koenen, er war auch 1921 Berichterstatter der Statutenberatungskom-mission, lieferte auf dem Parteitag die offizielle Interpretation dieser Bestim-mung:

„Es soll mit dem Ausdruck ,täglicher‘ gesagt werden, daß die laufenden Arbeiten in den Betrieben, Gewerkschaften, Genossenschaften, Gemeinden, bei der Agitation, Pro-paganda und Information, und was sonst noch in Frage kommt, von allen Genossen übernommen werden sollen.“

Mit dieser im Prinzip utopischen Ausweitung der Mitgliederpflichten sollte der KPD-Organisation ihr überkommener Sozialdemokratismus endgültig ausge-trieben werden.187 Nachdem sich Koenen selbst noch auf dem Vereinigungs-parteitag 1920 dagegen ausgesprochen hatte, die aktive Mitarbeit und die regel-mäßige Beitragsleistung in das Statut hineinzuschreiben, da es sich dabei um „Selbstverständlichkeiten“ handele, war man nun offenbar ‚klüger‘.188

Dem Ziel der Aktivierung der Mitgliedschaft diente auch die Umstellung, Systematisierung und Verschärfung von § 15 des Parteistatuts, der sich mit dem Parteiausschluss befasste. Die Zielvorstellungen der Parteiführung wurden in der einleitenden Begründung der Ausschlusssanktion auf prägnante Weise demons-triert: „Die Kommunistische Partei Deutschlands ist eine zentralistische Partei-organisationen, die auf straffe Disziplin in ihren eigenen Reihen zu achten hat. Die Beschlüsse der Organisationen und ihrer Leitungen müssen unbedingt durchgeführt werden.“189 In Bezug auf die Durchführung eines Ausschlussver-fahrens, blieb es zwar im Prinzip bei der bisherigen Bestimmung, wonach die Parteigruppe, in der der Delinquent tätig war, bei der Bezirksleitung einen An-trag auf Parteiausschluss stellen musste. Darüber hinaus wurde nun aber erst-mals den Bezirksleitungen sowie der Zentrale das Recht eingeräumt, aus eigener Initiative tätig zu werden.190 Angesichts der vielfältigen Auslegungsmöglichkei-186 Bericht 7. Parteitag, S. 432.187 Besonders prägnant hat die hinter dieser Intention stehende Wahrnehmung der Parteibasis Edwin Hoernle in einem Aufsatz von 1923 zum Ausdruck gebracht: „In der Tat, die KPD hat so lange den sozialdemokratischen Geist in ihren Reihen nicht überwunden, als sie passive Mitglieder in ihren Reihen duldet, Mitglieder, die wohl Beiträge zahlen und zu Versamm-lungen und Demonstrationen erscheinen, aber im übrigen sich als Kommunisten gar nicht oder doch nur zufällig betätigen.“ (Der 4. Weltkongreß zur Bildungsarbeit, in: Die Internatio-nale 1923, S. 214-220, hier: S. 218).188 Bericht 7. Parteitag, S. 370 (Zitat). Bericht Vereinigungsparteitag, S. 114.189 Bericht 7. Parteitag, S. 436.190 Diese Option verankerte die SPD erst 1924 in ihrem Parteistatut (Richard N. Hunt: German Social Democracy 1918-1933, Chicago 1970, S. 48).

3 Der organisatorische Hintergrund 103

ten des im Statut genannten Ausschlusskriteriums - „Mitglieder, die gegen Pro-gramm, Satzungen, Beschlüsse und Disziplin verstoßen“ - und der Alltäglichkeit derartiger Verstöße, gab diese Fassung den führenden Funktionären eine Blan-kovollmacht.

Um die Zentrale - deren Aufgabenbereich nun mit der „politischen und organisatorischen Leitung der Partei“ sowie der „Kontrolle sämtlicher Organe und Funktionäre“ umschrieben wurde (§ 7) - angesichts der sich beschleunigenden Inflation auch finanziell zu stärken, wurde überdies beschlossen, von der vierteljährlichen zur monatlichen Beitragsabrechnung überzugehen. Dies sollte gewährleisten, dass die Zentrale ihren Anteil von 30 Prozent an den Mitgliedsbeiträgen, der ihr 1920 bewilligt worden war, noch erhielt, bevor er wertlos wurde. Gleichzeitig sollte sie eine bessere, weil regel-mäßigere Kontrolle über die Tätigkeit der Bezirke ermöglichen.191 Die Auftei-lung der Beitragsanteile zwischen den Ortsgruppen und den Bezirksleitungen wurde den Bezirksparteitagen überlassen. Außerdem wurde die Bestimmung der Höhe des Mitgliedsbeitrags aus dem Statut herausgenommen und der Beschluss-fassung der Parteitage überlassen.

3.2.1.4 Die Parteistruktur nach der OktoberniederlageDie nächste Reform des Parteistatuts der KPD, die auf dem 9. Parteitag in Frankfurt (7.-10.4.1924) beschlossen wurde, fand wiederum nach einem fehlge-schlagenen Aufstandsversuch statt und brachte wiederum eine neue Organisa-tionsform für die Parteiarbeit an der Basis: die Betriebszelle. Da aus der Sicht der Organisationskommission der Zentrale „die industriellen Proletarier die Trä-ger der revolutionären Machtkämpfe“ seien, wurde festgestellt, müsse die KPD „ihre festesten organisatorischen Stützpunkte dort haben, wo die proletarischen Massen zusammengeballt sind und wo die Kämpfe ihren Ausgangspunkt haben. Das ist der Betrieb.“192

Teils unter der Bezeichnung Betriebsfraktion endogener Organisationsansatz aus der frühen Nachkriegszeit der deutschen Arbeiterbewegung, teils Import aus der vermeintlichen Erfolgsgeschichte der Bol’ševiki, war die Betriebszelle der zweite groß angelegte Versuch, der Partei durch eine Strukturreform endgültig die sozialdemokratischen Organisationstraditionen auszutreiben. Wieder einmal gelang es einer neuen Parteiführung - die durch die Oktoberniederlage, die dar-auf folgende Illegalität und eine in der Parteimitgliedschaft weit verbreitete Passivität nach oben gespült worden war - unter Hinweis auf die russischen Erfahrungen eine selbst verschuldete Niederlage der Partei dahingehend auszu-beuten, eine Organisationsreform durchzusetzen. Diese wurde nach außen zwar

191 Dazu Koenen: „Wir müssen aber den Zustand beseitigen, der eingerissen war, daß wir erst nach 3 oder 4 Monaten erfahren, daß ein Bezirk in Unordnung ist.“ (Bericht 7. Parteitag, S. 381).192 Die Organisationsaufgaben der KPD (Bericht 9. Parteitag, S. 188).

104 3.2 Die Organisationsstruktur der KPD

als Änderung kommuniziert, mit der es endlich möglich sein würde, den revolu-tionären Machtkampf erfolgreich zu Ende zu führen. Nach innen aber war sie wenig mehr als ein weiterer Versuch, die Kontrolle der Zentrale über die all-tägliche Parteiarbeit an der Basis auszuweiten und deren Eigentätigkeit zu beschränken.

Erst jetzt, zu einem Zeitpunkt, an dem die Partei nur noch ein Viertel bis ein Drittel der Mitgliederzahlen von Anfang 1921 erreichte, wurden weitere Partei-ebenen eingeführt. In größeren Orten sollten sich die Zellen zu Zellengruppen zusammenschließen; diese sollten in Großstädten nochmals zu Distrikten (spä-ter: Stadtteilgruppen) zusammengefasst werden. Zwischen die Ortsgruppen und die Bezirke wurden die Ebenen der Arbeitsgebiete und der Unterbezirke ge-schoben. Diese Maßnahmen sollten die Kontrollmöglichkeiten der Parteiführung weiter verbessern, waren aber auch eine Reaktion auf die Strukturunterschiede zwischen den Regionen. Zusätzliche Kontrollmöglichkeiten versprach man sich wohl auch von der Bestimmung, dass die Parteivorsitzenden auf der Ebene der Distrikte und Ortsgruppen sowie die Bezirksleitungen zwar von der Mitglieder- oder Delegiertenversammlung gewählt, aber von der nächsthöheren Ebene be-stätigt werden müssen.

Mit der Einführung der Betriebszelle als Grundlage der Parteiorganisation wurde vom urdemokratischen Prinzip der Stimmengleichheit abgewichen, und eine unterschiedliche Stimmengewichtung eingeführt. Die Mitglieder- oder De-legiertenversammlungen der Stadtteil- und Ortsgruppen sollten nun zwar einer-seits „proportional ihrer Mitgliederzahl“ zusammengesetzt sein, andererseits aber sollte dabei „die Mehrheit der Vertreter den Betriebszellen“ zukommen.193

Wieder einmal wurde der Aufgabenkreis der Mitglieder erweitert. Der Ab-schnitt, der die Pflichten des Mitglieds definierte, wurde zwar im Prinzip beibe-halten, die Teilnahme an der täglichen Parteiarbeit aber nun durch gesperrten Satz noch einmal hervorgehoben. Eingefügt wurde, dass das Mitglied „sich mit der ganzen Person für die Durchführung der Parteibeschlüsse“ einzusetzen habe. Um das noch einmal zu unterstreichen, wurde im Abschnitt „Grundlage der Organisation“, der sich mit der Tätigkeit der Betriebszellen befasste, festgelegt: „Jedem Parteimitglied sind vom Zellenkomitee bestimmte Aufgaben zu über-tragen, deren Durchführung vom Komitee kontrolliert wird.“ Zusätzlich wurden die Parteifraktionen in den anderen Arbeiterorganisationen (Gewerkschaften usw.), zu denen sich die Mitglieder seit 1920 zusammenzuschließen hatten, nun noch einmal ausdrücklich als „Organe der Partei“ definiert, die „den zuständigen Parteikörperschaften“ unterstehen und „unter deren Leitungen“ arbeiten und „deren Beschlüsse“ ausführen sollten. Dies war eine Reaktion auf die an der Ba-sis weit verbreitete Praxis, dass sich die Genossen zwar zu Fraktionen zu-sammenschlossen, diese sich aber oft nicht an die Anweisungen der Parteifüh-rung hielten (vgl. Abschnitt 5.2.1.1).

193 Bericht 9. Parteitag, S. 190.

3 Der organisatorische Hintergrund 105

Bestimmungen wie die obigen erinnern nur noch ganz am Rande daran, dass wir es hier mit einem freiwilligen Zusammenschluss von Menschen zu tun haben, die sich der Verwirklichung eines bestimmten politischen Zieles ver-schrieben hatten. Mit dem ins Mystische verzerrten Bild der vorrevolutionären Bol’ševiki vor Augen und getrieben von ihren Allmachtsfantasien hatten die Autoren dieser Vorschriften offenbar vergessen, dass sie es nicht mit einer kleinen Truppe von finanziell von der Führung abhängigen Berufsrevolutionären zu tun hatten, sondern mit einer westeuropäischen Massenpartei, deren Mitglie-der zumeist auch noch einem Broterwerb nachzugehen hatten. Keine Parteifüh-rung konnte die objektiven Zwänge, denen die sich Kommunisten in der Weima-rer Gesellschaft etwa als Arbeitnehmer ausgesetzt sahen, also zum Beispiel die physische Erschöpfung nach acht- oder zehnstündigem Arbeitstag, per Ukas auf-heben. Nicht zuletzt deswegen waren der Realisierung solcher Bestimmungen in der Praxis enge Grenzen gesetzt. Die zunehmende Verschärfung des Tons, in dem die Parteimitglieder durch das Statut angesprochen wurden, zeigt aber auch, dass das Misstrauen der Parteiführung gegenüber der Basis unvermindert stark war.

3.2.1.5 Die Parteistruktur des Demokratischen ZentralismusIhren vorläufigen Abschluss fand die Umstellung der Parteistruktur der KPD mit dem Statut von 1925, das auf dem 10. Parteitag der KPD (12.-17.7.1925) nach längerer Aussprache aber ohne vorherige Diskussion in der Mitgliedschaft ver-abschiedet wurde.194 Es war entsprechend einer Mustervorlage der KI aufgebaut, die im Januar in der KI-Zeitschrift „Internationale Presse-Korrespondenz“ veröf-fentlicht und im März durch eine Organisationskonferenz des EKKI beschlossen worden war. Doch auch das Statut von 1925 fiel nicht aus heiterem Moskauer Himmel. Es brachte zwar eine nun endlich konsequente Übernahme bolschewis-tischer Prinzipien, war aber mindestens ebenso sehr auch eine (kurzsichtige) Re-aktion auf die Erfahrungen der Partei seit der Oktoberniederlage 1923. Ihre füh-renden Kreise hatten endlich eingesehen, dass die revolutionäre Phase vorerst zu Ende war, und richteten die KPD daher strukturell auf das Überwintern in nicht-revolutionären Zeiten ein.

Das lässt sich besonders gut am Organisatorischen Bericht der Zentrale an den Parteitag ablesen. Dort heißt es, die organisatorische Parteiarbeit sei nach dem ausgefallenen Aufstand von 1923 zum Erliegen gekommen: „Die Folgen der Oktober-Niederlage hatten in der Mitgliedschaft einen Geist der Ablehnung von Arbeit für die Partei geschaffen.“ Die daran anschließende „monatelange Parteidiskussion“ habe dann ein Übriges getan:

„Naturgemäß [!] ruhten während dieser Diskussion sowohl im zentralen Apparat wie in den Bezirken alle wichtigen organisatorischen Arbeiten. (...) Die organisatorische Arbeit hatte unter diesen Umständen überhaupt nicht mehr viel Freunde unter der Mit-

194 Bericht 10. Parteitag, S. 232-239.

106 3.2 Die Organisationsstruktur der KPD

gliedschaft. Anweisungen der Parteiinstanzen wurden nicht beachtet oder nur gänzlich oberflächlich besprochen, ohne daß die Durchführung der Anweisungen irgendwie kon-trolliert wurde.“195

Dennoch war das Statut von 1925 im Vergleich mit den Vorläufern keine revo-lutionäre Wende. Es war in erster Linie eine Systematisierung und ergänzende Abrundung der schon vorhandenen Parteieinrichtungen. So wurde zum Beispiel der Zentralausschusses ersatzlos abgeschafft und die Parteiführung analog zur RKP(b) in Zentralkomitee umbenannt. Gleichfalls in Anlehnung an die sowje-tische Sektion der KI wurden ein politisches Büro, ein Organisationsbüro sowie ein Sekretariat des ZK eingerichtet. Das hatte zur Folge, dass die engere Partei-führung nun nicht mehr direkt vom Parteitag gewählt wurde.196

Die Gängelung der Parteimitgliedschaft setzte sich auch mit diesem Statut fort. Eine aufschlussreiche Begründung dafür lieferte Ottomar Geschke, Organi-sationschef der Zentrale und Berichterstatter der Organisationskommission. Nach seiner Auffassung musste der 10. Parteitag Druck ausüben auf die Funktionäre und Mitglieder, da „wir in der Reorganisation der Partei auf Be-triebszellen einen gewaltigen Schritt weiterkommen müssen. Dazu wollen wir auch das Statut mit benutzen.“197 Die Selbstbestimmung der Grundorganisa-tionen wurde - jedenfalls dem Buchstaben nach - auf beinahe null reduziert. Die Basismitglieder hatten sich im Sinne der Beschlüsse aktiv zu betätigen, durften aber nicht einmal mehr autonom über die Aufnahme von Beitrittskandidaten ent-scheiden (§ 3), sondern mussten hier wie bei fast allen anderen wichtigen Ent-scheidungen, die Zustimmung der nächsthöheren Instanz einholen.198 Durch die Erfahrungen aus den Anfängen der Umstellung der Partei auf Betriebszellen im Vorjahr gewitzt, als sich so manches Mitglied einer Feststellung seiner Betriebs-zugehörigkeit entzogen hatte (vgl. Abschnitt 5.1.1.2), wurden den Partei-leitungen in § 5 nun auch Kompetenzen einer Meldebehörde eingeräumt:

195 ebenda, S. 113f.196 Das gleiche Prinzip wurde auch für die Einberufung eines außerordentlichen Bezirkspartei-tags eingeführt (§ 24). Weder im ersten Parteistatut noch in den späteren Fassungen gab es eine Bestimmung über die Amtszeit der Mitglieder der Zentrale/des ZK bzw. des Zentralaus-schusses. So wie 1925 die Einberufung des Parteitags und die Wahl der Mitglieder des Zentralkomitees durch ihn geregelt wurde, ließ das Statut die Möglichkeit zu, dass eine Partei-führung, so sie sich darüber mit dem EKKI ins Einvernehmen setzen konnte, über Jahre hin-weg ohne eine periodische Erneuerung ihrer demokratischen Legitimation - wie sie heute das Parteiengesetz (§ 11 Absatz 1) zwingend alle zwei Jahre vorschreibt - im Amt bleiben konnte, was ja dann auch in der Praxis zwischen 1929 und 1933 der Fall war.197 Bericht 10. Parteitag, S. 434.198 Aber das war kein kommunistisches Spezifikum, auch wenn die bisherige KPD-Forschung Parallelen zu anderen Parteien gern übersehen hat. Nach Richard N. Hunt gab es dieses Phä-nomen auch in der Weimarer SPD: „virtually every reform of the party statute delivered new formal powers to the executive“ (Hunt: Social Democracy, S. 242).

3 Der organisatorische Hintergrund 107

„Beim Wechseln der Arbeitsstelle ist das Betriebszellenmitglied verpflichtet, sich bei der Betriebszellenleitung an- und abzumelden. Beim Wechseln des Wohnortes ist das Mitglied verpflichtet, sich bei der Zellengruppenleitung an- und abzumelden. Bei Über-siedlung in ein anderes Land muß die Erlaubnis des Zentralkomitees der Partei einge-holt werden“.

Die Bestimmungen über die Finanzierung der Parteiarbeit wurden 1925 eben-falls präzisiert. Wie vom Musterstatut vorgeschlagen, ging man von der Festle-gung eines absoluten Mindestbeitrags zu einer einkommensbezogenen Beitrags-bemessung über (§ 47). Die Genossen sollten von nun an „mindestens 1 Proz. der Durchschnittseinkünfte“ an die Partei abführen. Neu war auch die Regelung der Verfahrensweise zur Verteilung der Beitragsanteile des Zentralkomitees und der Bezirksleitungen. Das Recht über die Höhe der an sie abzuführenden Bei-tragsanteile zu entscheiden, wurde nun den jeweiligen Nutznießern zuerkannt: „Die Festsetzung über die Höhe und die Verteilung zwischen Zentralkasse und Bezirkskasse trifft das ZK., die weitere Festsetzung der Verteilung liegt der Be-zirksleitung ob.“ Darüber hinaus wurde entsprechend der Moskauer Vorlage beschlossen, dass Mitglieder, die drei Monate „ohne Gründe anzugeben“ keine Beiträge geleistet haben, nach erfolgloser Mahnung automatisch „als aus der Partei ausgeschlossen“ galten (§ 48).

Für die unmittelbare Tätigkeit der Basis relevant war auch die erstmalige Regelung des individuellen oder kollektiven Beitritts zur KPD in den Paragrafen drei und vier.199 Die schon seit 1921 geltenden Bestimmungen über die Parteidisziplin wurden im Großen und Ganzen beibehalten, nun aber auf 5 Para-grafen ausgedehnt. Der erste von ihnen (§ 41), eine Entlehnung aus dem Statut der RKP(b) von 1919, zeigt sehr anschaulich den Kernwiderspruch des Demo-kratischen Zentralismus:

„Die strengste Parteidisziplin ist die höchste Pflicht aller Parteimitglieder und Partei-organisationen. Die Beschlüsse der KI., des Parteitages, der Parteizentrale und aller hö-hergestellten Parteiinstanzen müssen schnell und genau durchgeführt werden. Gleich-zeitig ist die Besprechung aller Fragen, die Differenzen hervorrufen, vollständig frei, so-lange kein Beschluß gefaßt worden ist.“200

Man möge sich aber davor hüten, diese spezifische Lösung des Verhältnisses zwischen der Kommunikation von ,unten‘ nach ,oben‘ („Willensbildung“) und umgekehrt (Umsetzung von Beschlüssen) vor dem konkreten historischen Hin-tergrund und angesichts der Terminologie zum geistigen Exklusiveigentum der Kommunistischen Internationale zu erklären. Die KPD stand vor dem gleichen Problem, das auch die anderen zeitgenössischen und die heutigen Parteien in-tensiv beschäftigt hat, nämlich gleichzeitig die Partizipation der Organisations-

199 Interessanterweise enthielt keines der sechs Statuten der KPD eine Bestimmung über den Parteiaustritt, wie sie heute das Parteiengesetz in § 6 verbindlich vorschreibt. Ein so unbol-schewistisches Verhalten war offenbar mit einem Tabu belegt!200 10. Parteitag, S. 237.

108 3.2 Die Organisationsstruktur der KPD

angehörigen zu gewährleisten und effizient zu sein. Und sie unterschied sich in ihrer Lösung dieses Problems wenig von der heute noch üblichen Praxis.201

Im daran anschließenden § 42 wurde ein weiteres Mal der Bereich der Sanktionen gegen Disziplinverstöße ausgedehnt. Erstmals wurden auch „Straf-maßnahmen“ gegen ganze Parteiverbände bis hin zur Auflösung in das Statut aufgenommen, nachdem dies vorher schon praktisch erprobt worden war. Was das Verfahren betraf, wurde nun entsprechend des differenzierteren Aufbaus der Partei die Zellengruppen- oder Ortsgruppenleitung als Instanz eingeschoben, bei der die Zelle den Ausschluss zu beantragen hatte, während die Bezirksleitung weiterhin die Instanz blieb, die qua Bestätigungsrecht zu entscheiden hatte.202 Außerdem wurde nun - eine Wiederbelebung einer Institution der Vorkriegsso-zialdemokratie - ein Schiedsgericht als dem Ausschlussverfahren vorgeschaltete Instanz zur Lösung von Streitigkeiten zwischen den Genossen installiert.

Was den Aufbau der KPD betraf, blieb alles beim alten. Über den Betriebs-zellen, der „Grundlage der Parteiorganisation, ihr Fundament“ (§ 12), und den Straßenzellen, erstreckten sich je nach Größe der Gebietseinheit die Zellengruppen - die sich bei Bedarf noch einmal zu Stadtteilgruppen zu-sammenschließen konnten - und die Ortsgruppen. Das bedeutete, dass die Willensbildung der Partei in einer Großstadt wie Essen oder Leipzig vermittelt über drei Ebenen verlief, während sie in einer Kleinstadt ohne Zellenaufbau un-mittelbar durch die Mitgliedervollversammlung der Ortsgruppe stattfand. Über den Stadtteil- oder Ortsgruppen erstreckten sich - je nach Bedarf - die Arbeitsge-biete, auch wenn sie nicht mehr im Statut erwähnt wurden, sowie die Unterbe-zirke.

Eine der aus formaler Sicht gravierendsten Neuerungen, die das KI-Must-erstatut verlangt hatte, war die Auflösung der Ortsgruppenleitungen in den Vor-orten der Unterbezirke und Bezirke. Ihr Aufgabenbereich wurde nun durch die Unterbezirks- bzw. die Bezirksleitungen selbst übernommen (§§ 22 und 28). In der Anmerkung zu § 22 wurde aber gleich festgelegt, dass das ZK Ausnahmen von dieser Regel bewilligen kann. Davon musste in der Folgezeit auch ausgiebig Gebrauch gemacht werden, da diese Bestimmung die Kapazitäten und Ressourcen der meisten Unterbezirks- und Bezirksleitungen schlichtweg über-stieg.

201 Vgl. Rudolf Steininger: Soziologische Theorie der politischen Parteien, Frankfurt am Main 1984, S. 122. Im Statut der SPD (Stand 7.12.1999) finden sich Prinzipien, die mit den drei Grundsätzen des Demokratischen Zentralismus, wie sie in § 6 des KPD-Statuts von 1925 dargelegt sind, durchaus vergleichbar sind: 1. Wahl aller Parteiorgane, 2. „Periodische Re-chenschaftslegung der Parteiorgane vor ihren Wählern“ und 3. „Bindende Anerkennung der Beschlüsse höherer Parteiorgane durch die unteren“.202 Das Prinzip in dubio pro reo galt hier übrigens nicht: wer eines Verstoßes gegen die Parteidisziplin beschuldigt wurde, war sofort nach der Stellung eines Ausschlussantrags, das heißt noch vor einer Bestätigung durch die zuständige Bezirksleitung (und vor einer mögli-chen Berufung), „von der Parteiarbeit zu entfernen.“ (§ 44).

3 Der organisatorische Hintergrund 109

An die Stelle des Zentralausschusses, der aus der SPD übernommenen Kon-trollinstanz der Zentrale, trat nun die weniger formelle Parteikonferenz. Sie ge-hörte seit 1922 zu den Institutionen der RKP(b), und sollte zweimal jährlich zu-sammentreten.203 Die Zentrale war bis zur Vereinigung mit der USPD-Linken formell eine Untergliederung des Zentralausschusses gewesen, der als höchste Instanz zwischen den Parteitagen aus eigenem Recht Beschlüsse überprüfen und fällen konnte. Nun aber übernahm die KPD eine Institution, deren praktische Funktion völlig ungeklärt war und die mit deutlich weniger Rechten ausgestattet wurde. Dies kam unter anderem darin zum Ausdruck, dass ihre Beschlüsse erst „nach ihrer Bestätigung durch das ZK. in Kraft“ treten konnten. Die Kontroll-funktion des Zentralausschusses übernahm das ZK gegenüber seinem Polbüro und Sekretariat, welche die Tagesgeschäfte führten.

3.2.1.6 Die Parteistruktur in den Jahren 1927 bis 1933Mit dem Statut von 1925 gab die KPD sich ihre im Großen und Ganzen endgül-tige Formalstruktur. Die zwei Jahre später verabschiedete Satzung, die bis zum faktischen Verbot der Partei am 28. Februar 1933 gültig blieb, brachte nur noch geringfügige Veränderungen, Präzisierungen und Konkretisierungen bereits be-stehender Bestimmungen.204 So wurde etwa der 1925 aufgenommene Passus (§ 5), der den geordneten Übergang eines Mitglieds von einer Parteigrundorganisa-tionen in eine andere regeln sollte, um zusätzliche Bestimmungen erweitert. Er umfasste nun den Arbeitsplatzwechsel, die Wiederaufnahme einer Arbeit durch arbeitslose Mitglieder und den Umzug. In all diesen Fällen wurde verlangt, dass die Mitglieder sich sowohl ab- als auch anmeldeten. Damit sollte vermieden werden, dass sich Betriebszellenmitglieder nach einem Umzug oder Betriebs-wechsel der Zugehörigkeit zu einer Betriebszelle entzogen, was in der Praxis nur zu oft geschah. Darüber hinaus verlangte das Statut nun von jedem Mitglied, das „als einzelner in einem Betriebe arbeitet ... durch Werbung neuer Mitglieder ... in diesem eine Betriebszelle zu schaffen“ (§ 15).

Eine der wenigen Neuerungen (§ 12) bestand darin, dass die Parteileitungen an der Basis nun auch analog zum Aufbau des ZK und der Bezirksleitungen die folgenden Ressorts („Abteilungen“) einzurichten hatten: „Organisations-, Ge-werkschafts-, Agitprop-, Genossenschafts-, Frauen-, Land-, Kommunalpoli-tische usw. -Abteilung.“

3.2.2 Statutenentwicklung als AushandlungsprozessDie Entwicklung der Parteistatuten war keineswegs ein eindimensionaler Vorgang. Die ,einfachen‘ Mitglieder waren nicht nur die Objekte eines 203 Leonard Schapiro: Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Frankfurt am Main 1962, S. 259. Ihren Einstand bei der KPD feierte die Parteikonferenz übrigens schon im Statut von 1924, wonach sie „nach Bedarf, mindestens aber alle drei Monate“ einberufen werden sollte (9. Parteitag, S. 192).204 HStAD Regierung Düsseldorf 23637.

110 3.2 Die Organisationsstruktur der KPD

zunehmend verschärften Pflichtenkatalogs, sie waren mindestens ebenso sehr Subjekte in dem Prozess, in dem die KPD ihre formalen und informellen Struk-turen entwickelte. Zu untersuchen wäre dabei, wie sich das alltägliche Mitglie-derverhalten in der KPD auf die Formulierung der formalen Strukturen, auf ihre offizielle Auslegung und auf die Praxis der Partei auswirkte.

Auf ‚negative‘ Weise floss das Alltagshandeln an der Basis etwa dadurch in das Statut ein, dass es Reaktionen von ‚oben‘ provozierte, die das Ziel hatten, bestimmte Dinge, die aus Sicht der Parteiführung ‚Fehlentwicklungen‘ waren, abzustellen. Das beste Beispiel dafür ist die allmähliche Ausdehnung der Mit-gliederpflichten im Parteistatut zwischen 1919 und 1925 - der ebenso groß ange-legte wie grandios gescheiterte Versuch, eine totalitäre Utopie von Kooperation in die Wirklichkeit umzusetzen.

Interessanter aber sind die ,positiven‘ Einflussmöglichkeiten der Parteibasis. Ich denke dabei etwa an die praktischen Problemlösungen, die an der Basis für die Umsetzung von Statutenbestimmungen oder für neuartige Handlungssitua-tionen gefunden werden mussten. Bedeutender aber sind die Freiräume, die sich aus der Auslegungsbedürftigkeit sprachlicher Produkte ergeben. Das Ausle-gungsproblem versuchte die Parteiführung zu umgehen, indem teils schon in der Diskussion auf dem Parteitag, teils nachträglich in den Rundschreiben der Parteiführung oder in der Parteipresse, ‚offizielle‘ Interpretationen der einzelnen Satzungsbestimmungen gegeben wurden. Trotzdem blieb auf Grund der Un-eindeutigkeit sprachlicher Produkte immer ein Interpretationsspielraum, auch weil natürlich keineswegs alle Statutenbeschlüsse der KPD widerspruchsfrei waren. Daher war es immer möglich, dass eine Statutenbestimmung ‚vor Ort‘ auf eine andere Weise institutionalisiert wurde als ursprünglich intendiert. Dies geschah entweder dadurch, dass vor dem Hintergrund der lokalspezifischen Erfahrungen der führenden Genossen bestimmte Nuancen hervorgehoben und andere vernachlässigt wurden, oder dadurch, dass Statutenbestimmungen den re-gionalen oder lokalen Bedingungen angepasst wurden, ohne dass die Akteure selbst dies vielleicht bewusst als ihre eigene, von der Intention abweichende Auslegung wahrgenommen hätten.

Interpretation ist aber nicht nur eine passive Angelegenheit. Der damit gebo-tene Spielraum kann auch aktiv von den Akteuren genutzt werden. Ein Beispiel dafür ist die Umstellung der Parteistruktur auf Betriebszellen ab 1924. Schon bald hatte sich im Bezirk Berlin-Brandenburg herausgestellt, dass das ehrgeizige Ziel, alle Genossen in die Betriebszellen zu bringen, nicht zu verwirklichen war. Die Arbeitslosen, Hausfrauen, Bauarbeiter und Selbständigen unter der Mit-gliedschaft ließen sich nur schwer einer Organisationsform angliedern, die nicht ihren Interessen entsprach. Deshalb war man darauf verfallen, die so genannten Straßenzellen einzurichten. Diese Institution musste dann auch als eindeutige Ausnahmeregelung 1925 in das Statut (§ 13) aufgenommen werden, obwohl man prinzipiell an der Absicht festhielt, alle Genossen in die Betriebszellen zu bringen.

3 Der organisatorische Hintergrund 111

Diese Konzession an die Wirklichkeit wurde nun wohl mehr oder weniger in allen Bezirken der KPD in der lokalen Parteipraxis so gehandhabt, dass die alte, von der SPD übernommene Wohnbezirksorganisation hinter der Fassade der Straßenzelle wieder auflebte, so dass die Umstellung auf Straßenzellen oft eine reine Umbenennung war (vgl. Abschnitt 5.1.1.4). Dass es sich bei der Wiederbe-lebung der Wohnbezirksorganisation nicht um eine schlichte Fehlinterpretation der Statutenbestimmungen durch die Genossen handelte, zeigt sich schon daran, dass die zahllosen Versuche, die Parteimitglieder an der Basis über die Unter-schiede aufzuklären, für die Praxis weitgehend folgenlos blieben. Der Berliner Orgleiter Paul Langner stellte daher auf einer Konferenz mit den Orgleitern der Berliner Unterbezirke am 11. Mai 1930 fest: „Die Straßenzellen unterscheiden sich im wesentlichen nicht viel von einem sozialdemokratischen Wahlverein.“205

Dieser ‚Verwechslung‘ lag eine aktive Inanspruchnahme des oben be-schriebenen Interpretationsspielraums zu Grunde. Was in der bisherigen Litera-tur zumeist als Konzession der Parteiführung an eine von ihr nicht veränderbare objektive Faktizität (also etwa die Arbeitslosigkeit vieler KPD-Mitglieder) be-schrieben wurde, war das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen Menschen. Nicht die Arbeitslosigkeit als soziales Faktum hatte die oben be-schrieben Konsequenzen, sondern das aus ihr resultierende Handeln davon be-troffener Genossen.206

Aber der Beitrag der Mitglieder auf den verschiedenen Ebenen der KPD beschränkte sich nicht darauf, praktische Lösungen für neue Probleme zu finden oder die Parteitagsbeschlüsse über die Formalstruktur der Partei in die Praxis umzusetzen. Ihr Handeln konstituierte die eigentliche Struktur der Partei: ihre Statutenwirklichkeit.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die durch den siebten Parteitag 1921 erstmals ins Statut hineingeschriebene Verpflichtung der Mitglieder, die für ihr Gebiet zu-ständige Parteizeitung zu abonnieren. Der Berichterstatter der Statutenbera-tungskommission, Wilhelm Koenen, begründete dies wie folgt :

„Bei der heutigen Lage und dem Abonnentenstande der Presse muß zu dieser Maßregel gegriffen werden, insbesondere, weil viele Arbeiter, die Mitglieder unserer Partei sind, noch nicht eingesehen haben, daß sie nur durch ständige, tägliche Fühlungnahme mit der Partei durch die Parteizeitung wirklich zu Parteifunktionären werden können.“207

Die Parteiführung versuchte aber keineswegs konsequent, die Umsetzung durch-zusetzen. In den Quellen findet sich nicht der geringste Hinweis auf Ausschluss-maßnahmen gegen leseunwillige Genossen! Klagen über Mitglieder ohne 205 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/6, Bl. 9.206 Vgl. dazu Eve Rosenhaft: The Unemployed in the Neighborhood. Social Dislocation and Political Mobilisation in Germany 1929-33, in: Richard J. Evans und Dick Geary (Hg.), The German Unemployed 1981-1936, London 1986, S. 194-227.207 Bericht 7. Parteitag, S. 432 bzw. S. 370.

112 3.2 Die Organisationsstruktur der KPD

Abonnement der Parteizeitung hingegen sind Legion. Verschiedene Modelle, um den Abonnentenstand unter der Mitgliedschaft zu erhöhen, wurden vorge-schlagen, ausprobiert und wieder verworfen. All das änderte wenig daran, dass immer nur ein, wenn auch sehr großer Teil der KPD-Mitglieder auch Abonnenten einer Parteizeitung war (vgl. Abschnitt 4.2.1.1).

Am Ende konnten aber wohl alle Beteiligten mit dem praktischen Kompro-miss zufrieden sein, der sich im Parteialltag herausgebildet hatte. Die Mehrheit der Statutenberatungskommission, die diese Bestimmung beschlossen hatte, hatte ihren Statutenparagrafen bekommen, der die KPD aus ihrer Sicht wohltu-end von der SPD unterschied und vielleicht sogar wirklich den Anteil der Abonnenten unter der Mitgliedschaft um ein paar Prozentpunkte verbessert hat. Die Mitglieder, die ohnehin schon Abonnements geschaltet hatten, konnten ohne irgendeinen zusätzlichen Aufwand auch noch ihre bolschewistische Gesinnung unterstreichen. Die Verweigerer, denen die Parteizeitung zu langweilig oder zu teuer war, blieben von irgendwelchen Sanktionen unbehelligt und konnten also auch gut mit diesem Paragrafen leben, an dessen Aufnahme in das Statut sie si-cher prinzipiell wenig auszusetzen hatten.

3.2.3 Stellenwert und Kenntnisstand des Status an der BasisWährend manche der mit der Abfassung der Statuten befassten Funktionäre der Satzung anscheinend geradezu ,übernatürliche‘ Wirkung zuschrieben, und sich besondere Erfolge davon versprachen, Anweisungen an die Basis die Dignität von Satzungsbestimmungen zu geben, blieb vielen anderen Mitgliedern die eigentliche Funktion von Statuten völlig unzugänglich.

Sicher nicht zufällig gehörte die Satzung auf keinem Parteitag zu den vor-dringlichen Themen, wurden Änderungen eher ‚nebenbei‘ erledigt. Auf dem Gründungsparteitag hatte Zentrale-Geschäftsführer Eberlein die Tatsache, kein ausgearbeitetes Statut vorlegen zu können, damit begründet, dass man sich zur Zeit mitten im politischen Kampf befinde, und daher keine Zeit „zu Para-graphenfuchserei“ habe. Auf dem 2. Parteitag wurde das Statut im Zusammen-hang mit dem Geschäftsbericht der Zentrale behandelt und ohne Aussprache per Akklamation beschlossen. Auch der Vereinigungsparteitag nahm das ihm vorge-legte Statut ohne Aussprache an, nachdem Koenen davon abgeraten hatte, in eine Detaildiskussion einzusteigen, weil der Parteitag „andere, große Fragen zu erledigen hat.“208

Die erste Parteitagsdiskussion über das Parteistatut fand auf dem 7. Parteitag (22.-26.8.1921) statt, wo der Bericht der Statutenberatungskommission am vierten Verhandlungstag als insgesamt fünfter Tagesordnungspunkt angesetzt war. Nachdem neun der 274 Delegierten zum Statut Stellung genommen hatten, wurde erfolgreich Schluss der Debatte beantragt und schließlich zunächst über

208 Weber (Hg.): Gründungsparteitag, S. 242. Bericht Vereinigungsparteitag, S. 120.

3 Der organisatorische Hintergrund 113

die einzelnen Änderungen befunden und dann das Gesamtpaket einstimmig ver-abschiedet.

Auf dem 9. Parteitag 1924 befassten sich nur einzelne Redner in der Diskussi-on über die Taktik der Partei mit den Betriebszellen, die ja nun erstmals als „Grundlage der Parteiorganisation“ definiert worden waren. Angesichts der 1925 anstehenden größeren Änderungen wurde der Statutenproblematik auf dem 10. Parteitag wieder einmal mehr Platz eingeräumt, und die Organisationsfrage sogar als zweiter Tagesordnungspunkt zur Diskussion gestellt, an der sich 19 der 170 Delegierten beteiligten. Die Präzisierungen und Erweiterungen, die dann schließlich der 11. Parteitag 1927 vornahm, wurden hingegen nur kurz im Be-richt der Organisationskommission im Rahmen der Berichte der Parteitagskom-missionen vorgestellt.

In der Schulung der Mitglieder scheint das Statut, das seit spätestens 1922 im Mitgliedsbuch abgedruckt war, keine besondere Rolle gespielt zu haben. Die einzige Quelle über die Vermittlung der Parteisatzung im Rahmen der kom-munistischen Schulungsarbeit ist ein Bericht über einen Organisationskurs in Pommern im Sommer 1924, wo auch der erste Paragraph des Statutes näher be-handelt wurde - der Paragraph, der die Pflichten der Mitglieder regelte!209

Die Beschlüsse der Parteitage wurden natürlich in der „Roten Fahne“ und zum Teil auch in den anderen kommunistischen Tageszeitungen abgedruckt. Nach der Beendigung des Parteitags, wurden die Reden und Beschlüsse in Tei-len als Broschüren oder als Parteitagsprotokoll komplett veröffentlicht. Außerdem wurde in den darauf folgenden Wochen in den Mitgliederversamm-lungen der Basisorganisationen der Bericht über den Parteitag entgegengenom-men. Darüber hinaus wurden die Funktionäre an der Basis durch die regelmä-ßigen Rundschreiben der Parteiführung über Neuerungen und ihre offizielle In-terpretation informiert.

Dem ,einfachen‘ KPD-Mitglied standen also einige Wege zur Verfügung, um sich über das Statut zu informieren. Dennoch erkannten nur sehr wenige Mit-glieder überhaupt den Stellenwert des Statuts und nutzten ihre Möglichkeiten, sich darüber näher zu informieren. Die Einstellung der meisten Basismitglieder kommt besonders augenfällig in der Reaktion auf den Beschluss des ZK von Mitte 1927 zum Ausdruck, angesichts der allgegenwärtigen Finanznot den Mit-gliedern das neue Statut diesmal nicht kostenlos an die Hand zu geben, sondern es an sie für fünf oder zehn Pfennige zu verkaufen.210

Die Wellen der Empörung schlugen besonders im Bezirk Westsachsen hoch: „Die Genossen erklären, daß das Statut der Partei jedem Mitglied frei geliefert werden muß.“ Das Sekretariat der Bezirksleitung Westsachsen berichtete am 13. Oktober 1927 an das ZK, dass sie - bei insgesamt 9.190 abgerechneten Mitglie-

209 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 67. SAPMO-BArch RY1/I2/4/66, Bl. 7.210 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/19, Bl. 334.

114 3.2 Die Organisationsstruktur der KPD

dern - Ende Juni 1.941 Exemplare des Statuts zum Preis von 0,10 RM an die Orts- und Zellengruppen verschickt haben. Davon seien nun - sechs Wochen später! - ganze 238 verkauft worden, während 251 Exemplare zurückgesandt worden seien.211

Das Statut hat in der Alltagspraxis an der Basis der Partei also eher eine nebensächliche Rolle gespielt. Dazu trug sicherlich - ganz abgesehen von der generell distanzierten proletarischen Einstellung zu allem Gedruckten - auch bei, dass es sich um einen Text handelte, der für viele Mitglieder zunächst sehr juris-tisch daherkam, und der aus subjektiver Sicht wenig mit der konkreten prole-tarischen Lebenswelt und der Alltagspraxis der Partei vor Ort zu tun hatte.

Es wundert daher nicht, dass die Funktionäre der Bezirksleitungen in ihren Rundschreiben an die Basisorganisationen immer wieder einzelne Statutenbe-stimmungen erläutern mussten, weil es zu Verstößen gegen sie gekommen war. Es hat den Anschein, als hätten zum Beispiel zahlreiche lokale ‚Parteihäupt-linge‘ die Beschneidung ihrer Macht etwa was die Frage des Parteiausschlusses angeht, in der Praxis nie akzeptiert und statt dessen weiterhin unliebsame Ge-nossen einfach ausgeschlossen, ohne auf die Bestätigung der durchaus anderwei-tig ausgelasteten Bezirksleitungen zu warten. Besonders dieses Verhalten wird in den „Org-Nachrichten“ des Bezirks Sachsen von Mitte Mai 1931 ange-prangert: „Wir machen darauf aufmerksam, daß dieses statutenwidrig ist.“ Um weiteren Fällen vorzubeugen, wurde ein Auszug aus zwei Paragrafen des Statuts angefügt.212

Viel wichtiger als die geschriebene Verfassung der Partei war daher in der All-tagspraxis die Statutenwirklichkeit. Ein neues Mitglied hat als Parteinovize in der alltäglichen Praxis allmählich die Einrichtungen der Partei und ihre Auf-gaben, und seine Rechte und Pflichten kennen gelernt. Die meisten Genossen und ehrenamtlichen Funktionäre an der Basis hatten gerade einmal einen Über-blick über die für ihren unmittelbaren Tätigkeitsbereich relevanten Aspekte der in ihrer Gruppe oder Zelle praktizierten Satzung. Für hauptamtliche Funktionäre war hingegen eine intime Statutenkenntnis schon aus eigenen unmittelbaren In-teresse erforderlich.

3.2.4 Das Parteistatut in der Alltagspraxis der KPDDie Realstruktur der KPD ähnelte dennoch in mehr als einer Hinsicht den im Statut vorgesehenen Einrichtungen. Es gab natürlich wirklich Bezirksleitungen, Unterbezirke, Betriebs- und Straßenzellen usw., wenn auch nicht immer in der ursprünglich gemeinten Form. Die realen Strukturelemente waren immer Ergeb-nisse eines im Aushandlungsprozess gefundenen vorläufigen Kompromisses, und konnten vielleicht gerade wegen ihrer Umformung vom ursprünglich Inten-

211 SAPMO-BArch RY1/I3/10/129, Bl. 43.212 SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/158, Bl. 27.

3 Der organisatorische Hintergrund 115

dierten zum Praktikablen durch die Alltagstätigkeit der Parteibasis spezifische Legitimität beanspruchen.213

Aber nicht alle vom Statut vorgesehenen Strukturelemente und Handlungs-weisen besaßen die gleiche Legitimität. Da 44 Prozent der KPD-Mitglieder von 1927 mindestens sieben Jahre Mitglied einer Gewerkschaft gewesen sind, und knapp 25 Prozent von ihnen mindestens sechs Jahre Mitglied der SPD gewesen sind, hing die Legitimität der Parteiinstitutionen in vielen Fällen davon ab, ob sie den Mitgliedern vertraut waren und sich aus ihrer Perspektive in der Ge-schichte der deutschen Arbeiterbewegung bewährt hatten. Hinzu kam eine nicht nur unter kommunistischen Arbeitern verbreitete generelle Reserve gegenüber Neuerungen. Doch auch für die speziellen Strukturen der KPD und die mit ihnen verbundenen Werte bestand natürlich die Chance, junge Menschen in ihrem ‚Heranwachsen‘ in der Partei zu prägen. Während die Prägung, die die erste Generationen von Kommunisten - etwa die bis 1900 Geborenen -, in früheren Organisationen erhalten hatte, in vielerlei Hinsicht nicht mehr ‚umzuprogram-mieren‘ war, waren für die Mitte der 1920er Jahre und später Eingetretenen, vor allem wenn sie vorher keine anderweitigen Organisationserfahrungen gemacht hatten, die ihnen vertrauten Elemente der Struktur der KPD schon selbst Status Quo.

Die Wohnbezirksorganisationen und ihre Mitgliederversammlungen etwa waren gut eingeführte Institutionen, an deren Sinn und Nützlichkeit die meisten Ge-nossen wohl nicht den geringsten Zweifel hatten. Die Betriebszelle hingegen galt bei vielen als russischer Import. Man stimmte vielleicht grundsätzlich der These zu, dass sie die ideale Organisationsform für die Durchführung der Revo-lution war, tat sich aber in der Praxis trotzdem schwer mit ihr, auch weil es et-was völlig Neues bedeutete, sich im Betrieb nun mit allgemein politischen statt nur mit betrieblichen Problemen zu befassen (vgl. Abschnitt 5.1.1.3).

Auch die Gewerkschaftsfraktionen waren im Prinzip durchaus eine einge-führte Institution, wenn es auch nicht gelang, die Mehrheit der organisierten Kommunisten in ihnen zu versammeln. Problematisch hingegen war die seit den „21 Bedingungen“ der KI von 1920 von der Parteiführung mit ihrer Existenz verbundene Intention, dass die Genossen in ihren Verbänden mit Hilfe der Frak-tionen die Interessen der Partei vertreten sollten (vgl. Abschnitt 5.2.1.1).214

213 Legitimität wird hier verstanden als eine stillschweigende Übereinkunft einer relevanten Zahl an Akteuren über die Nützlichkeit bestimmter Einrichtungen. Diese muss, nicht nur weil immer wieder neue Mitglieder integriert werden müssen, prozesshaft immer wieder aufs Neue hergestellt werden.214 Laut einem Bericht der BL Berlin-Brandenburg vom November 1927 hatten die Gewerk-schaftsfraktionen des Bezirks 2.835 Mitglieder. Von 9.175 gewerkschaftlich organisierten Mitgliedern beteiligten sich also nur 30,90 Prozent an der Arbeit der Fraktionen (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/23, Bl. 200). Nimmt man die Beteiligungsquote als Indikator für die Legi-timität von Institutionen ist doch sehr fraglich, ob die Gewerkschaftsfraktionen wirklich zu

116 3.2 Die Organisationsstruktur der KPD

Die Ausweitung der statuarischen Macht der Parteiführung war ebenfalls durchaus für einen großen Teil der KPD-Mitglieder akzeptabel. Hier zeigt sich besonders deutlich der Zusammenhang von Werthorizont und Legitimität. Aus der Sicht von Genossen, die sich als Soldaten einer revolutionären Armee be-griffen, war die Einschränkung demokratischer Mitspracherechte im Namen der revolutionären Effizienz durchaus erforderlich. Allerdings gab es immer auch engagierte Minderheiten in der KPD, die die seit dem 19. Jahrhundert in der deutschen Arbeiterbewegung gut etablierten demokratischen Rechte energisch verteidigten. 1926 sprachen sich zum Beispiel große Teile der Stettiner Orts-gruppe vehement gegen den Ersatz der Mitgliedervollversammlung durch die Delegiertenversammlung aus, in der viele Genossen „eine Beschneidung der Mitgliederrechte“ sahen. Sie benutzten die erste Stadtdelegiertenkonferenz im Februar 1926 dazu, um das Thema Delegiertenkonferenz selbst auf die Tages-ordnung zu setzen - was traditionell immer mit einfacher Mehrheit möglich war - und sprachen sich in der nachfolgenden, ebenfalls nicht geplanten Abstim-mung, mit überwältigender Mehrheit gegen die Delegiertenversammlungen aus und beschlossen, dass diese „nicht stattfinden dürfen“.215

Die legitimen Parteieinrichtungen waren ohne Frage im Parteialltag wirkungs-mächtig. Die Genossen an der Basis wendeten sich bei Problemen zum Beispiel normalerweise nicht wie der Ortsgruppenleiter Latzke aus Köslin direkt an das ZK (vgl. Abschnitt 3.1), sondern an die nächsthöhere Instanz. Wer als ehrenamt-licher Funktionär einmal von der Bezirksleitung darüber aufgeklärt worden war, dass es nicht zulässig sei, Referenten unter Umgehung der BL direkt bei der Zentrale anzufordern, ging beim nächsten Mal wahrscheinlich den korrekten Weg.216 Wer als ‚einfaches‘ Mitglied in einer Mitgliederversammlung einen An-trag gestellt hatte, und vom Zellen- oder Ortsgruppenleiter daraufhin zu hören bekam, dass es statutenmäßig nicht zulässig sei, dass die Versammlung darüber entscheidet, war wieder etwas schlauer geworden. Was die Genossen an der Ba-sis dabei kennenlernten, war allerdings ein ganz besonderes ‚Statut‘: Die jeweils spezifische praktische Auslegung, die sich in ihrer Organisationseinheit im Laufe der Jahre in der praktischen Alltagsarbeit herausgebildet hatte.

Wirkungsmacht hatte diese spezifische gut legitimierte Struktur vor Ort durch die soziale Kontrolle in der Gruppe und die damit einhergehende In-ternalisierung. Eine legitime Institution schränkte allein schon dadurch den

den legitimen Einrichtungen zu zählen sind. 215 Brief von Erich Steffen (Polleiter der BL Pommern) an die Org-Abteilung des ZK vom 15.3.1926 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/27, Bl. 41). Vgl. zur Rolle der vereinsinternen Demo-kratie in der frühen Arbeiterbewegung Welskopp: Banner, S. 31.216 BL Pommern Rundschreiben vom 16.5.1923: „Andere Ortsgruppen wenden sich an die Zentrale wegen Referenten. Das geht unter keinen Umständen. Wie soll da die Bezirksleitung in der Lage sein, die Übersicht über den Bezirk zu erhalten.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 21 - Hervorhebung im Original).

3 Der organisatorische Hintergrund 117

Handlungsspielraum ein, dass der Genosse X wusste, dass die anderen Genossen ein abweichendes Verhalten nicht tolerieren würden. Gleichermaßen einge-schränkt waren dann natürlich auch die Auslegungsspielräume. So lange keine außerordentlichen Vorkommnisse vorlagen, die ein Umdenken verlangten, war die Definition bestimmter Einrichtungen oder Verhaltensweisen in der Gruppe unproblematisch. Was zum Beispiel eine Zellenversammlung war und welche Aufgaben der Agitpropleiter hatte, „wusste“ man. Die Parteieinrichtungen, also die Produkte des eigenen Handelns, wurden in diesem Prozess zu objektiven In-stitutionen, und aufgefasst als „gegeben, unveränderlich und selbstverständ-lich.“217

3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD3.3.1 Struktur und Arbeitsweise der Parteiführung3.3.1.1 Zentrale und ZentralkomiteeDie Parteiführung - bis 1925 Zentrale, ab 1925 Zentralkomitee genannt - wurde vom Parteitag gewählt. Die erste vom Gründungsparteitag gewählte Zentrale hatte zwölf Mitglieder. Die Zentrale-Mitglieder führten zunächst gleichbe-rechtigt die Partei. Schon bald zeigte sich aber, dass eine Spezialisierung der Funktionen der Zentrale-Mitglieder unumgänglich war. Dabei orientierte man sich konkret am Modell des Zentralkomitees der Bol’ševiki, und richtete 1920 „als engeres Entscheidungszentrum“ ein Politisches (Polbüro) und ein Organi-satorisches Büro (Orgbüro) der Zentrale ein.218

In den folgenden Jahren wurde die Zahl der Mitglieder der Zentrale bzw. des ZK schrittweise erhöht und ihre Spezialisierung weiter intensiviert. Das erste vom 10. Parteitag in Berlin (12.-17.7.1925) gewählte Zentralkomitee der KPD hatte 19 Mitglieder, die ein achtköpfiges Polbüro wählten. Die eigentliche In-stanz, die nun die Tagesgeschäfte führte, war das dreiköpfige Sekretariat. Zwi-schen 1919 und 1925 wurden eine ganze Reihe von „Abteilungen“ bei der Parteiführung eingerichtet, zu deren wichtigsten die aus dem Orgbüro hervorge-gangene Organisationsabteilung (Org-Abteilung), die Agitations- und Propagan-da-Abteilung (Agitprop-Abteilung - seit 1923) und die Gewerkschaftsabteilung (seit 1923) gehörten. Dazu kamen die Frauenabteilung, die Genossenschaftsab-teilung (ab 1921), die Landabteilung, die kommunalpolitische Abteilung und die Abteilung Kasse.219

217 Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1969, S. 58ff.218 Hermann Weber (Hg.): Völker hört die Signale. Der deutsche Kommunismus 1916-1966, München 1967, S. 385. Winkler: Revolution, S. 530 (Zitat). Vgl. auch Brief Heinrich Brand-lers an Hermann Weber vom 26.7.1960 (Hermann Weber (Hg.): Unabhängige Kommunisten. Der Briefwechsel zwischen Heinrich Brandler und Isaac Deutscher 1949 bis 1967, Berlin 1981, S. 253).219 Weber: Wandlung II, S. 7.

118 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

3.3.1.2 Die Kommunikationswege der ParteiführungDie Parteiführung kommunizierte entweder unmittelbar aus dem Polbüro oder später dem ZK-Sekretariat oder themenbezogen über die Abteilungen mit den Politischen Leitern der Bezirksleitungen oder direkt mit den entsprechenden BL-Abteilungen. Laut Bericht der Zentrale an den achten Parteitag (28.1.-1.2.1923 in Leipzig) hatte die Zentrale im Berichtszeitraum vom August 1921 bis zum 31. Dezember 1922 25.826 eingegangene und 38.010 ausgegangene Briefe zu verzeichnen.220 Die wichtigste Methode der schriftlichen Anleitung der Basis durch die Parteiführung waren die politischen Rundschreiben an die Bezirke. Auch die verschiedenen Abteilungen verschickten Rundschreiben, wenn es aus ihrer Sicht vonnöten war. In ihrem Bericht an den 7. Parteitag (22.-26.8.1921) meldete die Zentrale für den Berichtszeitraum (seit dem 6. Parteitag Anfang De-zember 1920) den Ausgang von sieben politischen und 36 organisatorischen Rundschreiben, bis zum 31. Dezember 1922 sollen laut Bericht an den 8. Partei-tag weitere 48 organisatorische Rundschreiben hinzugekommen sein.221 In den Rundschreiben wurden die Beschlüsse des Parteitags bzw. ihre praktische Ope-rationalisierung durch die Parteiführung sowie die tagespolitischen Anwei-sungen erläutert. Der weitere Briefwechsel umfasste die verschiedenen Bereiche der Parteiarbeit und der Parteiorganisation. Dazu gehörte zum Beispiel die Terminfestsetzung der Bezirksparteitage und die Teilnahme von ZK-Vertretern, die Versendung oder der Empfang von Materialien wie Plakate oder Protokolle von Sitzungen der Bezirksleitungen, die Anforderung von Funktionären oder die Begleitschreiben bei der Entsendung von Funktionären.

Neben der schriftlichen Korrespondenz standen der Parteiführung zahlreiche Kanäle direkter Kommunikation zur Verfügung. Relativ häufig zog die Zentrale/das ZK die Politischen Leiter der Bezirksorganisationen zu Konferen-zen zusammen. Das gleiche taten die Abteilungen des ZK mit den entspre-chenden Spitzenfunktionären, also etwa den Org- oder Agitpropleitern der Be-zirke. Viele dieser Spitzenfunktionäre waren außerdem als ZK- oder Reichstags-mitglieder in Berlin relativ leicht erreichbar, so dass dort auch informell Proble-me besprochen werden konnten. Außerdem entsendete die Parteiführung ihre schon erwähnten Instrukteure sowie die eigenen Angehörigen als Redner in die Bezirke, denen natürlich Anweisungen mitgegeben wurden.222

220 Bericht über die Verhandlungen des III. (8.) Parteitags der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Abgehalten in Leipzig vom 28. Januar bis 1. Februar 1923, Berlin 1923, S. 57. An jedem dieser 517 Tage kamen also fast 50 Briefe herein und gingen mehr als 73 Briefe heraus.221 Bericht 7. Parteitag, S. 9, Bericht 8. Parteitag, S. 57.222 Mit der Bezirksleitung des Bezirks Berlin-Brandenburg konnte das ZK enger zusammen-arbeiten. Diese besaß im Ende 1926 bezogenen Karl-Liebknecht-Haus eigene Räume im dritten Stock, den auch - neben dem vierten Stock - das ZK nutzte. Ebenfalls Räume im Karl-Liebknecht-Haus hatte übrigens die Leitung des Berliner Verwaltungsbezirks Mitte (Lange: Berlin, S. 836)

3 Der organisatorische Hintergrund 119

3.3.1.3 Die Vermittlung von ParteitagsbeschlüssenDas wohl ursprünglich von der SPD übernommene System der Vermittlung der Parteitagsbeschlüsse funktionierte folgendermaßen: die Delegierten der Ba-sisorganisationen zum Bezirksparteitag wählten eine vom Durchschnitt der abgerechneten Mitglieder im letzten Quartal abhängige Zahl an Delegierten. Diese hatten nach Rückkunft vom Parteitag die Aufgabe, seine Beschlüsse an die Basis zu tragen. Zu diesem Zweck bereisten sie die Mitgliederversamm-lungen der Ortsgruppen, um dort über den Parteitag und die dort getroffenen Beschlüsse zu referieren.

Da sich schon früh herausgestellt hatte, dass viele Delegierte nicht in der Lage waren, angemessen Bericht zu erstatten, entstanden allmählich weitere Formen der Berichterstattung.223 In manchen Bezirken gab es die Tendenz, statt Ge-nossen aus den Ortsgruppen zu delegieren, die gewandteren BL-Funktionäre zu entsenden. Insbesondere bei wichtigen oder umstrittenen Neuerungen schickte das ZK zur Vorbereitung der Berichterstattung seine eigenen Angehörigen in die auf den Reichsparteitag folgenden Bezirksparteitage oder Bezirksleitungs-sitzungen, um dort das Hauptreferat zu halten. Des weiteren gab das ZK Bro-schüren über den Parteitag heraus, die die wichtigsten Reden enthielt und die Beschlüsse interpretierten. Ein wichtiges Hilfsmittel waren auch die Referenten-dispositionen, mit denen den Delegierten die Berichterstattung an der Basis erleichtert wurde, und die gleichzeitig dazu dienten, sie zu vereinheitlichen.

3.3.2 Struktur und Arbeitsweise der Bezirksleitungen3.3.2.1 Die Struktur der BezirksleitungenDer Entwurf für das erste Parteistatut der KPD, das auf der Parteikonferenz am 14./15.6.1919 angenommen wurde, sah vor, dass sich die Ortsgruppen „nach Wirtschaftsgebieten und Bezirken“ zusammenschließen sollten. Höchste Instanz des Bezirks sollte die Bezirkskonferenz sein (später: Bezirksparteitag). „Diese setzt einen Bezirksausschuß [später: Bezirksleitung] ein, dessen Hauptaufgabe die organisatorische und propagandistische Tätigkeit im Bezirk ist. Er hat ge-meinsame Aktionen zu leiten.“

Auch auf der Ebene der Bezirksleitungen findet sich eine Tendenz zur Aus-weitung und Spezialisierung. Für die Leitungen der beiden kleinen Bezirke Pommern und Oberschlesien war es nicht einfach, den Beschlüssen über die Zu-sammensetzung der Bezirksleitungen schnell nachzukommen. Die Einrichtung eines Pol- und eines Orgbüros konnte die Pommersche Bezirksleitung erst in ih-rem Organisationsbericht für den September 1923 melden, also erst mit dreijäh-

223 Auf der Sitzung der Bezirksleitung Westsachsen am 12. Februar 1923 etwa wurde darüber diskutiert, dass in Zukunft „bei Aufstellung der Kandidaten auf ihre propagandistische Aus-wertung Rücksicht genommen werden“ sollte (SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 11).

120 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

riger Verspätung. Im Bezirk Oberschlesien führten finanzielle Probleme zur verspäteten Einrichtung eines Polbüros im Januar 1926.224

Analog zum Politischen Büro des ZK richteten die meisten Bezirksleitungen nach dem 10. Parteitag nach und nach die so genannten Engeren Bezirkslei-tungen ein. Die durch die Wahl ihrer Mitglieder auf dem Bezirksparteitag demo-kratisch legitimierte eigentliche Bezirksleitung wurde dadurch zur Erweiterten Bezirksleitung herabgestuft, die nur noch gelegentlich einberufen wurde. Sie war damit - ganz wie das ZK auf Reichsebene - nur noch mittelbar an der Füh-rung der Tagesgeschäfte beteiligt. Ein Grund dafür mag neben organisationspo-litischen Erwägungen gewesen sein, dass es nicht immer leicht war, alle Mitglie-der der Bezirksleitungen zu jeder Sitzung zusammenzubringen.225 Den Erwei-terten Bezirksleitungen blieb die Funktion, ihre Legitimation durch die Wahl der engeren BL auf diese zu übertragen. Diese Wahlen scheinen sich aber schon früh - wie im Februar 1927 im Bezirk Berlin-Brandenburg - auf die Bestätigung der einzigen überhaupt vom Polbüro aufgestellten Kandidatenliste beschränkt haben.226

Der Schwerpunkt der täglichen Parteiarbeit aber lag seit den Strukturreformen von 1925 beim Sekretariat der Bezirksleitung. Es bestand zumeist aus den hauptamtlichen Mitgliedern der BL, dem Politischen Leiter, dem Orgleiter, dem Agitpropleiter und vielleicht noch weiteren hauptamtlichen Mitarbeitern der BL. Aus dem Bezirk Berlin-Brandenburg hat sich ein Schreiben der BL an das ZK-Sekretariat vom 27. September 1926 erhalten, das interessante Einblicke in die Arbeitsweise eines BL-Sekretariats ermöglicht. Das Sekretariat der Bezirkslei-tung Berlin-Brandenburg traf sich danach jeden Mittwoch. Von acht bis elf Uhr besprach man mit den Polleitern der Unterbezirke in der Provinz Brandenburg die anstehenden Aufgaben, von elf bis 13 Uhr fanden allgemeine Sekretariatsbe-

224 SAPMO-BArch RY1/I3/3/27, Bl. 26. Dies war im Übrigen nicht die einzige Vollzugsmel-dung aus Pommern über die Einrichtung eines Organisationsbüros. Auf ihrer Sitzung am 25. März 1926 setzte die Bezirksleitung die Bildung eines echten Orgbüros der Bezirksleitung auf die Tagesordnung, und schrieb sie in den Arbeitsplanentwurf (SAPMO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 101). SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 195.225 Beispielsweise erschienen auf der Sitzung der BL Berlin-Brandenburg am 3. April 1927 nur 42 von 79 Mitgliedern (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/19, Bl. 198). Gerade die kleinen Be-zirke wie Pommern und Oberschlesien hatten besonders mit diesem Problem zu kämpfen, da sie nicht in der Lage waren, den außerhalb des Bezirksvororts wohnenden BL-Mitgliedern ihre Ausgaben zu erstatten. Daher griff man zu anderen Mitteln. So beschloss die Sitzung der BL Oberschlesien am 7. April 1927, Roman Chwalek aus Oppeln aus der Bezirksleitung aus-zuschließen, weil er seit dem letzten Bezirksparteitag am 20./21.11.1926 noch zu keiner Be-zirksleitungs-Sitzung erschienen war (SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 41).226 Erweiterte Bezirksleitung Berlin-Brandenburg am 27. Februar 1927 (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/19, Bl. 177).

3 Der organisatorische Hintergrund 121

sprechungen mit verschiedenen Funktionären statt. Samstags von zehn bis zwölf Uhr besprach man sich mit den Polleitern der Berliner Verwaltungsbezirke.

Die Hauptlast der täglichen Arbeit der Bezirksleitungen lag beim Politischen Leiter, „der gegenüber dem ZK auch die alleinige Verantwortung für die ge-samte Aktivität des Bezirks trug“. Bis die Arbeitsweise der Polleiter der Bezirke dem entsprach, was man schon in den ersten Statuten an Erwartungen formuliert hatte, dauerte es aber seine Zeit. Besonders plastisch kommen die Probleme, die es dabei zu überwinden gab, im Bericht Hugo Eberleins, dem Geschäftsführer der Zentrale, vor dem fünften Parteitag (1.-3.11.1920) zum Ausdruck:

„In einer ganzen Reihe von Bezirken sind die Bezirkssekretäre heute noch rein technische Angestellte, die die technischen Arbeiten für den ganzen Bezirk erledigen. Das darf unter keinen Umständen sein. (...) Die Bezirksausschußmitglieder haben die einzelnen Tätigkeitsgebiete unter sich aufzuteilen und verantwortlich zu leiten, so daß der Bezirkssekretär in Wirklichkeit nur eine Kontrolltätigkeit in der Bezirksleitung aus-übt und die längste Zeit im Bezirk selbst zubringt, um den Genossen im Bezirk zu hel-fen, bei der Gründung von Ortsgruppen, in der agitatorischen Tätigkeit, wie in der Ge-schäftsführung zu kontrollieren [sic!] usw.“227

Durch das Heranziehen weiterer Kräfte und die allmähliche Institutionalisierung der Arbeitsteilung, gelang es im Laufe der Zeit den Polleiter, der seit dem Statut von 1924 mindestens drei Jahre Mitglied der KPD sein musste, von solchen rein technischen Aufgaben zu entlasten. Er blieb aber die wichtigste Person in der Bezirksleitung und hatte auch den umfangreichsten und verantwortungsvollsten Aufgabenbereich. Ein der Sitzung der BL Oberschlesien vom 21. Juni 1926 vorgelegter Terminplanentwurf für die Arbeit des Polleiters der BL gibt Auf-schluss über seinen Arbeitstag: „9-10 [Uhr] Durchsicht der Post, 10-11 Disposi-tionen, 11-12 Sprechstunde, 12-1 Zeitungslesen, 1¼ - 2¼ Sekretariatsbespre-chung, 2-3 Pause, 3-5 Vorbereitung auf Versammlungen, ab 5 Uhr öffentliche, Zellen- und Mitgliederversammlungen.“ Letzteres zog sich durchaus nicht selten bis in die Nacht.228

227 Mallmann: Kommunisten, S. 147. Bericht 5. Parteitag, S. 50. Ein Bericht der BL Pommern an das Orgbüro des ZK, der dort am 27. Oktober 1925 eingegangen ist, begründete die Tatsa-che, dass „fast die gesamte politische und organisatorische Arbeit dem politischen Leiter zu-fällt“, 1. mit der Überlastung der anderen BL-Mitglieder mit anderen Funktionen, die suk-zessive abgegeben werden sollen, 2. mit ihrer beruflichen Überlastung (Schichtarbeit), 3. mit ihrem Mangel an Erfahrungen und 4. mit der Passivität der Mitglieder (SAPMO-BArch RY1/I3/3/27, Bl. 33).228 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/26, Bl. 122. SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 285. Dazu Hede Massing, 1920-23 mit Gerhart Eisler verheiratet, der BL-Mitglied in Berlin war: „Das Leben eines Parteifunktionärs war schon damals fest umrissen. Es wurde schlecht bezahlt, es gab keine feste Arbeitszeit, es wurde von jedem Funktionär erwartet, daß seine eigentliche Partei-arbeit am Abend nach seiner regulären Arbeit begann. Sie bestand aus Versammlungen, Zellenarbeit, Polit-Propaganda-Fraktions-Treffen. Es war aufreibend, langweilig, weil immer gleichbleibend, und es blieb dabei wenig von dem früheren kühnen Idealismus übrig. Vor allem aber ließ es einem keine Zeit, sich mit irgend etwas anderem zu beschäftigen, es war

122 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

3.3.2.2 Struktur und Tätigkeit der BL-AbteilungenDie Abteilungen der Bezirksleitung bestanden zumeist aus dem von der BL ge-wählten Leiter, der je nach der Ressourcenausstattung des Bezirks ein hauptamt-licher war, sowie den ehrenamtlichen Beisitzern, die nicht Mitglieder der Be-zirksleitung sein mussten. Im dem in vieler Hinsicht als Musterbezirk zu be-trachtenden Bezirk Berlin-Brandenburg hatte die Organisationsabteilung Ende 1926 neben dem Orgsekretär Hans Pfeiffer zehn weitere Mitglieder. Der Agit-prop- und der Gewerkschaftsabteilung gehörten neben den Sekretären Horst Fröhlich und Wilhelm Kasper jeweils sechs weitere Mitglieder an. Ein Bericht der Org-Abteilung der BL Ruhrgebiet vom 21. März 1927 beschreibt die Mit-glieder der Org-Abteilung näher. Sie bestand aus dem Organisatorischen Leiter Wienand Kaasch, dem Bezirkskassierer, einem Redakteur des Bezirksorgans der KPD, sowie sechs weiteren Mitgliedern, und verfügte außerdem über einen kleinen Instrukteursstab, der je nach Bedarf - „zu besonderen Kampagnen“ - ak-tiviert wurde. Sie traf sich regelmäßig alle 14 Tage, um die anstehenden Arbei-ten auf die neun Mitglieder zu verteilen.229

Der Aufgabenbereich der Abteilungen der Bezirksleitungen umfasste sämtliche von der Parteiarbeit berührten Aspekte des alltäglichen politischen Lebens. Es dauerte seine Zeit bis die Abgrenzung der Tätigkeitsbereiche und Kompetenzen der Abteilungen den Funktionären wirklich in Fleisch und Blut überging. Diesem Umstand verdanken wir eine Reihe von Beschreibungen der Tätigkeits-felder der wichtigsten Abteilungen.230

Nach den Richtlinien des ZK für die Org-Abteilungen der Bezirksleitungen und Unterbezirksleitungen vom 1. Juli 1926, lassen sich grob vier Aufgabenbe-reiche unterscheiden. Sie sollten erstens Anweisungen zur organisatorischen Umsetzung der politischen Aufgaben ausarbeiten und ihre Umsetzung überwa-chen. Zum zweiten Bereich gehörte die Prüfung, Überwachung und Verbesse-rung der „Struktur und Arbeitsmethoden“ der unteren Einheiten, ihrer Leitungen und der Fraktionen in den außerparteilichen Organisationen wie zum Beispiel den Gewerkschaften. Drittens galt ihre Aufmerksamkeit der Statistik der Parteimitgliedschaft. Dazu sollten sie die Parteimitglieder nach ihren Erfah-rungen und Fähigkeiten registrieren, sowie die „Mitglieder- und Abonnenten-werbung, Versammlungstätigkeit ..., Literaturvertrieb, Fraktionsaufbau“ statis-

wie eine alles andere ausschließende Verpflichtung.“ (Hede Massing: Die große Täuschung. Geschichte einer Sowjetagentin, Freiburg 1967, S. 46).229 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 133ff. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/28, Bl. 134.230 Auf der Sitzung der Leitung des Berliner Verwaltungsbezirks Tempelhof am 14. Juni 1926 verlangte der Leiter der Agitpropabteilung eine bessere Abgrenzung der Ressorts, „da man von ihm dauernd Arbeiten verlangt, die durchaus nicht in seinem Ressort liegen.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/41, Bl. 21).

3 Der organisatorische Hintergrund 123

tisch erfassen und festhalten. Zum vierten und letzten Bereich gehörte die Aus-wertung und Vermittlung der in den ersten drei Bereichen gemachten Erfah-rungen in Form von „Aufsätzen und Material in der Tagespresse und Mitarbeit am ,Parteiarbeiter‘.“231

Die „Richtlinien über die Arbeit der Agitprop-Abteilung beim Z.K. der K.P.D.“ vom 2. Juli 1926, die sinngemäß auch für untere Leitungen gelten soll-ten, wiesen ihnen mit Bezug auf Lenins Unterscheidung zwischen Agitation und Propaganda zwei Haupttätigkeitsbereiche zu: erstens die „Leitung und Kontrolle der gesamten Agitation der Partei“, zweitens die „Leitung und Kontrolle der ge-samten Propagandatätigkeit der Partei“. Hinzu kam drittens die „Kontrolle und Beeinflussung“, der vom Bezirk herausgegebenen Periodika. Zum Bereich der Agitation gehörte das Ausarbeiten von „Plänen, Richtlinien, Instruktionen, me-thodischer Anleitungen, sowie der Hilfsmaterialien“ zum einen für die laufende Agitation und zum anderen für die besonderen Kampagnen. Hinzu kam die „In-struktion, Kontrolle und Unterstützung“ der daraus resultierenden Tätigkeit der unteren Einheiten, ihrer Leitungen und der Fraktionen in den außerparteilichen Organisationen, sowie der Parteipresse und der Presse der kommunistischen Nebenorganisationen. Zum Bereich Propaganda zählten die „Ausarbeitung eines Systems der Schulungsarbeit für die Parteimitgliedschaft“, mit dem Ziel der „Schaffung eines Funktionärstammes“. Die Erstellung oder Beschaffung der dazu nötigen Materialien „(Instruktionen, Kursusprogramm, Quellenmaterial-nachweise, Handbücher zu besonderen wichtigen Grundfragen“ gehörte eben-falls zum Aufgabenbereich von Agitprop-Abteilungen. Darüber hinaus sollte die „Propagandaarbeit der unteren Parteiorganisationen“ kontrolliert und instruiert werden, also vor allem die Pressewerbung durch die unteren Einheiten. Eben-falls dazu zählte die „ideologische Bekämpfung von Abweichungen innerhalb der Partei in der marxistisch-leninistischen Linie.“ Schließlich sollten die Agit-prop-Abteilungen dann ihre Erfahrungen zusammenfassen, auswerten und in Form von Vorträgen, Instruktionen und Aufsätzen im „Parteiarbeiter“ ver-mitteln.232

Die ZK-Richtlinien für die Gewerkschaftsabteilungen der Bezirksleitungen und Unterbezirksleitungen von 1926 definierten deren Aufgabenbereich wie folgt:

„Sie hat die Aufgabe die Beschlüsse der Partei auf dem Gebiete der Gewerkschaftsbe-wegung den konkreten Verhältnissen ihres Tätigkeitsgebietes anzupassen, den Frak-tionen entsprechende Instruktionen zu geben und die Durchführung der Beschlüsse zu

231 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 47.232 V.I. Lenin: Was tun?, in: LW 5, S. 422f. Unter Periodika werden hier vor allem die Tages-zeitungen, Funktionärszeitschriften der Partei verstanden, aber auch die - wie es so schön hieß - „von sympathisierenden, überparteilichen Massenorganisationen herausgegebenen Organe incl. der ,Illustrierten Arbeiter Zeitung‘ [der Arbeiter-Illustrierten Zeitung (AIZ)]“. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 49.

124 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

kontrollieren. Zugleich bereitet die Gewerkschaftsabteilung die Behandlung der Ge-werkschaftsfrage für die Parteileitung vor.“

Zu diesem Zweck sollte sie Ortsfraktionsleitungen einrichten, die kommunis-tischen Betriebsräte regelmäßig erfassen, zusammen holen und instruieren sowie die kommunistischen „Erwerbslosen-Fraktionen“ organisieren.233

Ich habe die Aufgabenstellung dieser drei Abteilungen so ausführlich behandelt, weil sie mit Abstand die wichtigsten Abteilungen waren. Leiter der anderen BL-Ressorts waren auch in den ‚reichen‘ Bezirken nur selten Hauptamtliche. Die Frauenabteilungen führten zumeist ein Leben für sich, ihre immer wieder neu ansetzenden Bemühungen wurden durch die unüberwindliche Ignoranz des männlichen Teils der Parteimitgliedschaft konterkariert. Ein ähnlicher Fall waren die Landabteilungen, die es als kontinuierlich und systematisch arbei-tendes Ressort nicht einmal im vorherrschend agrarischen Bezirk Pommern gab.234

Nicht nur die beiden kleinen Bezirke, auch der ‚Vorzeigebezirk‘ Berlin-Brandenburg hatte seine Schwierigkeiten, ein regelmäßiges Arbeiten der Abtei-lungen zu gewährleisten. Auf der Sitzung der BL Berlin-Brandenburg am 23. Februar 1925 stellte das BL-Mitglied Nr. 12 fest, dass der Aufbau von Agitprop-abteilungen in der gesamten Partei bisher eine Fiktion geblieben sei. Auf der Sitzung der Berliner Agitprop-Abteilung Anfang Februar 1926 wurde über die Notwendigkeit einer Reorganisation diskutiert, da nur ein Drittel der Mitglieder zu den Sitzungen erscheine. Ein Jahr später bemerkte der neue Leiter, Horst Fröhlich, dass der Apparat der Berliner Agitprop-Abteilung nur „auf dem Pa-pier“ stünde.235

Die BL Ruhrgebiet musste in ihrem politischen Bericht vom 9. Dezember 1926 einräumen, dass die Bildung einer Agitprop-Abteilung - die nun endlich auch einen hauptamtlichen Leiter bekommen sollte - noch im Aufbau begriffen sei, und eine Org-Abteilung auch erst seit Anfang des Jahres vorhanden sei. ZK-Instrukteur Hans Sawadzki rügte in seinem Bericht vom 6. Dezember 1929 die nur geringe Aktivität der Agitprop-Abteilung des Ruhrbezirks, die er darauf zu-

233 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 50.234 Auf der Sitzung der BL Oberschlesien am 29. Mai 1927 machte sich die Leiterin der Frauenabteilung wieder einmal Luft: „Die Frauenorganisation im Bezirk Oberschlesien ist sehr schwach. Man wird das der Frauenleiterin zuschieben. Aber das liegt an den Genossen.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 65f.) In ihrem Politischen Bericht für den Juli 1927 kündig-te die BL Pommern dem ZK wieder einmal den Aufbau einer Land-Abteilung an (SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 129 bzw. 14, Bl. 89).235 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/17, Bl. 185, SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 2, SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 88.

3 Der organisatorische Hintergrund 125

rückführte, dass die Mitglieder der Abteilung zu stark in die Arbeit des Unterbe-zirks Essen eingespannt seien.236

Auch im Bezirk Westsachsen gab es viele Schwierigkeiten. Auf einer gemein-samen Sitzung der Bezirksleitung mit der Leipziger Ortsgruppenleitung am 1. Oktober 1923 stellte Polleiter Albert Kuntz fest, dass es ein unhaltbarer Zustand sei, dass die BL mit nur einem Sekretär und einer Hilfskraft auskommen müsse, und daher arbeitsunfähig sei. Außerdem wies er darauf hin, dass die Genossen Arthur Vogt und Otto Burke ihre Sekretärsposten nicht angetreten haben.237 Auch dieser an Mitgliedern und damit an geeigneten Funktionären starke Bezirk hatte beim Aufbau der Abteilungen seine Mühe. Im Sommer 1927 unternahm man dort wieder einmal einen Anlauf zur Einrichtung einer Agitprop-Abteilung, mit deren Leitung man einen Genossen Sachse beauftragte, der aber nicht über eine Abteilungssitzung hinauskam. Da man in der BL kein geeignetes Personal fand, stieß man auf Erich Bartsch, der nach kontroverser Diskussion darüber, ob es richtig ist, einen in seinem Betrieb einflussreichen Genossen zu ‚befördern‘, im August 1927 als Volontär die Leitung der Agitprop-Abteilung übernahm. Er konnte aber erst nach Weihnachten 1927 die Arbeit richtig aufnehmen, da er für die nacheinander in den Urlaub gehenden Polleiter Schumann und Orgleiter Baumgärtel hatte einspringen müssen. Auch die westsächsische Gewerkschafts-Abteilung kam nicht recht voran. Während einer Diskussion über die Möglich-keit der Durchführung von Kursen für die kommunistischen Gewerkschafter auf der Sitzung der BL Westsachsen am 7. Juni 1928, zeigte Polleiter Georg Schu-mann wenig Hoffnung und meinte: „Vor allen Dingen müssen erst einmal die Mitglieder der Gewerkschaftsabteilung genügend geschult werden, damit dieselben dann zu Kursen verwendet werden können.“238

Am schlimmsten war die Situation aber in den beiden kleinen Bezirken. Die Vielzahl der Vollzugsmeldungen beim Abteilungsaufbau durch die BL Pom-mern spricht für sich. Der Aufbau einer Agitprop-Abteilung wurde unter anderem im März 1926 und im Dezember 1927 gemeldet, der der Org-Abteilung im Juli 1927 und im Oktober 1929. Noch häufiger allerdings sind die Berichte über die rein theoretische Existenz oder die Unfähigkeit dieser Abteilungen. Für den Bezirk Oberschlesien galt Ähnliches. Auf der BL-Sitzung am 6. Oktober 1926 stellte Walter Gollmick, Redakteur des KPD-Kopfblatts „Oberschlesische Rote Fahne“, fest, dass die Abteilungen der BL nur auf dem Papier stünden. Gut zwei Jahre später, Paul Langner war soeben Politischer Leiter des Bezirks ge-

236 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 214; SAPMO-BArch RY1/18-19/19, Bl. 41.237 Grund dafür war wohl, dass die Ortsgruppe Leipzig immer noch mit der Zentrale haderte. Diese hatte, obwohl die BL in Übereinstimmung mit der Ortsgruppe am 21. September 1923 Burke zum Polleiter gewählt hatte, über die Köpfe der westsächsischen Funktionäre hinweg Kuntz eingesetzt.238 SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 46; SAPMO-BArch RY1/10/113, Bl. 218; SAPMO-BArch RY1/10/114 Bl. 303.

126 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

worden, hatte sich daran nichts geändert. Nach seiner Ansicht gab es „keine einzige arbeitsfähige Abteilung der B.-L.“, keine Gewerkschaftsabteilung und auch keine arbeitsfähige Agitpropabteilung. Ihr Leiter war Friedrich Jendrosch, einer der wenigen fähigen Funktionäre, die der Bezirk hervorgebracht hatte. Er vertrat seine Partei auch im preußischen Landtag und konnte daher nur selten vor Ort sein. Die BL Oberschlesien blieb ein Sorgenkind. In seinem Tätigkeits-bericht an das ZK vom 18. Januar 1929 wies Orgleiter Schulz, der, ohne qualifi-ziert zu sein, kurzfristig eingesprungen war, nachdem die BL seinen Vorgänger Gallus aus finanziellen Gründen im November 1928 hatte entlassen müssen, darauf hin, dass er als Orgleiter auch die Erwerbslosenbewegung organisieren musste, da der Gewerkschaftsleiter oft wegen Landtagssitzungen verhindert war.239

Um dem ZK trotzdem die Einrichtung der geforderten Abteilungen melden zu können, nahm nicht nur die BL Oberschlesien Zuflucht bei gewissen Kunstgrif-fen. So wurde auf der Sitzung der BL am 8. November 1926 beschlossen, den Genossen Girndt aus Oppeln trotz seiner guten Gründe - „Ich bin Unterbezirks-leiter. Eine größere Mitarbeit in der B.L. kommt schon deshalb nicht in Frage“ - dem nächsten Bezirksparteitag als Leiter der Agitprop-Abteilung vorzuschlagen. Dass das Ergebnis nur eine äußerst reduzierte Aktivität dieser Abteilung sein würde, war den meisten Beteiligten, allen voran dem Polleiter Johann Diedrichs, wohl nur zu bewusst.240 Es spricht im Übrigen einiges dafür, dass dies in vielen Fällen ohnehin der Königsweg bei der Einrichtung von Abteilungen war, weil bei den meisten Polleitern der Bezirke diese Erfolgsmeldung - mit der relativ mühelos politische Schulden beim ZK abgetragen werden konnten - eine höhere Priorität genoss als der wirklich abgeschlossene Aufbau einer BL-Abteilung.

Resümierend lässt sich festhalten, dass gerade die Entwicklung der BL-Abtei-lungen die spezifischen Problemlagen der Bezirke widerspiegelt. Wo die per-sonellen wie finanziellen Ressourcen schmal waren und wo der Bezirk zu wenig strategische Bedeutung für das ZK besaß, war eine kontinuierliche Abteilungs-arbeit kaum möglich. In solchen Fällen waren die herangezogenen Genossen oft zu unerfahren, um ihren Aufgaben wirklich im Sinne der Richtlinien des ZK ge-recht werden zu können. Insbesondere das Nichtvorhandensein oder die Unfä-higkeit einer Agitprop-Abteilung konnte zum Bumerang werden. Wenn diese nicht in der Lage war, eine kontinuierliche und zumindest halbwegs systema-

239 SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 364; SAPMO-BArch RY1/6/9, Bl. 150f.; SAPMO-BArch RY1/6/13, Bl. 257. Jendrosch war anscheinend 1925 auch schon einmal Leiter der Gewerk-schaftsabteilung gewesen. Auch in dieser Funktion war es zu Friktionen auf Grund seiner Tä-tigkeit als Parlamentarier und als Instrukteur des ZK gekommen, weshalb die BL in ihrem Be-richt für den Zeitraum Juli-November 1925 dem ZK einen Kuhhandel vorschlug: „Da der Be-zirk aber finanziell nicht in der Lage ist, selbst eine Kraft zu bezahlen, käme wiederum nur ein Landtags- oder Reichstagsabgeordneter in Betracht, der aber von allen anderen Arbeiten entbunden werden müßte.“(SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 81).240 SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 385.

3 Der organisatorische Hintergrund 127

tische Schulungsarbeit zu betreiben, konnte sie dem Bezirk auch nicht das so dringend benötigte qualifizierte Personal liefern.

Die zweite Hauptschwierigkeit neben der Einrichtung und einer kontinuierli-chen Tätigkeit der Abteilungen war die unzureichende Kompetenz vieler Funktionäre. Gerade in den beiden kleinen Bezirken lernten die Leiter der Abtei-lungen und ihre Mitarbeiter oft erst in der Praxis, wie sich ihre Aufgaben am besten durchführen ließen. Die oben ausführlich wiedergegebenen Anweisungen für die Abteilungsarbeit waren für die pommersche und oberschlesische BL mehr oder weniger Makulatur. Dass ein Agitpropleiter seine wichtigste Aufgabe darin sah, „die von einem anderen Genossen vorgezeichneten Transparente aus-zumalen“, wie es im Bericht des ZK-Instrukteurs Gustl Maier über den Bezirk Pommern hieß, in dem er sich Ende November 1929 aufgehalten hatte, war nicht die große Ausnahme und in den entsprechenden Abteilungen der Unterbezirke, Ortsgruppen und Zellen - so sie jemals wirklich bestanden - an der Tagesord-nung.241

3.3.2.3 Die Funktionäre der BezirksleitungenDie unterschiedlichen Personalressourcen und vor allem die unterschiedliche Fi-nanzkraft - das Produkt aus dem regionalen Lohnniveau und der Mitgliederzahl - bewirkten die höchst unterschiedlichen professionellen Strukturen der Leitungen der hier untersuchten fünf Bezirke. Laut dem Organisationsbericht des Orgbüros der Zentrale an das EKKI vom 1. Juli 1922 verfügten die 28 Be-zirke der Partei insgesamt über 181 Angestellte.242 Demnach entfielen auf jeden Angestellten einer Bezirksleitung 1.239 Mitglieder. Im Durchschnitt hatte jeder Bezirk 6,46 Angestellte. Von den fünf hier untersuchten Bezirken hatte Berlin-Brandenburg die professionellste Struktur mit 17 Angestellten (einer auf 1.177 Mitglieder), während Pommern sich mit drei Bezirksangestellten begnügen musste (einer auf 333 Mitglieder). Die BL Westsachsen hatte sechs (einer auf 2.000) und die BL Rheinland-Westfalen-Nord 19 Angestellte (einer auf 970) - einen Bezirk Oberschlesien gab es zu diesem Zeitpunkt nicht. Diesen Zahlen ist nebenbei auch zu entnehmen, wie viele Mitglieder ein Bezirk haben musste, um einen Hauptamtlichen zu finanzieren. Der Bezirk Pommern mit seinen etwa ein-tausend Mitgliedern hätte eigentlich nur die Mittel für einen einzigen Sekretär aufbringen können. In den mitgliederschwachen Bezirken musste die Zentrale einspringen, und das Gehalt für das notwendige Minimum an hauptamtlichen Funktionären subventionieren, um überhaupt ein politisches Leben der Bezirks-leitung zu ermöglichen (vgl. Abschnitt 3.3.5.3).243

241 SAPMO-BArch RY1/I3/3/18, Bl. 53.242 Dabei wurde aber nicht zwischen den im engeren Sinne politischen Angestellten, den so genannten Sekretären, und den technischen Angestellten wie Stenotypistinnen unterschieden, und außerdem anscheinend auch die Angestellten der Unterbezirksleitungen addiert.243 SAPMO-BArch RY1/I2/4/17, Bl. 25.

128 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

In einem Bericht des Orgbüros der Zentrale von 1923 wurden die Be-zirksangestellten näher ausgewiesen. Danach verfügte der Bezirk Berlin-Brandenburg über insgesamt 16 Angestellte, von denen zehn Sekretäre und eine nicht definierte Anzahl Unterbezirkssekretäre waren. Im Bezirk Ruhrgebiet gab es drei Hauptamtliche in der Bezirksleitung, drei Hilfskräfte sowie acht Unterbe-zirkssekretäre. Im Bezirk Westsachsen gab es zwei Sekretäre, eine BL-Hilfskraft und einen Volontär, und der Bezirk Pommern verfügte sogar nur über zwei Se-kretäre und eine Hilfskraft.244

Dieser teilweise noch aus der Erbmasse der finanziell und personell gut aus-gestatteten linken USPD stammende relativ hohe Stand hauptamtlicher Bezirks- und Unterbezirksfunktionäre war in den folgenden Jahren für die Partei finanzi-ell nicht zu halten. Ein Bericht der Org-Abteilung des ZK vom November 1926 kam reichsweit auf nur noch 94 Bezirks- und 33 Unterbezirkssekretäre. Von den hier untersuchten Bezirken hatten demnach überhaupt nur noch Berlin-Branden-burg und das Ruhrgebiet hauptamtliche Unterbezirksfunktionäre - nämlich fünf bzw. sechs. Von den 94 Bezirkssekretären entfielen neun auf Berlin-Branden-burg, jeweils vier auf das Ruhrgebiet und Oberschlesien und jeweils drei auf Westsachsen und Pommern. Die Angaben über den Bezirk Westsachsen er-scheinen fragwürdig, da die fast 7.300 Leipziger Kommunisten (August 1926) sich eigentlich durchgängig hauptamtliche Unterbezirks- oder sogar Orts-gruppenfunktionäre leisten konnte.245

3.3.3 Die Unterweisung der Basis durch die Bezirksleitungen3.3.3.1 Einsatz und Formen von RundschreibenDie Wege der Unterweisung der Basis durch die Bezirksleitungen ähnelten denen der Zentrale bzw. des ZK. Auch die Bezirksleitungen sowie ihre Abtei-lungen sparten nicht an Rundschreiben an die Basisorganisationen. Ursprünglich sollten die Rundschreiben die ultima ratio der Anleitung der Basis bei der Kon-kretisierung der politischen Strategie der Partei sein. Die Unterweisung über persönliche Kontakte ist sicher das geeignetere Mittel, war aber in der Massen-partei KPD nicht mehr zu realisieren. Die mit der Vergrößerung der Partei

244 SAPMO-BArch RY1/I2/4/31, Bl. 101. Der Volontär war eigentlich eine Art ‚Lehrling‘, der vielleicht an einem Kurs an der Parteischule für leitende Funktionäre Teil genommen hatte, und sich dann in der Praxis für eine hauptamtliche Position qualifizieren konnte, ohne allerdings volles Stimmrecht in der BL zu haben. Der Einsatz von Volontären war jedoch auch ein häufig praktizierter finanzieller Kunstgriff, um dem Bezirk die Ausgaben für das Ge-halt für einen regulären Sekretär zu ersparen, da die Volontäre zumeist von der Zentrale bzw. dem ZK getragen wurden.245 SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 105. Arthur Vogt, Organisationsaufgaben des Bezirks [Westsachsen], Dezember 1926 (SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 419). Laut Reichskon-trolle von 1927 gab es 228 Parteiangestellte in den Bezirken, von denen aber 99 Redakteure von Parteizeitungen waren. Es hatte sich also kaum etwas an der Personalausstattung der Be-zirke geändert (SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 3).

3 Der organisatorische Hintergrund 129

einhergehende Bürokratisierung, sowie das oben schon besprochene Problem der dünnen hauptamtlichen Personaldecke aber führten dazu, dass die schriftli-che Kommunikation immer öfter an die Stelle der mündlichen trat. Die Leitung des unter seiner geografischen Ausdehnung und schlechten Finanzlage leidenden Bezirks Pommern verlegte sich besonders intensiv aufs Schreiben:

„Daß nicht alle Ortsgruppen jetzt schon pünktlich abrechnen, hat zum großen Teil seine Ursache darin, daß es uns nicht möglich ist, bei der gewaltigen Ausdehnung des Bezirks überall in Mitgliederversammlungen zu sprechen und die Notwendigkeit der pünktli-chen Abrechnungen den Mitgliedern vor Augen zu führen. Mit Rundschreiben tun wir in dieser Beziehung unser Möglichstes.“246

Den meisten Bezirksleitungen gelang es, spätestens 1921 eine regelmäßige mo-natliche Versendung von Rundschreiben an die Ortsgruppen- und Zellen-leitungen zu erreichen. Die BL Oberschlesien scheint gleich nach der Einrich-tung des Bezirks Ende Juni 1924 nachgezogen zu haben. Für den Bezirk Ruhrgebiet, der ja in dieser Form auch erst im Herbst 1921 gegründet wurde, kann man wahrscheinlich erst ab 1924 von Regelmäßigkeit sprechen. Die ‚rei-chen‘ Bezirke Berlin-Brandenburg und Westsachsen leisteten sich - teils als Er-satz für das Monatsrundschreiben, teils mit darüber hinaus gehender Funktion - umfangreiche gedruckte monatliche Mitteilungsblätter. Die Rundschreiben der drei anderen Bezirke waren zumeist nur mit der Maschine geschrieben und hektografiert.247

Zu den regelmäßigen Rundschreiben kamen die Rundschreiben hinzu, die herausgegeben wurden, wenn es eine besondere Situation erforderte. Die BL Ruhrgebiet versendete zwischen dem 14. Mai und dem 1. Juni 1926 allein vier Rundschreiben, weil man meinte, schnell auf bestimmte Entwicklungen rea-gieren zu müssen. Außerdem gab es Rundschreiben an spezifische Mitglie-dergruppen, die vor besonderen Aufgaben standen, also zum Beispiel an die kommunistischen Betriebsräte, die Gewerkschaftsfraktionen, an bestimmte Orts-gruppen oder Zellen oder an die neuen Mitglieder, um ihnen bei der Integration behilflich zu sein. Auch die BL-Abteilungen für Organisation, Agitprop, Ge-werkschaften, Kasse brachten je nach den Erfordernissen mehr oder weniger regelmäßig spezielle Rundschreiben heraus.

Die Einleitung der Rundschreiben der Polleiter bestand zumeist in einem Über-blick über die politisch-ökonomische Situation in der Welt, in Deutschland und in der Region. Charakteristisch ist die Anhäufung von immer längeren, hoch ab-strakten weltökonomischen und weltpolitischen Abhandlungen und die un-

246 Politischer Bericht des BL-Sekretärs Ernst Rummel für den Dezember 1922 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/18, Bl. 23 - Hervorhebung von mir, U.E.).247 Das Mitteilungsblatt der BL Berlin-Brandenburg erschien sehr regelmäßig ca. von April 1921 bis November 1923, das der BL Westsachsen weniger regelmäßig ca. von März 1922 bis Februar 1926.

130 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

ablässig wiederholte, fast schon hysterische Ankündigung, dass der Kapitalis-mus, der die Menschen in immer tieferes Elend hinabstoße, nun aber wirklich akut vor dem Kollaps stünde.

Das Rundschreiben der BL Sachsen vom Januar 1930 etwa befasste sich mit dem Klassenkampf in Indien, der erschütterten Diktatur in Spanien und der Verschärfung der Krisen in Griechenland und Italien, sowie mit einer Kritik an den „Manövern“ der linken Sozialdemokraten in Sachsen, mit denen sie die Massen zu täuschen versuchen. Auf diese Weise konnten die Verfasser gleich-zeitig ihre politische Omnipotenz unter Beweis stellen und psychologisch den Rahmen abstecken: Den Genossen musste nun völlig klar sein, dass das Schick-sal der Weltrevolution von der korrekten Durchführung jeder einzelnen der im Folgenden aufgeführten, scheinbar noch so nebensächlichen Tätigkeit abhing. Nachfolgend wurden dann - sehr kurz - die Erfolge und - sehr ausführlich - die Probleme der Parteiarbeit im Bezirk im letzten Monat beleuchtet. Die Rund-schreiben der BL Ruhrgebiet etwa hatten eine Zeitlang die feste Rubrik „Fehler und Mängel“. Daran anschließend folgten Hinweise darauf, wie die bisherigen Fehler abgestellt werden können, ein Überblick über die aktuellen Beschlüsse des ZK, der BL oder eines kürzlich erfolgten Reichs- oder Bezirksparteitags. Beschlossen wurden viele Rundschreiben mit einer Liste der Termine und Tätig-keiten des nächsten Monats. Der Motivation der Mitglieder an der Basis diente die Vielzahl der verwendeten suggestiven Verben: die Genossen - so hieß es im oben schon erwähnten Rundschreiben der BL Sachsen - müssen „ausnutzen“, „entfachen“, „auf Kämpfe einstellen“, „ausbauen“, „umstellen“, „propagieren“, „organisieren“, „Aufmerksamkeit widmen“. In manchen Bezirken wie zum Bei-spiel Oberschlesien und Pommern wurde das Rundschreiben durch die ‚schwarze Liste‘ derjenigen Ortsgruppen beschlossen, die ihren regelmäßigen Pflichten wie der pünktlichen Abrechnung der Beiträge nicht nachgekommen waren oder Fragebogen nicht zum vereinbarten Termin zurückgeschickt hatten.248

Die Rundschreiben sollten dann in den Mitgliederversammlungen der Orts-gruppen und Zellen verlesen werden, die Genossen darüber diskutieren, und im Anschluss daran die sich aus der Aufgabenstellung ergebenden Arbeiten verteilt werden:

„Der politische Inhalt unserer Rundschreiben an die Ortsgruppen ist in Funktionär- und Mitgliederversammlungen vorzutragen und des näheren zu erörtern. Der Inhalt unserer politischen Rundschreiben soll dazu dienen, die Mitglieder mit der aktuellen Politik der Partei vertraut zu machen.“249

248 SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/151, Bl. 2-8. SAPMO-BArch RY1/I3/6/16. SAPMO-BArch RY1/I3/3/21.249 Rundschreiben der Zentrale vom 5.10.1920 (Dokumente und Materialien VII-1, S. 309).

3 Der organisatorische Hintergrund 131

Dem Anschein nach klappte es aber schon mit der Verlesung nicht. Das zeigt schon die große Zahl an Rundschreiben, die noch einmal mit besonderem Nach-druck auf diese Vorgehensweise hinweisen.250

Es scheint, als sei das zentrale Anweisungsmittel der KPD-Bürokratie häufig an den Bedingungen der Parteiarbeit ‚vor Ort‘ gescheitert. Überlastete Orts-gruppen- oder Zellenfunktionäre, die teilweise auch noch einem Broterwerb nachgingen, noch nicht an das regelmäßige Lesen gewöhnt waren, und den Stellenwert der Rundschreiben für die Entwicklung der Partei und die Vereinheitlichung ihrer Politik wohl auch nicht immer ganz verstanden haben, versuchten ihre knapp bemessene Zeit für die Dinge zu verwenden, die aus ihrer Sicht wichtig waren - die praktische Parteiarbeit. Die Zahl der Klagen der un-teren Funktionäre über die Fülle an Rundschreiben ist daher kaum geringer als die der Klagen der Rundschreibenautoren über die unzureichende Rezeption. Durchaus typisch für diese Haltung war die vom ZK-Instrukteur Arthur Liebe-rasch in seinem Bericht über die Konferenz des westsächsischen Unterbezirks Borna am 31. Juli 1927 wiedergegebene Beschwerde eines Genossen Diemer aus Lobstädt „darüber, daß die Partei zu viel Material und Rundschreiben her-ausgibt. Die Genossen, die den ganzen Tag auf Arbeit sind, können dieses Mate-rial gar nicht verarbeiten und es bliebe deshalb einfach liegen.“251

3.3.3.2 Die direkte KommunikationNeben Rundschreiben gingen zumindest im Bezirk Berlin-Brandenburg tägliche schriftliche Anleitungen der BL an die Verwaltungsbezirksleitungen heraus. Außerdem gab es - wohl nicht nur dort, dort aber auf Grund der räumlichen Nähe leichter zu bewerkstelligen - einen ehrenamtlichen Kurierdienst, der den unteren Leitungen Anweisungen der BL zustellte.252

Der wichtigste Weg der Anleitung der unteren Parteieinheiten durch die Be-zirksleitungen aber blieb wohl die direkte mündliche Kommunikation. Neben den oben schon erwähnten Sprechstunden des Polleiters, waren die ehrenamtli-chen Mitglieder der BL, die auf Vorschlag ihrer Unterbezirke oder Ortsgruppen gewählt worden waren, wichtige Vermittler zwischen der Bezirksleitung und den Basisorganisationen. So war zum Beispiel der Polleiter des Berliner Verwaltungsbezirks Friedrichshain, Theo Mölders, Mitte der 1920er Jahre einer der vielen Verwaltungsbezirksleiter, die gleichzeitig Mitglied der erweiterten BL Berlin-Brandenburg waren. Im Idealfall sollten diese ehrenamtlichen Bei-250 So zum Beispiel die BL Berlin-Brandenburg unter anderem in ihren Rundschreiben vom 11.4.1921 und 4.8.1922, die BL Pommern am 23.10.1923, am 23.11.1925 und am 19. Sep-tember 1927 und die BL Oberschlesien am 30.12.1926.251 SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 61. Die Ortsgruppe Ahlen in Westfalen, im Rahmen der Reichskontrolle von 1929 nach ihren Wünschen befragt, plädierte wegen der knappen Zeit der Funktionäre für kürzere Rundschreiben (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 92.252 Bericht Orgabteilung Berlin-Brandenburg über die Reorganisation an das EKKI, 13.12.1926 (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 128).

132 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

sitzer zum einen im BL-Plenum berichten, was sich in ihren Organisationen zugetragen hatte, und zum anderen sollten sie ihren Organisationen die von der BL beschlossenen Maßnahmen übermitteln, und an ihrer Umsetzung an vorderster Front mitarbeiten. Da auch die meisten hauptamtlichen Sekretäre, mit Ausnahme vielleicht der Politischen Leiter, ursprünglich aus den Unterbezirks- und Ortsgruppenleitungen gekommen waren, war ein Minimum an Nähe bei der laufenden Kommunikation zwischen den Ebenen gewährleistet.253 Darüber hin-aus wurden die Mitglieder der Bezirksleitungen seit Mitte der 1920er Jahre be-stimmten Ortsgruppen oder Zellen als Mitglieder zugeteilt, wobei aber wohl eine kontinuierliche Verbindung an deren ohnehin großen Arbeitspensum oft scheiterte.254

3.3.3.3 Der Arbeitsplan„Wir können uns nicht darauf verlassen, daß die Losungen der Partei wirklich durchgeführt werden, wenn wir nicht im einzelnen planmäßig organisieren.“255 So begründete Ottomar Geschke, Organisationsleiter der Zentrale, vor dem 10. Parteitag 1925 die Notwendigkeit, den Arbeitsplan als Mittel zur rationalen und einheitlichen Durchführung der Parteiarbeit systematisch einzusetzen, nachdem es auch vorher schon gewisse Formen der schriftlichen Vorabplanung der Tätig-keiten der Partei gegeben hatte.

Vor dem Hintergrund von Lenins Parteitheorie und einer in Bezug auf die technische Seite durchaus affirmativen Rezeption des Taylorismus als Mittel der Produktionsplanung in der Sowjetunion, versuchte die KI mit der Einführung des Arbeitsplans als monatliche Aufstellung einer Liste durchzuführender Tätig-keiten in den ihr angeschlossenen Sektionen Parteiarbeit messbar und damit auch leichter kontrollierbar zu machen. Die Einführung einer systematischen Arbeit der Parteiinstanzen nach einem vorgegebenen Plan war zusammen mit der damit aufs Engste verknüpften Berichterstattung von ‚unten‘ nach ‚oben‘ (vgl. Abschnitt 3.3.4.2) ein Kernstück der „Bolschewisierung“ der kommunis-tischen Parteien.

253 Diese Konstruktion konnte allerdings problematisch werden, wenn der Polleiter eines Un-terbezirks im Plenum der erweiterten BL als ‚Provinzfürst‘ auftrat, der mühsam überzeugt oder sogar ‚gekauft‘ werden musste, um ihn an einem Engagement für die Umsetzung be-stimmter Anweisungen zu interessieren.254 Bericht Org-Abteilung Berlin-Brandenburg über die Reorganisation an das EKKI, 13.12.1926 (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 128). Nicht selten sorgte es für böses Blut an der Basis, wenn die einer Ortsgruppe oder Zelle zugewiesenen BL-Mitglieder sich kaum ein-mal in der Mitgliederversammlung sehen ließen. Gleich lebten wieder die latent vorhandenen proletarischen Vorurteile gegen die „Bonzen“ auf (siehe etwa Bericht der Polizei Essen über eine Agitprop-Konferenz der Bezirksleitung Ruhr am 21.8.1927 - HStAD Regierung Düssel-dorf 16934).255 Bericht 10. Parteitag, S. 439.

3 Der organisatorische Hintergrund 133

Bei der Einführung der systematischen, immer detaillierter vorab geplanten Parteiarbeit und der späteren Ergänzung um die Sollvorgaben handelte es sich um den Versuch einer Übertragung der tayloristischen Produktionskultur in den Bereich der politischen Organisation. Die gleiche Partei, die sich als radikalste Kämpferin gegen die Rationalisierung in der deutschen Industrie betrachtete, führte unter einem anderem Etikett ganz ähnliche Methoden in der Partei selbst ein. Für viele ‚einfache‘ Mitglieder war das eine Zumutung, da für sie die Partei immer auch als temporäre Vorwegnahme der Utopie idyllische sozialistische Gegenwelt zur kapitalistischen Betriebsrealität sein sollte.

In der Theorie war bei der Erstellung und Umsetzung des Arbeitsplans folgendermaßen vorzugehen: Die Organisationsabteilung des ZK erstellte in Anlehnung an den politischen Kalender und entsprechend der Beschlüsse des Parteitags und der Parteiführung den allgemeinen monatlichen Arbeitsplan „für jede Aktion, Kampagne und allgemeine Arbeit“ und schickte diesen den Be-zirksleitungen. Deren Org-Abteilungen trafen sich kurz vor Monatsende, um den Arbeitsplan zu konkretisieren bzw. rein regionale und lokale Aktionen und Kampagnen hinzuzufügen und die verschiedenen Termine auch mit den Neben-organisationen zu koordinieren. Dieser Bezirksarbeitsplan wurde dann von der Bezirksleitung beschlossen und als Anhang zum Monatsrundschreiben an die Ortsgruppen und Zellen verschickt. Dort sollte der Arbeitsplan in den Mitglie-derversammlungen verlesen und dann die sich daraus ergebenden Arbeiten an die Genossen verteilt werden bzw. die Ortsgruppen und Zellen einen eigenen Arbeitsplan erstellen.256

Bei der Erstellung der Arbeitspläne - darauf legte die ZK-Resolution zur Organi-sationsfrage von 1925 vorausschauend großen Wert - sollte besonders darauf ge-achtet werden, dass der Arbeitsplan „durchführbar sein und wirklich durchge-führt werden“ muss. Diese Forderung war der Ausfluss der Erfahrungen, die man in den Jahren vor der Einführung des systematischen Einsatzes der Arbeitspläne gemacht hatte. In der Praxis zeigte sich dennoch nur zu oft die Tendenz am „grünen Tisch“ der Org-Abteilung einer Bezirksleitung ohne nähe-re Konsultation der Einheiten, die den Arbeitsplan exekutieren sollten, immer mehr Aufgaben in die Pläne hineinzupacken. Außerdem versuchten mehr oder weniger alle wichtigen Funktionäre der Bezirksleitungen über den Entwurf des Arbeitsplans ein Maximum an Ressourcen für ihre jeweiligen Kompetenzberei-che zu mobilisieren. Daher häuften sich sehr bald die Klagen von ‚unten‘ über den Umfang der Arbeitspläne. Auf der Sitzung der BL Westsachsen am 19. Sep-tember 1929 vertrat ein Genosse Nr. 38 die Meinung, der vorgelegte Arbeitsplan sei „sehr umfangreich“, und der Genosse Nr. 13 schlug vor, man sollte256 Resolution zur Organisationsfrage (Bericht 10. Parteitag, S. 230). Dabei half auch das Funktionärorgan „Der Parteiarbeiter“, der Musterarbeitspläne abdruckte (Mallmann: Kom-munisten, S. 156).

134 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

„den Arbeitsplan auch einmal von dem Standpunkt aus betrachten, dass es einfach un-möglich ist, alles durchzuführen. Die Stadtteile können unmöglich alle diese Arbeiten so organisieren, wie dies unbedingt notwendig wäre. (...) Das Sekretariat stellt den Arbeitsplan auf und beauftragt einfach die Stadtteilleitungen, die dann die Arbeiten durchführen müssen. Diese können dies aber nicht, es ist einfach unmöglich. Eingesetz-te Genossen versagen. Wir haben das größte Interesse daran, alles durchzuführen, aber die gestellten Aufgaben sind zu gewaltig.“257

Mit der Ausweitung der Arbeitspläne einher ging der Trend zur wachsenden Komplexität. Man zergliederte zwar noch nicht den ‚Parteiarbeitstag‘ in einzelne Bewegungsabläufe, legte aber etwa bei größeren Kampagnen auf den Tag genau fest, was wann zu geschehen hatte. Manche Funktionäre reagierten darauf nur noch mit Sarkasmus. So meinte etwa der Agitpropleiter des Berliner Verwaltungsbezirks Friedrichshain auf einer Sitzung der Agitpropleiter des Be-zirks im Oktober 1926: „Wenn im Arbeitsplan nicht jeder Tag mit Sitzungen und Versammlungen belegt ist, ist das nicht 100 % Bolschewismus.“ Auch die aus Sicht der Parteiführung beklagenswert schwache Eigeninitiative der ‚einfa-chen‘ Mitglieder und der ehrenamtlichen Funktionäre wurde durch eine Pla-nung, die ihr die letzten verbliebenen Freiräume auch noch zu beschneiden such-te, nicht gerade stimuliert.258

Nach fünf Jahren Parteiarbeit per Arbeitsplan konnte die BL Ruhrgebiet in ih-rem Rundschreiben vom 9. Oktober 1930 daher nur resigniert feststellen: „Der Arbeitsplan steht in der Hauptsache nur auf dem Papier.“259 Das soll nicht heißen, dass die Einführung der Arbeitspläne vollständig gescheitert ist, weist aber darauf hin, dass diese Methode ihre Grenzen hatte. Sie war keineswegs das Patentrezept, mit dem gleichzeitig eine Verbesserung der Parteiarbeit und ein höheres Maß an Kontrolle darüber erreicht werden konnte.260

Zum Arbeitsplan kamen gegen Ende der 1920er Jahre Sollvorgaben für die Mit-glieder- und Abonnentenwerbung hinzu. Neben der generell problematischen Übertragung kapitalistischer Rationalisierungsprinzipien und dem, mit Aus-nahme des innerparteilichen Prestiges, beinahe völligen Fehlen von positiven Anreizen, verhinderte der Ehrgeiz und Schematismus der für die Aufstellung der

257 Resolution zur Organisationsfrage (Bericht 10. Parteitag, S. 230). SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 631.258 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 15.259 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/32, Bl. 63. Auch die BL Pommern sah sich - wie die meis-ten anderen auch - des öfteren genötigt, die Genossen darauf hinzuweisen, nach Arbeitsplan zu arbeiten. Im Rundschreiben vom 2. Februar 1926 hieß es dazu: „Nur ganz wenige Orts-gruppen haben sich an den Arbeitsplan und vor allem an die Termine gehalten. Der größte Teil der Ortsgruppen glaubt, es nicht nötig zu haben, die örtliche Arbeit in den Arbeitsplan einzugliedern. Dadurch wird es unmöglich, einen genauen Überblick im Bezirk zu erhalten.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 100).260 Hildermeier: Geschichte, S. 376f.

3 Der organisatorische Hintergrund 135

Sollzahlen zuständigen Funktionäre im ZK und in den Bezirksleitungen, dass diese Methode ein Erfolg werden konnte. So verlangte etwa die BL Ruhrgebiet in ihrem Arbeitsplan für den Mai 1929, dass die Unterbezirke 8.000 neue Mit-glieder und 2.000 neue Abonnenten werben sollten. Dabei entfielen auf die ein-zelnen Unterbezirke je nach Größe zwischen 1.500 (UB Essen) und 500 neue Mitglieder (UB Recklinghausen und Hamm) und zwischen 400 und 125 neue Abonnenten. Angesichts einer Zahl von 6.917 abgerechneten Mitgliedern im April 1929 war das natürlich völlig unrealistisch. Auf der anderen Seite nötigte man die Funktionäre an der Basis durch diese engen Vorgaben, dazu, in ihre Ergebnisberichte die Dinge hineinzuschreiben, die ‚oben‘ offenbar verlangt wurden:

Die „professionelle Avantgarde [d.h. die Parteiführung] verspielte - wie es scheint - mit diesem System engmaschiger Vorgaben vollends die Chance regelmäßiger und vor allem wahrheitsgetreuer Berichterstattung von der Parteibasis. (...) Die Ortsgruppenvor-sitzenden - ohnehin schreibungelenk und lokale Multifunktionäre - verschanzten sich hinter ihrer Überlastung und verhinderten so einen Blick in ihre Karten.“261

Zusätzlich führte man Anfang der 1930er Jahre den „revolutionären Wettbe-werb“ ein. Parteiorganisationen bis hinab zu den Zellen und Ortsgruppen sollten mit anderen Parteiorganisationen vereinbaren, bis zu einem bestimmten Stichtag bestimmte vorher festgelegte Ziele bei der Neugründung von Zellen, der Ge-winnung von Parteimitgliedern und Abonnenten der Parteizeitung zu erreichen. Von der Anlehnung an die Methoden der ‚Bruderpartei‘ versprach man sich eine hohe Legitimität. Am prägnantesten zeigt das die Begründung, die die Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet einem Rundschreiben vom 11. April 1931 gab:

„Der revolutionäre Wettbewerb ist eine Methode der Mobilisierung der Partei und der Massen, die uns von den russischen Genossen gelehrt wurde. Nicht zuletzt ist es gerade dem sozialistischen Wettbewerb zu verdanken, daß der Fünfjahrplan bereits in 4 Jahren, zum Teil sogar in 3 und 2 ½ Jahren durchgeführt werden kann. Auch wir müssen uns dieser Methode bedienen.“

Nachdem man bald hatte feststellen müssen, dass von ‚oben‘ dekretierte Wettbe-werbe nicht unbedingt auf fruchtbaren Boden gefallen waren, verfiel man dar-auf, dass die Genossen in den Zellen und Ortsgruppen selbst diese Wettbewerbe untereinander vereinbaren sollten. Diese sollten dazu eine „Wettbewerbskom-mission“ wählen, die einen regelrechten „Wettbewerbsvertrag“ abschließen und seine Durchführung kontrollieren sollte.262

261 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29 Bl. 135. HStAD Regierung Düsseldorf 30657b. Mall-mann: Kommunisten, S. 157.262 In ihrem Rundschreiben vom 21. Februar 1930 gab etwa die BL Berlin-Brandenburg be-kannt, dass sie am 7. November mit der Moskauer, Pariser und Hamburger KP-Organisation „einen revolutionären Wettbewerb abgeschlossen“ habe, der bis zum nächsten Bezirkspartei-tag laufen soll (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/28, Bl. 253). SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/44, Bl. 57. Sitzung BL Oberschlesien am 12.10.1925 (SAPMO-BArch RY1/I3/10/8, Bl. 120).

136 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

Es spricht insgesamt daher vieles dafür, dass solche Methoden reine Überbau-phänomene waren. Die führenden Funktionäre dachten zunehmend in derartigen Kategorien, die mit der Wirklichkeit der meisten Straßenzellen und Ortsgruppen wenig gemeinsam hatten. Dort herrschten traditionelle und bewährte Methoden, deren Ergebnisse hinterher nur noch durch die ehrenamtlichen Funktionäre in die ‚sowjetische‘ Sprache der Parteiführung übersetzt werden mussten.

3.3.4 Die Kontrolle der Basistätigkeit durch die Führung3.3.4.1 Das BerichtswesenNachdem die Partei in ihrem Wachstumsprozess einmal einen bestimmten Schwellenwert überschritten hatte, war die KPD-Führung nicht mehr in der Lage, einen regelmäßigen direkten persönlichen Kontakt mit den Regional-organisationen herzustellen. Was im wohl kaum eintausend Mitglieder starken und auf wenige Ballungsräume beschränkten Spartakusbund noch möglich ge-wesen war, war spätestens seit der Vereinigung mit der USPD-Linken Ende 1920 nicht mehr denkbar. An die Stelle der direkten mündlichen trat zunehmend die indirekte schriftliche Kommunikation.

Beim großen Vorbild, der RKP(b), führte schon 1919/20 ZK-Sekretär N.N. Krestinskij notgedrungen eine regelmäßige Berichterstattung durch die Bezirke ein, um das nach der Revolution noch wenig verbundene Riesengebilde der bol-schewistischen Partei zusammenzufügen und unter die Kontrolle des ZK zu bringen. Groß waren daher auch die Erwartungen, die die hauptamtlichen Funktionäre der KPD mit der Berichterstattung verbanden.263

Es dauerte aber bis ca. 1925 bis die Regelmäßigkeit Einzug zumindest in die Berichterstattung der Bezirke hielt. Im Tätigkeitsbericht der Zentrale an den 10. Parteitag 1925 hieß es dazu, dass sich die Berichterstattung seit dem Frankfurter Parteitag (7.-10.4.1924) gebessert habe, nachdem sie während der Periode der Illegalität der KPD vom 11. November 1923 bis zum 28. Februar 1924 „fast un-möglich gemacht“ worden war. Fast alle Bezirke würden nun regelmäßig be-richten. Trotzdem sah die Resolution der Zentrale zur Organisationsfrage unter Punkt 6 vor, im gleichen Maße wie die Parteiarbeit durch den Arbeitsplan auch die Berichterstattung zu systematisieren. Die Hoffnung war, dass sie sich da-durch als Bestandteil der „Arbeitspflicht“ jedes einzelnen Genossen „als Traditi-on fest einwurzelt.“ „Die gründliche Berichterstattung ist die unerläßliche Voraussetzung für Selbstkontrolle und Selbstkritik der Partei und damit für die dauernde Vereinheitlichung der Partei und ihre organisatorische Festigung.“ Da-her wurde nun auch die Pflicht der Bezirksleitungen zur monatlichen Bericht-erstattung an das ZK in das Statut hineingeschrieben (§ 27). Ottomar Geschke, der das Referat zur Organisationsfrage hielt, wies besonders auf den engen Zu-

263 Schapiro: Geschichte, S. 266.

3 Der organisatorische Hintergrund 137

sammenhang von Planung und Berichterstattung hin, und meinte, eine wirksame Planung „ist ohne regelmäßige Berichterstattung nicht möglich.“264

Anscheinend dauerte es aber trotzdem noch seine Zeit bis die Bezirkslei-tungen in der Lage waren, diesen Ansprüchen in punkto Regelmäßigkeit und Qualität zu genügen. Die Rügen seitens des ZK über nicht vorliegende oder zu spät eingesandte Monatsberichte oder Protokolle von BL-Sitzungen sind jeden-falls zahlreich, wobei wieder einmal die beiden kleinen, finanz- und perso-nalschwachen Bezirke Pommern und Oberschlesien besonders herausragen. Um die Qualität der Berichterstattung der Bezirksleitungen auf einem hohen Niveau zu vereinheitlichen, schickte das ZK-Sekretariat zum Beispiel der BL West-sachsen in seinem Brief vom 25. Oktober 1927 eine kommentierte Liste der Rubriken, die ein Monatsbericht enthalten sollte:

„1. ein konkreter Überblick über die wirtschaftliche Lage im Bezirk (...)2. einen ebensolchen konkreten Bericht über die Lohn- und Arbeitszeitbewegungen im Bezirk (...)3. Die politischen Kampagnen, die in der Berichtszeit im Bezirk laufen bezw. abge-schlossen worden sind. 4. Eine Schilderung der innerparteilichen Lage (...)5. Ein allgemeiner politischer Überblick über die wichtigsten Momente des Standes der Organisation und zuletzt eine Aufstellung der Veranstaltungen des Bezirks, aus der ins-besondere hervorgeht, wie das Leben in unseren Betriebs- und Straßenzellen, Orts-gruppen, Funktionärkörpern, Fraktionen, aber auch die öffentliche Tätigkeit der Partei sich abspielt.“265

Gerade der letzte Punkt war die Achillesferse der Berichterstattung! Die Bericht-erstattung der Bezirksleitungen konnte schließlich nur so gut sein, wie die Be-richterstattung von den unteren Ebenen es erlaubte. Nach Beendigung des 10. Parteitags arbeitete die Org-Abteilung des ZK mit Hochdruck daran, diese Grundlage der bezirklichen Berichterstattung herzustellen. In ihrem Bericht an das ZK vom November 1926 heißt es, man habe im Juni 1926 mit der einheitli-chen Berichterstattung von der Ortsgruppe bis hinauf zum ZK „eingesetzt“. Bei den Berichten von der Basis haperte es aber auch in den folgenden Jahren so-wohl an der Kontinuität als auch an der Qualität. In dem oben schon erwähnten Brief des ZK-Sekretariats vom 25. Oktober 1927 an die BL Westsachsen wurde als notwendige Bedingung der Berichterstattung durch die Bezirksleitungen „eine glänzende Berichterstattung der wichtigsten Großbetriebszellen, der wichtigsten Unterbezirke und Ortsgruppenleitungen, der wichtigsten Fraktions-

264 Bericht 9. Parteitag, S. 9. Bericht 10. Parteitag, SS. 133, 231 (Hervorhebung von mir, U.E.), 233 und 441 (Hervorhebung im Original).265 In seinem Brief vom 16. November 1925 kritisierte das ZK-Sekretariat die BL Ruhrgebiet, weil sie noch kein einziges Protokoll der Bezirksleitungs-Sitzungen vom Oktober eingesendet habe (SAPMO-BArch RY1/I2/5/28, Bl. 458). SAPMO-BArch RY1/I2/5/26, Bl. 699.

138 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

leitungen an die Bezirksleitung“ vorausgesetzt. Dieses Ziel - so gab man vor - sollte die BL Westsachsen „in den nächsten Monaten“ erreichen können.266

Die regelmäßige Wiederholung der Erwartungen der Parteiführung an die Be-richterstattung ‚von unten‘ zeigten aber kaum Wirkung. Immer wieder wird in den Monatsberichten der Bezirksleitungen beteuert, leider keine näheren Angaben über die aktuellen Mitgliederzahlen, die Zahl der Betriebszellen oder Gewerkschaftsfraktionen usw. geben zu können, da die Ortsgruppen nicht be-richtet hätten. Genauso zahlreich finden sich den monatlichen BL-Rund-schreiben angefügte „Schwarze Listen“ von Parteigruppen und -zellen, die nicht berichtet hatten.267 Mallmann ist daher, auch wenn er den Stand der Bericht-erstattung zu überspitzt darstellt, im Großen und Ganzen zuzustimmen, wenn er schreibt: „Da ... von einem schriftlichen Berichtswesen der Parteibasis kaum oder gar nicht die Rede sein konnte, versiegte für die professionelle Avantgarde tendenziell auch der wichtigste Informationskanal ,von unten‘.“

Sicher lagen die Hauptursachen für diese ungenügende Berichterstattung einerseits in der ohnehin ausgeprägten Überlastung der ehrenamtlichen Funktio-näre und andererseits in ihrer Schreibunkundigkeit und -unwilligkeit. Ihre Priori-tät sahen sie - vermeintlich im Sinne der Partei - in der praktischen Arbeit. Man geht aber sicherlich nicht zu weit, wenn man - wie auch Mallmann - darin auch eine ganz bewusste Wahl sieht. Ihr Sinn bestand darin, die ‚Trümpfe‘ im inner-parteilichen Aushandlungsprozess nicht vorzeitig aufzudecken, nicht die für eine allgegenwärtige Kontrolle nötige Transparenz selbst beizusteuern. Und es war an der Basis bekannt, dass es bei der Durchsetzung einer regelmäßigen Bericht-erstattung der Basis auch um eine Stärkung der Kontrolle der Parteiführung über die Basistätigkeit ging. Die Parteiführung hatte daraus nie einen Hehl gemacht. Es fällt nicht schwer nachzuvollziehen, dass auch ein Kommunist die eigene Handlungsfreiheit höher bewertete, als eine für ihn doch abstrakt bleibende all-gemeine Effizienzsteigerung. Eine regelmäßige Berichterstattung, wie sie sich die führenden Funktionäre vorstellten - und das wusste man durchaus auch an

266 SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 4. SAPMO-BArch RY1/I2/5/26, Bl. 699.267 Dazu nur drei Beispiele: Rundschreiben der BL Pommern vom 14.7.1926: „Auch berichten die Genossen nicht über Vorgänge in den Gewerkschaften am Orte. Die Bezirksleitung ist darum nicht in der Lage, in der Presse darauf einzugehen und den Genossen die notwendigen Spezialanweisungen zu geben.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 168). Bericht der BL Ber-lin-Brandenburg an das EKKI vom 13.12.1926: „Als Grundlage zur Beantwortung der [vom EKKI vorher] gestellten Fragen können regelmäßige Monatsberichte der Zellen, Zellengruppen, Ortsgruppen, Verwaltungs- und Unterbezirke nicht herangezogen werden, da eine monatliche Berichterstattung von der Zelle bis zur Bezirksleitung noch nicht existiert und erst jetzt in die Wege geleitet ist.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 89). Monatsbericht der Bl Westsachsen vom November 1927: im Unterbezirk Borna haben zehn von 14, im UB Grimma zwei von sieben, im UB Meuselwitz sieben von 16, im UB Riesa zwei von sieben, im UB Wurzen drei von sieben und im UB Leipzig 18 von 38 (gesamt: 42 von 89 - also 47,19 Prozent der Ortsgruppen) berichtet (SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 151). Mallmann: Kommunisten, S. 149.

3 Der organisatorische Hintergrund 139

der Basis -, hätte bedeutet, sich freiwillig ans Gängelband zu binden, die eigene relative Autonomie freiwillig preiszugeben.

3.3.4.2 Der Einsatz von FragebogenParallel zur weniger strukturierten Berichterstattung setzte die Parteiführung schon seit Anfang der 1920er Jahre auf den Einsatz von Fragebogen. Der 1921 noch recht rudimentäre Bezirksfragebogen wurde im Laufe der Jahre immer um-fangreicher und nach und nach wurden auch die tieferen Ebenen einbezogen. Um die Mitte der 1920er Jahre umfasste der gedruckte Bezirksfragebogen etwa die folgenden Bereiche: die Zahl der Mitglieder, die Zahl der Unterbezirke, Ortsgruppen und Zellen jeweils am Monatsanfang und am Monatsende, die Ortsgruppengröße, die Zahl der Demonstrationen und sonstigen öffentlichen Veranstaltungen (inklusive der Themen und der Teilnehmerzahl), sowie die Zahl der parteiinternen Mitgliederversammlungen, Leitungssitzungen und Funktio-närskonferenzen. Teilweise wurden zusätzlich Informationen über die Zahl der Funktionäre, die Teilnahme an Schulungen, die Gewerkschaftsfraktionen, die tägliche Parteiarbeit (zum Beispiel Flugblattverteilung, Betriebsarbeit und Land-agitation) und darüber hinaus jeweils aktuell interessierende Aspekte erhoben. Hinzu kamen je nach Bedarf Fragebogen über besondere Veranstaltungen, also etwa über den Besuch und die Durchführung von Elementarkursen, über be-stimmte Aktionen wie zum Beispiel Werbewochen, oder immer wieder mal über die Struktur der Mitgliedschaft, zum Beispiel ihre Zugehörigkeit zu Gewerk-schaften oder Sportvereinen.

Die Domäne der Fragebogen war - wie nicht anders zu erwarten - die Erhe-bung rein quantitativer Eckdaten. Mit ihrer Hilfe glaubte man, den Genossen in den Ortsgruppen und Zellen quasi über die Schulter sehen zu können. Die Da-ten, die sie lieferten, waren aber nicht dazu geeignet, etwas über die Qualität der Basistätigkeit herauszufinden. Die führenden Funktionäre der KPD bewegten sich daher zunehmend in einer reduzierten ‚statistischen Wirklichkeit‘, die sich gravierend von der Wirklichkeit unterschied, wie sie die einfachen Genossen und ehrenamtlichen Funktionäre an der Basis erlebten.

Keine Bezirksleitung verlegte sich so sehr auf die Kommunikation per Fragebo-gen wie die pommersche. Ihre schwachen finanziellen und personellen Ressourcen und die geografische Ausdehnung des Bezirks, erlaubten es ihr gar nicht, regelmäßig bei den Ortsgruppen vorbeizuschauen. Pommern ist daher ein extremes Beispiel, an dem aber auch besonders augenfällig die Grenzen dieser Form der Datenerhebung aufgezeigt werden können. Aus keinem Bezirk liegen mehr resignierte Aufforderungen an die Genossen vor, die Fragebogen doch bitte pünktlich auszufüllen und zurückzusenden, als aus dem Bezirk Pommern. Schon in ihrem Rundschreiben vom 16. Mai 1923 musste die BL bemängeln, dass nur 15 Ortsgruppen den Monatsfragebogen eingesandt hatten, obwohl der Bezirk schon im Mai 1922 58 Ortsgruppen gehabt haben soll. Der Kenntnisstand

140 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

der Bezirksleitung Pommern über die Strukturen und Ereignisse im Bezirk blieb daher begrenzt und war nicht selten schon überholt, da sie die Fragebogen oft nur verspätet oder unvollständig erreichten. Die BL Pommern musste daher etwa in ihrem Bericht vom 16. Mai 1925 eingestehen, dass die dort genannte Zahl von 1.916 Mitgliedern in 89 Ortsgruppen „absolut willkürlich angenom-men“ ist, da kaum Angaben der Ortsgruppen vorlägen.268 Was in den anderen vier Bezirken in solchen Fällen immer relativ leicht möglich war, nämlich je-manden vor Ort zu schicken, der die Genossen zeitweilig auf Trab brachte oder sogar fleißigere Funktionäre einsetzte, ging in Pommern normalerweise nicht. In den vier anderen Bezirken war die Bereitschaft der ehrenamtlichen Funktionäre, Fragebogen auszufüllen allerdings auch nicht stärker ausgeprägt. Es hatte dort auf Grund der größeren Mitgliederdichte nur nicht die verheerende Wirkung wie im Bezirk Pommern.

Während die Funktionäre in den Bezirksleitungen und der Zentrale bzw. dem ZK dazu neigten, den Bereich der statistisch zu erfassenden Parteiarbeit immer weiter auszudehnen, weil ihnen dieses Instrument scheinbar zu validen Informa-tionen verhalf, die anderweitig nicht zu beschaffen waren, war an der Basis durchaus wenig Sinn für solche Methoden vorhanden. In ihrem Bericht vom Juli 1927 über die Durchführung der Reichskontrolle schrieb die Org-Abteilung des ZK: „Anfänglich ergaben sich Widerstände, indem einzelne Parteileitungen und Genossen sich der Durchführung der Kontrolle widersetzten, diese für Bürokra-tismus hielten.“ In einem Bericht des Organisationsbüros der Bezirksleitung Westsachsen vom Frühjahr 1925 hieß es dazu: „Die Beantwortung von ausgege-benen Fragebogen und dergl. erachten unsere Genossen Ortsgruppenführer als eine ziemlich nebensächliche Angelegenheit.“ Als das ZK im Rahmen der dritten Reichskontrolle 1929 die Leitungen der Parteigruppen und -zellen nach ihrer Kritik und ihren Wünschen fragte, antwortete - durchaus repräsentativ - die Leitung der Betriebszelle der Zeche de Wendel in Hamm:

„Beantragen bei BL, uns in diesem Jahre nicht so oft mit Fragebogen zu belästigen. Hal-ten es für zweckmäßiger, die Fragebogen ½ jährlich an die OG [Ortsgruppen] zu senden. Es wäre bedeutend besser, weniger von diesem Material zu verschwenden und den Kumpels, die im Produktionsprozeß stehen, ihnen [sic!] nicht die übrige Zeit durch zwecklose Arbeiten zu rauben.“269

Dem Anschein nach war das Ergebnis dieses ausgedehnten Einsatzes der Frage-bogen vor allem ein ungeheurer Datenfriedhof. Das erhobene statistische Mate-rial hat im Alltag der führenden Funktionäre kaum eine Rolle gespielt. Darüber beschwerte sich ein Genosse auf der Orgkonferenz des Unterbezirks Gelsenkir-

268 SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 21. Bericht des Bezirksleitungs-Sekretärs für Mai 1922 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 11). SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 97 (Hervorhebung im Original).269 SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 208 (Hervorhebung von mir, U.E.). SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 79. SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 183.

3 Der organisatorische Hintergrund 141

chen am 11. März 1928: „man hätte wohl fein säuberlich registriert und alles ,festgestellt‘, aber von einer Ausnützung der Ergebnisse zur Weiterbildung von Zellen, Verstärkung der Fraktionsarbeit war nichts zu spüren.“270

Ein durchaus effektives Mittel der Kontrolle der Aktivität der Genossen an der Basis wäre gewesen, alle bedeutenden Tätigkeiten (Teilnahme an Werbee-insätzen, Teilnahme an Schulungskursen, Mitgliedschaft in einer Gewerk-schaftsfraktion und regelmäßige Teilnahme an ihren Sitzungen, Abonnement der Parteizeitung usw.) in das Mitgliedsbuch einzutragen oder über Marken zu quittieren. Dies wurde auch teilweise praktiziert. Das Mitteilungsblatt des Be-zirks Berlin-Brandenburg kündigte am 7. Februar 1923 an, dass es eine neue Rubrik im Mitgliedsbuch namens „Kontrollvermerk über Parteitätigkeit“ gebe, in der die Mitarbeit in Gewerkschaftsfraktionen oder die Übernahme von Funktionen notiert werden sollte. Und das organisatorische Rundschreiben des Bezirks Berlin-Brandenburg vom 15. Juni 1924 wies darauf hin, dass dem Mit-gliedsbuch im Rahmen der gegenwärtig durchgeführten Reorganisation der Partei ein vierseitiges Beiblatt beigelegt werde, in dem der Versammlungsbe-such der Genossen festzuhalten war. Der Haken bei dieser Form der Kontrolle des Mitgliederverhaltens lag natürlich bei dem im Verhältnis zum möglichen Er-trag horrenden bürokratischen Aufwand beim Festhalten und beim Auswerten der einzelnen Tätigkeiten. Das Zusammenholen aller eingetragenen Mitglieder auch nur einer mittelgroßen Ortsgruppe zu einem Zeitpunkt war im Übrigen schon schwierig genug. Deswegen wandte sich auch der Orgleiter des Bezirks Westsachsen, Arthur Vogt, auf der Sitzung der BL am 4. Mai 1926 gegen den Vorschlag des ZK, die Mitgliedsbücher vierteljährlich zu kontrollieren, weil er dies für nicht durchführbar hielt. Die Planung einer Kontrolle aller Mitgliedsbü-cher ist daher nur aus dem Bezirk Pommern überliefert - sporadisch dürfte es so etwas durchaus in allen Bezirken gegeben haben, wenn auch mit Sicherheit nie vollständig.271

3.3.4.3 Der Einsatz von InstrukteurenEs war offenbar nicht möglich, die ehrenamtlichen Funktionäre davon zu über-zeugen oder sie dazu zu zwingen, regelmäßig und wirklichkeitsgetreu Bericht zu erstatten oder Fragebogen auszufüllen. Ultima ratio der Kontrolle der Tätigkeit der Parteibasis war daher der Einsatz von Instrukteuren. Dies war gleichzeitig auch die teuerste Form der Kontrolle, und wollte daher sehr sorgfältig überlegt sein. Inspiriert wurde die Einführung des Instrukteurwesens wohl durch die Bol’ševiki und ihre politischen Kommissare in der Roten Armee, die ab 1918 die militärischen Befehlshaber kontrollieren sollten, und den daraus ent-

270 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/26, Bl. 26.271 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 79. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 217. SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 96.

142 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

standenen, im Mai 1921 bei der Organisationsabteilung des ZK der RKP(b) ein-gerichteten Stab von ZK-Instrukteuren.272

1920 hatte die Zentrale der KPD beschlossen, aus den zu diesem Zeitpunkt zwölf Wanderrednern der Partei, die man nach dem Muster der frühen SPD zu propagandistischen Zwecken und zur Hilfe beim Aufbau von Parteiorganisa-tionen in die Regionen entsendete, „politische Kommissare“ zu machen, die zur Ausführung besonderer Aufgaben in die Bezirke geschickt werden sollen. Besonders hellsichtig auch in Bezug auf die Möglichkeiten und Grenzen des späteren Einsatzes von Instrukteuren war Eberleins kritische Würdigung der bis-herigen Tätigkeit der Wanderredner in seinem Geschäftsbericht an den 5. Partei-tag:

„Die Genossen, die als Wanderredner in die Bezirke gehen, sind wie eine Art Singvö-gel, die heute dort und morgen dort ihr Lied singen und dann weiterziehen. Aber sie verlieren dadurch in sehr kurzer Zeit den engen Kontakt mit der Partei und sind auch nicht imstande, draußen irgendwo festen Fuß zu fassen und sich ein Bild über die tat-sächlichen Verhältnisse im Bezirk zu machen.“

Als Politkommissare sollten die Wanderredner von nun an nur noch zur Ausfüh-rung besonderer Aufgaben in die Bezirke geschickt werden, wovon man sich of-fenbar eine Steigerung der Effizienz ihres Einsatzes versprach.273

Beim Aufbau ihres Instrukteurswesens machte die Partei zunächst nur wenig Fortschritte. Zu einer wirklich halbwegs systematischen Heranziehung befähig-ter Funktionäre aus den Bezirken und ihrem Einsatz als Instrukteure kam es wohl erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Ein großer Teil der Berichte kam außerdem von den Referenten der Zentrale, die anlässlich bestimmter Kam-pagnen auf Vortragsreise durch die Bezirke gingen, und ihre Eindrücke von den Versammlungen, vor denen sie gesprochen hatten, und dem Umfeld zu schildern hatten. Weil die Parteiführung es sich nicht leisten konnte, die teuren Refe-rentenspesen allein für die Vorträge zu finanzieren, mussten die reisenden Parteiredner auch in der Folgezeit zur Informationsbeschaffung beitragen.

Die Struktur des Einsatzes der Instrukteure bietet, da er wegen damit ver-bundenen Kosten gut überlegt sein wollte, ein getreues Abbild der wirklichen organisationspolitischen Prioritäten der Parteiführung. Es überrascht daher kaum, dass der Bezirk Pommern nur selten einmal einen ZK-Instrukteur in sei-nem Gebiet begrüßen durfte. Die Motive für den Einsatz der ZK-Instrukteure lassen sich grob in zwei Bereiche unterteilen: erstens wichtige politische Kam-pagnen und zweitens bedeutende parteiinterne Änderungen. Die Instrukteure un-terstützten also zum Beispiel strategisch zentrale Bezirke beim Wahlkampf oder bei der Umstellung auf Betriebszellen 1925. Besonders intensiv war ihr Einsatz bei der Einführung der neuen Strategie kommunistischer Betriebs- und Streikpo-272 Schapiro: Geschichte, S. 279 und S. 269.273 Bericht 5. Parteitag, S. 50.

3 Der organisatorische Hintergrund 143

litik anlässlich des Ruhreisenstreits im November 1928, als die Gewerkschafts-Abteilung des ZK ihre Spitzenkräfte Hans Sawadzki und Paul Peschke für eine Woche bzw. für mehr als einen Monat in den Bezirk entsandte. Daneben spielten die Instrukteure die Rolle einer organisationspolitischen schnellen Ein-greiftruppe, wurden in einen Bezirk entsandt, wenn das ZK erfahren hatte, dass es politisch oder organisatorisch drunter und drüber ging.274

Die Instrukteure waren also gewissermaßen die ‚Feuerwehr der Parteiarbeit‘. Das zeigt sich an den umfassenden Aufgabenkatalogen, die ihnen vom ZK oder der sie jeweils betreuenden ZK-Abteilung mit auf den Weg gegeben wurden. So schrieb das ZK-Sekretariat am 5. März 1928 an die BL Ruhrgebiet, dass Arthur Vogt vom 6. bis zum 13. und vom 17. bis zum 25. März als Instrukteur der Org-Abteilung im Bezirk tätig sein wird. Sein Aufgabenbereich war umfassend:

„Der Genosse V. hat hauptsächlich die Aufgabe, die Vorbereitung der Wirtschafts-kämpfe zu unterstützen und zu prüfen, wieweit die Beschlüsse in den wichtigsten Parteiorganisationen, insbesondere Großbetriebszellen durchgeführt werden. Zugleich soll er bei der Vorbereitung der Wahlbewegung [der Kampagne für die Reichstagswah-len am 20.5.1928] helfen.“

Sein Kollege R. Schulze, der im November 1928 im Bezirk Oberschlesien unter-wegs war, hatte die Aufgabe, „meine Tätigkeit in der Eigenschaft als Org-instrukteur überwiegend auf den Aufbau und die Bearbeitung der Zellen“ zu konzentrieren. Eine solche in Absprache mit den zuständigen Funktionären des ZK konzipierte Tätigkeit wurde aber nicht selten dadurch konterkariert, dass es den Funktionären der Bezirksleitungen oft nicht bis zum Eintreffen des Instruk-teurs im Bezirk gelang, einen konkreten Plan für seinen Einsatz zu erstellen, was etwa bei Vogts Instruktionsreise durch Oberschlesien vom 21. November bis zum 2. Dezember 1927 der Fall war.275

274 Paul Peschke, Bericht vom 24.12.1928 (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/13, Bl. 206ff.). Sei-ne Aufgabe „bestand darin, in der Leitung des Kampfes, beratend und organisierend mitzu-arbeiten und an schwachen Stellen einzugreifen, sowie als Referent in den Ausgesperrten-Versammlungen aufzutreten.“ (Ebenda, Bl. 207). Hans Sawadzki, Bericht vom 12.12.1928 (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/13, Bl. 166-179). Zur gleichen Zeit im Ruhrgebiet unterwegs waren die Instrukteure Rudolf Richter (wohl für die IAH), [Hermann?] Kellermann, Karl Adolphs von der ZK-Org-Abteilung, ein Friedrich von der ZK-Gewerkschaftsabteilung, sowie eine Funktionärin von der ZK-Frauenabteilung, da man im Rahmen der neuen Strategie ver-stärkt Wert darauf legte, die Ehefrauen der Ausgesperrten in den Arbeitskampf einzubeziehen.275 SAPMO-BArch RY1/I2/5/28, Bl. 675. Vogt hielt sich während dieser Zeit unter anderem in Bochum (11.3.), Gelsenkirchen (12.3.), Hamm (13.-14.3.), Hamborn (15., 29. und 31.3.), Buer (20.3.), Oberhausen (21.3.), Dortmund und Essen (28.3.), Duisburg (30.3.) und Bottrop (1.4.) auf und berichtete zum Teil sehr ausführlich von UBL- und Abteilungssitzungen, Funktionärskonferenzen und Versammlungen. SAPMO-BArch RY1/I2/4/66, Bl. 154. Arthur Vogt, Gesamteindruck Instruktionsreise Oberschlesien [o.D.] (SAPMO-BArch RY1/I3/6/12, Bl. 94).

144 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

Dass sich ein Instrukteur so lange in einem Bezirk aufhielt wie Vogt im Ruhrgebiet, wo er vom 17. bis zum 29. Dezember 1927, vom 5. bis zum 14. März und vom 18.3 bis zum 3. April 1928 gewesen war, war aber eher die Aus-nahme. Die Regel beschreibt ein Nachtrag des Orgbüros der Zentrale zu seinem Halbjahresbericht für den Zeitraum Juli-August 1924 über den Einsatz von In-strukteuren. Danach wurde der Bezirk Pommern vom 30. Mai bis zum 1. Juni von einem ZK-Instrukteur besucht, der Bezirk Westsachsen vom 11. bis zum 14. Juni, und der Bezirk Ruhrgebiet am 6. Mai und vom 18. bis zum 22. Juni 1924. Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Instrukteure dann kaum in der Lage waren, wirklich tief zu schürfen. Und daran scheint sich auch bis 1932 wenig geändert zu haben, wie die Organisatorischen Weisungen des XII. Plenums des EKKI ernüchtert feststellten:

„Die wenig zahlreichen Instrukteure geben in der Regel nur Gastrollen, kommen auf ein paar Stunden, im besten Fall auf ein paar Tage. Sie stellen lediglich die vorhandenen Mängel in der Arbeit der Parteiorganisation fest, haben jedoch keine Zeit, bei ihrer Be-seitigung zu helfen oder die Durchführung zu kontrollieren.“276

Die Instrukteure waren selbstverständlich keine neutralen Gewährsleute objek-tiver Wahrheit. Ihr Blick auf die Zusammenhänge vor Ort war kaum weniger ideologisch determiniert als der der Parteiführung generell. Ein Beispiel dafür ist der Bericht Arthur Vogts über eine Parteiarbeiter-Konferenz im Unterbezirk Dortmund am 17. Dezember 1927. An dieser Diskussion über die Lage im DMV beteiligte sich auch ein Genosse namens Zilinski vom Stahlwerk Dortmunder Union:

„Die Rede des Genossen Z. war für einen kommunistischen Betriebsfunktionär und zu-mal wie ich nachher erfuhr, für ein Mitglied der Bezirksleitung, geradezu eine Kata-strophe. (...) Z. führte unter anderem folgendes aus: Man scheine sich in Berlin ein voll-ständiges [sic!] falsches Stimmungsbild von den Betrieben des Ruhrgebiets zu machen. Als Beweis dafür verwies er auf unsere Pressemeldungen, die er für viel zu stark, schön-färberisch, aufgemacht hinstellte.“277

Nichtsdestotrotz leisteten die ZK-Instrukteure einen wichtigen Beitrag zur Mei-nungsbildung der führenden Funktionäre über die Geschehnisse an der Basis. Mallmann ist der Meinung, sie hätten, obwohl nur alle paar Monate im Saarge-biet anwesend, „die kritischsten Analysen überhaupt“ geliefert.278

Wie kamen die Instrukteure an ihre Informationen? Von Vorteil war sicher-lich, dass sie aus Kostengründen zumeist bei Genossen übernachteten. Damit

276 Gesamtbericht Arthur Vogt (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/13, Bl. 84ff.). SAPMO-BArch RY1/I2/4/24, Bl. 160. Der Bezirk Oberschlesien wurde zu dieser Zeit gerade erst gegründet. Kommunistische Internationale 13/1932, S. 1393 (zit. nach Mallmann: Kommunisten, S. 153).277 SAPMO-BArch RY1/I2/4/66, Bl. 63.278 Mallmann: Kommunisten, S. 148.

3 Der organisatorische Hintergrund 145

ließen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Spesen sparen und intime Informationen erhalten. Hilfreich bei der Informationsgewinnung war sicherlich auch die Vorbereitung anhand der ZK-Unterlagen. Teilweise wurden ihnen entweder Materialien mitgegeben oder sie hatten Zugang zu den Unterlagen der Bezirksleitungen. Arthur Vogt verfügte zum Beispiel bei seinem Aufenthalt im Ruhrgebiet im Frühjahr 1927 über Unterlagen über die Ergebnisse der Reichs-kontrolle. Ein eigenes Bild von den Vorgängen machten sie sich vor allem über die Teilnahme an den Sitzungen der Bezirksleitung und der Unterbezirkslei-tungen und ihren Gesprächen mit Bezirks-, Unterbezirks-, Ortsgruppen- und Zellenfunktionären. Die von ihnen erhobenen Informationen waren also, abgese-hen davon, was sie persönlich direkt miterleben konnten, sehr stark von der Qualität dessen abhängig, was die Genossen vor Ort lieferten.

Der große Vorzug des Einsatzes von Instrukteuren bestand natürlich darin, dass sie nicht in die regionalen oder lokalen Seilschaften eingebunden waren. Dies konnte aber auch zum Nachteil werden. Erstens brauchte der Instrukteur eine gewisse Zeit, „um mir eine gewisse Personal- und Ortskenntnis anzueignen und mich mit den spezifischen Bezirksverhältnissen vertraut zu machen“, wie Richard Schulz, von der ZK-Org-Abteilung beim Aufbau von Betriebszellen in Oberschlesien eingesetzt, am 6. November 1928 an das ZK schrieb. Zweitens mussten die lokalen Funktionäre mit dem Instrukteur kooperieren. Die ZK-In-strukteure Albert Zwicker und Otto Karl Bachmann schrieben in ihrem Bericht über ihre Tätigkeit im Bezirk Ruhrgebiet vom 8. Juni 1926, dass die Bezirksse-kretäre ihnen „so gut wie gar keine Auskünfte“ gegeben hätten. Drittens konnte die für die Qualität der Instrukteursberichte entscheidende Distanz zum regiona-len und lokalen Parteigeschehen zum Bumerang werden, wenn sie vom lokalen Parteiklüngel nur mit den Informationen gefüttert wurden, die in seinem Inter-esse lagen. Für manche lokale Seilschaft war der Instrukteur höchst willkom-men, um persönliche Streitigkeiten auf einer ,höheren Ebene‘ auszufechten. Nicht selten versuchten Genossen durch gezielte (Des-)Informationen, die sie dem Instrukteur steckten, anderen eins auszuwischen. Manche baten ihn gleich konkret darum, er möge doch seinen Einfluss dahingehend geltend machen, diesen oder jenen Funktionär absetzen zu lassen.279

Die beiden letzten Punkte verweisen schon darauf: der Einsatz von Instrukteu-ren war bei den zu Instruierenden keineswegs immer unumstritten. Während die Instrukteure einerseits zum Teil sogar eine quasi ,seelsorgerische‘ Funktion aus-übten, wenn sich Genossen von der Basis bei diesen Abgesandten von oben über einzelne Funktionäre Luft machen konnten, waren sie andererseits die ZK-

279 Vogt, Mitgliederversammlung Ortsgruppe Bottrop, 1.4.1928 ( SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/13, Bl. 83). SAPMO-BArch RY1/I3/6/13, Bl. 250. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/12, Bl. 170. Bericht Robert Siewert aus Hamborn vom 23. März 1926: „Eine Reihe guter Genossen machte mich darauf aufmerksam, zu fordern, dass dafür gesorgt werden soll, dass der Einfluß von G. [dem Ortsgruppen-Leiter Geesmann] gebrochen wird.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/12, Bl. 136).

146 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

Spitzel. Und man findet an der Parteibasis vor allem in Oberschlesien, aber nicht nur dort, immer ein stark ausgeprägtes Maß an Bezirks- oder Lokalpatriotismus, für dessen Träger der Instrukteur aus Berlin als Repräsentant des ZK ein rotes Tuch war, das personifizierte Misstrauen der Parteiführung darstellte, und dann auch so behandelt wurde.

3.3.5 Die Finanzierung der ParteiarbeitDie Forschung zur KPD-Geschichte hat es bisher weitgehend vermieden, sich mit dem profanen und scheinbar unbedeutenden Thema der Parteifinanzen zu befassen. Und doch kann dieser Bereich wichtige Einsichten für eine historische Analyse vermitteln, etwa über den Zusammenhang zwischen der finanziellen Ressourcenausstattung der Bezirke und der relativen Autonomie der Ba-sisorganisationen. Die Kassierer der Zentrale bzw. des ZK und der Bezirke er-kannten die eminent politische Bedeutung der Finanzausstattung der Partei schon sehr früh. In den Richtlinien über die Beitragskassierung, die die Zentrale 1924 herausgab, hieß es: „Keine Partei vermag ihre politischen Aufgaben [zu] erfüllen, wenn ihr die dazu nötigen Geldmittel fehlen.“280

3.3.5.1 Mitgliedsbeiträge und KassierungErstmals wurde die Höhe der Mitgliedsbeiträge der KPD im Statut von 1919 in § 6 festgelegt. Von vornherein wurden zwei verschiedene Beitragsklassen einge-führt, je nach der ökonomischen Potenz der Mitglieder. Den Ortsgruppen wurde die Festlegung der Beiträge freigestellt, diese mussten aber für Frauen und Jugendliche mindestens 15 Pfennig und für die anderen Mitglieder mindestens 30 Pfennig betragen. Die Beiträge wurden wöchentlich erhoben, weil das auch der Rhythmus der Entlohnung der meisten Mitglieder war. Gleichzeitig wurde die Aufteilung der Geldmittel geregelt. Den größten Anteil von 70 Prozent be-hielt die Ortsgruppe, während der Bezirk von den 30 Prozent, die er vierteljähr-lich bekam, ein Drittel, also 10 Prozent der Gesamtbeiträge, an den Zentralaus-schuss abzuführen hatte.281

Die wachsende Inflation und die offenbar als unzureichend wahrgenommene Finanzausstattung der Zentrale führten dazu, dass der 3. Parteitag (25./26.2.1920) zum einen die Mindestbeiträge auf 50 Pfennig und zum anderen den an die Bezirksleitungen abzuführenden Anteil auf 50 Prozent erhöhte. Außerdem wurde die monatliche Abrechnung eingeführt.282

Der Vereinigungsparteitag (4.-7.12.1920) räumte den Ortsgruppen die Option ein, mit Zustimmung der Bezirksleitungen entsprechend der lokalen Einkom-menssituation Zuschläge zu erheben. Außerdem wurde erneut die Verteilung der

280 SAPMO-BArch RY1/I2/704/2, Bl. 14.281 Bericht 2. Parteitag, S. 68. Diese Anteilsstruktur zeigt deutlich, auf welcher Ebene damals die Priorität politischer Arbeit lag.282 Bericht 3. Parteitag, S. 57.

3 Der organisatorische Hintergrund 147

Beiträge auf die einzelnen Ebenen geändert. 30 Prozent der Beiträge sollten nun an die Zentrale abgeführt werden. Die Entscheidung über den Anteil der Be-zirksleitungen wurde den Bezirksparteitagen überlassen. Außerdem führte man die vierteljährliche Abrechnung wieder ein (Statut der VKPD §12).283

Der 7. Parteitag (22.-26.8.1921) stimmte für eine Erhöhung der Beiträge für (erwerbstätige) Männer auf 1 Mark und für die Festsetzung der Beiträge von Frauen und Erwerbslosen, die vorher gar keine Beiträge zu zahlen hatten, auf 50 Pfennig. Wie es konkret um die lokalen Zuschläge beschaffen war, zeigt ein Rundschreiben der BL Berlin-Brandenburg vom 5. Oktober 1921. Dort wurde angekündigt, dass der Bezirk für erwerbstätige Mitglieder einen Zuschlag von 60 Pfennig erheben wird. Die BL verband damit die Absicht, die Genossen „zur Opferfreudigkeit [zu] erziehen.“ Der Beitragsanteil, den die Ortsgruppen behal-ten konnten, betrug zu diesem Zeitpunkt im Berliner Bezirk im übrigen nur noch 20 Prozent. Zu den normalen Mitgliedsbeiträgen kamen seit dem 3. Welt-kongress der KI (22.6.-12.7.1921) die so genannten Internationalen Beiträge hinzu, das heißt dass die Mitglieder einmal im Vierteljahr einen Wochenbeitrag zum Etat der Kommunistischen Internationale beizusteuern hatten.284

Da die Inflation sich weiter beschleunigte, beschloss der Zentralausschuss auf seiner Tagung am 14./15.5.1922 von den starren Beitragswerten abzugehen und statt dessen einen Stundenlohn als Beitrag zu erheben. Dabei fiel der Zentrale die Aufgabe zu, den Mindestbeitrag einmal im Monat festzulegen. Dieser stieg zwischen April und Oktober 1922 von 2 M (Erwerbstätige) bzw. 75 Pfennig auf 10 und 5 M. Für den November wurde dann eine weitere Beitragsklasse einge-führt. Bis zum 8. Parteitag (28.1.-1.2.1923) stieg der Monatsbeitrag auf 60 in der ersten, 40 in der zweiten und 20 M in der dritten Klasse. Damit lag er laut Be-richt der Zentrale an den 8. Parteitag wesentlich höher als der Mitgliedsbeitrag in der SPD.Wie sich die Hyperinflation im weiteren Verlauf des Jahres 1923 auf die Beitragshöhe auswirkte, zeigen anschaulich die Berichte des Orgbüros der BL Pommern an das Orgbüro der Zentrale von 1923 (Tabelle 14). Im November - kurz vor der Währungsumstellung - waren in der ersten Beitragsklasse sogar 500 Millionen M zu zahlen.285

283 Bericht Vereinigungsparteitag, S. 116.284 Bericht 7. Parteitag, S. 382. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 33. Bericht der Zentrale an den 8. Parteitag (Bericht 8. Parteitag, S. 65). Die Internationalen Marken scheinen den Mit-gliedern nicht besonders wichtig gewesen zu sein. Laut dem gedruckten Tätigkeitsbericht der BL Westsachsen für die Zeit vom 1. April 1924 bis zum 31. März 1925 waren statt 10.000 In-ternationalen Marken pro Vierteljahr nur 14.000 im ganzen Jahr verrechnet worden (35,00 Prozent) (Bericht Westsachsen, S. 35). Laut Tätigkeitsbericht des Orgbüros der Zentrale an das EKKI-Präsidium für den Zeitraum 10.4.-1.10.1924 hatten insgesamt nur sechs der 28 Be-zirke Internationale Marken abgerechnet, darunter Berlin-Brandenburg und Westsachsen (SAPMO-BArch RY1/I2/4/24, Bl. 193).285 Bericht der Zentrale an 8. Parteitag (Bericht 8. Parteitag, S. 65).

148 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

Tabelle 14: Beitragsentwicklung im Bezirk Pommern 1923 (in Mark)Beitragsklasse

Zeitraum I IIa IIb IIIFebruar 75 50 20April 275 175 40Juni 350 250 50August 7.500 5.000 3.500 500August 3./4. Woche 30.000 20.000 15.000 2.000September 1. Woche 150.000 125.000 80.000 30.000September 2. Woche 220.000 180.000 120.000 45.000September 3. Woche 600.000 500.000 225.000 120.000September 4. Woche 1.000.000 800.000 375.000 200.000

Quellen: SAPMO-BArch RY1/I3/3/27, Bl. 26; I3/21, Bl. 32 und I3/3/13 diverse.

Der erste Parteitag nach der Währungsreform (7.-10.4.1924) behielt die drei Beitragsklassen bei und legte fest, dass in diesen Klassen 0,20, 0,15 und 0,05 RM zu zahlen war. In den Richtlinien über die Beitragskassierung, die die Ge-schäftsabteilung der Zentrale 1924 in einem Faltblatt zusammenfasste, wurde dieser Beschluss so ausgelegt, dass die Genossen, wenn sie „sich in wirtschaftli-cher Bedrängnis befinden“, vorübergehend Marken der 2. oder 3. Klasse kleben könnten. Außerdem schrieb der Parteitag die Neuerung in das Statut, dass Bei-trittswillige einen Wochenbeitrag als „Eintrittsgeld“ zu bezahlen hatten.286

Die ersten Angaben über die Beitragshöhe in den Bezirken nach dem Ende der Inflation fand ich in einem Brief des Orgleiters des Bezirks Ruhrgebiet, Wienand Kaasch, an das ZK vom 4. Oktober 1924. Danach waren seit dem 1. September dort in der ersten Klasse 0,30, in der zweiten Klasse 0,15 und in der dritten Klasse 0,10 RM zu zahlen. Anfang 1925 legte die BL Pommern die Bei-träge, nachdem sie neben den Beitragsklassen zwei verschiedene Ortsklassen eingerichtet hatte, wie folgt fest: in der ersten Ortsklasse zahlten Vollarbeiter 0,30, Kurzarbeiter 0,10 und Erwerbslose 0,05 RM Wochenbeitrag, in der zwei-ten Ortsklasse waren es 0,20, 0,10 und 0,05 RM. Der 10. Parteitag (12.-17.7.1925) legte im neuen Parteistatut den Beitrag, der von den Mitgliedern zu erheben war, auf „mindestens 1 Proz. der Durchschnittseinkünfte“ fest (§ 47).287

Die KPD erhob die Beiträge mittels der so genannten Beitragsmarken. Das KPD-Mitgliedsbuch von 1923 enthielt zum Beispiel auf den Seiten fünf bis zehn unter der Überschrift „Mitgliedsbeitrag für ... [Jahr]“ jeweils zwölf Reihen (also 286 Flechtheim: KPD, S. 242. SAPMO-BArch RY1/I2/704/2, Bl. 14.287 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/12, Bl. 51. SAPMO-BArch RY1/I3/3/26, Bl. 1. Zu dieser Zeit lag der Beitragsanteil der Ortsgruppen in Pommern bei 20 Prozent. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 22. Sitzung der BL Pommern 29.6.1926 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 120).

3 Der organisatorische Hintergrund 149

für jeden Monat eine) und fünf Spalten (für die einzelnen Wochen), insgesamt also 60 Felder, in die die Beitragsmarken zu kleben waren. In der rechten Spalte war außerdem jedes zweite Feld für die Internationalen Marken reserviert.288

Folgt man den „Richtlinien über die Beitragskassierung“, die die Zentrale 1924 herausgegeben hat, bestellte der Bezirkskassierer die Beitragsmarken je nach Bedarf direkt bei der Zentrale, die sie durch ihre eigene Druckerei her-stellen ließ, und legte dann die Beitragssätze fest. Danach belieferte er die Orts-kassierer mit der jeweils nötigen Menge an Marken für einen Monat. Vom Orts-kassierer, der zuerst die Marken mit dem Stempel entwerten musste, holten sich nun ihrerseits die Hauskassierer die benötigten Marken für die kommende Wo-che ab, die wie Briefmarken am Block gedruckt waren. Dies sollte nach den Richtlinien jeweils am Donnerstag geschehen. Freitag, Samstag und Sonntag hatte der Hauskassierer die Runde durch die Wohnungen der Genossen zu ma-chen, nachdem er vorher ihre Arbeitsverhältnisse, Arbeitszeiten und Löhnungs-tage ermittelt hatte. Die eingesammelten Beiträge lieferte der Hauskassierer dann am Montag beim Ortskassierer ab. Falls er nicht alle Genossen hatte an-treffen können, musste er Dienstag und Mittwoch nachkassieren und dann am Donnerstag endgültig abrechnen und die nicht verkauften Marken abliefern. Der Ortskassierer schickte dann am Dienstag, nachdem er den Anteil der Ortsgruppe einbehalten hatte, die Einnahmen an den Bezirkskassierer, der sie wiederum un-ter Einbehaltung des Bezirksanteils am Monatsende nach Berlin überwies.289

Bei dieser Form der Kassierung blieb es im Prinzip bis zur Reorganisation der Partei im Jahr 1925. Durch die Umstellung auf Zellen und die damit verbundene Ausdifferenzierung der Parteistruktur kamen weitere Zwischenebenen hinzu, so dass der nun Unterkassierer genannte Hauskassierer je nach Größe seiner Stadt beim Ortskassierer oder beim Zellengruppenkassierer abrechnen musste. Einhergehend mit dem Zellenaufbau sollte auch die Kassierung umorganisiert werden. Die Mitglieder der Betriebszellen sollten von nun an nicht mehr in der Wohnung, sondern im Betrieb kassiert werden, was als entscheidendes Kriteri-um für die wirkliche Existenz einer Betriebszelle gewertet wurde. Ihr standen aber viele objektive und subjektive Hemmnisse entgegen (vgl. Abschnitt 5.1.1).290

288 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/20, Bl. 126.289 „Richtlinien über die Beitragskassierung“ der Zentrale von 1924 (SAPMO-BArch RY1/I2/704/2, Bl. 14f. - Hervorhebung im Original).290 Dazu gehörte zum einen der ganze Komplex der Arbeitsplatzproblematik. Besonders schwer umzusetzen war die Betriebskassierung im Bergbau, wo die Wechselschichten und die zum Teil weit auseinander liegenden Steiger-Reviere Probleme bereiteten. Das Orgbüro der BL Ruhrgebiet musste in seinem Bericht an das ZK vom 9. Januar 1926 daher einräumen, dass in keiner einzigen Bergbau-Betriebszelle kassiert werde (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/28, Bl. 81). Zum anderen fürchteten laut Bericht der ZK-Orgabteilung vom November 1926 die ländlichen Ortsgruppen um ihre finanzielle Grundlage, wenn ihre in städtischen Be-trieben arbeitenden Mitglieder in ihren Betriebszellen kassiert werden (SAPMO-BArch

150 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

In den Ortsgruppen und Straßenzellen hingegen wurden die Genossen aber nach wie vor in ihren Wohnungen kassiert. Teilweise wurde sogar der ‚sozi-aldemokratische‘ Zahlabend wiederbelebt - für viele Angehörige der Führung das verhasste Symbol der behäbigen Partei -, also während der wöchentlichen Mitgliederversammlungen gleichzeitig kassiert, was sich mitunter auch positiv auf die Beteiligung auswirkte.

Dem Haus- oder Unterkassierer, der für jeweils zehn bis fünfzehn Genossen zuständig war, wuchs durch diese Form der Kassierung eine besondere Funktion zu. Er war die persönliche Klammer, die alle Mitglieder mit der Partei verband, auch die weniger aktiven Mitglieder und die ‚Karteileichen‘ - oder wie es obige Richtlinien ausdrückten: „Für viele Mitglieder ist der Hauskassierer die Partei“. Die Zentrale-Richtlinien von 1924 verlangten daher vom Hauskassierer auch, dass er sich im Sinne der Parteiführung agitatorisch betätigte. Da die mit dem Posten des Hauskassierers betrauten Mitglieder also zumeist erst recht kurz in der Partei waren, dürfte dies in der Praxis meist darauf hinausgelaufen sein, dass sie die Genossen, die sie in ihren Wohnungen besuchten, vor allem mit dem neuesten Klatsch und Tratsch aus der Partei versorgten, was aber für die Kohä-renz der Mitgliedschaft durchaus nicht unbedeutend gewesen sein dürfte.

Ein großer Teil der Probleme mit der Kassierung und der Abrechnung ist dar-auf zurückzuführen, dass die Kassiererfunktion zugleich der Integration neuer Mitglieder dienen sollte. Von Schulungen für Unterkassierer ist bis auf ein Rundschreiben der BL Berlin-Brandenburg vom 26. Februar 1930, das eine zweitägige Kassiererschule für Ende November ankündigt, nichts bekannt. Da-her herrschte im Kassiererapparat der KPD überall die gleiche gutwillige Inkom-petenz. Tiefer gehende Kenntnisse ordnungsgemäßer Buchführung hatten nicht einmal alle Bezirkskassierer.291

Unterschlagungen von Beitragsgeldern waren daher an der Tagesordnung. Die zahlreichen eher ‚harmlosen‘ Fälle von Unterschlagungen in der Partei, bei denen es sich um kleinere Summen handelte, wurden meist zu spät oder gar nicht aufgedeckt, da aus Kostengründen keine wirkliche systematische Kontrolle stattfinden konnte. Bei einer der seltenen Kassenrevisionen durch das ZK im Be-zirk Ruhrgebiet im Dezember 1925 stellte sich heraus, dass allein in diesem Jahr 6.189 RM an Mitgliedsbeiträgen unterschlagen worden waren. Außerdem wurde festgestellt, dass bei der Auflösung der KPD-nahen Gewerkschaft Union der Hand- und Kopfarbeiter (UdHKA) im August 1925 Unterschlagungen in Höhe von 13.000 RM vorgekommen seien, von denen 6.900 RM auf das Konto von

RY1/I2/4/27, Bl. 73).291 Der Plan für die Kassiererschule am 29./30.11.1930 umfasste folgende Themenbereiche: Organisationsaufbau der KPD, Aufbau und Funktion des Kassiererapparates, Technik des Kassenwesens (Markenkontrolle, Abrechnung, Mitgliederbewegung, Neuaufnahmen, Buch-führung), sowie Revision und Kontrolle. Dabei wurden je Themenblock zwei Stunden ange-setzt (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/28, Bl. 274).

3 Der organisatorische Hintergrund 151

KPD-Mitgliedern gegangen seien. Die größten Lücken fanden sich aber bei der Revision der Kasse des Verlags der Parteizeitung des Bezirks („Ruhr-Echo“). Zunächst ging man von Unterschlagungen an Abonnementsgeldern in Höhe von 30.000 RM aus, was aber angesichts einer offenbar chaotischen Kassenführung, zum Teil auch auf Buchungsfehler und einen wenig sorgfältigen Umgang mit Belegen zurückzuführen war.292

Neben zahlreichen Fällen der Unterschlagung kleinerer Beträge, gab es aber auch Fälle, bei denen es um größere Summen ging. Das Schiedsgericht des Be-zirks Berlin-Brandenburg verhandelte am 31. August 1924 über den Parteiaus-schluss eines Genossen Reichelt aus dem Verwaltungsbezirk Kreuzberg. Ihm wurde vorgeworfen, im DMV Beitragsgelder in Höhe von 400 RM unter-schlagen zu haben, da er durch die zehn bis fünfzehn Funktionen, die er inne-hatte, „finanziell überlastet“ war. Auch die erweiterte BL Westsachsen befasste sich auf ihrer Sitzung am 23. August 1928 mit zwei Fällen von Unter-schlagungen größerer Summen. Dabei ging es einmal um einen Genossen Willi Zimmermann aus Zipsendorf (bei Meuselwitz), der wohl Einnahmen aus dem Vertrieb der „Arbeiter-Illustrierten Zeitung“ (AIZ) unterschlagen hatte, und der „seit 14 Tagen flüchtig“ sei. Außerdem bestätigte die BL den Beschluss des Se-kretariats, einen Genossen Krahl aus Leipzig-Döhlitz auszuschließen, der in den Kantinen der Leipziger Straßenbahnhöfe 2.000 RM unterschlagen haben soll: „Der Ausschluß ist seinerzeit sofort getätigt worden, um der Arbeiterschaft zu zeigen, daß die Partei von ihm abrückt.“293

3.3.5.2 Abrechnung und MitgliederstatistikParallel zur Einsammlung der Beiträge wurde die Abrechnung durchgeführt. Nach den oben schon zitierten Richtlinien über die Beitragskassierung von 1924 sollte der Unterkassierer, nachdem er alle Wochenbeiträge eingesammelt hatte, donnerstags mit dem Ortskassierer abrechnen. Dieser musste dann „sofort die entsprechenden Spalten in der Monatsabrechnung ausfüllen.“ War der Rech-nungsmonat beendet, bestand seine Aufgabe darin, die Monatsabrechnung fertig zu machen. Dazu verwendete er einen gedruckten Abrechnungsbogen, der unter anderem Rubriken für den Markenbestand des Kassierers, den Markenumsatz und die Mitgliederzahl enthielt. Die Zentrale legte dazu durch ihr Rundschreiben vom 6. April 1920 fest, dass die Abrechnungen der Ortsgruppen bis zum 10. des

292 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/41, Bl. 13f. Die unterschlagenen 6.189 RM summieren sich unter der Annahme, alle Mitglieder (Jahresdurchschnitt 8.993) hätten den seit dem 1. Septem-ber 1924 geltenden Höchstbeitrag von 0,30 RM gezahlt, auf 4,41 Prozent des bezirklichen Gesamtbeitragsaufkommens von 140.291 RM. Da aber Ende 1924 30-35 und Anfang 1926 schon 68 Prozent der Mitglieder des Ruhrbezirks erwerbslos waren, und daher nur 0,10 RM Beitrag zahlten, war der Anteil der unterschlagenen Beitragsgelder am Gesamtaufkommen wohl um einiges höher.293 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/65b, Bl. 62. SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 331.

152 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

folgenden Monats bei den Bezirksleitungen, und deren Abrechnungen bis zum 20. bei der Zentrale einzutreffen hatten.294

Die Abrechnungen der Ortsgruppen waren also die Grundlage der Mitglie-derstatistik der KPD. Da eine Erfassung der Zahl der wirklich vorhandenen Mit-glieder eine Vielzahl von Problemen aufwarf (vgl. Abschnitt 2.3), behalf man sich mit der Zahl der durchschnittlich abgerechneten Mitglieder. Der Monats-durchschnitt an abgerechneten Mitgliedern wurde gebildet, indem man den Um-satz an Beitragsmarken in einem Monat durch die jeweilige vorher festgelegte Zahl an Wochen dividierte. Die Validität der Mitgliederstatistik der KPD war daher unmittelbar von einer ordentlich und fristgerecht durchgeführten Abrech-nung der Ortsgruppen abhängig.

Klagen über unpünktliche Abrechnungen aber sind Legion. Schon auf dem 2. Parteitag der KPD (20.-24.10.1919) wurde darüber diskutiert, ob die vier Ber-liner Delegierten überhaupt zugelassen werden sollten, obwohl der Bezirk nicht rechtzeitig abgerechnet habe. Eher verschlimmert als gelöst wurde das Problem durch die erneute Einführung der monatlichen Abrechnung durch den 7. Partei-tag (22.-26.8.1921). In ihrem Tätigkeitsbericht für den Februar 1922 schrieb die BL Pommern, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt immer noch darum gehe, die Ortsgruppen von der Notwendigkeit einer monatlichen Abrechnung zu über-zeugen.295

Die monatliche Abrechnung konnte zwar letztendlich wohl mehr oder minder durchgesetzt werden, nicht aber die regelmäßige und pünktliche Abrechnung aller Ortsgruppen. Gerade der Bezirk Pommern hatte in diesem Bereich die größten Schwierigkeiten, was wieder einmal seinem spezifischen Strukturpro-blem geschuldet war. In seinem Monatsbericht für den Dezember 1922 schrieb das BL-Sekretariat:

„Daß nicht alle Ortsgruppen jetzt schon pünktlich abrechnen, hat zum großen Teil seine Ursache darin, daß es uns nicht möglich ist, bei der gewaltigen Ausdehnung des Bezirks überall in Mitgliederversammlungen zu sprechen und die Notwendigkeit der pünktli-chen Abrechnungen den Mitgliedern vor Augen zu führen.“

In ihrem Rundschreiben vom 7. Oktober 1924 beklagte sich die BL Pommern darüber, dass sie sich in jedem Rundschreiben aufs Neue mit nicht eingetrof-fenen Abrechnungen befassen müsse. Im Rundschreiben vom 23. November 1925 stellte sie die Ortsgruppen Lauenburg, Köslin, Kolberg, Greifenberg, Goll-now, Anklam und Barth - die immerhin fast 30 Prozent der Mitglieder des Be-zirks umfassten wegen ihrer unzureichenden Abrechnungsdisziplin öffentlich an den Pranger.296

294 SAPMO-BArch RY1/I2/704/2, Bl. 15. SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/165, Bl. 22. Doku-mente und Materialien VII-1, S. 251.295 Bericht 2. Parteitag, S. 32. SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 5.296 SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 23. SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 59 bzw. Bl. 93. Die besonderen Probleme der beiden kleinen Bezirke mit der Abrechnung lassen sich auch

3 Der organisatorische Hintergrund 153

Ganz ähnliche Schwierigkeiten hatte der Bezirk Oberschlesien. Das Haupt-problem bestand dort wohl in der mit dem Mangel an Organisationserfahrungen einhergehenden unzureichenden Abrechnungsdisziplin der Mitglieder. Die BL musste daher in ihrem Monatsbericht für den Mai 1925 einräumen, dass erst 19 Ortsgruppen mit 232 Mitgliedern für den April abgerechnet hätten, nachdem es im März noch 24 Ortsgruppen mit 928 Mitgliedern gewesen waren.297

Die drei größeren Bezirke hatten zwar auch immer wieder mit der Regelmä-ßigkeit und Pünktlichkeit der Abrechnungen einiger Ortsgruppen zu kämpfen, doch stellte sich dieses Problem dort nicht in dem Maße wie in Oberschlesien und Pommern. Eine Aufstellung der BL Ruhrgebiet vom September 1924 aber lässt Zweifel aufkommen. Nach ihr hatten zum Stichtag am 17. September 1924 für den Mai 110 von 165, für den Juni 73 von 165, für den Juli 40 von 190 und für den August eine von 190 Ortsgruppen bereits abgerechnet, obwohl Be-schlusslage war, dass die Ortsgruppen bis zum Zehnten des Folgemonats bei der Bezirksleitung abzurechnen hatten.298

Trägt man die spärlichen Angaben über den Anteil der abgerechneten an der vir-tuellen Zahl der eingetragenen Mitglieder zusammen, wird über den Vergleich zwischen Maximum und Minimum die außerordentliche Schwankungsbreite deutlich (Tabelle 15). Auch wenn diese Angaben nicht repräsentativ sind, zeigen sie sehr anschaulich um welchen Faktor sich die Abrechnungsquote teilweise so-gar innerhalb weniger Monate verändern konnte, und auf welch unsicherem Boden die Haushaltskalkulation der Bezirksleitungen standen.

Die Schwankungen der Zahl der abgerechneten Mitglieder waren in erster Linie Resultat der oben erwähnten technischen Probleme bei der Beitragserhe-bung und der wechselhaften Zahlungsbereitschaft der Mitglieder. Laut einer im Rahmen der Reichskontrolle von 1927 im Bezirk Ruhrgebiet durchgeführten Kontrolle der Mitgliedsbücher, hatten nur ca. 4.000 Mitglieder, das waren 46,08 Prozent der durch die Reichskontrolle erfassten Genossen, regelmäßig ihre Bei-träge entrichtet („voll und laufend geklebt“). Auch Mitglieder, die noch im Besitz eines Arbeitsplatzes waren, mussten sorgfältig mit ihren Mitteln haushal-

darauf zurückführen, dass es in ihren zum Teil dünn besiedelten Regionen eine Vielzahl kleiner und kleinster Ortsgruppen gab, deren Beitragseinnahmen kaum ausreichten, um das Porto für die Absendung der Abrechnung aufzubringen.297 SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 46.298 SAPMO-BArch RY1/I3/20-21/12, Bl. 51. Die Abteilung Kasse der BL Westsachsen sah sich genötigt, in ihrem Rundschreiben an die Ortsgruppen-Leiter vom 16. Januar 1925 noch einmal auf den geltenden Abrechnungsmodus hinzuweisen: „Es ist unverantwortlich, mit wel-cher Interesselosigkeit man in manchen Ortsgruppen über die Kassierungsfrage hinweggeht. Nicht allein, daß die Hauptkassierer die Abrechnungen über die kassierten Beiträge nicht ma-chen, verschiedene Ortsgruppen halten sich überhaupt nicht an die Anweisungen der Bezirks-leitung und kassieren statt jede Woche nur alle Wochen.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/10/133, Bl. 2). SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 41.

154 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

ten. Für die 30 Pfennig Wochenbeitrag, die ab dem 1. September 1924 im Be-zirk Ruhrgebiet zu entrichten waren, bekam man ein Kilo Roggenbrot. Da über-legte es sich sogar ein prinzipiell zahlungswilliger Genosse, ob er nicht hin und wieder einen Beitrag auslässt. Bei einigen Mitgliedern häuften sich die Außen-stände bald so sehr an, dass sie stillschweigend aus der Partei austraten. Eine der seltenen Statistiken über Parteiaustritte der Org-Abteilung des ZK für den Mai 1931, berichtet von insgesamt 484 Austritten im Berliner Unterbezirk Nord zwi-schen Mai 1930 und März 1931. Von 300 ausgetretenen Mitgliedern, die Angaben über ihre Gründe machten, gaben 96 (32,00 Prozent) finanzielle Schwierigkeiten an.299

Tabelle 15: Abrechnungsquoten in den Bezirken (in Prozent)Bezirk Zeitraum QuoteBerlin-Brandenburg Januar 1929 24,18Berlin-Brandenburg 3. Quartal 1923 91,17Oberschlesien August 1925 28,91Oberschlesien September 1925 92,18Pommern Oktober 1924 17,30Pommern Januar 1925 81,27Ruhrgebiet Oktober 1929 65,00Ruhrgebiet 3. Quartal 1923 102,06Westsachsen Oktober 1924 64,90Westsachsen September 1927 97,31

Quelle: SAPMO-BArch RY1, diverse Akten. (Im Bezirk Ruhrgebiet waren im 3. Quartal 1923 offenbar Beiträge nachgezahlt worden, so dass die Summe über 100 Prozent stieg.)

Außerdem blieb es oft nicht bei dem einen Mitgliedsbeitrag. Wollte ein KPD-Mitglied Ende der 1920er Jahre annähernd alle Verpflichtungen erfüllen, die ihm die Partei auferlegte - also die diversen Mitgliedschaften in der Partei, der IAH, der RHD, den Freien Gewerkschaften oder der RGO, das Abonnement der Parteizeitung, der Kauf von Broschüren der Partei und der von Büchern zum Selbststudium -, fraß das einen spürbaren Teil des Lohnes. Der Leiter des Un-terbezirks Borna, Hugo Joachim, kritisierte diese exorbitanten Erwartungen auf der Sitzung der BL Westsachsen am 6. September 1925, und meinte, diese Aus-gaben könnten sich bei einem Wochenlohn von ca. 20 RM auf 10 RM im Monat summieren.300

299 HStAD Regierung Düsseldorf 16934. Bezirksleitung Berlin der SED, Kommission zur Er-forschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung (Hg.): Geschichte der revolutio-nären Berliner Arbeiterbewegung. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 2: Von 1917 bis 1945, Berlin (DDR) 1987, S. 218. SAPMO-BArch RY1/I2/4/33, Bl. 18.300 SAPMO-BArch RY1/I3/10/112, Bl. 259. Auch der pommersche Polleiter Erich Steffen äußerte sich auf der BL-Sitzung am 26. Oktober 1926 pessimistisch über die finanziellen Konsequenzen des Versuchs der KPD ein Parallelmilieu zum sozialdemokratischen aufzubau-

3 Der organisatorische Hintergrund 155

Darüber hinaus hing die Abrechnungsquote auch von der Arbeitsbelastung der unteren Funktionäre ab. Nicht selten wurden zeitweise alle personellen Ressourcen einer Parteigruppe so stark auf eine bestimmte Tätigkeit kon-zentriert, dass dabei die Beitragserhebung zu kurz kam. Das scheint zum Bei-spiel im Bezirk Westsachsen im Herbst 1926 der Fall gewesen zu sein. In Folge der Umstellung der Partei auf Betriebszellen, so berichtete die Orgabteilung des ZK im November 1926, sei dort ein „wesentlicher Rückschlag in der Kassierung“ zu verzeichnen gewesen. Bei einer Kontrolle in Leipzig wurden Genossen entdeckt, die seit Jahresanfang oder sogar seit Oktober 1925 keine Beiträge mehr bezahlt hatten.301

Die Schwankungen der abgerechneten Mitgliederzahl konnten aber auch Folge eines strategischen Handelns der Funktionäre der Basisorganisationen sein. Beinahe schon offenes Geheimnis in der Partei war die Praxis mancher lo-kaler oder auch bezirklicher Parteioberhäupter, die Beitragseintreibung regelmä-ßig vor Parteitagen zu steigern. Auf diese Weise versuchten sie, ihren Anteil an den Delegierten zu erhöhen, deren Zahl auf der Grundlage der abgerechneten Mitglieder des Vormonats berechnet wurde. Ein Funktionär der Agitprop-Abtei-lung des ZK bemerkte dazu in seinen Anmerkungen zum Referentenmaterial von 1928 oder 1929:

„Die höchsten Spitzen zeigen [sic!] die Partei immer in einer Periode kurz vor einem Parteitag. Das resultiert daraus, daß sämtliche Bezirke in diesen Monaten ihre Abrech-nung steigern, rückständige Beiträge einholen, um so auf Grund der verkauften Marken ihre Kandidatenzahl zu steigern.“302

Die Funktionäre an der Basis hatten aber bei der Abführung der Beitragsanteile an die Bezirksleitungen noch andere Eingriffsmöglichkeiten. In einem Bericht des ZK-Mitarbeiters Gräf über die Revision der Kasse der BL Pommern von 1925 heißt es: zwölf Ortsgruppen waren „nicht in der Lage ..., infolge von Wahlschulden Gelder abzuliefern.“ Es kann nur spekuliert werden, ob sie sich aus Arbeitsüberlastung, Desorganisation, Unkenntnis der Beschlüsse oder organisationspolitischen Beweggründen so verhielten. Die Konsequenz aber bestand darin, den oberen Ebenen, ohne lange zu lamentieren, die Beitragsantei-le vorzuenthalten und entgegen jeder Beschlusslage, einhundert Prozent der Mit-gliedsbeiträge der Ortsgruppe für eigene Zwecke auszugeben!303 Weiter scheint

en: „Wir haben heute die R.H., die I.A.H., den R.F.B., den R.F.M.B. und alles, was diese Organisationen an Mitteln schlucken, kam früher der Partei zu gute.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 148).301 SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 41. Der Orgleiter der BL Oberschlesien berichtet auf der Sitzung am 17. Juli 1928, dass die Abrechnung während der Reichstagswahlen im Mai auf 50 Prozent gesunken sei (SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 148).302 SAPMO-BArch RY1/I2/707/98, Bl. 1.303 SAPMO-BArch RY1/I3/3/34, Bl. 4. Auf der Sitzung der BL Oberschlesien am 6. Mai 1927 mutmaßte der Bezirkskassierer Arthur Wyschka, dass die Ortsgruppen, die gar keine Beiträge

156 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

es in manchen Ortsgruppen, insbesondere in Pommern und Oberschlesien, üb-lich gewesen zu sein, mitunter wochen- oder monatelang gar keine Beiträge zu erheben. Über die Folgen eines solchen Handelns schrieb die BL Oberschlesien in ihrem Rundschreiben vom 28. Dezember 1928: „Wenn solche Ortsgruppen von der Bezirksleitung gemahnt und an ihre Parteipflichten erinnert werden, wird zum Teil versucht, diese Restbestände einzuholen durch Klebung der bil-ligsten Beitragsmarken.“304

Weit mehr aber als durch die Beitrags- und Abrechnungsdisziplin wurde das Ge-samtaufkommen an Mitgliedsbeiträgen durch die Entwicklung der Mitglieder-zahlen und natürlich vor allem durch die wirtschaftliche Entwicklung der Repu-blik beeinflusst. Auch wenn das disparate Zahlenmaterial aus den fünf Bezirken leider keine Längsschnittanalyse des Arbeitslosenanteils an der Mitgliedschaft ermöglicht, lässt sich doch feststellen, dass der etwa im Vergleich mit den Mit-gliedern der ADGB-Verbände generell überdurchschnittliche Anteil der Erwerbslosen an der KPD-Mitgliedschaft 1923/24 einen ersten Höhepunkt er-reichte. Im Bezirk Pommern waren geschätzte zwei Drittel der Mitglieder im Mai 1924 ohne Broterwerb, in Berlin-Brandenburg 35 bis 38 Prozent im Dezem-ber 1924 und im Bezirk Ruhrgebiet sollen im März 1924 sogar 85 Prozent der Genossen erwerbslos gewesen sein, was angesichts der Besetzung des Ruhrge-biets und der Krise im Bergbau 1923 plausibel erscheint.305

Von der zwischenzeitlichen Konjunkturbelebung profitierten auch viele KPD-Mitglieder, der Anteil der Erwerbslosen an der Parteimitgliedschaft blieb aber weiterhin überdurchschnittlich. So sollen im Bezirk Berlin-Brandenburg im Mai 1926 nur noch 24,1 Prozent, in Westsachsen im Januar 1925 ca. 20 Prozent, in Oberschlesien im März 1926 33,1 Prozent und im Bezirk Ruhrgebiet im Mai 1926 ‚nur‘ noch 40,4 Prozent der Genossen erwerbslos gewesen sein.306 Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise wurde die KPD dann zur Arbeitslosenpartei. Eine Mehrheit ihrer Mitglieder war nun erwerbslos. Dies war nicht zuletzt auch dem Umstand zu schulden, dass der überwiegende Großteil der neu Eintretenden erwerbslos war (zum Beispiel 88,35 Prozent der neuen Mitglieder des Bezirks Ruhrgebiet im Dezember 1931). Im Dezember 1929 waren noch 56 Prozent der Mitglieder des Bezirks Berlin-Brandenburg, 44,31 Prozent der Mitglieder des Ruhrgebiets und 21,45 Prozent der Mitglieder des Bezirks Pommern Betriebs-

abführten, diese für sich selbst verbraucht hätten (SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 54).304 SAPMO-BArch RY1/I3/6/20, Bl. 15. Auch da lässt sich vermuten, dass dahinter in einigen Fällen der Versuch steckte, den eigenen Beitragsanteil zuungunsten der BL und des ZK klammheimlich zu erhöhen.305 SAPMO-BArch RY1/I3/3/19, Bl. 45. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/70, Bl. 48. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 33.306 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/23, Bl. 134. SAPMO-BArch RY1/I3/10/135, Bl. 52. SAPMO-BArch RY1/I3/6/16, Bl. 109. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/28, Bl. 196.

3 Der organisatorische Hintergrund 157

arbeiter. Ihr Anteil an der Mitgliedschaft verringerte sich bis Oktober 1930 auf 54,4 Prozent (Berlin-Brandenburg), 24,41 Prozent (Ruhrgebiet) und 18,11 Pro-zent (Pommern). Im März 1932 waren, bei einer Erwerbslosenquote im Reich von etwa 44 Prozent gar 77,12 Prozent der KPD-Mitglieder Berlin-Branden-burgs und 92,58 Prozent der Mitglieder des Ruhrgebiets ohne Arbeitsplatz.307

Diese Zahlen entsprechen in der Tendenz den bisherigen Erkenntnissen über die Entwicklung der Sozialstruktur der KPD. Es scheint aber angebracht, hinter die Angaben der KPD über den Anteil der Erwerbslosen an der Mitgliedschaft ein großes Fragezeichen zu machen. Dieser konnte nämlich nur über den Anteil der verkauften Erwerbslosenmarken am Gesamtmarkenumsatz errechnet werden. Die in der Literatur genannten und die hier aufgeführten Zahlen wären daher nur dann valide, wenn alle kommunistischen Betriebsarbeiter immer ihre teuren Marken geklebt haben.

Davon kann aber keineswegs ausgegangen werden. Es gab immer Mitglieder, die trotz einer festen Anstellung die günstigeren Erwerbslosenmarken gekauft haben. Bei einer der seltenen Kontrollen stellte sich etwa im März 1928 im Be-zirk Westsachsen heraus, dass neun Ortsgruppen, die kein einziges erwerbsloses Mitglied hatten, 790 Beitragsmarken der 4. Klasse abgerechnet hatten. In ihrem Rundschreiben vom 30. März 1928 nannte die BL Westsachsen die Gründe für ein solches Verhalten: „Die Ursache liegt darin, daß die Kassierer nicht danach fragen, ob die Genossen inzwischen in Arbeit getreten sind. Sie kleben einfach Erwerbslosen-Marken weiter.“ Leider ist es nicht möglich, den Anteil der falschen Erwerbslosen näher zu quantifizieren.308

3.3.5.3 Sonstige Einnahmen der ParteiDie regelmäßigen Einnahmen der Partei, also die Beitragsgroschen der Ge-nossen, die abzuführenden Diätenanteile kommunistischer Parlamentarier und die Subventionen der KI, scheinen gerade einmal die laufenden Fixkosten der Parteiorganisation gedeckt zu haben. Für beinahe sämtliche außerordentlichen Ausgaben, also etwa für Wahlkampagnen oder Parteitage, mussten zusätzliche

307 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 183. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/70, Bl. 146 (Es ist darauf hinzuweisen, dass die Summe der Zahl der Erwerbslosen und der Betriebsarbeiter nicht 100 Prozent beträgt). SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 183. Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise geriet die Partei immer stärker in ein Dilemma: wachsende Mitglieder-zahlen machten einen Ausbau der Strukturen notwendig, und erhöhten damit die Kosten. Gleichzeitig sorgte der wachsende Arbeitslosenanteil an der Mitgliedschaft dafür, dass die Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen stagnierten oder sogar sanken. Dazu ein Zitat aus dem Rundschreiben der Abteilung Kasse der BL Sachsen vom 24. Februar 1931: „Es ist vorauszu-sehen, daß im Februar und März eine weitere Verschiebung nach der Erwerbslosenmarke ein-treten wird, so daß sich auch mit einer weiteren Steigerung der Mitgliederzahl die Einnahmen nicht in dem Verhältnis erhöhen, wie die Unkosten, die dem Bezirk durch die größeren Aus-gaben auf politischem Gebiet entstehen.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/165, Bl. 44).308 SAPMO-BArch RY1/I3/10/128, Bl. 132.

158 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

Gelder bei den Mitgliedern oder im Umfeld der Sympathisanten mobilisiert werden.

Den Mitgliedern versuchte man über den Beitrag hinaus weitere Gelder zu entlocken, indem man besondere Marken für spezielle Parteiaufgaben heraus-gab. 1925 etwa gab die Zentrale Marken mit dem Bildnis Stalins zur Fi-nanzierung des 10. Parteitags heraus, von denen jeder Genosse drei zu kleben hatte. Weitere Änlasse waren Wahlkämpfe wie ebenfalls 1925, als Thälmann bei den Reichspräsidentenwahlen antrat und Marken mit seinem Konterfei an die Genossen und Sympathisanten vertrieben wurden. Auch die nicht befriedigende Finanzsituation kommunistischer Nebenorganisationen konnte dazu führen, die Genossen zur Solidarität in Form von Extrabeiträgen aufzufordern. Beispiels-weise beschloss der 11. Parteitag 1927, dass jeder Genosse im Mai 1928 eine Sondermarke zur Finanzierung der kommunistischen Kinderorganisation Jung-Spartakusbund (JSB) zu kleben habe. Außerdem gab es schließlich noch jene Sondermarken, die der Überprüfung bestimmter Parteipflichten dienten, wie die 1928 bei der 2. Reichskontrolle ausgegebenen Reichskontrollmarken zu 10 Pfennig. Bei all diesen zusätzlichen Marken handelte es sich letztlich um nichts anderes als klammheimliche Beitragserhöhungen, die übrigens durch die Statu-ten nicht gedeckt waren.309

Auch die Bezirksleitungen brachten, wenn die Einnahmen nicht reichten, eigene Marken heraus. Auf der BL-Sitzung am 26. Juni 1927 berichtete etwa der Berliner Polleiter Pieck vom Plan einer zweimonatigen Bezirksparteischule, die aber angesichts leerer Kassen nur durchgeführt werden könnte, wenn die Ge-nossen genügend Schulungsmarken kauften. Die BL Ruhrgebiet versuchte Ende 1928 - genau wie die BL Sachsen Anfang 1931 - den Bestand an Betriebszellen-zeitungen im Bezirk dadurch zu halten, dass sie Pressefondsmarken zur Fi-nanzierung von Papier und Druckkosten herausgab.310

Was für diese drei großen und mitgliederstarken Bezirke eher die Ausnahme darstellte, war für die beiden kleinen Bezirke Pommern und Oberschlesien fast schon die Regel. Es fand kaum ein Reichsparteitag statt, zu dem die beiden Be-zirke, ohne zusätzlich Marken zu verkaufen, ihre Delegierten hätten entsenden können. Und ohne den vorherigen Verkauf von Sondermarken hätten die beiden Bezirke wohl kaum einen einzigen Bezirksparteitag durchführen können. Die BL Pommern plante, so schrieb sie in ihrem Brief an das ZK vom 31. Oktober

309 Rundschreiben Abteilung Kasse BL Berlin-Brandenburg 1925 (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/85, Bl. 1). SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 232. Das Rundschreiben der Abteilung Kasse BL Ruhrgebiet vom 20. Dezember 1928, dem ich diesen Beschluss entnommen habe, weist übrigens darauf hin, dass nur maximal 25 Prozent der Genossen die JSB-Marken auch gekauft haben (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/41, Bl. 6). BL Pommern, Arbeitsplan für August 1928 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/29, Bl. 14).310 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/19, Bl. 300. 2. Agitpropeller BL Ruhrgebiet, Dezember 1928 (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/43, Bl. 38). Rundschreiben BL Sachsen Abt. Kasse, 6.1.1931 (SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/165, Bl. 26).

3 Der organisatorische Hintergrund 159

1925, ihren Bezirksparteitag am 12./13.12. durch den Verkauf von je vier aus der Reichspräsidentenwahlkampagne vom Frühjahr übrig gebliebene Thälmann-Marken à 10 Pfennig an die Genossen zu finanzieren. 1929 stand die Fi-nanzierung des kommenden Bezirksparteitag sogar noch nach Abschluss des Markenverkaufs in Frage, weil einfach zu wenig Geld hereingekommen war. Zur Finanzierung der Reisekosten und Spesen ihrer Delegierten für den 11. Parteitag (2.-7.3.1927 in Essen) brachten sowohl die BL Pommern als auch ihr oberschlesisches Pendant besondere Marken heraus. Die BL Oberschlesien ließ 1.000 Marken zu 60 Pfennig drucken, von denen jedes Mitglied eine kaufen sollte, in der Hoffnung dadurch 300 RM, also wenigstens die Hälfte des Nenn-werts, erlösen zu können. Spätestens an diesem Fall zeigt sich die Kehrseite der Medaille, denn die Erlöse lagen, wie der Bezirkskassierer Wyschka auf der Sitzung der BL am 23. Februar 1927 bekanntgab, mit 76,90 RM nur bei etwa einem Viertel des Erhofften. Die BL Pommern musste in ihrem Brief an das ZK vom 24. Februar 1927 eingestehen, dass sie nur knapp 30 Prozent der Delega-tionskosten von 700 RM hatte bei den Mitgliedern einsammeln können.311

Vor fast allen außerordentlichen Ausgaben versuchte die KPD zusätzlich, die Solidarität der Sympathisanten in Anspruch zu nehmen, was die BL Oberschlesien in ihrem Rundschreiben vom 28. April 1925 wie folgt begründe-te:

„Die Mitglieder der Partei sind selbst nicht imstande, alle diese Mittel, die erforderlich sind, aufzubringen. Deshalb müssen die Sympathisierenden mit erfaßt werden. Wir haben diese Aufgabe und ferner, sie von der Notwendigkeit einer finanziellen Unter-stützung der Kommunistischen Partei, welche die einzige Arbeiterpartei ist, zu über-zeugen.“312

311 SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 90. Sitzung engere BL Pommern am 22.3.1929 (SAP-MO-BArch RY1/I3/3/14, Bl. 304). Wyschka rügte insbesondere die großen Ortsgruppen, denn diese hätten „noch nicht mal daran gedacht, Parteitagsmarken zu verkaufen.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 20). SAPMO-BArch RY1/I3/3/20, Bl. 17. Ob dieses Sondermarken-wesen letztlich wirklich zu einem Nettoüberschuss führte, kann ich leider mangels Da-tengrundlage nicht ermitteln. Einiges spricht dafür, dass diese Finanzierungsmethode nur ein Nullsummenspiel war. Viele Genossen sparten die zusätzlich entrichteten Beiträge bei den re-gulären Mitgliedsbeiträgen wieder ein. An der Basis herrschte jedenfalls weit verbreitete Un-zufriedenheit über diese Sonderbeiträge, worauf zum Beispiel das Rundschreiben der BL Pommern an die BL-Mitglieder vom 6. Mai 1927 hinwies: „Auch besondere Sammelaktionen sind nur in der Lage höchstens einmal im Monat das Defizit einmalig zu decken, aber [sic!] nicht laufend solche Beiträge hereinzubekommen. Außerdem ist innerhalb der Mitgliedschaft ein solch starker Widerstand wegen der Sammelaktionen und Extramarken vorhanden, wo-durch es uns nicht möglich ist, wirklich große Beträge hereinzubekommen.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 201).312 SAPMO-BArch RY1/I3/6/14, Bl. 33.

160 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

Zu den Anlässen für Sammelaktionen zählten größere Kampagnen wie Wahl-kämpfe oder die Volksentscheide zur Fürstenenteignung 1926 bzw. gegen den Bau der Panzerkreuzer 1928. Dabei wurde teilweise auch gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Mitgliedschaft gesammelt.

Wie typischerweise Sammelaktionen bei den Sympathisanten durchgeführt wurden, beschreibt ein Rundschreiben der BL Pommern zum Sammelsonntag vom 31. Januar 1928. Darin hieß es, dass am 19. Februar 1928, also fast exakt drei Monate vor dem Reichstagswahltermin, überall im Reich für den Wahlfon-ds gesammelt werden solle, wozu das ZK Marken zu 20 Pfennig drucken lasse. Zur technischen Durchführung sollten sich die Mitglieder in den einzelnen Orten morgens um neun Uhr in den Verkehrslokalen treffen und „Sammelkolonnen von 3 bis 5 Genossen“ bilden.

„Der für die Kolonne verantwortliche Genosse erhält genügend viel Marken à 20 Pfg. und 1 bis 2 Sammelbüchsen, die Ihr aus alten Karbidbüchsen oder Zigarrenkisten selbst herstellen könnt. In dicht bewohnten Quartieren mit Hinterhäusern soll eine kleine An-sprache gehalten werden, um die Einwohner auf den Zweck der Sammlung hinzu-weisen. Die Sammelkolonne muß es sich zum Grundsatz machen, von Haus zu Haus und von Wohnung zu Wohnung zu ziehen, um die dort wohnenden Arbeiter, Ange-stellte und Beamte auf die Notwendigkeit, einen Beitrag für den Wahlfond [sic!] der KPD. beizusteuern, hinzuweisen.“

Zusätzlich plante die BL Pommern in 14 Orten parallel zur Geldsammlung eine Reihe von einstündigen Platzkonzerten des RFB durchzuführen, bei denen eben-falls Wahlfondsmarken umgesetzt werden sollten.313

Der Voranschlag des Kassierers der BL Westsachsen für den Wahlkampf 1928 erwartete, durch den Markenverkauf an die Genossen (5.000 RM) und Sammlungen (2.800 RM) knapp die Hälfte der wahrscheinlichen Ausgaben von 15.800 RM hereinbekommen zu können. Die Abteilung Kasse des ZK ging in ihrem Voranschlag für die Reichstagswahlkampagne 1930 davon aus, von den erwarteten Ausgaben in Höhe von 698.100 RM über Sammlungen im Vorfeld 300.000 RM (42,97 Prozent) einnehmen zu können. Die BL Ruhrgebiet nahm bei den Sammlungen im Vorfeld der Wahlen von 1928 über verkaufte Wahlfon-dsmarken 16.546,06 RM und über Sammellisten und -büchsen 2.450 RM ein. Den größten Markenumsatz erreichte dabei der größte Unterbezirk Essen mit 3.943,68 RM, den kleinsten der zweitkleinste Unterbezirk Recklinghausen mit 465,95 RM; die einzelnen Mitglieder setzten je nach Unterbezirk durchschnitt-lich zwischen 52 Pfennig (Recklinghausen) und 2,76 RM (Hamborn) um.314

313 SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 263f. Vom Ertrag dieser Sammlungen sollten die Orts-gruppen 20 Prozent behalten dürfen, während 30 Prozent für die Bezirkskasse und 50 Prozent für die Zentralkasse bestimmt waren.314 SAPMO-BArch RY1/I2/704/8, Bl. 84. Ungezeichneter Bericht eines ZK-Instrukteurs über den Wahlkampf im Ruhrgebiet (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/12, Bl. 127).

3 Der organisatorische Hintergrund 161

Tabelle 16: Sammelergebnisse Bezirk Berlin-Brandenburg 1926Kampagne Einnahmen (RM) ZeitraumPartei in Not 62.131,49 November 1925-Januar 1926Volksbegehren Fürstenenteignung 34.375,80 Januar-März 1926Volksentscheid Fürstenenteignung 32.493,28 März-Juni 1926Revolutionsdenkmal 15.048,53 Januar-Juni 1926englischer Bergarbeiterstreik 11.899,02 Mai-September 1926Kongress der Werktätigen 1.800,29 Juli-Dezember 1926Hamburger Hafenarbeiterstreik 1.253,20 Oktober 1926

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 149-153.

Die größte und vom Ziel her anspruchsvollste Sammelaktion der KPD wurde von November 1925 bis Januar 1926 unter der Bezeichnung „Partei in Not“ durchgeführt. Vor dem Hintergrund der mit einer einschneidenden Unterfi-nanzierung einhergehenden Gefahr, „daß wir die Herausgabe einer Anzahl Zeitungen einstellen, eine Anzahl Druckereien und Gebäude verkaufen und den gesamten Parteiapparat noch mehr als bisher abbauen müssen“, wurde von je-dem Mitglied verlangt, 20 Marken zu je 50 Pfennig an die Sympathisanten zu verkaufen, also insgesamt die äußerst ambitionierte Summe von einer Million Reichsmark aufzubringen. Am 19. Dezember 1925 beschloss die BL Pommern, die die Grenzen solcher Sammelaktionen im Bezirk ja sehr gut kannte, zum Parteinotopfer 2.000 RM beitragen zu wollen, obwohl auf die im Sammelzeit-raum durchschnittlich rund 1.400 Mitglieder eigentlich die Summe von 14.000 RM entfallen wäre. Sie musste aber auf ihrer Sitzung am 18. Januar 1926 ein-räumen, dass sich ihre Einnahmen nur auf 950 RM beliefen, also auf 47,50 Pro-zent der ohnehin recht niedrig angesetzten Summe. Zwei Tage zuvor wurde auf der Sitzung des Orgbüros der BL Westsachsen bekannt gegeben, dass sich die Eingänge im Bezirk nur auf 46.000 RM beliefen - also etwas weniger als die Hälfte dessen, was die im Sammelzeitraum durchschnittlich 9.860 Mitglieder eigentlich hätten erzielen sollten. Auch dem Bezirk Berlin-Brandenburg gelang bei weitem nicht, seine bei durchschnittlich 18.360 Mitgliedern hoch gesteckte Quote zu erreichen. In ihrem Schreiben an das EKKI vom 13. Dezember 1926 räumte die Org-Abteilung der Berliner BL ein, über den Verkauf der Marken 42.233,50 RM und über die parallel durchgeführte Sammlung 14.682,99 RM, also insgesamt 56.916,49 RM eingenommen zu haben. Im Bezirk Pommern hatte also jeder Genosse durchschnittlich 68 Pf, im Bezirk Berlin-Brandenburg 3,10 RM und im Bezirk Westsachsen 4,56 RM gesammelt. Daten aus den Bezir-ken Ruhrgebiet und Oberschlesien liegen mir nicht vor. Die Summe von 10 RM pro Mitglied blieb ein unerreichbares Ziel.315

315 Rundschreiben BL Berlin-Brandenburg, 13.11.1925 (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/85, Bl. 2). SAPMO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 77. SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 320. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 159.

162 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

Abgesehen von der höchst unrealistischen Zielsumme von einer Million RM, bestand ein Hauptgrund für das magere Endergebnis sicher in der fast schon permanenten Aufeinanderfolge von Sammelaktionen (Tabelle 16). Im Jahr 1926 verging kein Monat, in dem die Mitglieder der KPD nicht dazu aufgerufen wurden, die Sympathisanten zur finanziellen Solidarität aufzufordern. Das dürfte der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass die Einnahmen des Bezirks Berlin-Brandenburg aus solchen Sammlungen 1926 sukzessive zurückgingen.

Hinzu kam, dass auch die diversen kommunistischen Nebenorganisationen ihre Sammlungen durchführten. Zu welchen Komplikationen dieses unkoordinierte Sammeln der verschiedenen kommunistischen Organisationen führen konnte, zeigt der Brief des Polleiters der Berliner Betriebszelle Nr. 614 an die BL vom 7. November 1930 anlässlich der Sammlungen für die streikenden Metallarbei-ter:

„Unsere Sammelergebnisse waren zu Anfang äußerst erfreulich, jedoch setzten die Er-folge mit einem Schlage aus, was daran lag, daß in unserem Straßengebiet außer uns ge-sammelt haben: I.A.H., Rote Hilfe, Freidenker, K.J. [KJVD], J.-Bund [JSB] und R.F.M.B. (...) Dieses wild Durcheinandersammeln ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn wenn die Genossen treppauf, treppab laufen und jeden Geschäftsmann aufsuchen und hören müssen, daß soeben ein anderer alles abgegrast hat, werden sie mutlos und wissen nicht mehr, wo sie sammeln gehen sollen.“316

Die Motivation der Mitglieder wurde durch die rasche Aufeinanderfolge von Sammlungen teilweise arg strapaziert. Die BL Pommern drohte in ihrem Rund-schreiben vom 15. Oktober 1925 den Ortsgruppen, die nicht für die Kampagne zu den Provinziallandtags- und Kreistagswahlen am 29. November 1925 sammeln würden, sie nicht mehr mit Propagandamaterial zu beliefern. Die Ab-teilung Kasse der BL Ruhrgebiet sah sich genötigt, in ihrem Rundschreiben vom 12. Mai 1926, nach der Ankündigung von Sammlungen für die Kampagne für den Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926, mögliche Klagen von Seiten der Basis im Vorfeld dadurch zu neutralisieren, dass sie darauf hinwies, „daß zur Durchführung einer solch gewaltigen Kampagne große Summen Geld nötig sind.“. Auch die Parteinotopfer-Kampagne fand längst nicht bei allen Genossen ungeteilte Freude. In den gedruckten Bezirksinformationen der Informationsab-teilung des ZK vom 30. November 1925 heißt es dazu: „Aus 3 Referentenbe-richten geht Mißstimmung über Parteinotopfer hervor. Eine Zelle hat Sammellisten zurückgesandt.“ Im westsächsischen Unterbezirk Borna soll es nach der Ankündigung der Kampagne sogar zu Parteiaustritten gekommen sein.317

316 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/50, Bl. 30.317 SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 89. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/41, Bl. 2. SAPMO-BArch RY1/I2/706/5, Bl. 17. SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 82.

3 Der organisatorische Hintergrund 163

Trotz all dieser Geldquellen mussten aber sowohl die Bezirksleitungen als auch die Basisorganisationen weitere Quellen erschließen, um die Finanzierung der laufenden Tätigkeiten sicherzustellen. Nicht nur für die beiden kleineren Bezirke Pommern und Oberschlesien waren die monatlichen Subventionen der Partei-führung eine unverzichtbare Einnahmequelle. Diese Subventionen hatten wohl ursprünglich den Zweck gehabt, den Bezirken in der Parteigründungsphase fi-nanziell auf die Beine zu helfen. Nach dem Geschäftsbericht der Zentrale an den 2. Parteitag (20.-24.10.1919) hatte die Zentrale im davor liegenden Vierteljahr insgesamt 1.420.000 M ausgegeben, von denen allein 406.203,19 M (28,60 Pro-zent) Zuschüsse an die Bezirke gewesen waren. Der Berichterstatter Hugo Eberlein regte deshalb an, die Bezirksleitungen sollten versuchen, „sich finanzi-ell von der Zentrale unabhängig zu machen.“ Da seine Worte offenbar wirkungslos blieben, beschloss der 7. Parteitag (22.-26.8.1921), die Zuschüsse der Zentrale an die Bezirke „in kürzester Frist völlig“ einzustellen. Aber auch dieser Beschluss scheint nie umgesetzt worden zu sein.318

Gerade die beiden kleinen Bezirke Pommern und Oberschlesien hingen fundamental von den Zahlungen der Zentrale bzw. des ZK ab. Beide Bezirke hätten ohne die Zahlungen der Parteiführung, die teils zweckgebunden (Gehäl-ter, Bezirksparteitag, Landagitation, Wahlkampagne) und teils pauschal gezahlt wurden, ihre ohnehin spärlichen professionellen Strukturen nicht aufrechterhal-ten können. Ein großer Teil der Korrespondenz zwischen der pommerschen bzw. oberschlesischen Bezirksleitung und der Zentrale oder dem ZK behandelte daher das leidige Thema Geld. Im November 1925 drohte der oberschlesische Polleiter Johann Diedrichs dem ZK sogar seinen Rücktritt an, „wenn nicht sofort Geld eingeht“.319

Am 18. Juli 1926 schrieb etwa die BL Pommern an das ZK, dass der letzte Bezirksparteitag am 26./27.6.1926 600 RM gekostet habe, wovon nur 300 RM „durch die Extrabeiträge“ der Mitglieder wieder hereingekommen seien. Außerdem beantragte sie einen Zuschuss für die Kosten der Entsendung der drei Delegierten des Bezirks zum 11. Parteitag in Essen (2.-7.3.1927), die sich auf 125 RM pro Kopf beliefen. Am 24. Februar 1927 schrieb die BL Pommern an das ZK, sie habe inzwischen 206 RM über den Vertrieb von „Reichsparteitags-marken“ eingesammelt, die Delegationskosten betrügen aber 700 RM, weshalb sie einen Zuschuss über die noch ausstehende Summe beantragte. Auch den Be-zirksparteitag zur Auswertung der Beschlüsse des 11. Parteitags am 2./4.12.1927 allein zu finanzieren war der BL Pommern nicht möglich, weshalb sie am 29. November wieder einen Bettelbrief an das ZK schickte. Darin wies sie darauf hin, dass sich die Gesamtkosten für den Bezirksparteitag auf 985,70 RM be-318 Bericht 2. Parteitag, S. 29. Bericht der Zentrale an den 8. Parteitag (Bericht 8. Parteitag, S. 65).319 Zitat aus der oberschlesischen sozialdemokratischen Tageszeitung „Volksblatt“. Ihm war Diedrichs Brief an das ZK zugespielt worden, was auf der Sitzung der BL Oberschlesien am 1. Dezember 1925 diskutiert wurde (SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 171).

164 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

laufen würden. Eine Teilsumme von 400 RM sei nicht gedeckt, da der Umsatz an Parteitagsmarken zu wünschen übrig gelassen habe. Der Zuschuss des ZK an die beiden kleinen Bezirke belief sich gegen Ende 1928 auf jeweils 800 RM im Monat.320

Aber auch die großen und beitragsstarken Bezirke lebten ständig über ihre Verhältnisse und waren daher von den Zahlungen der Parteiführung abhängig. Im März 1930, einem Monat ohne außergewöhnliche politische Ereignisse, zahl-te das ZK insgesamt 8.150 RM an Zuschüssen an die Bezirke. In ihrem Voran-schlag für die Kampagne zu den Reichstagswahlen am 14. September 1930 plante die Abteilung Kasse des ZK Wahlzuschüsse in Höhe von je 20.000 RM für die Bezirke Berlin-Brandenburg und Sachsen, 8.500 RM für das Ruhrgebiet, 4.000 RM für Pommern und 3.500 RM für Oberschlesien ein.321

Den Basisorganisationen reichten die Einnahmen aus ihrem Anteil an den Bei-trägen, den Sondermarken und Sammlungen sowie den Subventionen seitens der Bezirksleitungen auch nicht. Die unteren Funktionäre waren daher ebenfalls ständig auf der Suche nach weiteren Einnahmequellen. Die Genossen von der Parteibasis gingen deshalb nicht nur während der großen Kampagnen, sondern relativ regelmäßig bei den Inhabern der im Umfeld vorhandenen Geschäfte sammeln.

Der ‚Goldesel‘ der Parteiarbeit an der Basis aber war die „Arbeiter-Internatio-nale Zeitung“ (AIZ). Als einzige wirklich erfolgreiche Massenpublikation aus dem Umfeld der KPD lieferte sie den Basisorganisation über ihren AIZ-Vertrieb mehr als nur ein Zubrot. Die Betriebszelle bei der AEG in Berlin-Treptow erwarb aus ihren AIZ-Erträgen eine eigene Schreibmaschine. Die Leitung des Verwaltungsbezirks Treptow schrieb am 4. August 1927 an das ZK, man habe seit dem 15. April endlich einen hauptamtlichen Politischen Leiter: „Die Fi-nanzierung geschieht durch den Vertrieb der A.I.Z. Es ist uns gelungen, die Auf-lage von cir. 1300 auf cir. 1800 zu steigern.“ Laut einer Aufstellung des Neuen Deutschen Verlags (NDV) von Anfang 1926 kostete die Produktion von 160.000 Exemplaren der AIZ 12.440 RM, während über den Verkaufspreis 16.000 RM und über Inserate 1.500 RM erlöst wurden. Die Gewinne von 5.060 RM dienten, wie zwischen dem NDV und dem ZK vereinbart worden war, in erster Linie dazu, das Abrechnungsverhalten der Parteivertriebsstellen aufzu-fangen. Letzteres war, wie einem Brief Münzenbergs an das Polbüro vom 17. Dezember 1925 zu entnehmen ist, mehr als mäßig, denn der Schuldenstand der

320 SAPMO-BArch RY1/I3/3/19, Bl. 309 bzw. 20, Bl. 17. SAPMO-BArch RY1/I3/3/20, Bl. 103. Sowohl Pommern als auch Oberschlesien waren Nettoempfänger, das heißt, dass ihre Zuschüsse immer höher waren, als die Beitragsanteile, die sie an die Parteiführung ihrerseits überwiesen. So erhielt die BL Oberschlesien zum Beispiel im Zeitraum Juni 1924 bis 15. Mai 1925 insgesamt 7.000 RM Zuschüsse seitens des ZK, führte aber nur 359,43 RM an Beitrags-anteilen an das ZK ab (SAPMO-BArch RY1/I3/6/20, Bl. 29).321 SAPMO-BArch RY1/I2/704/8, Bl. 81 bzw. 85.

3 Der organisatorische Hintergrund 165

KPD-Vertriebsstellen belief sich auf 30.000 RM. Der Versuch des NDV, den AIZ-Vertrieb 1927 über die Einbindung von Presse-Grossisten zu verbessern, löste denn auch beinahe einen Aufruhr an der Parteibasis aus. Daher schrieb etwa die BL Berlin-Brandenburg am 30. Juli 1927 an das ZK-Sekretariat:

„Die Vereinbarungen mit dem Neuen Deutschen Verlag wegen des Vertriebs der ,Arbeiter-Illustrierten‘ stoßen wegen ihrer organisationsschädigenden Auswirkung in unserer Organisation auf einen derartigen Widerstand, daß es notwendig ist, darüber noch einmal eine Aussprache zwischen Euch, uns und dem Genossen Münzenberg zu halten. Es stellt sich nämlich bei der Neuregelung heraus, daß alle die Parteiunterneh-mungen, die auf den Überschuß aus dem bisherigen Vertrieb der AIZ. basiert waren, durch die neuen Verordnungen einfach in Frage gestellt sind.“322

3.3.5.4 Kosten und RessourceneinsatzAngesichts all dieser Einnahmequellen stellt sich natürlich die Frage, wofür all die Mittel ausgegeben wurden. Wie der Aufstellung der Abteilung Kasse des ZK für den März 1930 (Tabelle 17) zu entnehmen ist, wurde der Löwenanteil der Einnahmen für die Gehälter der Parteiangestellten ausgegeben. Zweitgrößter Posten waren die Verwaltungsausgaben, also wohl unter anderem die Fahrtkos-ten und Spesen, die Büromiete und die Subventionen für Unterbezirke und Orts-gruppen. Diese beiden Ausgabenposten machten bei der Reichspartei 52,8 Pro-zent aus, im Bezirk Ruhrgebiet waren es sogar 68,6 Prozent, während es im Be-zirk Berlin-Brandenburg nur 29,3 Prozent waren.

Der Bericht des ZK-Kassierers Arthur Golke für den September 1927 ermöglicht einen Einblick in die absoluten Ausgabenzahlen. Der Bezirk Ruhrge-biet, der 7.000 RM an Beiträgen einnahm, gab 1.470 RM für Gehälter und 3.400 RM für Fahrtkosten aus. Im Bezirk Berlin-Brandenburg betrug die Gehaltssum-me 2.500 RM (Beitragseinnahmen 10.000 RM) und im Bezirk Westsachsen 2.395 RM (5.000 RM). Danach waren also die drei großen Bezirke prinzipiell in der Lage, diese Kosten aus den Beitragseinnahmen zu finanzieren. Die beiden kleinen Bezirke Pommern und Oberschlesien konnten das nicht. Sowohl der Be-zirk Pommern als auch der Bezirk Oberschlesien gaben 830 RM für Gehälter aus, nahmen aber nur 700 bzw. 500 RM an Beiträgen ein. Beide Bezirke brauch-ten also die Zuschüsse des ZK allein schon um den hauptamtlichen Parteiapparat zu finanzieren!323

322 SAPMO-BArch RY1/I2/707/132, Bl. 62 bzw. Bl. 142. „Eineinhalb Jahre Neuer Deutscher Verlag“ (SAPMO-BArch RY1/I2/707/132, Bl. 45). SED-BL Berlin (Hg.): Geschichte, S. 233. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/43, Bl. 16. Laut Angaben von Babette Groß, damals Lebensge-fährtin Münzenbergs und Co-Geschäftsführerin des NDV, lebten ca. 2.000 arbeitslose kom-munistische Funktionäre vom Vertrieb der AIZ (Babette Groß: Willi Münzenberg, Stuttgart 1967, S. 165), d.h. sie konnten sich trotz ihrer Erwerbslosigkeit ganztägig ihren Partei-funktionen widmen. SAPMO-BArch RY1/I2/707/132, Bl. 142. SAPMO-BArch RY1/I2/707/ 132, Bl. 38. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/26, Bl. 211.323 SAPMO-BArch RY1/I2/4/31, Bl. 201

166 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

Tabelle 17: Ausgaben der Parteibezirke März 1930 (in Prozent)Bezirk Gehälter Verwaltung Agitprop SonstigesBerlin 18,80 10,50 8,60 62,00Pommern 20,00 33,00 32,00 15,00Oberschlesien 33,30 28,80 17,30 10,40Sachsen 31,00 9,50 20,50 39,00Ruhrgebiet 52,40 16,20 5,50 25,70Reich 38,10 14,70 13,20 40,00

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/704/8, Bl. 81

Da sich einige Bilanzen der Bezirksleitungen erhalten haben, lässt sich die Analyse noch vertiefen. Laut einer Bilanz der Abteilung Kasse der BL Oberschlesien für den Zeitraum zwischen dem Juni 1924 und dem 15. Mai 1925 waren folgende Einnahmen zu verzeichnen: 3.403,65 RM aus Mitgliedsbeiträ-gen (31,12 Prozent der Einnahmen), 7.000 RM Zentrale-Zuschuss (64,01 Pro-zent) und 532,35 RM (4,87 Prozent) aus sonstigen Quellen (Sammlungen etc.), also insgesamt 10.936,00 RM. Ausgegeben wurden im Berichtszeitraum angeblich insgesamt nur 10.658,23 RM, so dass also ein Überschuss von 277,77 RM erzielt wurde. Dieser muss angesichts des finanziell desaströsen Gesamt-bildes wohl auf Buchführungstricks zurückgeführt werden. Davon gingen ab für Gehälter und Entschädigungen 4.786,- RM (45,75 Prozent), für Agitation 2.098,49 RM (19,69 Prozent), für die Verwaltung 1.961,09 RM (18,40 Prozent), für Fahrgelder und Spesen 1.241,70 RM (11,65 Prozent), für Abführungen (ZK-Beitragsanteil) 359,43 RM (3,37 Prozent) und für Sonstiges 211,52 RM (1,98 Prozent). Die BL Pommern hatte laut ihrem Monatsetat für den Mai 1925 Ge-samteinkünfte in Höhe von 1.000 RM, die sich auf folgende Einnahmequellen verteilten: 300,- RM Beiträge, 350,- RM Gehaltszuschuss für Polleiter Steffen, 150,- RM Trennungszulage für Steffen, 200,- RM Agitationszuschuss der Zentrale. Aus den Mitgliedsbeiträgen stammten also gerade einmal 30 Prozent der Einnahmen! Die Höhe der Ausgaben belief sich insgesamt auf 1.450 RM; sie waren also nur zu knapp 70 Prozent gedeckt. Der größte Ausgabenposten waren die Gehälter in Höhe von 830 RM (57,24 Prozent der Ausgaben). Im ein-zelnen waren das 350 RM für den Polleiter Steffen, 305,- RM für den Orgleiter Dittmann und 175,- RM für die technische Hilfskraft der BL. Weiter ausge-wiesen wurden 150,- RM für Fahrgelder. Außerdem hatte die BL Pommern zu diesem Zeitpunkt einen Schuldenstand von 3.301,35 RM.324

Nicht nur die BL Pommern musste sich verschulden, um alle Aufgaben zu fi-nanzieren. Alle fünf hier untersuchten Bezirke häuften immer wieder größere Schulden an. Die Parteiführung in Berlin musste dafür notgedrungen ein-springen. Letztlich handelte es sich bei den Schulden, die die Bezirke machten, um klammheimliche einseitige Erhöhungen der ZK-Subventionen durch die Be-

324 SAPMO-BArch RY1/I3/6/20, Bl. 29. SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 96f.

3 Der organisatorische Hintergrund 167

zirksleitungen. Laut Bericht des Reichskassierers Arthur Golke für den Septem-ber 1927 belief sich der Schuldenstand des Bezirks Westsachsen allein beim ZK auf 12.302,27 RM, wovon 9.043,08 RM auf noch ausstehende Beitragsanteile entfielen. Der Bezirk Berlin-Brandenburg schuldete dem ZK insgesamt 9.000 RM, davon 6.000 RM wegen eines ZK-Darlehens. Der Bezirk Ruhrgebiet hatte 7.684,78 RM an Außenständen angehäuft - davon 5.056,98 RM (noch) nicht abgeführte Beitragsanteile -, der Bezirk Pommern 1.050 RM und Oberschlesien 150 RM. Anscheinend war auch die regelmäßige Beitragsabführung des festge-legten Anteils durch die Bezirke an das ZK, wie sie im Statut stand, nur ein Wunschbild.

Tabelle 18: Schuldenstand der Parteibezirke Dezember 1929 (in RM)Bezirk Gesamtschulden beim ZK bei Dritten Anteil Dritte (%)Berlin 118.622,00 47.000,00 71.622,00 60,38Ruhrgebiet 20.566,84 9.868,95 10.697,89 52,02Westsachsen 15.954,22 4.714,32 11.239,90 70,45Pommern 3.600,00 250,00 3.350,00 93,06Oberschlesien 1.240,00alle Bezirke 326.557,36 108.683,29 217.874,07 66,72

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/704/8, Bl. 77 (Schulden bei Dritten und Anteil von mir er-rechnet, U.E.).

Zwei Jahre später war die Verschuldung der Bezirke weiter angestiegen. Durch die Aufstellung des Etats des ZK für Dezember 1929 erfahren wir erstmals auch etwas über die Außenstände der Bezirke bei Dritten, zu denen in erster Linie wohl die Verlage der Partei zu rechnen sind (Tabelle 18). Dabei zeigt sich, dass sich die BL Pommern in besonders hohem Maße Gelder bei Dritten geliehen bzw. Auslagen Dritter nicht beglichen hatte. Der Vorzeigebezirk Berlin-Brandenburg hatte es bei einem Anteil von gut 16 Prozent der Gesamtmitglied-schaft sogar fertiggebracht, einen mehr als doppelt so hohen Anteil an den Ge-samtschulden der Bezirke von 36,32 Prozent zusammenzutragen. Rechnet man die Schuldenstände auf die Zahl der abgerechneten Mitglieder der Bezirke im November 1929 (Westsachsen September 1928) um, betrug die Pro-Kopf-Ver-schuldung des Bezirks Berlin-Brandenburg 6,80 RM, die des Bezirks Ruhrge-biet 2,28 RM, die Westsachsens 1,80 RM, die Pommerns 1,52 RM und die Oberschlesiens 1,26 RM. Es waren also keineswegs die beiden kleinen Bezirke, die angesichts ihrer geringen Einnahmen die höchsten Außenstände pro Kopf hatten.325

325 SAPMO-BArch RY1/I2/4/31, Bl. 188-201. Und die Verschuldung der Parteiinstanzen endete offenbar nicht auf der Bezirksebene. Die BL Ruhrgebiet wies in ihrem Bericht vom 25. November 1925 darauf hin, dass in einem Unterbezirk auf Grund der immensen Verschul-dung schon der Gerichtsvollzieher im Unterbezirksbüro tätig geworden ist (SAPMO-BArch

168 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

Ich habe in der Einleitung zu diesem Abschnitt schon auf den Zusammenhang von finanzieller Ressourcenausstattung der Parteiführung und der relativen Autonomie der Basisorganisationen hingewiesen. Wie zu sehen war, litten ins-besondere die beiden kleinen Bezirke unter einer dauerhaften Unterfinanzierung, die selbst durch die Zuschüsse seitens des ZK nicht völlig aufgefangen werden konnte. Den Funktionären der pommerschen und oberschlesischen Bezirkslei-tungen fiel es daher schon schwer genug, den professionellen Parteiapparat in den beiden Bezirken überhaupt am Leben zu erhalten. Weder die BL Pommern noch die BL Oberschlesien konnten sich durchgängig die Anstellung eines Orgleiters und einer so genannten technischen Hilfskraft leisten. Außerdem wollte jede Parteitätigkeit, die mit Geldausgaben verbunden war, gut überlegt sein.

Das hier interessierende Hauptproblem aber ist, inwieweit die Funktionäre der Bezirksleitungen Pommerns und Oberschlesiens überhaupt in der Lage waren, einen regelmäßigen Kontakt zu den Ortsgruppen herzustellen. In seinem Bericht über den Bezirk Pommern vom 11. Juli 1924 wies Zentrale-Instrukteur Wienand Kaasch auf diese bezirkliche Besonderheit ausdrücklich hin:

„Um durch den Bezirk zu kommen, ist eine 5 bis 6-stündige D-Zugsfahrt notwendig. Es empfiehlt sich daher, daß die Z[entrale]. dem Bezirk zur Bearbeitung monatlich eine ge-wisse Summe zur Verfügung stellt, aber gesonderten Bericht über die Verwendung dieses Geldes verlangt, da es sonst für Gehälter und Verwaltungszwecke ausgegeben wird.“

Da die Zentrale darauf aber nicht einging, musste die pommersche BL am 20. August 1924 wieder einmal einen Bettelbrief schreiben, indem sie noch einmal mit Nachdruck auf dieses Problem aufmerksam machte, wobei sie sich wohl vom Hinweis auf ein zu erwartendes massives Ortsgruppensterben besondere Zugkraft erhoffte:

„Die vielen kleinen Ortsgruppen in der Partei sind rein gefühlsmäßig bei der Partei und müssen besonders bei der jetzigen Flaute zusammenbrechen, wenn uns als politische [sic!] Leitung des Bezirks nicht die Möglichkeit gegeben wird, die Ortsgruppen öfter zu besuchen und wirklich zu politisieren.“

Ihren Angaben nach kostete die Fahrt zu den Ortsgruppen durchschnittlich 12 bis 15,- RM. In ihrem Etat für den Monat Mai 1925 waren genau 150 RM für Fahrgelder eingestellt, so dass BL-Funktionäre also nur einen kleinen Teil der angeblich 89 Ortsgruppen hätten besuchen können.326

Eine ganz entscheidende Bedeutung für die BL Pommern hatte die Freifahrt-karte des einzigen kommunistischen Reichstagsabgeordneten für Pommern. Einen entsprechend großen Anteil an der Korrespondenz zwischen der BL in Stettin und dem ZK nehmen daher die Bitten der BL um eine Freistellung des

RY1/I3/18-19/11, Bl. 122).326 SAPMO-BArch RY1/I3/3/18, Bl. 3. SAPMO-BArch RY1/I3/3/19, Bl. 63.

3 Der organisatorische Hintergrund 169

pommerschen KPD-MdR Wilhelm Obendiek (1924-28) für die Arbeit im Bezirk ein. Am 13. Mai 1925 schrieb die BL etwa an das ZK, dass Obendiek einige der zur Vorbereitung des Bezirksparteitags am 23./24. Mai abzuhaltenden Mitglie-derversammlungen leiten solle, dass er aber vom Orgbüro der Zentrale bean-sprucht werde. Nachdem das ZK im Mai 1927 den bisherigen Polleiter Erich Steffen abberufen hatte, schlug sie der BL zwei gleichermaßen geeignete Funktionäre zur Auswahl als Nachfolger Steffens vor. Die Mehrheit der BL ent-schied sich für Max Strötzel, der im Gegensatz zu seinem Pendant Otto Kühne über ein Reichstagsmandat verfügte und damit über eine Freifahrtkarte für die Deutsche Reichsbahn. Die Kehrseite dieses Auswahlkriteriums war natürlich, dass der Polleiter während der Sitzungsperioden des Reichstags oft nicht im Be-zirk anwesend war. Da sich an dem Problem, die Ortsgruppen aufzusuchen, auch noch 1930 nichts geändert hatte, war die pommersche BL sogar bereit, sich gegen das ZK zu stellen, das die Anweisung erlassen hatte, das bezirksfremde ZK-Mitglied Walter Stoecker auf den einzig aussichtsreichen ersten Listenplatz zu setzen. Die BL Pommern beharrte statt dessen auf einer Aufstellung Strötzels, um dem Bezirk seine Freifahrtkarte zu erhalten. Obwohl dies dem Be-schluss des 12. Parteitags von 1929 widersprach, die Polleiter nicht als Reichs-tagskandidaten aufzustellen, konnte sie sich gegen das ZK durchsetzen.327

Da auch die KPD nicht im geldlosen kommunistischen Schlaraffenland lebte, musste sie wie jede Organisation mit ihren Mitteln haushalten. Die Sub-ventionen seitens der KI waren angesichts der oben beschriebenen Fakten kaum mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Partei lebte vom ZK bis hin zu den Zellen ständig über ihre finanziellen Verhältnisse, und ihre Führung war allein schon deswegen nicht in der Lage, die Basisorganisationen so zu kon-trollieren, wie es die zahlreichen Beschlüsse intendierten. Da Kontrolle teuer ist, mussten auch die führenden Funktionäre mehr als ihnen lieb war, auf die kosten-lose Ressource Vertrauen setzen, was den Parteizellen und -gruppen beträchtli-che Freiräume ließ.

327 SAPMO-BArch RY1/I3/3/2, Bl. 3. Lage im Bezirk Pommern, (nach Mai 1927) (SAPMO-BArch RY1/I2/5/32a, Bl. 324). Sitzung der Erweiterten BL Pommern am 10.8.1930 (SAP-MO-BArch RY1/I3/3/14, Bl. 359ff.)

170 3.3 Die technische Arbeitsweise der KPD

3 Der organisatorische Hintergrund 171

„Kommunist sein heißt, sich revolutionäres Wissen anzueignen und schließlich unverbrüchlich an die Kraft des Proletariats und den Sieg der Revolution zu glauben und auch dann nicht fahnenflüchtig zu werden, wenn gelegentlich Rückschläge den Gang der Revolution verzögern.“328

4. Die symbolische Integration der Mitglieder4.1 Die ParteikulturDie Forschung über politische Kultur, Arbeiterkultur und Arbeiterbewegungs-kultur ist inzwischen auf ein kaum noch überschaubares Maß angewachsen, des-gleichen das Angebot an konkurrierenden Definitionen.329 Ich will das hier nicht referieren, sondern nur kurz erläutern, was ich hier unter symbolischer Integrati-on verstehe. Es handelt sich dabei um einen komplexen dynamischen Kom-munikationsprozess, über den den Parteimitgliedern im Rahmen der alltäglichen Interaktion innerhalb der Partei über Sprache, Medien und andere Symbole die spezifischen mit der Parteiidentität verbundenen Werte, Normen, Einstellungen, Konzepte, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster vermittelt werden sollten. In-haltlich wurde von Seiten der Parteiführung in diesem Kommunikationsprozess gleich ein ganzes Bündel von Zielen verfolgt. So sollte erstens die Existenz der Partei als solcher, ihre Struktur, ihre Führung, sowie die vorrangig von ihr formulierte politische Strategie legitimiert werden. Zweitens diente die symbo-lische Integration der Abgrenzung der Parteimitgliedschaft nach außen, und gleichzeitig der Stärkung der Kohäsion innerhalb der Partei. Schließlich sollten die Mitglieder drittens mit einer ‚Gebrauchsanweisung‘ nicht nur für den poli-tischen Alltag, sondern für das Leben insgesamt ausgestattet werden, also mit einer „Weltanschauung“ im umfassendsten Sinne.

Die symbolischen Integrationsangebote innerhalb der KPD lassen sich mit recht geringem methodischen Aufwand untersuchen. Das gleiche gilt für die quantitative Seite der Rezeption dieser Angebote durch die ‚einfachen‘ Mitglie-der. Das kann leider nicht für die Analyse der Wirkung dieser Rezeption gesagt werden. Die Mentalitäten der Genossen an der Basis der KPD und ihre Rezepti-on der Deutungsangebote sind die Domäne der Quellengattung der Selbstzeug-nisse ehemaliger KPD-Mitglieder, deren Verwendung aber eine ganze Reihe von methodischen Problemen aufwirft.

328 BL Ruhrgebiet Agitpropabteilung: Referentenmaterial zur Einführung neuer Mitglieder vom Mai 1927 (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/45, Bl. 34).329 Vgl. Dieter Kramer: Theorien zur historischen Arbeiterkultur, Marburg 1987.

172 4.1 Die Parteikultur

4.1.1 Die ParteisymboleDen von der Partei verwendeten Symbolen und insbesondere dem Symbolsys-tem der Sprache kommt noch vor den Periodika der Partei und den über Lektüre vermittelten Deutungsangeboten herausragende Bedeutung bei der symbolischen Integration der Parteimitglieder zu.

„Die spezifische Leistung von Symbolen gründet in einer expressiv-sinnlichen, emotio-nalen Qualität, die Wirkungen auch dort hat, wo rational-diskursive Systeme überfordert sind. Sie wirken nach Innen, indem sie Prozesse der Selbstverständigung und Gruppen-formung ermöglichen und auf dem Wege der mentalen und emotionalen Integration kulturell festigen; und sie wirken nach Außen, indem sie abgrenzen, exkludieren und ,Medium eines nach Außen gerichteten Ausdruckwillens‘ sind.“330

Die wichtigsten Symbole der KPD in der Weimarer Republik waren die rote Fahne, Hammer und Sichel, der fünfzackige rote Stern und die geballte Faust.

Einzig das Symbol der geballten Faust, die John Heartfield nach einer Zeich-nung von George Grosz als Emblem für den 1924 gegründeten RFB entwickelt hatte, gehörte exklusiv den Kommunisten in der Weimarer Republik.331 Die anderen, ererbten oder entliehenen Symbole stellten die KPD in den historischen Kontext, in dem die Partei entstanden war. Dieser Umstand verleiht dem kom-munistischen Symbolsystem einen ganz eigenen Charakter.

Die rote Fahne wurde in Deutschland während der Märzrevolution 1848 als Symbol des Sozialismus etabliert. Sie wurde im Zuge der revolutionären Ereig-nisse in Deutschland 1918 reanimiert, nachdem sie schon während der russischen Oktoberrevolution eine prominente Rolle gespielt hatte. Sie blieb trotz der Versuche seitens der KPD, sie exklusiv für sich zu beanspruchen, das übergreifende Symbol der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik.

Die KPD benötigte daher weitere Symbole, um die eigene Spezifik innerhalb der Arbeiterbewegung zu betonen. Diese importierte man von den siegreichen russischen Bol’ševiki: Hammer und Sichel und der fünfzackige rote Stern. Eine rote Fahne mit Hammer und Sichel in der linken oberen Ecke und dem Stern darüber, schloss jede Gefahr einer Verwechslung aus - war sie doch auch das staatliche Symbol der Sowjetunion, mit der man sich identifizierte.332

330 Gottfried Korff: Rote Fahnen und Tableaux Vivants. Zum Symbolverständnis der deut-schen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, in: Albrecht Lehmann (Hg.): Studien zur Arbei-terkultur. Beiträge der 2. Arbeitstagung der Kommission „Arbeiterkultur“ in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Hamburg vom 8. bis 12. Mai 1983, Münster 1984, S. 103-140, hier: S. 107.331 Gottfried Korff: Symbolgeschichte als Sozialgeschichte? Zehn vorläufige Notizen zu den Bild- und Zeichensystemen sozialer Bewegungen in Deutschland, in: Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt am Main 1991, S. 17-36, hier: S. 28.332 Korff: Fahnen, S. 116.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 173

4.1.1.1 Die rote FahneDie rote Fahne repräsentierte als Symbol den Klassenkampf und die Arbeiterbe-wegung. Da in der kommunistischen Interpretation „die Partei als höchste Form der Klassenorganisation“, und damit gleichsam als Verkörperung von Klassenkampf und Arbeiterbewegung verstanden wurde, galt die rote Fahne in diesem Kontext als Symbol für die Partei selbst.333 Nicht von ungefähr hatte der Spartakusbund sein am 9. November 1918 erstmals erschienenes Parteiorgan „Die Rote Fahne“ genannt. Er hatte damit der symbolischen Verknüpfung von Fahne und Kommunistischer Partei quasi-offizielle Weihen gegeben, und gleichzeitig noch vor der formellen Geburtsstunde der Partei die „Fahne“ für den im Entstehen begriffenen deutschen Kommunismus annektiert. Der Sparta-kusbund hatte damit seinen Anspruch zum Ausdruck gebracht, der einzige legi-time Nachfolger der aus seiner Sicht einstmals revolutionären wilhelminischen Sozialdemokratie zu sein, und daher auch jetzt und in Zukunft eine hegemoniale Rolle innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung spielen zu wollen.

Außerdem war die rote Fahne im kulturellen Rahmen der KPD das Symbol des Endziels (die kommunistische Gesellschaft) sowie eines bestimmten Weges zu diesem Endziel (der proletarische Revolution), und damit letztlich wieder Symbol der Organisation, die dazu geschaffen worden war, diesen Weg einzu-schlagen: der Kommunistischen Partei. Eine solche Interpretation schloss offen-bar völlig problemlos an die militärischen Wurzeln der Fahnensymbolik im All-gemeinen an. Begründet wurde die kommunistische Okkupation der roten Fahne, ja gleichsam die Notwendigkeit dazu, mit dem Versagen der Sozi-aldemokratie im Jahre 1914, die damit quasi ihre Rechte an der Fahne verwirkt hatte:

„Die rote Fahne des proletarischen Klassenkampfs lag beschmutzt und verraten am Boden. Da war es jene kleine Gruppe unerschrockener Kämpfer, voran Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Franz Mehring und andere, die ... das Banner der In-ternationale hochhielten und nicht verzagten, die das Banner der proletarischen, der so-zialistischen Bewegung von neuem entrollten.“334

Verbunden mit dieser Neuinterpretation der Fahnenmetapher innerhalb der KPD war eine offenbar dringend erforderliche Abgrenzung von der Verwendung des Fahnensymbols in der Sozialdemokratie. Sie kommt besonders prägnant in einem Rundschreiben der Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet vom 20. No-vember 1928 zum Ausdruck. Anlass waren Berichte von Demonstrationen der

333 Ernst Thälmann: „Der Kampf um die Gewerkschaftseinheit und die deutsche Arbeiter-klasse“ (Bericht 10. Parteitag, S. 520 - Hervorhebung im Original).334 Ernst Thälmann: Reden und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Band II: Auswahl aus den Jahren November 1928 bis September 1930, Berlin (DDR)1956, S. 20. Thälmann knüpfte damit an die in der deutschen Arbeiterbewegung etablierte Fahnenme-taphorik an, die am prägnantesten in Gustav Adolf Uthmanns Lied „Tord Foleson“ zum Aus-druck kommt.

174 4.1 Die Parteikultur

KPD, die ohne mitgeführte Fahnen stattgefunden haben sollen. Zur Begründung seiner Anweisung, in Zukunft auf jeder Parteiveranstaltung Fahnen mitzuführen, verweist der Autor polemisch auf die seiner Ansicht nach völlig unterschiedliche Bedeutung der Fahne im sozialdemokratischen und kommunistischen Kontext:

„Unsere Fahnen sind keine sozialdemokratischen Feiertagslappen, die man nur bei fest-lichen Angelegenheiten zur Schau stellt, sondern Sturmbanner, um die sich in jedem Kampfe die Arbeiter scharen müssen und die in jeder Demonstration oder Versamm-lung kämpfender Arbeiter bei der Masse sein müssen.“335

Die rote Fahne war also das allgemeinste Symbol der Kommunistischen Partei. Das gleiche gilt für die davon abgeleitete Bedeutung der Farbe rot. Auf letztere verweist etwa die Bezeichnung der 1921 gegründeten ersten „Massenorganisati-on“ der KPD, der Roten Hilfe Deutschlands (RHD). Die Verwendung des Adjektivs „rot“ in der Parteisprache zeigt einen im Laufe der Zeit zunehmenden Trend zur Beanspruchung von Exklusivität. Während der Gründung der RHD, die über das kommunistische Lager hinaus Mitglieder rekrutieren sollte, war die Wahrnehmung der Farbe rot noch flexibel, und verwies auf den virtuellen Zu-sammenhang der Arbeiterbewegung. Spätestens ab der Mitte der 1920er Jahre findet sich dann ein Sprachgebrauch, in dem „rot“ und „revolutionär“ - letzteres wiederum gleichbedeutend mit „kommunistisch“ - Synonyme waren, in dem Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei in Eins gesetzt wurden. Den So-zialdemokraten wurde damit letztlich die Zugehörigkeit zur Arbeiterbewegung bestritten und also auch jede Berechtigung, die Farbe rot zu benutzen.

Die rote Fahne und die Farbe rot waren in der Parteiöffentlichkeit immerzu präsent. Man denke etwa an die Transparente am Berliner Karl-Liebknecht-Haus und auf den meisten Demonstrationen, an die Ausschmückung von Versamm-lungsräumen und Rednerpulten, an die regelrechten Fahnenwälder zu Wahl-kampfzeiten, an Wahlplakate der KPD, an die zahllosen Abzeichen oder an das rote Halstuch der kommunistischen Kinderorganisation.336 Man kann angesichts dieser alltäglichen optischen Reizüberflutung davon ausgehen, dass die Parteimitglieder die Farbe rot und die rote Fahne als etwas zu ihnen Gehörendes wahrgenommen haben.

Die Parteiführung beließ es aber nicht dabei. Im Anschluss an die Tradition der Kriegervereine (und auch der Sozialdemokratie) übernahm man, durchaus im Wissen darum, dass die eigenen Genossen von ihren Bedürfnissen her noch nicht so ‚weit‘ waren, die Fahnenweihe als die herausragende Form der Fahnen-inszenierung in den Kanon der politischen Kultur der Partei.

335 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/43, Bl. 27.336 Zur Ausschmückung des Städtischen Saalbaus in Essen, in dem zwischen dem 2. und 7. März der 11. Parteitag der KPD stattfinden sollte, kaufte das ZK-Sekretariat 300 Meter roten Stoff, den sie der zuständigen BL Ruhrgebiet im Vorfeld zugehen ließ (SAPMO-BArch RY1/I2/5/28, Bl. 602).

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 175

Den frühesten Beleg über eine Fahnenweihe fand ich im Mitteilungsblatt der BL Berlin-Brandenburg vom 7. Juni 1923: „Die von den russischen Kommunis-ten Bakus uns übermittelte Fahne wird den Berliner Arbeitern in dem am Sonntag, den 15. Juli, nachmittags 3 Uhr, im Lichtenberger Stadion statt-findenden Meeting übergeben.“ Knapp einen Monat später, im Mitteilungsblatt vom 6. Juli , legte die Berliner Bezirksleitung das Programm für die Fahnenwei-he vor. Dieses Programm ist geradezu typisch für den Ablauf kommunistischer Feierlichkeiten in der Weimarer Republik, wenn auch zu diesem frühen Zeit-punkt noch viele Verbindungslinien zur sozialdemokratischen Festkultur bestanden. Auf die formelle Eröffnung durch ein Orchester, das die „Internatio-nale“ spielte, folgten Auftritte von Chören, Radfahrern, Turnern, Sprechchören, weitere sportliche Vorführungen und schließlich der Höhepunkt: die Ansprache der Berliner Polleiterin Ruth Fischer und die symbolische Übergabe der Fahne an einen Berliner Arbeiter durch Fischer, der daraufhin „gelobte, das revolutio-näre Berliner Proletariat werde sich des Geschenks würdig erweisen“. Die Ver-anstaltung wurde geschlossen mit dem Massengesang der „Internationale“.337

Am meisten fällt der ausgesprochen große Rahmen dieser Veranstaltung auf. Sie zielte von vornherein auf die größtmögliche Massenwirksamkeit ab, was auch in der Wahl des Veranstaltungsortes, nämlich eines Stadions, zum Aus-druck kam. Trotz eines Eintrittspreises von 1,50 M soll diese Veranstaltung 75.000 Teilnehmer gehabt haben. Es handelte sich also nicht ‚nur‘ um eine Fahnenweihe mit dem Zweck, die eigenen Mitglieder zu integrieren. Es war vielmehr ein Aufmarsch der gesamten von der KPD dominierten linken Sektion des Berliner Arbeitermilieus zur Inszenierung der Stärke der Kommunistischen Partei der Stadt. Dass eine Fahnenweihe den Anlass dafür bildete, zeigt die enor-me Bedeutung der Fahne. Die Fahnenweihe konnte offenbar auch in der KPD „den ersten Rang unter den symbolischen Handlungen“ beanspruchen.338

Leider wurden die meisten anderen Fahnenereignisse nicht in dieser Ausführ-lichkeit überliefert. Der 8. Parteitag der KPD am 28. Januar 1923 in Leipzig wurde damit eröffnet, dass die gerade wieder aus Sowjetrussland zurückgekehrte Clara Zetkin unter großem Applaus „der revolutionären Vorhut der Arbeiter-klasse Deutschlands, vertreten durch die organisierten Kommunisten Leipzigs und Hamburgs“ zwei Fahnen übergab. Die westsächsische Delegierte Maria Gerber, der Zetkin stellvertretend für die Leipziger Ortsgruppe die Fahne sym-bolisch überreichte, nahm sie „tief gerührt“ entgegen und leistete „als Dank da-für das Gelübde [!], treu mitzukämpfen in dem Kampfe des Weltproletariats um die Weltrevolution.“339

337 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 104f. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 109. Be-zirksleitung: Geschichte, S. 170.338 Winfried Gebhardt: Fest, Feier und Alltag. Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung, Frankfurt am Main 1987, S. 127.339 Bericht 8. Parteitag, S. 183.

176 4.1 Die Parteikultur

Fahnenweihen blieben auch nach 1923 zentrale Ereignisse im lokalen Festka-lender der KPD-Organisationen. Da es sich um eine aus vielen anderen Kon-texten vertraute Form handelte, waren die kommunistischen Fahnenweihen of-fenbar in ihrer symbolischen Verwendbarkeit so flexibel, dass sie sowohl nach innen die Verbundenheit mit der Partei stärkten, als auch außerhalb der Partei Menschen anzogen, die sonst vielleicht weniger empfänglich für die kommunis-tische Agitation gewesen wären. Die herausragende Beliebtheit der Fahnenwei-he bei den Mitgliedern der KPD zeigt sich exemplarisch am Rundschreiben der BL Oberschlesien vom 2. Oktober 1925, das die Genossen darauf hinwies, dass die Konzentration der gegenwärtigen Parteiarbeit auf der Reorganisation der Partei zu liegen habe, und daher Rote Tage und Bannerweihen schon wiederholt verboten worden seien.340

Von ganz besonderer Bedeutung waren Fahnengeschenke aus der Sowjetunion. Der Besitz einer Fahne aus der Sowjetunion hob die Mitglieder der beschenkten Parteigruppe oder -zelle aus der Masse der Kommunisten und aus dem Parteiall-tag heraus. Gleichzeitig fungierte die sowjetische Fahne als konstante stoffliche Erinnerung an die Verbundenheit zwischen deutschen und sowjetischen Kom-munisten. Sie war eine Auszeichnung, die an Prestigewert kaum zu übertreffen war. Dieser Stellung entsprechend wurde die symbolische Übergabe zelebriert. Die Betriebszelle im Berliner Warenhaus Tietz hatte im Winter 1930 brieflichen Kontakt zu einer KPdSU-Zelle im Moskauer Kaufhaus Glavny Mostorg aufge-nommen. Margarete Buber-Neumann, die Zellen-instrukteurin, reiste daraufhin als Vertreterin der Zelle nach Moskau. Dort wurde ihr eine von einer Kaufhaus-mitarbeiterin genähte und mit Hammer und Sichel und der Aufschrift „Proletari-er aller Länder vereinigt euch!“ bestickte rote Samtfahne ausgehändigt. Um der von einer „Atmosphäre von Theatralik und Sentimentalität“ dominierten Über-gabefeier in Berlin einen würdigen Rahmen zu geben, hatten die Mitglieder der Tietz-Zelle „ein mehrstimmiges revolutionäres Lied“ gelernt.341

Weitere beliebte Gesinnungsdemonstrationen im Zusammenhang mit dem Fahnensymbol waren die Fahneneinmärsche, die seit der ab 1923 zunehmenden kulturellen Ausschmückung der feierlichen Eröffnungen der Reichsparteitage der KPD eine besondere Rolle spielten. Eineinhalb Wochen vor der Feier zur Eröffnung des 12. Parteitags in Berlin schrieb die BL Berlin-Brandenburg in ih-rem Rundschreiben vom 28. Mai 1929: „Vorgesehen ist wie immer ein Fahnen-einmarsch. Sämtliche Fahnen der Partei und der befreundeten Organisationen

340 SAPMO-BArch RY1/I3/3/29, Bl. 99. SAPMO-BArch RY1/I3/6/14, Bl. 70. Für Tetje Lotz, der 1924 in Mecklenburg dem RFB beitrat, war eine bald darauf durchgeführte Fahnenweihe in Güstrow: eines „der größten und schönsten Ereignisse meines Lebens.“ (Theodor Lotz: „... Einschnitte“. Sechzig Jahre mitten mang. Über das Leben des Hamburger Kommunisten Tetje Lotz. Autobiographische Aufzeichnungen, Hamburg 1986, S. 40).341 Margarete Buber-Neumann: Von Potsdam nach Moskau. Stationen eines Irrwegs, Köln 19812, S. 211-225.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 177

sind mitzubringen. Die Mitglieder der Fahnendelegation sammeln sich pünktlich ½ 7 Uhr auf dem Hofe des Sportpalasts.“ Damit verbunden war die Präsentation der eigenen Stärke in der Öffentlichkeit, wobei die Zahl der Fahnen als ihr Grad-messer im Dienste der propagandistischen Außenwirkung fungierte. Die Partei-führung war darauf bedacht, das Parteisymbol Rote Fahne permanent in der Öf-fentlichkeit präsent zu halten. Beispielsweise wurden die Genossen im Bezirk Westsachsen, laut Bericht der BL für den Oktober 1927, angewiesen, zur zehn-ten Wiederkehr der Oktoberrevolution am 6. und 7. November 1927 „rot zu flaggen.“ Um das auch denjenigen Mitgliedern oder Parteizellen zu ermögli-chen, die keine Fahne hatten, wurde über die RHD billiges Fahnentuch zum Kauf angeboten.342

Die weit verbreitete Identifikation mit der roten Fahne, zeigt sich auch an der Bereitschaft vor allem junger Genossen, die Fahne als Feldzeichen der Partei auch mit körperlicher Gewalt zu verteidigen. Mallmann sieht darin das Resultat einer „für die kommunistischen Frontsoldaten von ehedem wohl durch die doppelte Sozialisation in Fleisch und Blut übergegangene Lektion.“ Karl Schirdewan etwa berichtet als einer von zahlreichen Selbstzeugen von Rangelei-en mit Polizisten. Während des Reichsjugendtreffens des KJVD in Leipzig 1930 sollen einige Jungkommunisten die auf dem Sammelplatz vorhandenen Fahnenstangen benutzt haben, um rote Fahnen zu hissen. Daraufhin habe eine Polizei-Hundertschaft das Einziehen der Fahnen verlangt, und es kam zu einem Handgemenge bei der Verteidigung der Fahnen. Wie es ein Sport junger Kom-munisten war, Fahnen gegnerischer Organisationen - darunter auch die Fahnen der SPD - auch mit Gewalt zu erobern oder zu zerstören, waren die Fahnen der KPD zu Anfang der 1930er Jahre häufig symbolischer Ausgangspunkt der Atta-cken von seiten der Nationalsozialisten oder der SA.343

Die letzten Jahre der Weimarer Republik sind durch einen regelrechten „Fahnenkrieg“ gekennzeichnet, der sich zum einen durch die oben be-schriebenen Aggressionen gegen die gegnerische Fahne als prägnanteste symbo-lische Repräsentanz der gegnerischen Organisation ausdrückte, aber auch durch den Versuch, mit Hilfe der Fahne die symbolische Hegemonie im Ort, im Viertel oder im Großstadtkiez herzustellen. Max Faulhaber berichtet in seiner Autobiographie davon, dass es im Reichstagswahlkampf in der Mannheimer Arbeiterbewegung darum ging, die größte Fahne zu haben und auch die anderen Organisation schon durch die schiere Zahl an Fahnen zu übertrumpfen.344

342 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/77, Bl. 25. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 115.343 Mallmann: Kommunisten, S. 239. Karl Schirdewan: Ein Jahrhundert Leben. Erinnerungen und Visionen. Autobiographie, Berlin 1998, S. 57.344 Max Faulhaber: „Aufgegeben haben wir nie ...“ Erinnerungen aus einem Leben in der Arbeiterbewegung, Marburg 1988, S. 120.

178 4.1 Die Parteikultur

Trotz der Fahneninszenierung seitens der KPD-Führung und der zunehmenden Beanspruchung eines Exklusivrechts auf die rote Fahne, scheint aber das Be-wusstsein für den Gesamtzusammenhang Arbeiterbewegung und die rote Fahne als sein legitimes parteiübergreifendes Symbol an der Parteibasis nicht völlig verloren gegangen zu sein. Die Interpretationsangebote der KPD-Führung stießen daher dort an gewisse Grenzen. Das zeigen zum Beispiel die aus vier Be-zirken vorliegenden offenbar nötigen Ermahnungen der Bezirksleitungen an die Ortsgruppen, bei den Verhandlungen mit der SPD oder den ADGB-Kartellen über gemeinsame Maikundgebungen zwischen 1925 und 1928 auf keinen Fall auf ein „revolutionäres Gepräge“ zu verzichten und darauf zu bestehen, rote Fahnen mitzuführen.345

4.1.1.2 Die AbzeichenDer einfachste Weg für ein Individuum sich in der Öffentlichkeit als Kommunist zu präsentieren, waren die bei der KPD-Mitgliedschaft sehr populären Abzei-chen. Wie bei der Fahne knüpfte die KPD auch bei den Abzeichen an eine Tradition der deutschen Sozialdemokratie an. Doch beließ sie es nicht dabei, sondern entwickelte eine eigene, sehr differenzierte Symbolsprache. In der Weimarer Republik gab es geradezu eine Inflation von kommunistischen Abzei-chen.346

Der Bereich der Abzeichen erstreckt sich dabei vom eigentlichen Parteiabzei-chen - in der klassischen, wenn auch vielfach variierten Form als Roter Stern mit goldfarbenen Hammer und Sichel in der Mitte - über die Abzeichen der Neben-organisationen der KPD - das Abzeichen der RHD zeigte etwa eine Weltkugel in Ketten und mittendrin die rote Faust mit der roten Fahne und der Aufschrift „RH“ - bis zu den Abzeichen, die im Rahmen bedeutender Parteikampagnen produziert wurden. So zeigte zum Beispiel das Abzeichen, das die KPD anläss-lich der Reichspräsidentenwahlen von 1932 herausgab, das Konterfei des Partei-kandidaten Thälmann über der Aufschrift „Klasse gegen Klasse“. Was die Her-stellung von Abzeichen im Rahmen wohl fast aller größeren Kampagnen be-trifft, scheint ein nicht unwesentliches Motiv auch darin gelegen haben, über den Abzeichenverkauf weitere Finanzmittel zu erschließen.347

Die Formensprache der Abzeichen der KPD und ihrer Nebenorganisationen war dominiert von den schon im Zusammenhang mit der Fahnengestaltung besprochenen Symbolen. Hinzu kamen die Faust, der alte Topos der ineinander verschränkten Hände, die Erdkugel, der Kopf Lenins, der kräftige dynamische Proletarier, und der Hammer - ein Stiel und obendrauf der aus den Buchstaben

345 SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 116.346 Museum für Deutsche Geschichte (Hg.): Medaillen und Abzeichen der deutschen Arbei-terbewegung. Von den Anfängen bis 1946, bearb. von Christa Guske, Sylvia Tytzel und Jürgen Gottschalk, Berlin (DDR) 1989.347 ebenda, S. 141, 173, 171.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 179

„RFB“ bestehende Kopf - zugleich Sinnbild der Arbeiterklasse und der Zer-schlagung des Kapitalismus. Die Bildersprache, die Verwendung fand, war zu-gleich vielfältig als auch bekannt genug, um sie für die verschiedenen Bedürf-nisse so zu kombinieren, dass die Botschaft verstanden werden konnte.348

Das Tragen von Abzeichen war aus Sicht der Parteiführung „ein politisches Bekenntnis“. So äußerte sich beispielsweise die BL Pommern in ihrem Rund-schreiben vom 17. September 1927, in dem es darum ging, den Verkauf des vom ZK zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution heraus-gegebenen Abzeichens anzukurbeln. Dieses 30,5 mm breite und 47 mm hohe Abzeichen zeigt einen laufenden Rotarmisten, an dessen Seitengewehr eine rote Fahne mit Hammer und Sichel befestigt ist, und trägt die Aufschrift „10 Jahre (7.11.17-7.11.27) So-wjetunion“. Wegen des Bekenntnischarakters des Abzeichens, so fuhr der Autor fort, sei „es notwendig, für den Verkauf dieser Plaketten alle Kräfte einzusetzen“.349

Leider ist die Quellenlage über die Verwendung von Abzeichen seitens der Mitglieder mehr als dürftig. Das regelmäßige Tragen von Abzeichen musste zu Anfang der Weimarer Republik anscheinend noch eingeübt werden. Die BL Berlin-Brandenburg schrieb im Mitteilungsblatt vom 7. Juli 1922, die Genossen sollten doch bei den Demonstrationen, an denen die Partei sich beteiligt, auch das Parteiabzeichen anlegen, „um die Beteiligung der Kommunisten zum Aus-druck zu bringen“. Dies hatte nämlich die BL bei der Großdemonstration nach der Ermordung von Rathenau am 25. Juni 1922 vermisst. Schon am 25. April 1921 hatte sie in ihrem Rundschreiben moniert, dass der Absatz der Sowjetster-ne unter den Genossen zu wünschen übrig lasse.350

Interessante sozialhistorische Einblicke in die Haltung der KPD-Mitglieder zum Tragen von Abzeichen vermitteln zwei Dokumente. Auf der Sitzung der engeren BL Berlin-Brandenburg am 13. August 1926 befasste sich Polleiter Pieck unter anderem damit, dass der Vorsitzende des Proletarischen Gesund-heitsdienstes (PGD), Bruno Lieske, den Mitgliedern verboten habe, auf KPD-Demonstrationen Hilfe zu leisten. Der Berliner Agitpropleiter Horst Fröhlich ergänzte, die Genossen im PGD würden sich nicht an das Verbot halten, und ihre Hilfe bei KPD-Demonstrationen nun leisten, ohne dabei das PGD-Abzei-chen zu tragen. Die kommunistischen Mitglieder des PGD sahen sich also, wenn sie das Abzeichen trugen, quasi als Repräsentanten ihrer Organisation in der Öf-fentlichkeit und damit an die Beschlüsse und die Disziplin ihrer Organisation gebunden. Sie konnten ihre Verhaltensfreiräume aber ganz einfach durch das Ablegen des Abzeichens zurückgewinnen. Dies galt im Großen und Ganzen wohl auch für den Umgang mit den Abzeichen in der KPD selbst. Ein anderer

348 Vgl. Medaillen und Abzeichen349 SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 239. Vgl. Abbildung in Medaillen und Abzeichen, S. 153.350 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 61. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 15.

180 4.1 Die Parteikultur

Fall wurde auf der Sitzung der oberschlesischen BL am 29. Juni 1927 vom BL-Mitglied Schieron angesprochen: „Die Maifeier hat bewiesen, daß unsere Ge-nossen zuerst Gewerkschafter sind und dann Kommunisten. Die Gewerkschafts-abzeichen wurden von unseren Genossen verkauft, unsere Abzeichen blieben liegen.“ Dem Problem der doppelten oder sogar mehrfachen Loyalitäten der Parteimitglieder, das die KPD-Führung all die Jahre beschäftigte, ließ sich also offenbar allein durch eine Inflation von Parteiabzeichen nicht abstellen.351

4.1.1.3 Uniformen und DevotionalienFür die Öffentlichkeit der Weimarer Republik vielleicht noch hervorstechender als Fahnen und Parteiabzeichen waren die Uniformen der verschiedenen KPD-Nebenorganisationen. Der Zulauf der Wähler zur NSDAP seit den späten 1920er Jahren hatte eindeutig auch eine Wurzel in der Angst vor der bolschewistischen Revolution. Diese hatte zwar keine reale Grundlage in den Planungen der KPD-Führung, konnte sich aber auf das militante Auftreten uniformierter Mitglieder kommunistischer Kampfbünde beziehen.

Auch in der Partei selbst gab es bei manchen Mitgliedern ein Bedürfnis da-nach seine Verbundenheit zur Sowjetunion textil auszudrücken. Man trug Russenkittel und Lenin-Mütze. Margarete Buber-Neumann berichtet davon, dass braune Lederjacken en vogue waren. Man hielt sie „für besonders bolschewis-tisch, obgleich niemand in Sowjetrußland sich so kleidete.“ Parallel dazu findet sich ab der Mitte der 1920er Jahre der Trend zu einem betont proletarischen Kleidungsstil bei Demonstrationen. Die Schiebermütze ersetzte den Hut und der weiche Hemdkragen die Krawatte.352

Das Eindringen der Parteisymbole in den unpolitischen Alltag endete nicht bei der Bekleidung. Wer wollte und das nötige Kleingeld dazu hatte, hängte sich ein Bild oder stellte sich eine Gipsbüste von Lenin oder Stalin in die gute Stube. Von den 63 im Rahmen der 1929/30 durchgeführten sozialpsychologischen Stu-die von Ernst Fromm befragten kommunistischen „Funktionären“ - so Fromms Bezeichnung für aktive Mitglieder - gaben zehn an, in ihrer Wohnung Bilder von „Sozialistischen Führern“ hängen zu haben, während weitere 30 Bilder „So-zialistischer Führer und Familienbilder“ dort aufgehängt hatten. Preiswerter konnte ein Genosse seine Gesinnung unter Beweis stellen, in dem er die von der Berliner Tabakmanufaktur „Solidarität“ herstellte Zigarettenmarke gleichen Namens rauchte, deren Schachteln Bilder von Arbeiterführern beigelegt waren, die man sammeln konnte, was ihren Umsatz „ganz erheblich“ steigerte. Wer

351 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/18, Bl. 332. Zum Hintergrund: der PGD war ursprünglich das 1921 gegründete kommunistische Gegenstück zum sozialdemokratischen Arbeiter-Samariter-Bund (ASB). 1926 gelang es der KPD-Führung die Mitglieder des PGD bis auf die Gruppe um Lieske in den ASB zu überführen (Franz Walter: Der Arbeiter-Samariter-Bund, in: ders./Viola Denecke/Cornelia Regin: Sozialistische Gesundheits- und Lebensreformverbände, Bonn 1991, S. 293-414, hier: S. 403). SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 63.352 Buber-Neumann: Potsdam, S. 224. Korff: Fahnen 1986, S. 94.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 181

„Rote Sorte“ oder „Kollektive“ rauchte, russische Exportmarken, konnte auch noch die den Sozialismus aufbauende Sowjetunion unterstützen.353

4.1.2 Die ParteispracheDie Sprache der Kommunistischen Partei Deutschlands ist ein weites Feld, das leider, so weit ich sehe, von der Forschung bislang fast völlig ignoriert worden ist. Ich will mich dabei auf zwei exemplarische Aspekte der symbolischen In-tegration mittels Sprache beschränken: auf die „Bolschewisierung“ der Partei-sprache und auf die soziale Konstruktion von „Abweichungen“ mit Hilfe des Begriffs „Opportunismus“.

Einer der wichtigsten Bereiche, wenn nicht sogar der einzige Bereich, in dem die KPD nicht an die sozialdemokratische Tradition anknüpfte, war die Partei-sprache. Führende Funktionäre der jungen KPD scheinen sich in einem beträcht-lichen Maße und Tempo die Begrifflichkeit ihrer russischen Genossen zu eigen gemacht zu haben. Einer der engagiertesten ‚Russifizierer‘ in der Frühzeit der KPD war August Thalheimer, Mitglied der Zentrale und studierter Sprach-wissenschaftler. Auf einer Funktionärskonferenz des Bezirks Berlin-Branden-burg am 30. Dezember 1921 kritisierte der Generalsekretär der KPD, Ernst Reu-ter, Thalheimers Verwendung von Schlagwörtern, „die nicht der europäischen Entwicklung entnommen werden, die nicht aus den Verhältnissen unserer Arbei-terbewegung stammen, sondern aus russischen Parteiverhältnissen übertragen werden“. Er bezog sich dabei auf einen Beitrag Thalheimers in der „Internatio-nale“, der unter dem Titel „Die Theorie und die Praxis des Liquidatorentums“ erschienen war, und sich mit der Entwicklung der im Zuge der Nachwehen der „Märzaktion“ durch ausgeschlossene KPD-Mitglieder gegründeten Kommunis-tischen Arbeitsgemeinschaft befasste, und der Thalheimer unter anderem den Vorwurf des „Otsowismus“ gemacht hatte. Dabei konnte er sich auf den EKKI-Präsidenten Zinov’ev beziehen, der der innerparteilichen Opposition in seinem Brief an den 7. Parteitag (22.-26.8.1921) den gleichen Vorwurf gemacht hatte.354

353 Laut Schreiben des ZK an die deutsche EKKI-Delegation vom 23. Dezember 1926 hatte es eine Kiste Lenin-Büsten bestellt (SAPMO-BArch RY1/I2/704/8, Bl. 38). Erich Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Unter-suchung. Hrsg. u. bearb. v. Wolfgang Bonss, München 1980, S. 149. Groß: Münzenberg, S. 179.354 Karl Hermann Tjaden: Struktur und Funktion der KPD-Opposition. Eine organisationsso-ziologische Untersuchung zur Rechtsopposition im deutschen Kommunismus zur Zeit der Weimarer Republik, Hannover 21983, S. 2-10. August Thalheimer: Die Theorie und die Pra-xis des Liquidatorentums. Zur Reichskonferenz der Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft, in: Die Internationale 18-19/1921, S. 624-630. Der Begriff des Otsowismus - „otsyv“ bedeutet auf russisch „Abberufung“ - kam 1908 in der RSDAP(b) für einen Kreis von Linken um A.A. Bogdanov und A.V. Lunačarskij auf, die die Haltung der sozialdemokratischen Duma-Frakti-on kritisiert und ihre Abberufung gefordert hatten. Der Begriff „Liquidatoren“ spielte in Len-ins Attacken gegen die Men’ševiki im selben Jahr eine wichtige Rolle, denen er unterstellte,

182 4.1 Die Parteikultur

Es scheint 1921 noch zu früh gewesen zu sein, aus der Geschichte der Bol’še-viki importierte Bezeichnungen im allgemeinen Sprachgebrauch der Partei durchzusetzen. Aber das änderte sich später. Die im Laufe der Konflikte in der Parteiführung zwischen 1924 und 1926 entstandene Strömung um Ernst Meyer wurde ab 1927 als „Versöhnler“ bezeichnet - auch das ein Begriff aus der Ge-schichte der RSDAP(b), der 1908 für eine Gruppe von Bolschewisten geprägt wurde, die für eine Einigung der beiden Strömungen der russischen Sozialdemo-kratie eingetreten waren. Der Begriff „Versöhnler“ wird in den Dokumenten aus den Jahren 1927 bis 1930 geradezu inflationär verwendet. Er scheint als einpräg-sames Etikett zur Reduzierung der Komplexität innerparteilicher Vorgänge in der Parteisprache gut etabliert gewesen zu sein.355

Die ‚Bolschewisierung‘ der Parteisprache - vielleicht die einzige wirklich er-folgreiche Bolschewisierung der KPD! - bot den nicht zu verachtenden Vorteil, der Partei auf recht einfache Weise das Gepräge einer bolschewistischen Organi-sation geben zu können, noch bevor sie wirklich eine solche war. Das kommt etwa in der Benennung der Funktionärszeitschriften der Bezirke zum Ausdruck, die um die Mitte der 1920er Jahre nach dem Vorbild des Berliner „Funken“ ent-standen, dessen Name die deutsche Übersetzung des Titels von Lenins Ende 1900 in München gegründeter Zeitung „Iskra“ war. Das Funktionärsblatt des Bezirks Halle-Merseburg wurde „Der bolschewistische Kurs“ genannt, das thü-ringische „Der Bolschewist“, das niedersächsische hieß „Lenins Weg“, das des Ruhrgebiets „Der Pionier des Bolschewismus“ und das württembergische bekam den Titel „Das Lenin-Aufgebot“.356

„Bolschewistisch“ als Bezeichnung für die Einrichtungen der Partei und die Aktivitäten ihrer Mitglieder war jedenfalls spätestens seit dieser Zeit in der KPD an der Tagesordnung. Dazu nur ein paar willkürlich ausgewählte Beispiele aus dem Bezirk Ruhrgebiet. In einem Rundschreiben der Agitprop-Abteilung der BL, das am 24. November 1926 beim ZK eintraf, wurden die Ortsgruppen dar-auf hingewiesen, bei der „feierlichen Einführung der neu geworbenen Parteimit-glieder“ noch vor der Übergabe der Parteibücher „besonders hervorzuheben, daß in einer bolschewistischen Partei jedes Parteimitglied verpflichtet ist, Partei-arbeit zu leisten.“ In ihrem Bericht an den Bezirksparteitag im Mai 1930 warf die BL einigen Duisburger Stadtverordneten „Widerstand gegen die bolschewis-tische Linie der Partei“ vor, und meinte, es „fehlte auch in allen Fraktionen der kleinen Parlamente die bolschewistische Politik.“ Eine Entschließung einer Konferenz des Unterbezirks Recklinghausen im Juni 1931 konstatierte „mit bol-schewistischer Selbstkritik erhebliche Schwächen und Mängel unserer Arbeit“. Und im August 1931 lobte die Agitprop-Abteilung der BL in einem Rund-

„insgeheim die Auflösung der illegalen Partei“ anzustreben (Schapiro: Geschichte, S. 126ff.). SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/12, Bl. 114. 355 Weber: Wandlung I, S. 17. Schapiro: Geschichte, S. 133.356 Organisatorischer Bericht der Zentrale an den 10. Parteitag (Bericht 10. Parteitag, S. 118).

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 183

schreiben die Entscheidung des ZK, dass die KPD sich am Volksentscheid des Stahlhelms zur Auflösung des preußischen Landtags als „kühnen bolschewis-tischen Entschluß“.357

Zur Kehrseite dieser Entwicklung zählte die Tatsache, dass bald jeder Kritiker der Politik der Parteiführung gleich summarisch als Kritiker der KI, der KPdSU, Stalins und des Bolschewismus als solchem denunziert wurde. Das kulminierte etwa in den Vorwürfen, die der Delegierte Müller aus dem Bezirk Erzgebirge-Vogtland auf dem 10. Parteitag den ‚Ultralinken‘ machte, bei denen er zwei Gruppen unterschied, von denen eine „nicht nur antibolschewistisch ..., sondern überzeugt antirussisch“ sei. Auf die harschen Attacken auf ihre bolschewistische Legitimation antwortete die später ausgeschlossene Gruppe um Ruth Fischer da-mit, dass sie ihre neu gegründete Organisation „Leninbund“ nannte.358

Es wurde also versucht, im alltäglichen sprachlichen Umgang miteinander, und dies spätestens ab etwa 1925 auch relativ konsequent, ein Bild der eigenen Partei in der Mitgliedschaft zu verankern, deren Institutionen und Methoden durch das Attribut „bolschewistisch“ charakterisiert sind. Und dieser Versuch, so scheint es, war durchaus von Erfolg gekrönt. Zwar gab es in der Parteifüh-rung auch weiterhin ein Gespür für die Anstrengungen, die die KPD noch vor sich hatte, um dem bolschewistischen Vorbild auch in der Praxis zu entsprechen, und gab es an der Parteibasis auch weiterhin ein Gefühl für die historisch ge-wachsenen Unterschiede zwischen der KPD und dem russischen Vorbild. Nichtsdestotrotz wurde die Wahrnehmung der KPD durch die ‚einfachen‘ Mit-glieder nicht nur in diesem exemplarischen Fall durch die Parteisprache vor-strukturiert. Das Selbstbild des Angehörigen einer bolschewistischen Partei bzw. das Selbstbild des Bolschewiken war bei einem großen Teil der Mitglieder gut verankert.

Die kommunistische Terminologie zur Beschreibung nicht normenkonformem innerparteilichen Verhaltens ist einerseits sehr farbig und vielgestaltig, anderer-seits aber wiederum nicht differenziert genug, um das komplexe Gefüge von Handlungen, Motiven und Intentionen wirklich adäquat zu beschreiben. Einer der Kernbegriffe ist der des „Opportunismus“, ein auch schon in der wilhel-minischen Sozialdemokratie verwendeter Terminus. In der Form, in der er in der KPD Verwendung fand, handelte es sich um eine letztlich wohl von Lenin inspi-rierte Begriffserweiterung.359

357 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/43, Bl. 8. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/3, Bl. 38. HStAD Regierung Düsseldorf 30642b. HStAD Regierung Düsseldorf 30657f.358 Bericht 10. Parteitag, S. 602. Ein 1930 gegründetes Spaltprodukt des Leninbundes nannte sich übrigens Vereinigte Linke Opposition (Bolschewiki-Leninisten).359 Was die Verwendung bei Lenin betrifft, so denke ich etwa an seine in der KPD viel ge-lesene Schrift über den linken Radikalismus von 1920. Darin heißt es unter anderem, der „Op-portunismus“ - womit der sozialdemokratische Reformismus als solcher gemeint ist -, der „1914 endgültig zum Sozialchauvinismus auswuchs“, sei der „Hauptfeind des Bolschewismus

184 4.1 Die Parteikultur

Der Opportunismusbegriff bezog sich in der Frühzeit der Parteigeschichte auf die sozialdemokratischen Traditionsüberhänge in der Partei, das heißt er be-zeichnete zwar auch ein Verhalten, aber noch mehr war er die Erklärung eines Verhaltens. Damals noch relativ wertfrei, war „Opportunismus“ eine Kategorie, unter der jede politische Verhaltensweise subsumiert wurde, die an die sozi-aldemokratische - sprich: reformistische statt revolutionäre - Praxis in Parlamenten, Gewerkschaften und Betrieben erinnerte. Am konsequentesten kam das schon sehr früh etwa in Otto Rühles Diskussionsbeitrag zur Frage einer Beteiligung der KPD an den Wahlen zur Nationalversammlung auf dem Gründungsparteitag zum Ausdruck, in dem er der KPD-Führung vorwarf, mit ihrem Votum für eine Beteiligung an den Wahlen, gleich wieder eine „op-portunistische Kompromißpolitik“ zu betreiben. Hier ist schon im Begriff ange-legt, was später Methode werden sollte, nämlich die Denunzierung jeglicher Zugeständnisse an die politische Realität.360

In der ersten Hälfte der 1920er Jahre gingen die Sprecher und Autoren noch mit einer gewissen Nachsicht auf die Ursachen des „Opportunismus“ ein. Ottomar Geschke, Mitglied der BL Berlin-Brandenburg, befasste sich im Rahmen der Diskussion über die kommunistische Arbeit in den Freien Gewerk-schaften auf dem 7. Parteitag mit dem Phänomen: „Es ist das zugleich eine Arbeit, bei der die Kommunisten am allerehesten in den Ruf kommen, Op-portunisten zu sein.“ Der Ursprung des mit „Opportunismus“ bezeichneten Verhaltens lag darin, eine mit den Werten der Partei vereinbare Balance zwi-schen dem Kampf für das revolutionäre Endziel und dem Einsatz für die kurz-fristigen Interessen des Proletariats zu finden. Der Bericht der Zentrale an den 8. Parteitag brachte das auf den Punkt. Dort heißt es, die „Gefahren des Op-portunismus“ ergäben sich „aus dem verlangsamten Gang der revolutionären Entwicklung.“361

Seine große Karriere als diffamatorische Universalkategorie hatte der Op-portunismusbegriff zu diesem Zeitpunkt noch vor sich. Exemplarisch für seine Verwendung ab etwa der Mitte der 1920er Jahre steht die Resolution „Die Lage in Deutschland, die Aufgaben der KPD“, die die Zentrale dem 10. Parteitag (12.-17.7.1925) vorlegte. Darin wurde die „Bolschewisierung“ der Partei als Kampf gegen zwei Feinde in den eigenen Reihen bestimmt, und zwar „erstens und in erster Linie gegen den Opportunismus, der die schlechten Traditionen der Sozi-aldemokratie fortsetzt und den Einfluß des Reformismus in unserer Partei wider-spiegelt“.362

In dieser Definition des „Opportunismus“ ist die Zustandsbeschreibung schon eindeutig mit einer Bewertung verknüpft. Das zu Anfang noch vorhandene Be-

innerhalb der Arbeiterbewegung.“ (LW 31, S. 1-106, hier: S. 16).360 Weber: Gründungsparteitag, S. 97.361 Bericht 7. Parteitag, S. 364. Bericht 8. Parteitag, S. 50 (Hervorhebung im Original).362 Bericht 10. Parteitag, S. 208.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 185

wusstsein für die historischen Ursprünge der KPD war offenbar verloren ge-gangen und die Geduld mit sozialdemokratischen Traditionsüberhängen in der Partei zu Ende. Opportunismus mit Reformismus gleichzusetzen bedeutete gleichzeitig, die „Opportunisten“ in der Partei als verkappte Sozialdemokraten zu identifizieren, sozusagen als ‚fünfte Kolonne‘ des Grundübels in der deut-schen Arbeiterbewegung. Der Wertaspekt des Opportunismusbegriffs kul-minierte dann in einem Sprachgebrauch, der den „Opportunisten“ prinzipiell un-ehrenhafte Motive unterstellte, indem behauptet wurde, sie handelten nicht sub-jektiv ehrlich. Dies ist besonders deutlich in der Definition von Opportunismus zu erkennen, die das Polbüro-Mitglied Paul Merker vor der Sitzung der erwei-terten BL Berlin-Brandenburg am 30. Oktober 1928 gab. Seiner Ansicht nach handelt es sich um Opportunismus, „wenn jemand seine Einstellung an den Klassengegner verkauft.“363

Mit dem Begriff „Opportunismus“ verfügten die Parteifunktionäre über ein sprachliches Werkzeug, mit dem aus der Mannigfaltigkeit des Mitgliederverhal-tens scheinbar einfach ein bestimmtes, reales oder vermeintliches Muster identi-fiziert, markiert, bewertet, delegitimiert, kommuniziert und schließlich auch sanktioniert werden konnte.

Drei Arten von Mitgliedern zählten, nachdem das Opportunismuskonzept um die Mitte der 1920er Jahre seinen Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch in-nerhalb der Partei gemacht hatte, zu den Hauptangriffszielen des Begriffs. Da waren zunächst die kommunistischen Betriebsräte, die versuchten, sich pragma-tisch für die Interessen ihrer Wähler einzusetzen (vgl. Abschnitt 5.2.1.2). Ein solches Verhalten interpretierte eine Entschließung der Konferenz des Unterbe-zirks Recklinghausen vom Juni 1931 als „opportunistisches Zurückweichen vor dem Unternehmerterror“. Die zweite Gruppe unter dem Generalverdacht des Opportunismus waren die kommunistischen Gewerkschafter, die sich an die Verbandsstatuten hielten, um nicht ausgeschlossen zu werden, und vor allem die kommunistischen Gewerkschaftsfunktionäre (vgl. Abschnitt 5.2.1.1). Schließ-lich waren die kommunistischen Stadtverordneten Angriffsziel des Begriffs, in-sofern sie sich an die demokratischen Gepflogenheiten hielten, und vor Kompro-missen mit dem politischen Gegner nicht zurückschreckten.

Der ab 1928/29 permanent wiederholte Opportunismus-Vorwurf - die „Gram-mophonplatte der feigen Abart des Opportunismus“ - zielte letztlich darauf ab, jedwede Konzession zu denunzieren. Dahinter stand der Versuch, die an der Parteibasis weitverbreitete Skepsis gegenüber der vom 6. Weltkongress der KI (17.7.-1.9.1928) zur programmatischen Grundlage erklärten Theorie der „Dritten Periode“ - nach der die Stabilisierungsphase des Kapitalismus beendet, und daher mit einer erneuten Radikalisierung der Arbeiter zu rechnen war - und das aus dieser Skepsis resultierende Verhalten zu diffamieren. Diese ideolo-

363 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/114, Bl. 398.

186 4.1 Die Parteikultur

gische Dimension des Opportunismusbegriffs bringt der folgende Auszug aus dem Entwurf einer Resolution der BL Ruhrgebiet für den Bezirksparteitag vom Mai 1932 auf den Punkt, der in Abschnitt 6 („Die Hauptfehler, Mängel und Schwächen unserer Massenarbeit“) den ‚geistigen Opportunismus‘ als Abwei-chung von der Theorie der 3. Periode identifizierte: „Der Unglaube an die Kraft und den Kampfeswillen der Massen, das Nichtreagieren auf die Regungen in vielen Betrieben und an den Stempelstellen, ist der Ausdruck des überall vor-handenen Opportunismus in der Praxis.“364

Der Parteiführung gelang es in zunehmenden Maße etwa ab der Mitte der 1920er Jahre den schon lange eingeführten Begriff des „Opportunismus“ zu besetzen. In der Konsequenz gelang es ihr damit, ihre Definition auch bei den ehrenamtlichen Funktionären größtenteils durchzusetzen. Diese lernten im Laufe der Zeit, spontan auf das Opportunismuskonzept zuzugreifen, falls bestimmte, in der Parteiöffentlichkeit wieder und wieder diskutierte ‚Symptome‘ vorhanden zu sein schienen. Damit konnten sie ihren Beobachtungen eine prägnante und über-mittelbare Form geben, mit der sie gleichzeitig ihre Übereinstimmung mit der Diagnose und Bewertung des Phänomens „Opportunismus“ durch die Parteifüh-rung signalisieren konnten. Der Begriff blieb zwar durchaus schillernd, war aber in seinen Konnotationen doch inzwischen so weit fixiert, dass man von einer weitreichenden Übereinkunft über seinen Geltungsbereich ausgehen kann.

Dennoch war die Durchsetzung der von der Parteiführung entwickelten Terminologie nicht nur in diesem Fall zwar recht weitgehend, aber keineswegs vollständig. Es scheint als hätten die ‚einfachen‘ Mitglieder an der Basis und die führenden Funktionäre in nur teilweise überlappenden semantischen Universen gelebt. In den von den führenden Funktionären produzierten Texten findet sich zum Beispiel ein recht eindeutig definierter Begriff der „Bürokratie“, der exklu-siv für die abwertende Beschreibung der Führungsinstanzen der SPD und der Freien Gewerkschaften verwendet wird. Dies kommt etwa in folgendem Zitat aus dem Bericht von Paul Peschke vom 7. Juli 1930 zum Ausdruck, der als In-strukteur der Gewerkschaftsabteilung des ZK der BL Ruhrgebiet bei der Organi-sation der Streikbewegung in der Metallindustrie helfen sollte:

„Fast nirgends gelang es, bei dem Tempo, das der Verrat der Bürokratie und ihrer Funktionäre annahmen, in Betrieben oder Werkabteilungen, in denen wir keinen oder nur geringen Einfluß hatten, die Führung [im Streik] den Händen der SPD- oder DMV-Leute zu entreißen.“

Eine Anwendung des Bürokratie-Begriffs auch auf die KPD selbst lässt sich in den von den führenden Funktionären produzierten Texten hingegen nicht aus-machen, es sei denn, als Bezeichnung für eine mögliche Gefahr, für eine

364 Die ehemalige Berliner Frauenleiterin Hanna Schulz auf dem Berliner Bezirksparteitag am 16./17. März 1929 (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/8, Bl. 291). HStAD Regierung Düsseldorf 30657g.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 187

Entwicklung, die die KPD vermeiden müsse. Eine solchermaßen erweiterte In-terpretation findet sich ausschließlich in den von den Mitgliedern oder Funktio-nären der Parteibasis produzierten Texten, wie etwa dem folgenden Rund-schreiben eines Genossen „Waldemar“ aus Stettin vom 23. Oktober 1928, der sich darin auf Thälmanns Monate langes Verschweigen ihm bekannter Unter-schlagungen seines Freundes John Wittorf bezieht:

„Das Bild, das die Tatsachen zeigen, ist nicht das eines Parteiführers, der im vermeintli-chen Partei-Interesse einen Fehler begeht, sondern das eines Hauptes einer Clique von Parteibürokraten, die sicher vor jeder Kontrolle durch die Mitgliedschaft im Bewußtsein der Unantastbarkeit durch die Deckung durch die Exekutive [EKKI] zu ganz gewöhnli-chen Gaunereien herabsinkt.“365

Die gleiche Dissonanz findet sich beim damals sehr populären Begriff des „Bon-zen“ als abwertende Bezeichnung für den Berufspolitiker oder professionellen Gewerkschaftsfunktionär, den die Bedürfnisse der einfachen Arbeiter nicht mehr interessieren. Auch da kamen aus Sicht der führenden Funktionäre natürlich nur die „Bonzen“ der SPD und der Freien Gewerkschaften in Frage. Fraglos findet sich diese Zielrichtung des Bonzenbegriffs auch an der Parteibasis. Nur sahen viele Genossen an der Basis offenbar wenig Grund, warum das von diesem Be-griff gemeinte Gefühl ‚ihr da oben, wir da unten‘ für ihre eigene Organisation nicht auch gelten sollte, gab es doch ohnehin eine ausgeprägte Reserve der zu-meist körperlich arbeitenden Genossen gegenüber den hauptamtlichen Funktio-nären. Das Protokoll der Sitzung der Leitung des Berliner Verwaltungsbezirks Prenzlauer Berg am 17. Mai 1926 umschreibt wie folgt den Redebeitrag eines Genossen Dörner anlässlich einer Diskussion über die zu hohen Preise der Bü-cher, die von der Partei vertrieben wurden:

„[Dörner] weist dabei darauf hin, daß Parteibonzen entweder nur nach der Rosenthaler [Straße]366 gehen, wo sie Ermäßigung bekommen, oder aber sie lassen sich sogar von der VIVA [ein Parteiverlag] einen Buchhändler-Ausweis geben, auf Grund dessen sie die Bücher noch um 45 % billiger bekommen, [!!] als es uns hier möglich ist, sie abzugeben. (...) (Hierüber allgem. Empörung, Bestätigung von mehreren Seiten der [V]BL).“367

Die Tatsache, dass die hauptamtlichen Parteifunktionäre und die Genossen an der Basis in unterschiedlichen semantischen Welten lebten, führte regelmäßig zu Kommunikationsstörungen zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘. Der Druck auf die ehrenamtlichen Funktionäre, die Vielfalt der Ereignisse an der Basis in ihren Be-richten in die Sprache der Parteiführung zu übersetzen und damit die Wirklich-keit auf ein Zerrbild zu reduzieren, trug viel zur Isolation der Hauptamtlichen

365 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/14, Bl. 72. SAPMO-BArch RY1/I3/3/14, Bl. 240.366 Bis 1926 Sitz der Parteiführung, die dort auch einen Buchladen betrieb.367 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/33, Bl. 14.

188 4.1 Die Parteikultur

von der Parteirealität bei. Letztere lebten daher zunehmend in einer ‚bolsche-wisierten‘ Fassadenwelt.

4.1.3 Das Liedgut der ParteiÄhnlich wie bei den Parteisymbolen lassen sich auch beim Liedgut der KPD mindestens zwei verschiedene Phasen ausmachen. In den ersten Jahren der Parteigeschichte, als es noch keinen spezifisch auf die Bedürfnisse der Partei zugeschnittenes Liedgut gab, dominierten die hergebrachten Arbeiterlieder, mit denen mindestens jenes Viertel der Mitglieder von 1927, die länger als drei Jah-re Mitglieder der SPD gewesen waren, aufgewachsen sein dürfte. Dazu zählen in erster Linie Ferdinand Freiligraths „Arbeiter-Marseillaise“ von 1848, Wacław Święcickis „Warschawjanka“ von 1885, Eugène Pottiers „Internationale“ von 1888 und Leonid P. Radins „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ von 1897. Im Laufe der Weimarer Republik gelang es allmählich ein eigenes, auf die beson-deren politisch-kulturellen Bedürfnisse der Partei zugeschnittenes Liedgut zu entwickeln oder aus der Sowjetunion zu importieren. Zur ersten Gruppe zählen etwa die von Parteimitgliedern wie Edwin Hoernle („Freiheit oder Tod“ von 1921) und Oskar Kanehl („Wir sind die erste Reihe“ von 1922) oder der KPD nahe stehenden Autoren wie Bertolt Brecht („Solidaritätslied“ von 1932) verfassten Lieder, und zur zweiten etwa das Lied „Rote Flieger“ von 1920 oder das „Lied von der Roten Armee“ aus der Zeit des russischen Bürgerkriegs.368

Das wohl mit Abstand meistgesungene Lied in der KPD war die 1871 von Eugène Pottier gedichtete und 1888 von Pierre Degeyter vertonte „Internationa-le“. Allein das Protokoll des 11. Parteitags der KPD in Essen (2.-7.3.1927) weist acht Stellen auf, an denen die „Internationale“ abgesungen wurde. Offenbar eignete sich die „Internationale“ ausgezeichnet zur Inszenierung eines bestimm-ten (Selbst-)Bildes von der Partei gerade in Zeiten der Stabilisierung des Kapi-talismus, in denen das „letzte Gefecht“ vorerst abgesagt war, und man sich gegenseitig vergewissern wollte, das es nur aufgeschoben war. Er half, ein Ge-fühl der Geschlossenheit zu erzeugen, und damit, die alltäglichen Ausein-andersetzungen in der Partei einmal für kurze Zeit zu vergessen.369

Eine neue Dimension gegenüber den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ge-wann die „Internationale“ dadurch, dass sie zur Nationalhymne der jungen So-wjetunion gemacht, und damit gleichsam für das kommunistische Lager annek-tiert wurde. Sozialdemokraten und Kommunisten sangen daher also in der

368 Richard Harold Bodek: „We Are the Red Megaphone“. Political Music, Agitprop Theater, Everyday Life and Communist Politics in Berlin during the Weimar Republic, Diss., Univer-sity of Michigan 1990, S. 101f.369 Vgl. dazu Gert Hagelweide: Das publizistische Erscheinungsbild des Menschen im kom-munistischen Lied. Eine Untersuchung zur Liedpolitik der KPD (1919-1933), Bremen 1968. Bericht über die Verhandlungen des XI. Parteitags der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Essen vom 2. bis 7. März 1927, Berlin 1927, S. 124 und 424, weitere Erwähnungen auf SS. 190, 191, 214, 215, 268 und 323.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 189

Weimarer Republik das gleiche Lied und taten es doch nicht, sangen exakt den gleichen Text und konnten doch mit ihm Unterschiedliches ausdrücken und ganz Unterschiedliches dabei empfinden. Die „Internationale“ wurde mit der Inbesitz-nahme durch die Bol’ševiki zum klarsten symbolischen Ausdruck der prekären doppelten Loyalität deutscher Kommunisten gegenüber der deutschen Arbei-terbewegung und der Sowjetunion.

Diese Zwiespältigkeit gilt letztlich aber für das gesamte von Kommunisten in der Weimarer Republik gesungene Liedgut. In der Alltagspraxis der Partei wechselten sich Lieder aus sozialdemokratischen Traditionsbeständen mit den neuen kommunistischen Liedern und Liedern aus der Sowjetunion ab. Waren die einen - symbolpolitisch betrachtet - der Ausdruck von Zusammengehörigkeit und Solidarität mit den Sozialdemokraten, die den Kern ihres Liedguts mit den Genossen von der KPD teilten, so waren die anderen der Ausdruck von Diffe-renz und Dissens und in der letzten Phase der Weimarer Republik auch von Ver-achtung und Hass.

In welchem Maße die ‚einfachen‘ Parteimitglieder die sowjetischen Lieder und die neuen, nach 1918 im Rahmen der Partei entstandenen Lieder überhaupt kannten und in ihr Repertoire aufgenommen haben, lässt sich bedauerlicher-weise heute nicht mehr feststellen. Gelegenheit dazu, die neuen und die sowje-tischen Lieder kennen zu lernen, hatten die Genossen zu Genüge. Laut Hagel-weide erschienen zwischen 1919 und 1933 32 kommunistische Liederbücher, teilweise in Auflagen von 90.-330.000 Exemplaren.

Es spricht aber vieles dafür, dass diese Werke nahezu ausschließlich im Kom-munistischen Jugendverband benutzt wurden. Das Bedürfnis nach Liederbü-chern war im KJVD unter anderem deswegen so groß, weil man einerseits ge-wisse Formen mit der Jugendbewegung teilte, also etwa das Wandern und das Zeltlager, bei denen das Singen immer eine wichtige integrative Funktion hatte, und weil man andererseits dem Liedgut der ‚bürgerlichen‘ Jugendbewegung et-was entgegensetzen wollte.

Da aber der Transfer der Jungkommunisten, die das KJVD-Höchstalter von 23 Jahren erreicht hatten, in die Partei kaum in nennenswertem Umfang gelang, waren dem Einsickern des neuen Liedguts durch mit ihm vertraute ehemalige Jungkommunisten enge Grenzen gesetzt. Von den etwa 20.000 Mitgliedern, die der KJVD im Durchschnitt zwischen 1920 und 1928 organisiert hatte, hatten bis 1927 nur knapp 3.000 den Übertritt zur KPD vollzogen. Die anderen 110.000 KPD-Mitglieder, die die Fragebogen der Reichskontrolle von 1927 ausgefüllt hatten, mussten also das neue Liedgut zumeist über andere Wege kennen lernen, oder taten es überhaupt nicht.370

370 Hagelweide: Erscheinungsbild, S. 26. Inhaltlich dominieren die üblichen Symbole. Die über die Lieder vermittelte Moral ist die proletarische Kampfmoral, geprägt durch Disziplin und Klassenkampf. Außerdem wurde ein bestimmtes Bild der Kommunisten vermittelt: „Der Akteur im kommunistischen Liedgut der Weimarer Zeit lebte in Not und Elend. Er wurde ver-folgt und war geknechtet. Sein Ziel war, den Klassenstaat zu vernichten und sich eine lichte

190 4.1 Die Parteikultur

Unmittelbare Zeugnisse über die Rezeption des neuen kommunistischen Lied-guts durch die ‚einfachen‘ Genossen gibt es nicht. Immerhin aber eine äußerst interessante indirekte Quelle. 1928 gab die beim Polbüro des ZK der KPD ein-gerichtete Kommission zur Vorbereitung der Kampagne zu den Reichstagswah-len eine Broschüre mit dem Titel „Sonderanweisungen für die Wahlkämpfe 1928“ heraus. Diese beinhaltete unter anderem eine Liste von Schallplatten, die die Basisorganisationen beziehen und auf ihren Wahlversammlungen abspielen sollten. Diese Schallplatten enthielten auf der Vorderseite Reden von führenden Parteifunktionären, und auf der Rückseite als Zugabe ein Arbeiterlied. Auf-schlussreich ist dabei zum einen die Liederauswahl selbst und zum anderen die Zuordnung der Redner zu den Liedern, die viel über das unterschiedliche Pres-tige der Lieder in der Partei verrät. Die erste Schallplatte enthielt Reden von Thälmann und Arthur Ewert, dem zweitwichtigsten Mann in der Partei, und wie Thälmann Mitglied des dreiköpfigen ZK-Sekretariats. Zu diesen beiden Hochka-rätern passte natürlich nur die „Internationale“, was noch einmal ihren Stellen-wert als wichtigstes Lied in der KPD unterstreicht. Nummer zwei in der Liste war die Schallplatte mit den Reden von Hugo Eberlein, einem Mitglied des Pol-büros, und Willy Leow, dem faktischen Vorsitzenden des RFB. Diesen beiden wurde das „Lied von der Roten Armee“ zugeordnet, das während des Bürger-kriegs in Sowjetrussland entstanden war, und das unter dem Titel „Wir schützen die Sowjetunion“ als das Lied des RFB wohl bekannter war. Auf der dritten Schallplatte waren die Reden von Walter Stoecker, einem Mitglied des ZK, und Ernst Schneller, Mitglied des Polbüros und Leiter der Agitprop-Abteilung des ZK, und die „Warschawjanka“ zu hören. Auf den drei weiteren Tonträgern fanden sich Reden vor allem von Funktionären aus der zweiten Reihe: Martha Arendsee und Ernst Putz, und dazu das Lied „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“, Paul Frölich und Wilhelm Pieck und „Die Rote Fahne“ - ein 1881 von Bolesław Czerwienski verfasstes polnisches Revolutionslied - sowie Wilhelm Kasper mit dem Lied „Wir sind die erste Reihe“, das Oskar Kanehl 1922 als Kampflied für den KJVD geschrieben hatte.371

Von den sechs Liedern, die die Strategen der Wahlkampfzentrale der KPD also für besonders zugkräftig bei den Genossen und dem proletarischen Publi-kum hielten, waren vier traditionelle Lieder der deutschen Arbeiterbewegung, eines war russischen Ursprungs und ebenfalls nur ein einziges gehörte zu den neuen Liedern, die schon zu Zeiten der Weimarer Republik den Bedürfnissen der KPD (bzw. denen des KJVD) auf den ‚Leib‘ geschrieben worden waren. Die Feststellung, dass die neuen, von Kommunisten für Kommunisten geschriebenen Lieder kaum Widerhall in der KPD-Mitgliedschaft fanden, bestätigt auch Hagel-weide. Seiner Ansicht nach beschränkte sich „die Textkenntnis bei den

Zukunft zu erkämpfen.“ (ebenda, S. 257). Kaasch: Sozialstruktur, S. 1064.371 SAPMO-BArch RY1/I2/3/31, Bl. 20. Zu Text und Entstehung der einzelnen Lieder vgl.In-ge Lammel: Das Arbeiterlied, Leipzig 1980..

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 191

Erwachsenen [KPD-Mitgliedern] im wesentlichen auf die bekannten sozi-aldemokratischen und internationalen Gesänge“, so dass also die Verbindung zwischen den beiden Lagern der deutschen Arbeiterbewegung zumindest lied-technisch erhalten blieb.372

Eine neue Dimension in das in der KPD gesungene Liedgut brachten die nach der Deutschland-Tournee der russischen Agitprop-Truppe „Blaue Blusen“1927 entstandenen kommunistischen Agitprop-Truppen, deren erste und wohl auch bekannteste - das „Rote Sprachrohr“ des KJVD Berlin-Brandenburg - im Herbst 1927 gegründet wurde. Die Agitprop-Truppen brachten nicht nur eine neue Dar-stellungsform - eine Mischung aus überarbeiteten traditionellen Formen wie dem Sprechchor und aus Kabaretteinlagen - in die Kultur der deutschen Arbei-terbewegung ein, sondern auch zahlreiche Lieder, die sie für ihre Programme geschrieben hatten. Das bekannteste und wohl auch populärste dieser Lieder war der „Rote Wedding“, geschrieben nach der blutigen Unterdrückung der illegalen Demonstrationen am 1. Mai 1929 im Wedding durch die Berliner Polizei. „Der rote Wedding“ wurde damit gleichsam zur Hymne der linksradikalen Gene-rallinie, die der 12. Parteitag im Juni 1929 in den Weddinger Pharus-Sälen beschlossen hatte. Die Popularität dieses Liedes unter den KPD-Mitgliedern zeigt sich auch darin, dass das der KPD nahestehende Versandhaus Arbeiterkult zwischen 1929 und 1931 mehr als 40.000 Exemplare einer Schallplattenauf-nahme des „Roten Wedding“ verkauft haben soll. Auch dass der „Rote Wed-ding“ am 1. Juli 1931 gemeinsam mit anderen kommunistischen Liedern - dar-unter auch „Wir schützen die Sowjetunion“ und die „Warschawjanka“ - vom Berliner Polizeipräsidenten verboten wurde, weist auf seine Wirkung hin.373

4.1.4 Die Festkultur der KPDEs herrscht offenbar weitgehend Einigkeit in der Festforschung dahingehend, dass die Bedeutung von Feiern für die Angehörigen der Mitglieder sozialer Ge-bilde - also auch der Mitglieder der KPD - kaum überschätzt werden kann. Die Feier transzendiert den Alltag, strukturiert die Zeit, und vergewissert die Ange-hörigen von Organisationen der Richtigkeit ihrer Auffassungen und der Legi-timität ihrer Organisation und stattet sie mit Orientierung aus. Darüber hinaus ist die Feier der prominenteste Ort, um die Symbole der Organisation im Rahmen einer besonderen Atmosphäre noch einmal nachdrücklich emotional bei den

372 Hagelweide: Erscheinungsbild, S. 123. 373 Vgl. allgemein zu den Agitprop-Truppen: Bodek: Megaphone sowie die Memoiren des Leiters der Berliner Agitprop-Truppe „Kolonne Links“, Damerius: Meere. Werner Fuhr: Pro-letarische Musik in Deutschland 1928-1933, Göppingen 1977, S. 225 und S. 161. Richard Bodek: Communist Music in the Streets: Politics and Perceptions in Berlin at the End of the Weimar Republic, in: Larry Eugene Jones/James Retallack (Hg.), Elections, Mass Politics, and Social Changes in Modern Germany, Cambridge 1992, S. 267-286, hier: S. 281f.

192 4.1 Die Parteikultur

Teilnehmern zu verankern, und damit ein bestimmtes Bild der Organisation zu übermitteln und die Kohäsion der Mitgliedschaft zu stärken.374

Die gleiche Zwiespältigkeit, die die bisherigen Abschnitte zur Parteikultur wie ein roter Faden durchzogen hat - das Nebeneinander von Traditionen, den über-lieferten Anlässen und Formen aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewe-gung, und dem Versuch, eigene Wege einzuschlagen, indem man sich teils bei dem Fundus der Bol’ševiki bediente und teils neue Anlässe fand und neue Formen entwickelte - findet sich auch bei den Selbstinszenierungen der Partei durch Feiern und Feste.

Das zeigt sich schon an den drei bedeutendsten Feiern der Weimarer Kom-munisten, die sehr unterschiedliche historische Hintergründe und Wirkungen hatten:

• Die einzige genuine Feier der KPD war die Lenin-Liebknecht-Luxem-burg-Feier, die Mitte/Ende Januar abgehalten wurde. Sie hatte eine wenigstens implizite antisozialdemokratische Tendenz, als aus diesem Anlass immer wieder aufs Neue die Umstände, unter denen die beiden KPD-Gründer zu Tode gekommen waren, in den Mittelpunkt der Auf-merksamkeit gestellt wurden.

• Die Feierlichkeiten zur Wiederkehr des Jahrestags der Oktoberrevolution unterstrichen hingegen die Differenz zwischen den beiden großen Arbei-terparteien, was nicht zuletzt mit der zeitlichen Nähe zu den sozialdemo-kratischen Revolutionsfeiern Anfang November zusammenhing.

• Die für die ‚einfachen‘ Mitglieder der KPD aber nach wie vor wohl wichtigste Festivität war die traditionelle Maifeier. Sie blieb ein starkes Bindeglied zwischen den beiden Strömungen der deutschen Arbeiterbe-wegung, auch wenn die KPD-Führung versuchte, ihr nach und nach ein kommunistischeres Gepräge zu verleihen.

Im Schatten dieser drei wirklich großen Festveranstaltungen standen die folgenden weniger bedeutenden jedes Jahr reichsweit abgehaltenen Feiern:

• Der Internationale Frauentag, der um den 8. März abgehalten wurde.• Die Feiern in der zweiten Märzhälfte, die unter anderem im Bezirk

Ruhrgebiet von den traditionellen Gedenktagen für die Opfer der Revolu-tion von 1848, deren auch die Weimarer Sozialdemokraten einmal im Jahr gedachten, ganz oder teilweise umgewidmet wurden zu Gedenktagen für die Opfer des Kapp-Putsches und der Roten Ruhrarmee von 1920.

• Der Internationale Antikriegstag, der um den 1. August stattfand, und den man im Prinzip ebenfalls mit der Sozialdemokratie teilte

374 Vgl. allgemein Gebhardt: Fest; zur KPD Manfred Gailus: „Seid bereit zum Roten Oktober in Deutschland!“ Die Kommunisten, in: D. Lehnert und K. Megerle (Hg.), Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 61-88.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 193

Abgerundet wurde der kommunistische Festkalender schließlich durch die folgenden Veranstaltungen:

• Die nicht im jährlichen Turnus abgehaltenen Feiern wie etwa anlässlich runder Jahrestage der KPD-Gründung oder die Gründungsjubiläen einzel-ner Ortsgruppen.

• Die Feiern zu regionalen oder lokalen Anlässen, also zum Beispiel die Gedenktage für die lokalen oder regionalen ‚Märtyrer‘ der Partei oder die Fahnenweihen.

• Die Feierlichkeiten bei der Eröffnung der Reichsparteitage, die seit dem 8. Parteitag 1923 begangen und im Laufe der folgenden Parteitage immer weiter ausgedehnt wurden.

• Die Festivitäten der kommunistischen Nebenorganisationen, also die Ro-ten Tage des RFB und vor allem seine groß angelegten reichsweiten Pfingsttreffen sowie die Reichsjugendtage des KJVD.

Der kommunistische Festkalender bescherte also eine Vielzahl von Anlässen zum feiern. Ich will mich aber hier darauf beschränken, die Entwicklung der drei großen Feiern, die am besten dokumentiert sind, nachzuzeichnen und dabei ins-besondere das Augenmerk darauf richten, wie diese Feiern durchgeführt wurden, und wie sie auf ihr Publikum wirkten, so weit letzteres sich feststellen lässt.

4.1.4.1 Die Lenin-Liebknecht-Luxemburg-FeiernIm Januar 1921 wurden erstmals im größeren Maßstab Gedenkfeiern und -demonstrationen für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht durchgeführt.375 Ein Grund dafür mag die Absicht gewesen sein, die Partei, die soeben erst aus der Vereinigung der alten KPD und der linken USPD entstanden war, zusammenzu-führen und zusammenzufügen, und damit die neu entstandene Organisation auch mit einer eigenen Identität auszustatten.

Erst für die Zeit ab 1923 liegen interne Dokumente über die Durchführung der wichtigsten Gedenkfeier der KPD vor. Sie war zunächst nur der Erinnerung an die am 15. Januar 1919 ermordeten Führer der KPD, und dann ab 1925 auch dem am 21. Januar 1924 verstorbenen Wiederbegründer des Kommunismus, Lenin, gewidmet, und hieß daher ab 1925 parteiintern auch LLL-Feier. Die LLL-Feiern, für die etwa der Bezirk Westsachsen 1925 den Zeitraum vom 15.-21. Januar reserviert hatte, bestanden normalerweise aus einer Saalveranstaltung und einer Demonstration.

Für die reine Gedenkfeier wurde meist ein Saal angemietet, wie zum Beispiel der Städtische Saalbau Essen für die Feier des Unterbezirks Essen am 17. Januar 1931, oder der Sportpalast, das größte Berliner Veranstaltungsgebäude, in dem

375 Marie-Luise Ehls: Protest und Propaganda. Demonstrationen in Berlin zur Zeit der Weima-rer Republik, Berlin 1997, S. 96.

194 4.1 Die Parteikultur

die Leninfeier des Bezirks Berlin-Brandenburg am 21. Januar 1925 mit angeblich 20.000 Teilnehmern abgehalten wurde. Der bedeutendste Veran-staltungsort in Berlin aber war der Friedhof Friedrichsfelde, wo sich die Gräber von Luxemburg und Liebknecht befanden, und der schon früh Anlaufpunkt der Gedenkdemonstrationen war. Mit der Errichtung des von Ludwig Mies van der Rohe entworfenen Revolutionsdenkmals auf dem Friedhof Friedrichsfelde durch die Berliner KPD, das am 13. Juni 1926 enthüllt und am 11. Juli 1926 mit einer Massendemonstration eingeweiht wurde, bestand dort endlich die Möglichkeit, eindrucksvolle Feiern in einem entsprechenden Rahmen durchzuführen. Vor dem wuchtigen, aus ineinander verschachtelten Kuben bestehenden Klinkerbau-werk Mies van der Rohes, mit dem fünfzackigen Stern mit Hammer und Sichel und dem Fahnenmast an der Vorderseite, befanden sich die in den Boden einge-lassenen Tafeln mit den Namen Luxemburgs, Liebknechts, Franz Mehrings und Julian Marchlewskis sowie die von weiteren „Märtyrern“ der Berliner KPD un-ter anderem aus der Zeit des Januaraufstands von 1919 und des Kapp-Putsches von 1920, auf denen Kränze abgelegt werden konnten. Zu beiden Seiten der To-tentafeln war außerdem genug Platz, um wie etwa bei der Einweihungsfeier, ein eindrucksvolles Spalier von Fahnen tragenden Rotfrontkämpfern Aufstellung nehmen zu lassen. Die Gedenkfeiern in Friedrichsfelde trugen daher weniger den Charakter stiller Andachten, als den der kämpferischen Selbstinszenierung. Diese martialische Form des Gedenkens, die musterhaft für alle anderen Orte sein sollte, ließ sich außerhalb von Berlin kaum durchsetzen. Am 30. Dezember 1930 berichtete der Bochumer Polizeipräsident, dass die BL Ruhrgebiet nun „anscheinend auf zentrale Weisung hin“ verlangt habe, dass aus den bisher als „rührselige Totenfeiern“ gestalteten Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Feiern nun „wuchtige proletarische Kampffeiern“ werden.376

Neben diesen zentralen Feiern in Friedrichsfelde, an denen die Spitze der Partei neben den Berliner Spitzenfunktionären teilnahm, gab es in den anderen Verwaltungsbezirken Berlins und in den Vororten der Provinz Brandenburg eine ganze Reihe weiterer Gedenkveranstaltungen. Nach dem Tätigkeitsbericht der Agitprop-Abteilung der BL Berlin-Brandenburg kam der Bezirk im Januar 1926 auf insgesamt 15 LLL-Feiern. Im gleichen Jahr sollen im Bezirk Ruhrgebiet 1926 35 Veranstaltungen und 1928 im Bezirk Westsachsen 13 Feiern durchge-führt worden sein.377

Die LLL-Feiern waren opulent ausgestattete Events. Alles was zur Kultur der KPD gehörte, wurde aufgeboten: Fahnen und Transparente, Reden, Musik, Lie-der, Rezitationen und Aufführungen befreundeter Sport- und Gesangvereine. 376 Rundschreiben BL Berlin-Brandenburg vom 23.6.1926 (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/28, Bl. 47). Das Bild von der Einweihungsfeier am 13. Juni 1926 findet sich unter anderem auf Bildtafel 3 in Günther Hortzschansky u.a: Ernst Thälmann. Eine Biographie, Berlin (DDR) 1979, S. 304f. HStAD Regierung Düsseldorf 30673b.377 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 95. Kommission (Hg.): Revolution, S. 197. Bericht der BL Ruhrgebiet vom 12.2.1926 (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 143).

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 195

Die angeblich 1.800 Teilnehmer an der zentralen Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Feier des Bezirks Ruhrgebiet am 17. Januar 1931 sahen am Kopf des Saales eine Bühne, die mit den Büsten von Lenin, Liebknecht und Luxemburg sowie einem rot gefärbten Transparent mit der Aufschrift „Im Geiste Lenins, Liebknechts und Luxemburgs“ ausgeschmückt war. Die Feier wurde nach dem Vortrag einer Mu-sikkapelle mit dem dreifachen Gruß „Heil Moskau!“ - der ausgehend vom KJVD seine Kreise auch in der Partei gezogen hatte - und einer Gedenkrede des „Ruhr-Echo“-Redakteurs Erich Birkenhauer um 19 Uhr 40 eröffnet. Darauf folgten Rezitationen, Chorgesang, Werbeeinlagen für die gerade laufende Kam-pagne für die RGO und ihre Bergbaufiliale EVBD, und schließlich Darbie-tungen der Agitprop-Gruppe „Ruhr-Kometen“. Die Veranstaltung wurde um 23 Uhr durch das Schlusswort Birkenhauers mit dem gemeinsamen Absingen der „Internationale“ beendet.378

Parallel zu diesen Gedenkveranstaltungen wurden Demonstrationen durchge-führt. Mit der Fertigstellung des Geländes auf dem Friedhof Friedrichsfelde hatte die Berliner KPD endlich auch einen angemessen gestalteten Zielpunkt für ihre Demonstrationen. Daher wurden die Genossen aus den anliegenden Verwaltungsbezirken Friedrichshain und Lichtenberg durch das Rundschreiben der BL vom 18. Dezember 1926 dazu aufgefordert, am 16. Januar „in ge-schlossener Demonstration“ zur zentralen Gedenkfeier auf dem Friedhof Fried-richsfelde zu marschieren, während die anderen Berliner Verwaltungsbezirke Delegationen entsenden sollten, wobei natürlich immer eine möglichst große Zahl an Fahnen mitzubringen war. Nach dem gleichen Muster liefen auch die anderen Feierlichkeiten der Partei zweigleisig.379

4.1.4.2 Die Feiern der OktoberrevolutionDie besondere Brisanz der kommunistischen Feiern zum Jahrestag der Oktober-revolution von 1917 lag in der zeitlichen Nähe zu den Revolutionsfeiern der So-zialdemokraten. Dadurch war es den Kommunisten möglich, die aus ihrer Sicht „glorreiche russische der kläglichen deutschen Revolution kontrastiv“ gegen-überzustellen.380

Mit der Feier des Jahrestags der Oktoberrevolution feierte die KPD gleichsam auch den archimedischen Punkt ihrer Weltanschauung, den von Lenin ausge-arbeiteten (und dann auch beschrittenen) Weg des Sozialismus an die Macht und zur Durchsetzung seines Programms: die Partei der Berufsrevolutionäre, der be-waffnete Aufstand und die Diktatur des Proletariats, ‚vertreten‘ durch die kom-munistische Partei. Diese drei Punkte waren die unumstrittensten Aspekte der Parteiideologie. Die jährliche Begehung des Jubiläums der Oktoberrevolution war ein ganz entscheidender symbolischer Beitrag dazu, die Kommunisten daran

378 Bericht Polizeipräsident Essen vom 24.1.1931 (HStAD Regierung Düsseldorf 30673b).379 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/28, Bl. 97.380 Gailus: Kommunisten, S. 78.

196 4.1 Die Parteikultur

zu erinnern, welcher ihr politischer Weg war. Dies war vor allem daher unerläss-lich, weil die Kommunisten mit den Sozialdemokraten in vielen Bereichen des politischen Alltagslebens Berührungspunkte hatten und mit ihnen zusammen-arbeiten mussten oder wollten. Darüber hinaus dienten die kommunistischen Re-volutionsfeiern mehr noch als die LLL-Feiern auch der gegenseitigen Selbstver-gewisserung, als avantgardistische Minderheit allein die richtigen Konsequenzen aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung gezogen zu haben. Sie ver-mittelten den ‚einfachen‘ Genossen, für die die Oktoberrevolution „der leben-dige Beweis für die Richtigkeit ... des Leninismus“ war, dass nur sie über die einzig wahre wissenschaftliche Weltanschauung verfügten und statteten sie mit dem für viele offenbar unerlässlichen Superioritätsgefühl aus.381

Höhepunkt der alljährlich abgehaltenen Feiern zur Jahrestag der Oktoberrevolu-tion war natürlich die mit besonderem Pomp inszenierte Kampagne zum zehnten Jubiläum des Petrograder Putsches im Jahr 1927. An ihr lassen sich alle Facetten kommunistischer Festlichkeit aufzeigen, von der Planung durch die Parteifüh-rung bis hin zur Ausführung vor Ort.

Die ersten Gespräche über die Durchführung der Kampagne zum zehnten Jah-restag 1927 wurden schon mehr als sieben Monate vor dem Stichtag auf einer Sitzung des Polbüros des ZK am 30. März 1927 geführt, das eine Kommission zur Durchführung der Jubiläumskampagne einsetzte. Den vorläufigen Arbeitsplan der Kampagne „Zehn Jahre Sowjetunion“ beschloss das ZK auf sei-ner Sitzung am 1. April 1927. Spätestens im Juli 1927 waren auch die Vorbe-reitungen der Bezirksleitungen angelaufen. Gut einen Monat später war die Pla-nung auf Bezirksebene offenbar schon voll im Gange und die unteren Ebenen waren im Begriff, ebenfalls die Vorbereitungen in Angriff zu nehmen. Am 11. August 1927 etwa instruierte der Leiter der Agitprop-Abteilung der BL Berlin-Brandenburg, Horst Fröhlich, die zur Sitzung der engeren BL hinzugezogenen Pol- und Orgleiter der Verwaltungsbezirke über die Durchführung der Kampa-gne und gab ihnen den roten Faden dessen vor, was die Feiern und Veran-staltungen der Öffentlichkeit zu vermitteln hatten, nämlich die „ständige Besse-rung der Lebenslage der Arbeiter und Bauern in der S.U.“382

Im September 1927 begann die KPD-Führung dann damit, den ganzen Kreis von Produkten herstellen zu lassen, die während der Feierlichkeiten an den Mann und die Frau gebracht werden sollten. Dieses kommunistische Merchan-dising war ab etwa der Mitte der 1920er Jahre ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der Veranstaltungen der Partei. Von besonderer Bedeutung war das offizielle Abzeichen der KPD zum Jubiläum, der laufende Rotarmist aus 381 Franz Dahlem: Jugendjahre. Vom katholischen Arbeiterjungen zum proletarischen Revolu-tionär, Berlin (DDR) 1982, S. 563.382 Klaus Kinner: Marxistische deutsche Geschichtswissenschaft 1917 bis 1933, Berlin (DDR) 1982, S. 309f. SAPMO-BArch RY1/I3/10/113, Bl. 55. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/19, Bl. 332.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 197

Messingblech mit der Hammer-und-Sichel-Fahne am Seitengewehr zu einem Preis von 50 Pfennig. Hinzu kamen die Flugblätter. Die BL Pommern stellte den Ortsgruppen in ihrem Rundschreiben vom 19. September 1927 das Flugblatt vor, das unter der Überschrift „10 Jahre Sowjet-Union. 10 Jahre sozialistischer Aufbau in Rußland. 9 Jahre Hunger und Verelendung der werktätigen Massen, Arbeitermord und Justizterror in Deutschland“ für die zentrale Revolutionsfeier des Bezirks am 5. November 1927 in Stettin werben sollte. Zu den weiteren Me-dien der Jubiläumskampagne gehörte ein Lichtbildervortrag zum Thema, den die IAH - das heißt wohl Münzenbergs Medienkonzern - zusammengestellt hatte, und der unter anderem am 10. Oktober 1927 in Stettin gezeigt wurde, nachdem die BL Pommern schon in ihrem Rundschreiben vom 19. September den Orts-gruppen für ihre Werbearbeit den Vortrag samt Apparat und Vorführer angebo-ten hatte.383 Hinzu kamen die üblichen sowjetischen Filme. In Pommern wurden in der Frühphase der Kampagne im Oktober die Filme „Schwarzer Sonntag“ (über die russische Revolution von 1905), „Sein Mahnruf“ (eine filmische Lenin-Biographie) und natürlich der unvermeidliche „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergej M. Ejzenštejn gezeigt. Damit es bei den Veranstaltungen der KPD zum Jahrestag auch nicht an Literatur fehlte, zählte zum Beispiel das Sekretariat der BL Westsachsen in seinem Rundschreiben vom 24. September 1927 zehn Broschüren auf, die für diesen Zweck geeignet seien. Selbstverständlich brachte die AIZ eine Sondernummer zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution her-aus und das Zentralorgan der Partei, die „Rote Fahne“ führte am 30. März 1927 eine neue Rubrik unter dem Titel „Der Weg zum roten Oktober 1917. Vor 10 Jahren“ ein, in der sie die Ereignisse, die zum Oktoberaufstand führten, Revue passieren ließ. Die vom NDV in Zusammenarbeit mit russischen Autoren her-ausgegebene „Illustrierte Geschichte der Russischen Revolution 1917“ konnte aber nicht mehr pünktlich zum Jahrestag erscheinen.384

Spätestens Mitte Oktober 1927 waren denn auch größtenteils die Vorbe-reitungen an der Basis angelaufen. Am 20. Oktober 1927 trat zum Beispiel in Berlin noch einmal die engere BL mit den Pol- und Orgleitern der Verwaltungs-bezirke zusammen, um die bisherigen Planungen und Vorbereitungen zu disku-tieren. Mehr oder weniger alle 21 Verwaltungsbezirke berichteten davon, dass sie bereits öffentliche Veranstaltungen zur Werbung für die Kampagne teils als öffentliche Zellenversammlungen teils als Berichtsversammlungen von Russ-landdelegierten durchgeführt haben, oder dies noch vorhaben. Ebenfalls schon durchgeführt oder geplant waren in fast allen Verwaltungsbezirken Demonstra-tionen und Kundgebungen, die im 1. Verwaltungsbezirk Mitte in Form eines „Maskeradenumzug“ und im Verwaltungsbezirk 2a. Westen in Form eines Fa-383 Rundschreiben BL Pommern, 17.9.1927 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 239). SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 249 (Hervorhebung im Original). SAPMO-BArch RY1/I3/3/36, Bl. 6. SAPMO-BArch RY1/I3/3/20, Bl. 74.384 SAPMO-BArch RY1/I3/10/128, Bl. 44. SAPMO-BArch RY1/I3/10/128, Bl. 62. Kinner: Geschichtswissenschaft, S. 325.

198 4.1 Die Parteikultur

ckelzugs durchgeführt wurde bzw. werden sollte. Das weitere kulturelle Angebot bestand in einem Lichtbildervortrag im Verwaltungsbezirk Moabit, einer Filmvorführung über die Sowjetunion im Verwaltungsbezirk Prenzlauer Berg, der sich außerdem besonders um die Herstellung von Fahnen kümmerte, einer Ausstellung im Verwaltungsbezirk Neukölln, die von 2.000 Besuchern gesehen wurde, und der Produktion eines Flugblatts durch den Verwaltungsbe-zirk Pankow, das die Bewohner dazu aufforderte am Jahrestag zu flaggen.385

Die eigentlichen Festveranstaltungen, allein 28 Feiern mit 6.270 Teilnehmern meldete die BL Westsachsen in ihrem Bericht für den November 1927, waren dann neben den obligatorischen Demonstrationen - vor allem der Großdemons-tration im Berliner Lustgarten am 6. November 1927 mit angeblich 70.-80.000 Teilnehmern - nur noch formeller Höhepunkt und gleichzeitig Abschluss der Jubiläumskampagne. Ihre Ausgestaltung wird sich in den meisten Fällen kaum von dem oben schon beschriebenen Muster unterschieden haben.386

4.1.4.3 Die MaifeiernVon den LLL-Feiern und den Feiern zum Jahrestag der Oktoberrevolution unter-schieden sich die Feiern zum Ersten Mai in zwei Aspekten fundamental. Erstens zählten sie, seitdem die zweite Internationale auf ihrer Gründungsversammlung 1889 eine Arbeitsruhe für den 1. Mai 1890 beschlossen hatte, zu den fest verwurzelten Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung, und zweitens war die KPD nur selten der alleinige Veranstalter. Daher wurde immer wieder, und in den Jahren 1924/25 und 1928-1933 relativ konsequent, versucht, genau an diesem Punkt den Hebel anzusetzen. Die Begehung des Ersten Mai in der Weimarer Republik ist daher ein guter Indikator für die jeweiligen Beziehungen zwischen den beiden großen Arbeiterparteien vor Ort.

In den ersten Jahren übernahmen die Genossen an der Basis offenbar ohne jede Bedenken die Formen, mit denen die Älteren unter ihnen in der SPD im Kaiserreich groß geworden sind. Sie demonstrierten am Morgen gemeinsam mit den Sozialdemokraten und besuchten am Abend auch gemeinsam mit diesen die Festveranstaltungen, die normalerweise vom örtlichen Gewerkschaftskartell durchgeführt wurden. Gemeinsame Feiern lassen sich jedenfalls für das Jahr 1922 in den Bezirken Pommern und Westsachsen nachweisen.387

Ein Jahr später war die Situation schon unübersichtlicher. Die selbstbewusste linke Berliner Bezirksleitung war von vornherein darauf aus gewesen, mit sym-pathisierenden Organisationen aus dem Berliner Arbeitermilieu eine eigene Demonstration durchzuführen. Auch in Westsachsen und in Pommern kam es vereinzelt zu Sonderveranstaltungen der KPD am Abend, so in den westsäch-

385 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/19, Bl. 459.386 SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 148. Kinner: Geschichtswissenschaft, S. 323.387 Bericht des Sekretärs der BL Pommern für den Mai 1922 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 10). Bericht BL Westsachsen für Mai 1922 (SAPMO-BArch RY1/I3/10/115, Bl. 32).

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 199

sischen Unterbezirken Meuselwitz und Wurzen und in der Stadt Leipzig, wäh-rend in den meisten Ortsgruppen des Unterbezirks Borna und des Unterbezirks Leipzig die Kommunisten gemeinsam mit den Sozialdemokraten feierten. In Stettin waren wohl das Ortskartell und die SPD gegen eine gemeinsame Demonstration, so dass eine eigene Demonstration der KPD hinter Sowjetfahnen zum wiederum gemeinsamen Kundgebungsort führte.388

Drei Hauptfaktoren haben letztlich das lokale Verhältnis zwischen den beiden großen Parteien des proletarischen Lagers und damit die Durchführung der Mai-veranstaltungen geprägt. Erstens wurde ihre Beziehung durch die Art und Weise bestimmt, wie die Spaltung der örtlichen Arbeiterbewegung zwischen 1917 und 1920 vollzogen wurde. Dabei spielten zum Teil auch noch ältere Konflikte zwi-schen den führenden Köpfen eine gewisse Rolle, die ja zumeist vor 1917 einer gemeinsamen Partei angehört hatten. Zweitens wurde das lokale Verhältnis zwi-schen Kommunisten und Sozialdemokraten dadurch beeinflusst, wie die Mehr-heitsverhältnisse vor Ort in Bezug auf die Mitglieder- und die Wählerzahl be-schaffen war, und damit in welchem Maße die Kommunisten in das lokale Arbeitermilieu integriert waren. Eine KPD-Ortsgruppe als Mehrheitsorganisati-on der lokalen Arbeiterbewegung konnte unter bestimmten Umständen dazu neigen, ihre Machtpositionen im Gewerkschaftskartell dazu auszunutzen, die so-zialdemokratische Minderheit von der Maifeier auszuschließen. Eine KPD-Orts-gruppe, die eine verschwindende Minderheit der lokalen Arbeiterbewegung dar-stellte, demonstrierte und feierte hingegen mit großer Wahrscheinlichkeit für sich allein, da sie durch ihre Schwäche und die damit verbundene geringe Aus-sicht, jemals eine Mehrheit für sich gewinnen zu können, keine Kompromisse machen musste. KPD-Ortsgruppen, die zwischen diesen beiden Extremen standen, nahmen in den meisten Fällen an den gewerkschaftlichen Demonstra-tionen teil, und feierten oft auch gemeinsam mit den Sozialdemokraten. Drittens schließlich wurde das lokale Verhältnis von KPD und SPD natürlich durch die Kommunalpolitik in der Weimarer Republik geprägt, vor allem wenn ein sozi-aldemokratischer Bürgermeister oder ein sozialdemokratisch dominierter Stadtrat Entscheidungen traf, die Konfliktstoff mit den Kommunisten schufen.

Im Jahr 1925 gab es den ersten groß angelegten Versuch der Parteiführung, in die Gestaltung der Demonstration und der Maifeier einzugreifen. Die von Ruth Fischer und Arkadij Maslow geleitete Zentrale wies die Bezirke an, auf keinen Fall zuzulassen, dass die Ortsgruppen an den gemeinsamen Abendveran-staltungen mit den Sozialdemokraten teilnahmen. Sie sollten außerdem, wenn möglich, auch eigene Demonstrationen durchführen. Das Rundschreiben der Agitprop-Abteilung der BL Pommern vom 9. April 1925 wies die Ortsgruppen

388 Mitteilungsblatt BL Berlin-Brandenburg, 6.4.1923 (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 90). Sitzung BL Westsachsen 21.4.1923 (SAPMO-BArch RY1/I3/10/112, Bl. 37). Sitzung Bezirksausschuss Westsachsen 22.4.1923 (SAPMO-BArch RY1/I3/10/111, Bl. 13). Poli-tischer Bericht BL Pommern [nach 27.5.1923 erschienen] (SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 34).

200 4.1 Die Parteikultur

daher an, auf jeden Fall eigene Abendveranstaltungen durchzuführen. Leider ist das Quellenmaterial wiederum nicht dicht genug, um zu ermitteln, welche Aus-wirkungen die Anweisungen der Zentrale hatten. Es hat aber den Anschein, als reichte ihr Arm gerade einmal in die Hauptorte der Bezirksparteien. Dort be-mühten sich die Bezirksleitungen energisch darum, die Anweisungen von ‚oben‘ umzusetzen, während die Genossen in der Provinz sich damit schwer taten, alt-gewohnte Muster abzulegen. Daher kam es zwar in Leipzig zu einer eigenen Demonstration der KPD am 1. Mai, aber unter anderem in Nerchau und Trebsen, sowie in Pegau, wo die KPD nahezu so stark war wie die SPD und der Vorsitzende des ADGB-Ortskartells ein Kommunist war, wurde immer noch ge-meinsam demonstriert.389

Nach Antritt der neuen Parteiführung unter Thälmann und auf Druck der KI bewegte sich die KPD wieder etwas auf die SPD zu. Da das ZK Spitzenverhand-lungen auf Bezirksebene zwischen der KPD und dem ADGB über die Durchfüh-rung gemeinsamer Demonstrationen prinzipiell wieder zuließ, wurde der Fokus auf ein anderes Feld verschoben - das der Symbole. Gemeinsame Abendveran-staltungen waren allerdings weiterhin tabu. In der folgenden dreijährigen Phase lagen die Gründe für das Scheitern von gemeinsamen Demonstrationen zumeist darin, dass die ADGB-Ortskartelle die Bedingungen der KPD-Ortsgruppen, die diese auf Anweisung der Parteiführung zu stellen hatten - das Mitführen eigener Fahnen und Transparente sowie der Auftritt eigener Redner - nicht zu akzep-tieren bereit waren.

Dazu ein paar Beispiele aus dem Bezirk Pommern. In Stettin - wo die KPD bei den Reichstagswahlen am 7. Dezember 1924 9,43 und die SPD 33,41 Pro-zent der Stimmen geholt hatte - kam es zu keiner gemeinsamen Demonstration. Laut Rundschreiben der BL vom 14. April 1926 war der ADGB gegen ein „re-volutionäres Gepräge“ der Maidemonstration gewesen. In Falkenburg (KPD 15,11, SPD 20,79 Prozent) und Stargard (KPD 11,00, SPD 22,21 Prozent) konn-te die KPD ihre Bedingungen durchsetzen. Auch in Köslin (KPD 5,58, SPD 30,29 Prozent), wo die KPD das Ortskartell dominierte, und in Torgelow (KPD 33,65, SPD 19,14 Prozent) gab es gemeinsame Kundgebungen. In Köslin und Torgelow haben die KPD-Ortsgruppen entweder ihre Bedingungen überhaupt nicht gestellt, oder waren nicht dazu bereit gewesen, sie auch durchzusetzen. Der renitenten Ortsgruppe Köslin (vgl. Abschnitt 3.1.2) wurde im Bericht der BL Pommern für den Zeitraum vom 19. März bis zum 4. Mai 1926 außerdem ein besonderer Rüffel zuteil, da sie „trotz des Verbots der Partei ... ein Tanzver-gnügen veranstaltet“ hatte. Dabei hatte die BL Pommern doch im Rund-schreiben vom 14. April den politischen Charakter der Festveranstaltung noch einmal klar hervorgehoben: „Wann werden endlich unsere Genossen lernen, daß der 1. Mai ein Kampftag und kein Tanztag ist.“ Auch die BL Ruhrgebiet prangerte in ihrem Rundschreiben vom 20. Mai 1926 verschiedene politische 389 SAPMO-BArch RY1/I3/3/36, Bl. 3. Bericht Orgbüro BL Westsachsen über 1. Mai (SAP-MO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 146).

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 201

Fehler einiger Ortsgruppen an, die entweder darauf verzichtet hatten, die be-kannten Bedingungen zu stellen, und gern ohne eigene Fahnen und Redner mit demonstriert hatten, oder - wie in einem nicht namentlich genannten Ort - aus Anlass des 1. Mai sogar einen Nichtangriffspakt mit der lokalen SPD ge-schlossen hatte.390

Damit solche Vorkommnisse wie 1926 im Jahr darauf nicht wieder passierten, wies die BL Ruhrgebiet schon in ihrem Rundschreiben vom 15. Februar 1927 die Genossen darauf hin, dass sie keinerlei Einschränkungen in Bezug auf kom-munistische Parolen, Fahnen und Redner dulden sollen. Die Verstöße der Orts-gruppen hörten dennoch nicht auf. Im pommerschen Bezirksvorort Stettin trugen die kommunistischen Mitglieder des ADGB-Ortskartells 1927, offenbar ohne ir-gendwelche Bedingungen zu stellen, eine gemeinsame Demonstration mit.391

Auch im Jahr 1928 wurden die Funktionäre der Ortsgruppen sehr früh darauf hingewiesen, in den kommenden Verhandlungen darauf zu beharren, ihre Fahnen mitzuführen und eine Beteiligung des RFB in Uniform durchzusetzen, wie es im Rundschreiben der BL Westsachsen vom 2. März 1928 hieß. In Leip-zig versuchte die BL Westsachsen mit aller Macht eine gemeinsame Kundge-bung durchzuführen. Bislang war dies durch die linke SPD, welche die örtliche Arbeiterbewegung dominierte, verhindert worden. Schon nach dem Mai 1927 wurden zu diesem Zweck Unterschriften in Betrieben, Gewerkschaften und anderen Arbeiterorganisationen gesammelt, wie es in einem Brief der BL an das ZK vom 2. April 1928 heißt. Der moderate Polleiter Georg Schumann konnte sich sogar gemeinsame Abendveranstaltungen vorstellen. Diese Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt, da SPD und ADGB eine Einladung der KPD zu einem Gesprächstermin nicht wahrnahmen und das Ortskartell am 29. März 1928 eine Beteiligung der KPD an der Demonstration ablehnte. Die Leipziger KPD musste doch wieder eine eigene Demonstration auf die Beine stellen.392

Laut Gesamtbericht der BL über die Maifeiern vom 28. Juni 1928 hat die westsächsische KPD in 11 Orten gemeinsam mit dem ADGB und der SPD demonstriert (unter anderem in Beucha, Colditz, Eythra, Oschatz, Pegau und Riesa). In 15 Gemeinden hat sie eigene Demonstrationen durchgeführt (unter anderem in Altenburg, Borna, Grimma, Markranstädt, Meuselwitz, Taucha, Wurzen und Zwenkau). Der Vergleich der Gemeinden in beiden Gruppen nach den Wähleranteilen der KPD bei den Reichstagswahlen vom Dezember 1924 - über sieben Gemeinden mit gemeinsamen Kundgebungen und elf mit eigener KPD-Demonstration liegen lokale Wahlergebnisse vor - hilft bei der Ursachen-forschung. In beiden Gruppen findet sich je eine Gemeinde, in der die KPD die

390 SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 117. SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 117. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/16, Bl. 37.391 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/16, Bl. 56. SAPMO-BArch RY1/I3/10/113, Bl. 15. Sitzung BL Pommern 25. Mai 1927 (SAPMO-BArch RY1/I3/3/14, Bl. 63).392 SAPMO-BArch RY1/I3/10/128, Bl. 100. SAPMO-BArch RY1/I3/10/129, Bl. 98f.

202 4.1 Die Parteikultur

Mehrheitspartei im proletarischen Lager war (Pegau bzw. Rötha). Auffällig ist aber vor allem, dass die beiden Arbeiterparteien in den Gemeinden mit den ge-meinsamen Demonstrationen wesentlich weniger Wähler hatten als in den anderen Gemeinden (Durchschnitt 26,17 bzw. 38,99 Prozent). Der Anteil der KPD-Stimmen an den Stimmen der SPD war in der ersten Gruppe ebenfalls niedriger als in der zweiten (Durchschnitt 29,24 bzw. 36,92 Prozent). Das hieße also, auch wenn diese Gemeindeauswahl nicht repräsentativ ist, dass es der KPD in Gemeinden mit einer starken Arbeiterbewegung, in denen sie vom Wähleran-teil her kaum hinter der sozialdemokratischen Mehrheitspartei zurückstand, schwerer fiel, mit dem Ortskartell zu einer Einigung zu kommen, als in anderen.393

Trotz der frühen Hinweise durch die BL verzichteten auch in diesem Jahr viele KPD-Ortsgruppen darauf, Bedingungen zu stellen. In Geithain etwa hatten die das Ortskartell beherrschenden Genossen den Wunsch der Sozialdemokraten nach einer Nichtbeteiligung des RFB ohne weiteres akzeptiert. Auf Druck der BL versuchten die Geithainer Kommunisten dann noch nachträglich, eine Betei-ligung des RFB in Uniform durchzusetzen. Dies führte aber nur dazu, dass die SPD aus dem gemeinsamen Maikomitee austrat und an der Demonstration nicht teilnahm.394

Auch in der Hauptstadt Berlin demonstrierten am 1. Mai Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam. Hier bestand für die KPD das Hauptproblem dar-in, dass die angeblich 15.000 Kommunisten, die die große Mehrzahl der Trans-parente mit sich führten, angesichts einer Zahl von angeblich 500.000 Teil-nehmern kaum wahrnehmbar gewesen sein sollen. Aus Oberschlesien ist schließlich noch zu vermelden, dass die Ortsgruppe Ratibor, so jedenfalls be-richtete der Instrukteur Otto Walter in seinem Brief vom 29. Mai 1928, in den Verhandlungen mit dem ADGB-Ortskartell auf Fahnen, Transparente und Red-ner verzichtet, und sogar den Maiaufruf des ADGB ohne jeden Änderungsantrag unterschrieben hatte.395

Das Jahr 1929 brachte eine erneute Kehrtwende der Politik der KPD in Bezug auf die Maifeiern. Die Ortsgruppen sollten nun wieder auf jeden Fall eigene Demonstrationen durchführen. Von noch größerer Bedeutung waren aber die Mai-Ereignisse in Berlin. Ein großer Teil der Forschung schreibt ihnen eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung der Sozialfaschismus-Theorie innerhalb der KPD-Mitgliedschaft zu. Am 13. Dezember 1928 hatte der Berliner Polizeiprä-sident Karl Zörgiebel angesichts der grassierenden politischen Gewalt auf den Straßen sämtliche Versammlungen und Demonstrationen im Freien verboten. Die Berliner KPD-Führung entschied sich auf Druck von seiten junger militanter

393 SAPMO-BArch RY1/I3/10/129, Bl. 121.394 SAPMO-BArch RY1/I3/10/129, Bl. 119ff.395 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/26, Bl. 282. SAPMO-BArch RY1/I3/6/13, Bl. 237.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 203

Berliner KPD-Mitglieder nach einigen Bedenken letztlich doch dafür, zu Stra-ßendemonstrationen am ersten Mai aufzurufen. Am 21. Februar 1929 beschloss die engere BL mit den Vorbereitungen dazu zu beginnen. Zwar scheiterte der Aufruf der KPD, eine Massenmobilisierung konnte nicht erreicht werden. Es kam aber zu kleineren Demonstrationszügen, die von der Polizei sofort mit Ge-walt aufzulösen versucht wurden. Um der Polizei den Einzug in den Kiez zu verwehren, errichteten aufgebrachte Jugendliche in der Kösliner Straße im Wed-ding und in der Hermannstraße in Neukölln Barrikaden, woraufhin die Polizei Panzerwagen gegen die Demonstranten einsetzte. Am Abend des 1. Mai 1929 wurden 9 tote und 63 schwer verletzte Zivilisten sowie 25 bis 30 verletzte Poli-zisten gezählt. Die Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und der Poli-zei setzte sich noch drei weitere Tage fort, so dass die Schlussbilanz am 4. Mai 1929 sich auf über 30 Tote und 194 Verletzte belief.396

Die KPD-Führung machte sich sofort an die propagandistische Arbeit, den so genannten Blutmai zur entscheidenden Zäsur hoch zu interpretieren. Schon auf der Sitzung der erweiterten BL Westsachsen am 28. März 1929 hatte der neue Polleiter Rudolf Renner behauptet: „Die Maidemonstration in Berlin wird den ersten Zusammenprall geben zwischen der revolutionären Bewegung des Prole-tariats und den Mächten der Reaktion.“ In dieses Horn stieß auch das Flugblatt, das das ZK am 2. Mai 1929 herausbrachte. Es schloss mit dem Aufruf:

„Arbeiter, Klassengenossen, Arbeiterfrauen! (...) Nehmt in allen Betrieben unverzüglich Stellung! Wählt Aktionsausschüsse! Beschließt den politischen Massenstreik gegen Arbeitermörder! (...) Nehmt den Kampf in der geschlossenen, eisernen, unbeirrbaren Phalanx der proletarischen Klasse, in unzerstörbarer Einheitsfront gegen die Arbei-termörder auf!“

Aber der Aufruf verpuffte nahezu wirkungslos. In ihrem Bericht über die Maiereignisse von Anfang Juli 1929 musste die Orgabteilung der BL zugeben, dass insgesamt nur 7.090 Arbeiter in 38 Betrieben und 10.492 Arbeiter auf 41 Baustellen gestreikt hätten.397

Noch schlimmer war wohl für das ZK und die Berliner BL, dass nicht einmal alle Betriebe, in denen Kommunisten politisch die Oberhand hatten, in den Aus-stand getreten waren. Die Betriebszelle der KPD in der Elektronikfirma Lorenz in Berlin-Tempelhof hatte sich zum Beispiel geweigert, über einen Streik auch nur abstimmen zu lassen.

396 Vgl. Thomas Kurz: Arbeitermörder und Putschisten. Der Berliner „Blutmai“ von 1929 als Kristallisationspunkt des Verhältnisses von KPD und SPD vor der Katastrophe, in: IWK 3/1986, S. 297-317. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/20, Bl. 257. Rosenhaft: Fascists, S. 34.397 SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 566. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/72, Bl. 41. Die Zahl der Berliner Betriebe in Industrie und Handwerk belief sich nach der Volkszählung von 1925 auf 137.110 und die Zahl ihrer Beschäftigten auf 1.015.230 (Berthold Grzywatz: Arbeit und Bevölkerung im Berlin der Weimarer Zeit. Eine historisch-statistische Untersuchung, Berlin 1988, S. 356).

204 4.1 Die Parteikultur

„In dem Betrieb Ambibud (15. Verw.Bez. [Treptow]) sabotierte der einflußreichste KPD.-Genosse des Betriebs die Losung der Arbeitsruhe, trotzdem die Stimmung der Belegschaft ganz offen dafür war. In Gesprächen führte er aus, daß er ,die Opfer nicht einsehe‘.“

Im Verwaltungsbezirk Lichtenberg wurden in fünf Betrieben, die die KPD be-herrschte, keine Betriebsversammlungen durchgeführt, obwohl es mit den Ge-nossen vereinbart worden war, und vom kommunistischen Betriebsratsvor-sitzenden der Firma Aceta (Lichtenberg) wurde die Verwaltungsbezirksleitung von einer einberufenen Betriebsversammlung nicht benachrichtigt, „um einen Streikbeschluß zu verhindern.“398

Was die eigentlichen Maidemonstrationen betrifft, so meldete die BL Ruhrge-biet in ihrem Bericht vom 29. Mai 1929, dass die wieder stärker auf die Sepa-rierung der beiden Lager der Arbeiterbewegung setzende Linie der Partei mit Ausnahme einiger kleinerer Orte, wo es zu gemeinsamen vom Ortskartell organisierten Kundgebungen und Abendveranstaltungen gekommen war, überall befolgt worden sei. Die KPD habe, so schloss sie, im Ruhrgebiet insgesamt 51 Demonstrationen mit 63.580 Teilnehmern durchgeführt.399

Bei dieser Politik der getrennten Wege blieb es schließlich bis zum Ende der Weimarer Republik, auch wenn es der KPD-Führung nie gelang, die Durchfüh-rung eigener Demonstrationen und ihr Tanzverbot flächendeckend durchzu-setzen.

4.2 Die Deutungsangebote der ParteiführungWie jede Partei, die ein effizientes und einheitliches Handeln ihrer Mitglieder anstrebt, musste auch die KPD Wege finden, um die Beschlüsse der Partei dem einzelnen Genossen zu vermitteln, ihn über aktuelle politische Ereignisse auf dem Laufenden zu halten, und ihre Sichtweise auf die allgemeine politische, so-ziale und wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands bei ihm zu verankern. Neben dem oben behandelten Bereich der kulturellen Integration im engeren Sinne, war die Parteipresse die wichtigste Säule dieser Bemühungen.

Ein Hauptproblem bei dieser Vermittlung von Informationen und Interpreta-tionsangeboten war die ‚präkommunistische‘ Persönlichkeit der Parteimitglie-der. Der individuelle Kommunist trat natürlich keineswegs als black box in die Partei ein, als Mensch, der nur im Sinne der einzig wahren wissenschaftlichen Weltanschauung des Proletariats zu programmieren war. Er brachte hingegen schon eine ganze Reihe mehr oder weniger fest gefügter Wertvorstellungen mit in die Partei, die ihn während seiner Sozialisation in der Familie, in der Schule, im Freundeskreis, in der Lehre oder am Arbeitsplatz und vielleicht noch beim

398 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/72, Bl. 52f.399 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/28, Bl. 158.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 205

Militär geprägt hatten. Außerdem verfügte er über sein ganz individuelles Bündel an Erfahrungen.

Des weiteren lebte der Adressat der Deutungsangebote der Parteiführung auch nicht im luftleeren Raum. Kommunisten, die einen Arbeitsplatz hatten, kamen im Betrieb mit Sozialdemokraten und den Sympathisanten anderer Parteien und Weltanschauungen in Berührung. Sie diskutierten mit ihnen in der Mittagspause, und mussten den Kopf für die politischen Fehler der Partei hinhalten. Ähnliches gilt für die Gewerkschaftsverbände und Vereine, denen Kommunisten ange-hörten. Da sie dort selten eine Mehrheit bildeten oder die Meinungsführerschaft hatten, konnte der ‚einfache‘ Genosse auch dort oft Auffassungen hören, die die Berichterstattung der Parteipresse konterkarierten. Die Deutungsangebote der Parteiführung waren vor einem solchen Hintergrund - im Unterschied zu denen der KPdSU-Führung in der Sowjetunion - also immer nur ein Angebot auf einem reichhaltigen Markt an politischen Informationen.

Der durchschnittliche Genosse ließ sich außerdem keineswegs widerspruchs-los auf das von den Agitprop-Apparaten ausgetüftelte Rezeptionsschema ein. Seine Lesepraxis zum Beispiel lag quer zu den Erwartungen der führenden Funktionäre. Schwebte Letzteren ein politisch vollkommen auf der Höhe der Beschlusslage befindlicher fleißiger Leser der Parteizeitungen, der Agitations-broschüren und der theoretischen Literatur vor, zog der real existierende Kom-munist die eher lockere „Arbeiter-Internationale Zeitung“ den meisten Partei-blättern und erst recht den von der Parteiführung herausgegebenen Zeitschriften vor. Die politischen Erziehungsangebote der Parteiverlage und das Studium theoretischer Werke nahmen eindeutig nur die letzte Stelle seiner Prioritäten ein.

Alptraum aller höheren Funktionäre und gleichzeitig das durch keinen Volun-tarismus aus der Welt zu schaffende Haupthindernis bei der Vermittlung der Parteibeschlüsse und Interpretationsangebote der Parteiführung aber war der be-scheidene Bildungshintergrund der Mitgliedschaft, die fast vollständige Domi-nanz der Volksschüler (vgl. Abschnitt 2.4.1). Wahrscheinlich war die große Mehrheit der Mitgliedschaft einigermaßen in der Lage, die Entwicklung der Partei und ihrer Politik halbwegs zu verfolgen und zu verstehen, sofern sie nur holzschnittartig genug kommuniziert wurde. Schon wesentlich schwieriger war die Vermittlung der unvermeidlich komplexen Details kommunistischer Politik. Die Parteipresse scheiterte bei ihren Bemühungen oft genug an dieser Barriere. Die Klagen darüber sind Legion.

4.2.1 Die Parteipresse4.2.1.1 Die TagespresseDie Forschung zur kommunistischen Parteipresse hat sich bisher vorrangig mit den Inhalten befasst, die von den Tageszeitungen der KPD vermittelt wurden. Auch zur Geschichte der wichtigsten Parteizeitungen gibt es einige kleinere Bei-träge. Die (offiziellen) Auflagenzahlen sind ebenfalls weitgehend bekannt. Was hingegen sehr fehlt, ist eine Untersuchung der Rezeption und damit der Reich-

206 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

weite der Deutungsangebote, die die Parteiführung auf diesem Weg zu ver-mitteln suchte.400

Die beste Übersicht über die Auflagenzahlen der „Roten Fahne“ - wie traditionell der sozialdemokratische „Vorwärts“ zugleich Parteiorgan und Tageszeitung des Berliner Bezirks - und der anderen vier Bezirksorgane findet sich im Bestand der für das Pressewesen der Partei zuständigen Agitprop-Abtei-lung des ZK (Tabelle 19). Sie zeigt, dass zwischen 1922 und 1929 die Auflagen-zahlen der meisten Zeitungen zunächst sanken und dann stagnierten. So hatte etwa die „Rote Fahne“ im April 1929 nur noch gut 80 Prozent der Auflage vom September 1921.

Tabelle 19: Auflage der Bezirksparteizeitungen 1922-1929Monat Rote Fahne Ruhr-Echo Oberschl. RF Sächsische AZ VolkswachtSept. 1921 37.700 14.100 11.000April 1922 25.000 18.100 5.000 11.640April 1923 31.000 40.000 2.500 9.224April 1924 40.000 27.450 1.500 9.749 3.100April 1925 30.000 30.230 2.000 11.304 2.500April 1926 35.000 31.147 1.990 10.746 3.390April 1927 36.319 30.971 10.493 2.780April 1928 32.319 30.315 12.000 3.220April 1929 30.343 26.550 11.387 2.917

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/707/117, Bl. 117f. (1926/27 Volkswacht mit Mecklenbur-gischer Arbeiterzeitung). September 1921 nach SAPMO-BArch RY1/I2/707/117, Bl. 24.

Interessante Aufschlüsse bringt ein Vergleich der Auflagenzahlen mit den abge-rechneten Mitgliederzahlen (vgl. Tabelle 7). Danach lag die Auflage der „Roten Fahne“ in den Jahren 1921-29 durchschnittlich nur bei 170 Prozent der Berliner Mitgliedschaft - und das obwohl sie das Zentralorgan der KPD war. Am weites-ten über den Kreis der Mitglieder hinaus reichte der Leserkreis in Oberschlesien, wo die Auflage des Bezirksorgans 360 Prozent der Mitgliederzahl erreichte. Den statistisch geringsten Einfluss auf Nichtmitglieder hatte die „Sächsische Arbei-

400 Vgl. Karl-Egon Lönne: Thesen zum publizistischen Tageskampf der KPD gegen den Fa-schismus. Die „Rote Fahne“ - Zentralorgan der KPD, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marx-schen Theorie 6, Frankfurt am Main 1976, S. 242-291; Manfred Brauneck (Hg.): Die Rote Fahne. Kritik, Theorie, Feuilleton 1918-1933, München 1973;Koszyk, Kurt: Die Rote Fahne (1918-1923), in: Heinz-Dietrich Fischer (Hg.), Deutsche Zeitungen des 17.-20. Jahrhunderts, Pullach 1972, S. 391-399; Bernd Sambale: Zum Beitrag des „Ruhr-Echos“ für die Durch-setzung einer marxistisch-leninistischen Massenpolitik im KPD-Bezirk Ruhrgebiet in den Jah-ren 1926 bis 1928, in: ZK der SED, Akademie für Gesellschaftswissenschaften, Rektorat, Be-reich Forschung, Abteilung Information und Dokumentation (Hg.), Forschungen zur Ge-schichte der deutschen Arbeiterbewegung. Folge 3, Berlin (DDR) 1988, S. 6-18.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 207

terzeitung“, die im Durchschnitt auf 123 Prozent der Mitglieder kam. Die Bezir-ke Ruhrgebiet und Pommern lagen bei ihren Tageszeitungen mit 291 und 208 Prozent dazwischen.

Tabelle 20: Vertrieb der „Roten Fahne“, Morgenausgabe vom 31.1.1921Vertriebsweg Exemplare Anteil (%)Berliner Abonnenten 18.253 42,45Berliner Händler/Kioske 10.932 25,42Archiv/Freiexemplare 5.508 12,81Auswärtige Händler/Bahnhofsbuchhandel 4.354 10,13Post-Abonnenten 3.839 8,93Streifband-Abonnenten 114 0,26Gesamt 43.000 100,00

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/704/19, Bl. 47

Was steckt nun hinter diesen Auflagenzahlen? Wer las überhaupt die kommunis-tischen Tageszeitungen? Nach der Aufstellung des Verlags der „Roten Fahne“ für die Morgenausgabe vom 31. Januar 1921 (Tabelle 20) gingen 18.253 Exem-plare an die Berliner Abonnenten und weitere 3.953 Exemplare an die Abonnenten außerhalb Berlins. Es wurden also nur 51,64 Prozent der Auflage an Abonnenten verkauft, von denen sicherlich der Großteil eingeschriebene Mit-glieder waren. Überraschend ist die äußerst geringe Zahl an Abonnenten der „Roten Fahne“ außerhalb Berlins. Das Zentralorgan der Partei spielte offenbar für die große Mehrheit der Mitglieder außerhalb der Reichshauptstadt fast keine Rolle. Möglicherweise lag das zum Teil daran, dass die KPD zum Stichtag ge-rade erst achteinhalb Wochen vereint war, und es seine Zeit brauchte, um auch die ehemaligen Unabhängigen Sozialdemokraten zu „Rote Fahne“-Abonnenten zu machen. Dagegen sprechen die Vergleichszahlen der Morgenausgabe vom 31. Juli 1921 aus derselben Quelle. Danach haben zwar 19.787 Abonnenten in Berlin 49,97 Prozent der Auflage von 39.600 abgenommen, aber nur noch 3.566 (9,00 Prozent) Abonnenten außerhalb Berlins die Zeitung bezogen, also noch gut 400 weniger als ein halbes Jahr zuvor. Selbst wenn man von der Ausgabe vom 31. Januar 1921 alle Exemplare zusammenrechnet, die nicht an Berliner Abonnenten oder Zeitungshändler gingen, kommt man nur auf eine Zahl von 13.815 Lesern der „Roten Fahne“ außerhalb der Reichshauptstadt, die, abhängig von der Zahl der Remittenden, maximal 32,13 Prozent der Auflage gelesen haben. Vergleicht man diese Zahl mit der durchschnittlichen abgerechneten Mit-gliederzahl im ersten Halbjahr 1921 von 96.761 und subtrahiert davon die Zahl der Berliner Mitglieder, so lasen nur 17,13 Prozent der 80.661 abgerechneten

208 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

Mitglieder außerhalb Berlins das Zentralorgan der KPD, das von seiner Reich-weite im Jahr 1921 her diesen Titel kaum verdiente.401

Tabelle 21: Reichskontrolle 1928: Anteil der Abonnenten an der Mit-gliedschaftBezirk Abonnenten (%)Berlin-Brandenburg 74,60Ruhrgebiet 80,60Oberschlesien 76,66Reich 74,80

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 65-79.

Bisher waren einer Schätzung des Anteils der Mitglieder, die die Presse der Partei regelmäßig lasen, enge Grenzen gesetzt. Nun besteht erstmals Zugriff auf interne Zahlen über die Anteile der Abonnenten an der Mitgliedschaft, wie sie etwa 1928 durch die Reichskontrolle erhoben wurden (Tabelle 21). Anscheinend war es der KPD gelungen, in einem recht hohen Maße ihre Mitglieder dazu zu bewegen, die Presse der Partei zu abonnieren. Allerdings wurde, auch das ist of-fensichtlich, das äußerst anspruchsvolle Ziel der Parteiführung, wie es etwa im Statut von 1921 formuliert wurde, dass alle Mitglieder die Parteizeitung abonnieren, klar verfehlt. Interessant ist auch, dass die vorliegenden Angaben aus den drei Bezirken kaum signifikant vom Reichsdurchschnitt abweichen. Ein Bericht des ZK-Instrukteurs R. Schulze aus Oberschlesien vom 26. November 1928 lässt allerdings Zweifel aufkommen. In Oberschlesien, heißt es dort, habe das Bezirksorgan nur 1.221 Abonnenten, „60 % der Parteimitgliedschaft lesen nicht unser Parteiorgan.“402

Die kommunistische Tagespresse blieb ein publizistischer Fehlschlag und die Zeitungsverlage der Partei waren dauerhaft Zuschussbetriebe. Woran lag das? Der Anteil der Abonnenten an der Mitgliedschaft wurde vorrangig durch folgende Aspekte bestimmt: erstens durch die Regelmäßigkeit des Erscheinens, zweitens durch das Eingehen auf die Bedürfnisse der Genossen, drittens durch die Attraktivität der kommunistischen Tagespresse und viertens durch den Preis.

Die „Rote Fahne“ etwa war nach eigenen Angaben zwischen 1919 und 1926 und zwischen 1929 und 1932 insgesamt an 819 Tagen verboten. Allein im Jahr 1932 soll die „Rote Fahne“ nach Angaben der Org-Abteilung des Bezirks Ber-lin-Brandenburg vom 14. Januar 1933 an 165 von 247 möglichen Erscheinungs-401 Durchschnittliche abgerechnete Mitglieder im Reich im ersten Halbjahr 1921 (SAPMO-BArch RY1/I2/4/33, Bl. 234).402 Um das Bild noch zu vervollständigen, seien hier noch die Extreme der Bezirksangaben angeführt. Der Bezirk Baden-Pfalz hatte den höchsten Anteil der Abonnenten an der Mitglied-schaft mit 86,58 Prozent und der Bezirk Hessen-Waldeck mit 36,58 Prozent den niedrigsten. SAPMO-BArch RY1/I2/4/66, Bl. 155 (Hervorhebung im Original).

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 209

tagen verboten gewesen sein. Auch die Regelmäßigkeit des Erscheinens der anderen Bezirksorgane konnte die Partei nicht gewährleisten, weil sie nicht den politischen Preis für eine dauerhafte Legalität bezahlen wollte. Das „Ruhr-Echo“ konnte zum Beispiel Ende 1923 ein ganzes Vierteljahr lang nicht erscheinen.403

Dass einer Tageszeitung, deren regelmäßiges Erscheinen der Verlag nicht ga-rantieren kann, in der Verbotsphase die Abonnenten abspringen, dürfte nicht un-gewöhnlich sein. Die BL Berlin-Brandenburg schrieb in ihrem Bericht für das zweite Halbjahr 1926, dass in der vierzehntägigen Verbotsphase Ende Juli/Anfang August 700 Abonnenten die „Rote Fahne“ abbestellt hätten. Aber auch die eigenen Genossen nutzen solche Situationen, um sich der für einige läs-tigen Pflicht, ein Abonnement der Parteizeitung zu halten, zu entziehen. Das führte zu erboster Kritik durch die BL Berlin-Brandenburg in ihrem Rund-schreiben vom 5. September 1924: „Durch die vielen Verbote der R.F. [„Roten Fahne“] haben selbst Parteigenossen die R.F. abbestellt. Ist absolut unzulässig.“404

Der zweite Hauptgrund für KPD-Mitglieder, die eigene Tagespresse zu verschmähen, war inhaltlicher Natur. Viele Mitglieder hatten recht klare Vor-stellungen davon, was die Parteipresse schreiben sollte. Und sie waren auch dazu bereit, sie kurzerhand abzubestellen, falls sie diesen Erwartungen nicht ge-nügte. In dem Bericht der Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet vom 9. Febru-ar 1927 wird das am Beispiel der schon seit einiger Zeit grassierenden Differen-zen zwischen den Auffassungen der Parteiführung und denen vieler kommunis-tischer Väter und Mütter über die weltliche Schule aufgezeigt (vgl. Abschnitt 5.2.2.2):

„Wenn wir in der Zeitung einen Artikel schreiben, in der Linie der Partei zu der weltli-chen Schule, dann hagelt es gleich Zeitungsabbestellungen und unsere Genossen sagen, daß sie sich von der Partei ihre mühsam aufgebaute weltliche Schule nicht zerstören lassen.“

Ökonomisch gesprochen, waren die Genossen als Konsumenten offenbar durch-aus bereit, ihre Marktmacht notfalls auch zu einzusetzen, um die Parteiführung zu einer Modifikation ihres Produkts zu bewegen.

Viele Mitglieder verlangten außerdem von ihrer Presse, den Ereignissen vor Ort oder in der Region ausreichend Raum zu gewähren, und straften die Partei-redaktionen ab, wenn das nicht in dem erwarteten Maße geschah. Dies betraf insbesondere die beiden kleinen Bezirke Oberschlesien und Pommern. Sie konn-ten nicht genügend Abonnenten aufbieten, um durchgängig eigene Be-zirksorgane zu finanzieren, und verfügten daher während der meisten Jahre nur über Kopfblätter. Die „Oberschlesische Rote Fahne“ war ein Kopfblatt der

403 Brauneck: Fahne, S. 20. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/70, Bl. 149. Brief BL Ruhrgebiet an Zentrale (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/15, Bl. 3).404 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/23, Bl. 139. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 227.

210 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

Breslauer „Arbeiter-Zeitung“ und die pommersche „Volkswacht“ ein Kopfblatt der „Roten Fahne“.405

Mit dieser Situation war auch die BL Pommern unzufrieden. In ihrem Brief an die Zentrale vom 25. Juni 1925 kritisierte sie, dass sie „nur an 4 Tagen ein zweiseitiges Beiblatt, von dem noch 1/3 Seite für den Roman und ca. 3/4 Seite für Inserate abgehen“, sowie einmal wöchentlich eine vierseitige Beilage erhal-ten. Die Unzufriedenheit der pommerschen Mitglieder war allerdings noch wesentlich größer, weil ihnen ihr Bezirksblatt zu viele Berliner Meldungen ent-hielt. In Oberschlesien war es ähnlich, wie der ZK-Instrukteur Vogt auf der Sitzung der BL am 14. Januar 1928 feststellte. Der Beuthener Vertreter in der BL, Schweda, sagte dazu: „Bei Abbestellung hört man immer, Ihr macht in der Zeitung nur hohe internationale Politik, von Oberschlesien steht nichts drin.“ Und das BL-Mitglied Wilczok meinte auf der Sitzung der BL am 21. Juli 1925 sogar, eine Werbewoche für die „Oberschlesische Rote Fahne“ würde wenig Sinn machen, da die oberschlesischen Arbeiter sich bei ihren geringen Löhnen die Zeitung nur dann leisten würden, „wenn sie mehr Berichte [über Oberschlesien] bringen würde.“406

Der größte Mangel der kommunistischen Tagespresse aber war ihre be-scheidene Attraktivität. Schon Flechtheim hat aus eigener Erfahrung auf ihre „journalistische Dürftigkeit“ und die abschreckende Trockenheit ihrer „Thesen-phraseologie und Dogmensprache“ hingewiesen. Die Redakteure der Partei-zeitungen wie auch die hinter ihnen stehenden Funktionäre der Parteiführung weigerten sich zumeist beharrlich, die authentischen Bedürfnisse der Leser zum Maßstab ihrer Publizistik zu machen. Statt dessen nahmen sie sich, das selbst auferlegte Image der bolschewistischen Partei vor Augen, die ‚objektiven Inter-essen‘ des Publikums zum Maßstab, also die Bedürfnisse, die die Leser hätten haben sollen. Der vorgestellte Bolschewist war ein allem Oberflächlichen abge-neigter Asket, ein leidenschaftlicher Nur-Revolutionär mit wissenschaftlicher Weltanschauung, den außer Politik überhaupt nichts interessierte. Für ihn wurde die Tagespresse der KPD produziert.407

Angesichts der ausgeprägten Diskrepanz zwischen den vorgestellten und den authentischen Bedürfnissen der Leser war eine offizielle Gesamtauflage der mehr als zwanzig Tageszeitungen der KPD von 282.000 Exemplaren Ende 1926 ein beachtlicher Erfolg. Vergleicht man aber die Auflage der kommunistischen Tagespresse mit der Auflage der ungleich beliebteren Presseerzeugnisse aus Münzenbergs NDV erscheint dieser Erfolg allerdings höchst fraglich. Dort er-schien zunächst ab 1921 die Wochenzeitschrift „Arbeiter-Illustrierte Zeitung“, und ab 1926 auch die Berliner Boulevardzeitung „Welt am Abend“. Erstere

405 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/48, Bl. 31.406 SAPMO-BArch RY1/I3/3/19, Bl. 124. SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 103. SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 83.407 Flechtheim: KPD, S. 243.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 211

konnte ihre Auflage von 51.000 im Januar 1924 auf 251.000 Ende September 1927 verfünffachen und letztere soll 1928 eine Auflage von 174.000 erreicht haben. Es gab durchaus ein weit über die Mitgliedschaft und den engeren Sym-pathisantenkreis der KPD hinaus reichendes Massenpublikum für eine populär geschriebene linksradikale Tages- und Wochenpresse, das die Parteipresse aber mit ihrem trockenen phrasenhaften Verlautbarungsstil nur in Teilen zu erreichen vermochte.408

* * *

Wie aber dachten nun die Kommunisten wirklich über ‚ihre‘ Presse? 1924 wurde in Berlin eine äußerst interessante Erhebung durchgeführt. Der Anlass war, dass sich, wie Karl Grünberg in seinen Memoiren berichtet, bei der ersten Zusammenkunft der Arbeiterkorrespondenten der „Roten Fahne“ herausgestellt hatte, dass an der Basis eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Schreib-weise des Zentralorgans vorhanden war. Sie ließen daher in einigen Verwaltungsbezirken Umfragen bei der Leserschaft durchführen („Was denkt die Arbeiterschaft über die ,Rote Fahne‘?“). Die Genossen scheinen nur darauf gewartet zu haben, einmal nach ihrer Meinung gefragt zu werden, und nahmen kein Blatt vor den Mund. Die Ergebnisse dieser Umfrage - im proletarischen Originalton festgehalten - erlauben einen der seltenen Blicke an die Graswurzeln der Partei.409

Dem Abonnenten A., der kein eingetragenes Mitglied der KPD war, war die „Rote Fahne“ oft „etwas zu scharf“, ihre Hetze, meinte er, schrecke die Leser ab. Die Leserin B., die sie auf Verlangen ihres im KJVD organisierten Sohnes abonniert hatte, fand dass „viele Artikel, insbesondere die Leitartikel, außer-ordentlich schwer verständlich für wenig durchgebildete Arbeiter, insbesondere für die Arbeiterinnen sind“, und dass die „Rote Fahne“ kaum auf Alltagsdinge eingehe.

Kaum anders äußerten sich die befragten Parteimitglieder. Der Bauarbeiter L. hatte ebenfalls seine Probleme mit dem Verständnis der Artikel:

„Ich verstehe nur wenig von dem, was die Fahne schreibt; der größte Teil ist mir zu ge-lehrt. Bin nur einfacher Arbeiter - kann nicht begreifen, warum eine Arbeiterzeitung für Menschen schreibt, die sie gar nicht lesen. Oder glaubst Du etwa, daß die Intellektuellen die Fahne lesen? (...) Bringen große Berichte über Sachverständigen-Konferenzen, aber wenig über das Verhalten unserer Genossen im Reichstag. Und gerade das letztere inter-essiert die deutsche Arbeiterschaft, sie will nicht nur aus bürgerlichen Zeitungen erfah-ren, wie die kommunistische Fraktion das Proletariat vertritt, sondern von unserer Presse hören, wie die Dinge sich abspielen.“

408 Weber: Wandlung I, S. 273. SAPMO-BArch RY1/I2/707/132, Bl. 44 bzw. Bl. 142. Rolf Surmann: Die Münzenberg-Legende. Zur Publizistik der revolutionären deutschen Arbei-terbewegung 1921-1933, Köln 1983, S. 124.409 Karl Grünberg: Episoden, Berlin (DDR) 1980, S. 189.

212 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

Der Parteiveteran C. sagte, ihm würde es gefallen, wenn die „Rote Fahne“ vor allem für neue Mitglieder „einfacher und proletarischer“ schreiben würde. Er habe im Betrieb versucht, die Kollegen für die „Rote Fahne“ zu werben. Die aber hätten auf ihre Ehefrauen verwiesen, die es nicht zulassen würden, die „Berliner Morgenpost“ zugunsten der „Roten Fahne“ abzubestellen. Auch der Genosse H. hatte Schwierigkeiten mit seiner Frau, die sich die „Mottenpost“ von der Nachbarin auslieh, „und das nur deswegen, weil sie einmal gern wissen wollte, was außerhalb ihrer vier Wände vor sich ging“. Das gleiche Phänomen kannte auch ein 38jähriger Genosse, der als Abteilungsleiter arbeitete:

„Die Genossen haben allerdings manchmal innerhalb der Familie Streit wegen der Zeitung. Der Mann will die Rote Fahne. Die Frau will von dem ,Parteiquatsch und Ge-zänk‘ nichts wissen. Ich kenne Fälle, wo die Frau gegen den Willen des Mannes die ,Rote Fahne‘ abbestellt und die ,Morgenpost‘ abonniert hat.“

Ein Metalldreher, der seit zwei Jahren Mitglied der Partei war, bemängelte die unzureichende Aktualität der „Roten Fahne“ und ein mangelhaftes Eingehen auf die jeweils aktuellen konkreten Interessen der Arbeiter: „Erstens bringt sie meist Tagesneuigkeiten, die keine Neuigkeiten mehr sind, weil sie am Tage vorher schon in der bürgerlichen Presse standen. Zweitens bringt der Vorwärts gewerk-schaftliche Nachrichten stets früher, klarer und eingehender als die Rote Fahne.“ Außerdem fühlte er sich offenbar nicht ausreichend unterhalten, war ihm die „Rote Fahne“ zu trocken:

„Wenn ick mir z.B. det Acht-Uhr-Abendblatt vornehme, so kann ick vorne anfangen und hinten aufhören, ohne det se mir so sehr langweilich wird. Jede Seite bringt mir et-was Interessantet, Packendet. Det kann ick aber von der Roten Fahne beileibe nicht immer sagen. Ick habe da manchmal schon ne ganze Seite ieberschlagen. Woran det liegt? Ja det kann ick eijentlich selber nich recht sagen - ick kann mir nich so recht aus-drücken - sagen mir, se schmeckt mir manchmal zu sehr nach Mehlsuppe und die mach ich vorn Brot nich jerne essen. Et is manchmal zu viel, manchmal zu wenig, un manch-mal ieberhaupt ken Salz in den Pressekochtopp jetan.“

Ein kommunistischer Tischler, der keine „bürgerliche“ Zeitung in die Hand nahm, fand ebenfalls eine Menge auszusetzen: „Aber det muß ick sagen, jefallen dut se mir deshalb noch lange nich. Imma derselbige Quatsch, große Fresse, viel Jeschrei un wenig Wolle. Jroße Uffmachung für Faschistenparaden und so, un von Orjanisation der Jejenmaßrejeln keene Spur.“ Noch härter war ein junger Genosse: „Die Schreibweise ist Mist. Die Rote Fahne soll objektiv und prole-tarisch geschrieben werden.“410

Selbst wenn man insgesamt ein gewisses Maß berlinerisch-proletarische Hef-tigkeit bei der Kritik in Abzug bringt, war die „Rote Fahne“ nach Auffassung vieler Berliner Abonnenten, eine Zeitung, die man wohl kaum abonnieren würde, wenn man sich auf eine andere Weise authentisch über die Politik der KPD hätte informieren können, und wenn man seine durchaus von vielen emp-410 SAPMO-BArch RY1/I2/707/134, Bl. 30-49.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 213

fundene Verpflichtung gegenüber der Partei hätte anders erfüllen können. Die vom NDV herausgegebenen Publikationen waren - auch wenn viele Berliner Genossen der Meinung waren, ein Abonnement der attraktiveren „Welt am Abend“ wäre dem Bezug der „Roten Fahne“ gleichzusetzen - keine Alternative, da sie nicht als Parteizeitungen im Sinne der Beschlüsse galten und auch nicht in dem Maße über die Standpunkte der KPD berichteten wie die „Rote Fahne“. So gesehen, war der Anteil der Abonnenten an der Mitgliedschaft von gut drei Vierteln, entgegen dem ersten Eindruck, vielleicht sogar ein Zeichen für eine besondere, etwas masochistische Form von Parteidisziplin.411

* * *

Authentische Stimmen aus der Leserschaft zur Beurteilung der Parteipresse liegen leider aus anderen Jahren nicht vor. Es gibt aber andere Quellen, die dafür sprechen, dass die Qualität und die Lesbarkeit der Parteizeitungen auch später nicht wesentlich besser wurden. Im Januar 1926 fasste der Berliner Agitproplei-ter Horst Fröhlich einmal Vorschläge zur Verbesserung der „Roten Fahne“ zu-sammen, die dem ZK mitsamt dem Tätigkeitsbericht der Agitprop-Abteilung Mitte Februar zugesandt worden waren. Leider wird nicht klar, in welchem Maße Fröhlich hier Anregungen von ‚unten‘ aufgenommen hatte. Die Vorschlä-ge sprechen aber, liest man sie als Kritik, für sich. Der Hauptmangel war für Fröhlich folgender: „Die ,Rote Fahne‘ ist zu sehr Funktionärorgan, sie bringt zu wenig aus dem Arbeiterleben und zu wenig Arbeiterkorrespondenzen.“ Das Feuilleton, das gut über die Sowjetunion berichtete, war ihm „manchmal zu in-tellektuell“. Im Lokalteil fehlten die proletarischen Meldungen, der Wirt-schaftsteil war zu kompliziert geschrieben, und wegen der vielen Fremdwörter nur schwer zu lesen. Im politischen Teil waren die Artikel zu lang, und die Spra-che, obzwar besser geworden, immer noch zu wenig „auf den einfachen, nicht-kommunistischen Arbeiter zugeschnitten“. Auf einer Sitzung der Agitpropleiter der Berliner Verwaltungsbezirke zur Nachbereitung der Kampagne zum Volks-entscheid über die Fürstenenteignung im Oktober 1926 äußerte sich der Vertre-ter des 3. Verwaltungsbezirks Wedding dahingehend, dass die „Rote Fahne“ als Werbematerial ungeeignet sei: „Für uns ist die ,R.F.‘ schon zu langweilig, erst recht für Parteilose.“ Und auf der Sitzung der Berliner Bezirksleitung am 27. Fe-bruar 1927 meinte der Kreuzberger Funktionär Konrad: „Man soll die Rote Fahne wirklich zu einem Organ ausbauen, das den Arbeitern verständlich ist und klar aufzeigt, wie die Stellung der Kommunisten in den bestimmten Fragen ist.“412

411 Das „Merkblatt für die Mitglieder zur 3. Parteikontrolle“ (1929) der BL Berlin-Branden-burg stellte ausdrücklich fest, die „Welt am Abend“ oder das später gegründete Schwesterblatt „Berlin am Morgen“ „gelten nicht als Parteizeitungen“ (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/28, Bl. 196).

214 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

Das durch die mangelnde Attraktivität der Parteizeitungen bewirkte Desinter-esse in der breiten Öffentlichkeit aber auch bei vielen Genossen hätte vielleicht durch einen subventionierten politischen Preis aufgefangen werden können. Statt dessen aber waren die meisten Parteizeitungen - die Zwänge der Warenpro-duktion im Kapitalismus galten eben auch für die Parteiverlage - sogar teurer als vergleichbare Produkte. So war etwa das „Rote Fahne“-Kopfblatt des Bezirks Pommern, „Die Volkswacht“, laut Rundschreiben der BL vom 6. Mai 1927 30 Prozent teurer als alle anderen pommerschen Parteizeitungen. Im April 1928 wurde vom ZK-Sekretariat eine Erhöhung des Wochenpreises des „Rote Fahne“-Abonnements um zehn Pfennig für nötig erachtet. Die BL Berlin-Brandenburg war mit der Preiserhöhung im Prinzip einverstanden, verlangte aber, um nicht noch mehr Boden gegenüber der „Welt am Abend“ zu verlieren, in ihrem Brief an das ZK-Sekretariat vom 20. April 1928 den Preis für die „Welt am Abend“ ebenfalls um zehn Pfennig zu erhöhen: „Schon bei der heutigen Dif-ferenz von 10 Pfg. zwischen dem Abonnementspreis beider Blätter sind es eine ganze Reihe von Arbeitern, die deshalb die ,Rote Fahne‘ abbestellten und die ,Welt am Abend‘ lesen.“ 413

Die Lesegewohnheiten kommunistischer Arbeiter beschränkten sich nicht auf die tägliche Lektüre der Organe der Parteibezirksorganisationen - das wird in der Berliner Umfrage von 1924 ebenfalls klar. So las der oben schon erwähnte Parteiveteran C. an seinem Arbeitsplatz auch noch andere Zeitungen, die offen-bar zwischen den Kollegen herumgereicht wurden: „In der Werkstatt verfolge ich außer der Fahne den Vorwärts, Volkszeitung und die Morgenpost.“ Das glei-che galt auch für den Genossen Metalldreher, der ebenfalls zusätzlich den „Vor-wärts“ in die Hand nahm. Der Buchdrucker Genosse Poltier konnte sich zwar nicht vorstellen, etwas anderes als die „Rote Fahne“ zu abonnieren, las aber „auch andere Zeitungen zur Orientierung“. Der Oberpräsident der Provinz Westfalen ging in seinem Bericht vom 4. Februar 1925 davon aus, dass 80 Pro-zent der kommunistischen Betriebsarbeiter neben der Parteizeitung noch eine ‚bürgerliche‘ Zeitung hielten, und schreibt, die Parteizeitung werde von vielen nur deswegen abonniert, „um in Parteikreisen nicht anzustoßen“.414

Die Lektüregewohnten der kommunistischen Arbeiter veränderten sich im Laufe der Weltwirtschaftskrise wahrscheinlich sehr. Zum einen war es für arbeitslose Kommunisten in der Spätphase der Weimarer Republik kaum noch möglich, sich ein Abonnement einer Tageszeitung zu leisten, und wenn sie es sich doch vom Essen absparten, war es wohl die Parteipresse, die sie abonnierten. Zum anderen wurde auch der Zugriff auf andere Zeitungen durch

412 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 99-102. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 18. SAP-MO-BArch RY1/I3/1-2/18, Bl. 184.413 SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 203. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/26, Bl. 276.414 SAPMO-BArch RY1/I2/707/134, Bl. 31, 40 und 45. HStAD Regierung Düsseldorf 16922.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 215

die Entfernung aus dem Betrieb erschwert. Was diese Entwicklung für die Re-zeption der Deutungsangebote der Parteiführung bedeutete, lässt sich leider kaum abschätzen.

4.2.1.2 Die kommunistischen FachzeitschriftenDie stattliche Reihe der von der Partei herausgegebenen Periodika beschränkte sich nicht auf die Tageszeitungen. Hinzu kamen die nur für bestimmte Mitglie-dergruppen herausgegebenen Spezialzeitschriften. Beinahe für jeden Auf-gabenkreis gab es eine eigene Publikation. „Der Parteiarbeiter“ war das Organ für die alltäglichen Fragen der Funktionäre vor Ort, die „Internationale“ be-handelte die übergreifenden theoretischen Probleme, „Betrieb und Gewerk-schaft“ befasste sich mit den im Titel genannten Politikfeldern, „Die Kämpferin“ diente der Diskussion von frauenspezifischen Problemen und die „Kommune“ schließlich gab Hinweise zur kommunalpolitischen Arbeit. So weit nur die wichtigsten. Außerdem wurden von der KI die „Kommunistische In-ternationale“ und die „Internationale Presse-Korrespondenz“ („Inprekorr“) als sektionenübergreifende Diskussions- und Verlautbarungszeitschriften veröffent-licht.

Tabelle 22: Zeitschriftenvertrieb in den Bezirken 1927/1929Bezirk Mitglieder Abonnements

Parteiarb. Intern. Komm. Int. InprekorrBerlin-Brandenburg 17.369 954 205 118 k.A.Ruhrgebiet 8.262 555 255 90 k.A.Westsachsen 7.405 400 50 30 90Pommern 1.721 k.A. k.A. 3 0Oberschlesien 834 104 17 2 k.A.

Quellen: durchschnittliche abgerechete Mitglieder: siehe Tabelle 7. Berlin-Brandenburg 1. Quartal 1929 (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/85, Bl. 94). Ruhrgebiet Dezember 1927 (SAP-MO-BArch RY1/I3/18-19/13, Bl. 38). Westsachsen August 1927 (SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 67). Pommern November 1929 (SAPMO-BArch RY1/I2/707/117, Bl. 145). Oberschlesien Dezember 1927 (SAPMO-BArch RY1/I3/6/21, Bl. 7).

Es ist nicht einfach, eine Übersicht über die Verbreitung dieser Zeitschriften zu bekommen. Ich habe mich daher für vier der wichtigsten Zeitschriften und leider immer noch recht unvollständige Angaben aus dem Jahr 1927 entschieden, und versucht, die Lücken durch weitere Zahlen aus dem Jahr 1929 zu schließen (Tabelle 22). Die oben angegebenen Zahlen weichen aber nur unwesentlich von denen anderer Jahre ab. Im Mai 1922 bezog etwa der Bezirk Berlin-Branden-burg 627 Exemplare der „Internationale“, Westsachsen 426, Rheinland-Westfa-len-Nord 238 und in Pommern 70. Das aber war noch vor der großen Austritts-welle Ende 1923. Auch nach 1927 scheint die Nachfrage nach den Parteizeit-

216 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

schriften nicht wesentlich besser geworden zu sein. Der Bericht der BL Ruhrge-biet an den Bezirksparteitag im Mai 1930 spricht von ingesamt 382 verkauften Exemplaren des „Parteiarbeiter“, 136 der „Internationale“, und 72 der „Kom-munistischen Internationale“. Da auch die anderen Spezialorgane aufgeführt wurden, seien sie hier auch noch erwähnt: von der „Kämpferin“ wurden 415, von „Betrieb und Gewerkschaft“ 226 und von der „Kommune“ wurden 110 Ex-emplare abgesetzt. Im Bezirk Berlin-Brandenburg wurde 1929 der Absatz des „Parteiarbeiter“ von 954 im ersten Quartal auf 1.170 Exemplare im vierten Quartal, der der „Internationale“ von 205 auf 295 und der der „Kommunis-tischen Internationale“ von 118 auf 239 gesteigert, so dass im vierten Quartal gut jeder sechste Berliner Genosse „Parteiarbeiter“-Leser war.415

Auf Grundlage der Zahlen allein lässt sich noch nicht viel über die Ver-breitung der Parteizeitschriften sagen. Die größte Verbreitung fand der „Partei-arbeiter“, das Interesse an theoretischen Fragen, wie sie in der „Internationale“ behandelt wurden, war recht gering, und noch weniger Mitglieder wollten sich mit den Diskussionen in der KI befassen. Wirklich aussagekräftig aber werden die Zahlen über den Zeitschriftenvertrieb erst durch den Vergleich mit der Grö-ße der angestrebten Zielgruppe. Da die Vorstellungen von der Zielgruppe beim „Parteiarbeiter“ am klarsten dokumentiert sind, befasse im mich folgenden vor allem mit seiner Leserschaft. Außerdem war „Der Parteiarbeiter“ von all den Spezialzeitschriften die für die unmittelbare Basistätigkeit bei weitem wichtigs-te.

„Der Parteiarbeiter“, das monatliche Organ für die Parteifunktionäre, und da-mit „unentbehrlich für jeden, der über die Entwicklung der besten Methoden und Formen unserer Arbeit auf allen Gebieten des Parteilebens auf dem Laufenden bleiben will“, erschien erstmals im April 1923. Ab Ende April 1924 wurde er der „Internationale“ beigelegt, und dann von April bis Oktober 1925 aufgrund der zahlreichen neu gegründeten bezirklichen Funktionärszeitschriften vorüber-gehend eingestellt. Der 10. Parteitag 1925 beschloss sein Wiedererscheinen un-ter der Federführung der Orgabteilung des ZK.416

Es finden sich zwar immer wieder Äußerungen von Bezirksleitungs-Funktio-nären, dass eigentlich jeder Genosse den „Parteiarbeiter“ zu lesen habe, aber das war nicht offizielle Beschlusslage der Partei. Ihn sollten aber tunlichst alle Funktionäre der Partei lesen. Eine sehr konkrete Vorstellung von der Zielgruppe vermittelt ein Rundschreiben der BL Berlin-Brandenburg vom 18. Dezember 1926. Darunter fielen alle Parteifunktionäre der Betriebszellen und Straßen-zellen, der Zellengruppen, der Verwaltungsbezirksleitungen und ihrer Abtei-

415 SAPMO-BArch RY1/I2/4/21, Bl. 47. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/3, Bl. 92.416 „Der Parteiarbeiter“, (Anzeige), in: Thesen und Resolutionen des XI. Parteitages der KPD in Essen, 2.-7.3.1927. Hg. vom ZK der KPD, Berlin 1927, S. 103. Christa Hempel-Küter: Die kommunistische Presse und die Arbeiterkorrespondentenbewegung in der Weimarer Repu-blik. Das Beispiel „Hamburger Volkszeitung“, Frankfurt am Main 1989, S. 41.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 217

lungen, sowie die kommunistischen Funktionäre von Gewerkschaften, Ge-nossenschaften, des RFB und der Sportorganisationen.417

Tabelle 23: Leser des „Parteiarbeiters“ (Funktionäre) 1929Bezirk Oberschlesien RuhrgebietOrganisationsform BZ OG SZ BZ OG SZAnzahl 27 37 24 174 114 289Mitglieder 255 801 380 3.248 k.A. 5.076Funktionäre 98 110 101 471 710 522

„Parteiarbeiter“-Leser 47 59 20 142 233 188

Quellen: Oberschlesien (SAPMO-BArch RY1/I3/6/16, Bl. 118, I3/6/11, Bl. 105ff.), Ruhrgebiet (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 85-90). (Organisationsformen: BZ = Betriebszellen, OG = Ortsgruppen, SZ = Straßenzellen).

Gemessen an diesem Anspruch war der reale Absatz des „Parteiarbeiters“ bei den Funktionären ein Fiasko! Im Rahmen der dritten Reichskontrolle Ende 1929 wurde auch ermittelt, wie hoch der Anteil der ehrenamtlichen Funktionäre war, die den „Parteiarbeiter“ lasen. Ergebnisse dazu sind nur aus dem Ruhrgebiet und Oberschlesien finden (Tabelle 23). Demnach lag der Anteil der Leser des „Parteiarbeiters“ an den Funktionären in Oberschlesien zwischen 19,80 (Stra-ßenzellen) und 53,54 Prozent (Ortsgruppen), und auch die Funktionäre der Be-triebszellen lasen nur zur Hälfte den „Parteiarbeiter“ (47,96 Prozent). Im Bezirk Ruhrgebiet sah es noch schlechter aus. Dort lag der Anteil der Leser des „Partei-arbeiters“ zwischen 30,15 (Betriebszellen) und 36,02 Prozent (Straßenzellen) und auch die Funktionäre der Ortsgruppen lasen ihn nur zu einem Drittel (32,82 Prozent). Durch wie viele Hände ein Exemplar ging, lässt sich bei den Zeit-schriften, wie bei allen anderen Printmedien auch, ja bedauerlicherweise nicht feststellen. Insgesamt, das zeigen die Zahlen, wenn man sie nach Bezirken zu-sammenfasst, lasen 40,78 Prozent der oberschlesischen Funktionäre den „Partei-arbeiter“ und 33,06 Prozent der Funktionäre im Ruhrgebiet. Außerdem lasen maximal - unter der Annahme, dass diese Zeitschriften nur von Funktionären ge-lesen wurden - 28,48 Prozent der oberschlesischen Funktionäre (37,27 Prozent im Ruhrgebiet) die „Internationale“, 15,86 Prozent (28,18 Prozent) die „Kom-munistische Internationale“ und 5,18 Prozent (6,36 Prozent) die „Inprekorr“.

Eine weitere im Rahmen der Reichskontrolle von 1929 erstellte Übersicht, die merkwürdigerweise für die beiden oben behandelten Bezirke zu ein wenig anderen Ergebnissen kommt - eventuell wurde eine andere Definition von „Funktionär“ zu Grunde gelegt - zeigt noch einmal das Scheitern der Durch-setzung einer einheitlichen Arbeitsweise der Basisorganisationen durch den „Parteiarbeiter“ (Tabelle 24).

417 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/28, Bl. 106.

218 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

Tabelle 24: Leser des „Parteiarbeiters“ (Mitglieder und Funktionäre in Prozent) 1929Bezirk Mitglieder FunktionäreBerlin-Brandenburg 13,25 55,64Ruhrgebiet 6,72 28,84Westsachsen 5,83 22,50Oberschlesien 15,35 47,77Reich 7,40 35,25

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 65 (Offenbar wurde die Zahl der Mitglieder bzw. Funktionäre einfach durch die Zahl der Abonnements des „Parteiarbeiters“ geteilt).

Hier überrascht vor allem, dass die Funktionäre des von der Großstadt Leipzig dominierten Bezirks Westsachsen sogar noch seltener zum „Parteiarbeiter“ grif-fen als schon die des Ruhrgebiets. Zur Abrundung des Bildes seien auch hier die Extremwerte angegeben. Den geringsten Absatz gemessen an der Zahl der Mit-glieder verbuchte der „Parteiarbeiter“ im Bezirk Hessen-Frankfurt, wo nur 2,51 Prozent der Mitglieder zu den Lesern zählten, während es im besten Bezirk Ost-sachsen auch nur 16,64 Prozent waren. Gemessen an den Funktionären, lasen im schwächsten Bezirk Mittelrhein 13,34 Prozent den „Parteiarbeiter“, während es im besten Bezirk Baden-Pfalz immerhin 62,85 Prozent waren.418

Die unaufhörlichen Werbekampagnen, sowie die zahlreichen Mahnungen und Drohungen sprechen schon dafür, dass die oben angeführten Zahlen über die Re-zeption des „Parteiarbeiters“ mehr als nur Momentaufnahmen sind. Im Rund-schreiben der BL Oberschlesien vom 3. März 1926 hieß es beispielsweise:

„Wie kann ein Mitglied der Kommunistischen Partei ständig auf dem laufenden sein über die zu verrichtenden Arbeiten, wenn er nicht das Organ liest, in dem nicht vom grünen Tisch herab die Anweisungen erlassen werden, sondern das zu ¾ seines Inhalts besteht aus dem gegenseitigen Gedankenaustausch der Organisatoren in den Betriebs-zellen, in den Ortsgruppen.“

Noch suggestiver war ein Flugblatt der Agitprop-Abteilung der Unterbezirkslei-tung Leipzig vom Frühjahr 1931:

„Hallo Genosse! Kennst du den ,Parteiarbeiter‘ ... ????? Weißt Du, daß der ,Parteiarbei-ter‘ Dir bei Deiner täglichen Arbeit helfen will. In ihm werden alle Erfahrungen der praktischen Arbeit gesammelt. Studiere ihn, und Du vermeidest Fehler!!!“419

Allerdings waren offenbar weder die Werbekampagnen noch die Drohungen von Erfolg gekrönt. Die durchschnittliche Auflage nach 1925 stagnierte bei ca. 7.000 Exemplaren. Auch das Mittel des Zwangsabonnements taugte nicht viel. Abgesehen davon, dass man die Lektüre einer Zeitschrift, mit der die Genossen 418 SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 65.419 SAPMO-BArch RY1/I3/6/14, Bl. 102. SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/155, Bl. 202 (Hervor-hebung im Original).

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 219

Funktionäre zwangsweise beliefert wurden, ohnehin nicht kontrollieren konnte, scheiterten solche Überlegungen in den allermeisten Fällen schon im Vorfeld an der Frage der Finanzierung.420

Am 28. Oktober 1926 etwa wies die Org-Abteilung des ZK die BL Ruhrge-biet darauf hin, dass im Bezirk nur 370 Exemplare des „Parteiarbeiters“ gelesen werden, es aber 950 sein müssten, so dass zu diesem Zeitpunkt nur 38,94 Pro-zent der Funktionäre ihr Organ lasen. Im Juli desselben Jahres waren laut Be-richt der BL vom 9. Dezember 1926 - bei einer wohl kaum stark veränderten Zahl an Funktionären - sogar nur 250 Exemplare im Bezirk verkauft worden. Ein Rundschreiben der Agitprop-Abteilung der BL Oberschlesien vom 24. De-zember 1927 belegt, dass es sogar ganze Ortsgruppen gab, die mit den Hin-weisen, die der „Parteiarbeiter“ gab, gar nicht in Berührung kamen. 17 von 40 Zellen und Ortsgruppen, darunter die des Bezirksvororts Gleiwitz und der Mit-telstädte Beuthen und Hindenburg, hielten gar keinen „Parteiarbeiter“. Die BL Pommern zählte in ihrem Rundschreiben vom 29. Dezember 1926 41 Orts-gruppen namentlich auf, die keinen „Parteiarbeiter“ bezogen, darunter unter anderem die großen Ortsgruppen Stralsund und Lauenburg sowie die ‚Rebellen‘ aus Köslin.421

Die Konsequenz der mäßigen „Parteiarbeiter“-Rezeption bestand darin, dass viele lokale Funktionäre unberührt von den Erfahrungen anderer auf ihre ganz individuelle Weise vor sich hin wurstelteten. Viele Parteiarbeiten kamen nicht so flott voran, wie es vielleicht hätte sein können, weil viele Funktionäre lieber das Rad neu erfanden, als die bereits durch andere Basiseinheiten gefundenen Lösungen zu übernehmen. Die Nichtleser unter den Funktionären waren so in gewisser Weise das Sand im Getriebe der nach einheitlichen Methoden arbei-tenden Partei. Genau diesen Punkt hob die BL Westsachsen in ihrem Bericht für den Januar 1928 an das ZK hervor, wo es offenbar zu einigen Problemen bei der Vorbereitung der Betriebsratswahlen gekommen war: „Dabei zeigte sich, daß in vielen Zellen noch wenig Verständnis für eine regelrechte Arbeitsverteilung und Ausgestaltung der Zellenmitgliederversammlungen zu wirklichen Arbeits-sitzungen vorhanden ist.“ Die Hauptursache sah der Autor, wohl der Polleiter

420 Karl-Heinz Gensch: „Der Parteiarbeiter“ (April 1923-Februar 1933), in: BGA 1/1989, S. 77-83, hier: S. 81.421 HStAD Regierung Düsseldorf 16958. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 215. SAPMO-BArch RY1/I3/6/21, Bl. 7. In der gleichen Quelle heißt es, dass 28 Ortsgruppen und Zellen kein einziges Exemplar der „Internationale“ bezögen, und dass im ganzen Bezirk von der „Kommunistischen Internationale“ überhaupt nur zwei Exemplare bezogen würden, nämlich durch die Betriebszelle A8 und die Ortsgruppe Oppeln, die im Übrigen auch mit 20 Exem-plaren des „Parteiarbeiter“ bezirksweit an der Spitze stand. Laut Rundschreiben der Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet vom 11. Juli 1930 waren gerade einmal zwei Prozent aller Parteizellen regelmäßige Bezieher des „Parteiarbeiters“, der „Internationale“ oder der „Kom-munistischen Internationale“ (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/32, Bl. 49). SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 187.

220 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

Schumann, darin dass nur wenige Betriebszellen-Leitungsmitglieder den „Parteiarbeiter“ hielten. Auf dem Parteitag des oberschlesischen Unterbezirks Gleiwitz am 18. September 1927 wurden die Folgen der ungenügenden Zeit-schriftenlektüre der Genossen noch dramatischer beurteilt: „Eine vorgelesene Statistik bewies, daß die Zellen, welche keinen Parteiarbeiter, Internationale, AIZ und andere oder nur einige von diesen Zeitschriften beziehen, keine oder fast keine sichtbare erfolgreiche Arbeit leisten.“422

4.2.2 Die Literaturrezeption durch die ParteimitgliederDrittes und letztes massenwirksames Medium der Partei waren die Broschüren und Bücher, die von den Verlagen der Partei veröffentlicht wurden. Die Bro-schüre war ein in der Arbeiterschaft eingeführtes Medium, während die Bereit-schaft zum Lesen dicker Bücher in der Weimarer Republik erst allmählich aus dem Bürgertum in die Unterschichten durchsickerte. Die Broschüre war außerdem billig und damit proletarischen Einkommensverhältnissen ange-messener als das Buch.

Produziert wurde die regelrechte Fülle an kommunistischen Publikationen unter Federführung durch die Agitprop-Abteilungen der Bezirke und des ZK durch die verschiedenen Parteiverlage. Zu den bekanntesten Parteiverlagen gehörte neben Münzenbergs 1925 gegründeten NDV der Verlag Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, der 1920 von der KI in Hamburg gegründet worden war. Seine Do-mäne war die Herausgabe der sowjetischen Literatur - von den zentralen Wer-ken der „Klassiker“ über aktuelle politische Schriften bis hin zur Belletristik. Ähnliche Schwerpunkte hatte der Wiener Verlag für Literatur und Politik, der ebenfalls der KI gehörte. Bedeutsamer als diese war die Vereinigung Internatio-naler Verlagsanstalten GmbH (VIVA) in Berlin, die seit der Gründung durch die Zentrale im Jahr 1921 den Großteil der von der Partei publizierten Broschüren produzierte. Im Herbst 1927 wurde die VIVA in Internationaler Arbeiterverlag umgetauft, in dem unter anderem ab 1929 die populären „Roten Eine-Mark-Romane“ erschienen. Hinzu kamen eine ganze Reihe von Verlagen einzelner KI- oder KPD-Nebenorganisationen wie etwa der „Verlag der Roten Jugend-internationale“.423

Der Vertrieb eines Großteils der von diesen und anderen Verlagen produzierten Bücher und Broschüren erfolgte durch die Basiseinheiten der Partei. Mit der Umstrukturierung der Partei ab 1925 wurde auch der Literaturvertrieb systema-tischer organisiert. Wie schon seit längerem beim ZK und den Bezirken üblich, 422 SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 243. SAPMO-BArch RY1/I3/6/15, Bl. 30f.423 Lange: Berlin, S. 853f. Kinner: Geschichtswissenschaft, S. 326. John H. Zammito: The Great Debate. „Bolshevism“ and the literary left in Germany, 1917-1930, New York 1984, S. 29. Hanno Möbius: Progressive Massenliteratur? Revolutionäre Arbeiterromane 1927-1932, Stuttgart 1977, S. 6.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 221

sollte jetzt jede Ebene bis hinab zu den Parteigruppen und -zellen einen Ge-nossen bestimmen, der für den Literaturvertrieb zuständig war - den Literatur-Obmann.

Schon vor dem 10. Parteitag konnte die Zentrale in ihrem Bericht melden, nun endlich über ein „Netz von Literaturobleuten in allen Bezirken“ zu verfügen. Die Einrichtung von Literatur-Obleuten in allen Basisorganisation dauerte wesentlich länger. In ihrem Rundschreiben vom 26. März 1928 kritisierte die Agitprop-Abteilung der BL Oberschlesien, dass noch nicht in allen Ortsgruppen Literaturobleute vorhanden seien. „Der Vertrieb der laufenden Zeitschriften ist sehr mangelhaft. Die aktuellen Tagesbroschüren sowie die kommunistische Par-teiliteratur wird fast gar nicht umgesetzt.“ Im Unterbezirk Essen - immerhin der größte Unterbezirk des Ruhrgebiets - fehlten laut Rundschreiben der Organisa-tions-Abteilung der BL Ruhrgebiet vom 13. Juli 1929 sogar noch Literaturob-leute „in den meisten Ortsgruppen und Stadtteilen“.424

Probleme mit dem Literaturvertrieb gab es auch dort, wo bereits Literaturob-leute vorhanden waren. Der wohl zumeist durch die bescheidene Bildung, aber auch kriminell bedingte Schlendrian bei der Abrechnung der Literatur war of-fenbar nicht auszurotten. Die BL Pommern rechnete ihrem Rundschreiben vom 30. April 1926 sogar mit einem Bankrott des Parteibuchladens in Stettin, da bei ihm auf Grund der mangelhaften Abrechnung der Ortsgruppen hohe Außen-stände aufgelaufen seien. Und schließlich scheint generell das Engagement der Genossen beim Literaturvertrieb - mit Ausnahme des Vertriebs der sehr populä-ren AIZ - nicht herausragend gewesen zu sein. Bezeichnend dafür ist etwa folgende Passage aus einem Bericht der Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet für den August 1930:

„Genau wie allen anderen Ortsgruppen des Bezirks wurden auch dem Kassierer der Ortsgruppe Rotthausen mit dem Brief des Genossen Florin eine Anzahl Broschüren zugesandt, die umgesetzt werden sollten. Der Kassierer der Ortsgruppe brachte die Bro-schüren retour mit dem Bemerken, sie hätten Wichtigeres zu tun, als Broschüren umzu-setzen.“425

Wie sich die Parteiführung einen gut funktionierenden Literaturvertrieb vor-stellte, zeigt eine Übersicht, die die Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet im August 1930 verschickte. Jede Zelle sollte einen Genossen ernennen, der aus-schließlich für den Empfang und die Abrechnung der Literatur zuständig ist, den Literatur-Obmann. Die Adresse dieses Funktionärs musste dem Literaturvertrieb

424 Bericht 10. Parteitag, S. 52 (Hervorhebung im Original). SAPMO-BArch RY1/I3/6/21, Bl. 8. HStAD Regierung Düsseldorf 30657b. Anfang 1927 schwankte der (wohl monatliche) Li-teraturumsatz pro Mitglied und Bezirk zwischen vier und 32 Pfennig; im Bezirk Berlin-Brandenburg waren es zwölf, im Ruhrgebiet 16, in Westsachsen fünf, in Pommern acht und in Oberschlesien 32 Pfennig (Der Parteiarbeiter 5/1927, S. 147, zit. nach Hempel-Küter: Presse, S. 141).425 SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 128. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/43, Bl. 118.

222 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

der Bezirksleitung mitgeteilt werden. Dort musste der Genosse „Litobmann“ dann seine Bestellungen an Zeitschriften und Broschüren aufgeben. Nachdem er vom BL-Litvertrieb beliefert worden ist, musste er die anderen Mitglieder für den Verkauf einspannen und schließlich eine Woche später wieder beim BL-Lit-vertrieb abrechnen. Außerdem hatte er dafür zu sorgen, dass „jede Veran-staltung, jede Mitgliederversammlung, Zellensitzung, öffentliche Versammlung, Werbung, Flugblattverteilung, Haus- und Hofpropaganda ... für den Umsatz von Massenbroschüren“ ausgenutzt wird.426

Als zweites Standbein des Literaturvertriebs fungierten die Buchhandlungen der Partei, die zum Teil auch die Ortsgruppen mit Literatur belieferten. Der größte und wahrscheinlich auch umsatzstärkste Buchladen der KPD befand sich im Erdgeschoss des 1926 vom ZK der Partei bezogenen Karl-Liebknecht-Hauses am Berliner Bülowplatz. Im März 1926 soll er Bücher und Broschüren in Höhe von 3.500 RM umgesetzt haben. So weit es die recht unvollständigen Quellen hergeben, gab es zumindest eine zeitlang in allen fünf untersuchten Be-zirken mindestens eine Buchhandlung der KPD oder einer ihr nahestehenden Organisation. Im Ruhrgebiet gab es unter anderem kommunistische Buchhand-lungen in Hamm und Duisburg. In Leipzig wurde die Buchhandlung der Verlagsgenossenschaft der „Sächsischen Arbeiterzeitung“ im Oktober 1928 von der Partei übernommen. Der Bezirk Pommern hatte seine nach dem Be-zirksorgan benannte Buchhandlung „Volkswacht“ in Stettin. Zwischen Oktober 1924 und April 1925 konnte sie einen Umsatz von 1.009,97 RM erzielen. Auf Grund der miserablen Abrechnungsdisziplin der Literaturobleute musste sie aber im August 1926 geschlossen werden. Der Bezirk Oberschlesien hatte seine Arbeiterbuchhandlung in Hindenburg.427

4.2.2.1 Das politische Schriftgut der ParteiDie Tagespresse der Partei berichtete ausführlich über alle Bereiche der Parteitä-tigkeit, und die Spezialzeitschriften taten ihr möglichstes, um bestimmten Teilen der Mitgliedschaft das nötige Fachwissen zu verschaffen. Trotzdem bestand of-fenbar ein Bedarf nach knappen Zusammenfassungen der wichtigsten Themen, von den Reden und Beschlüssen der Parteitage bis hin etwa zu Darstellungen über das Betriebsrätegesetz, um die kommunistischen Betriebsräte über ihre Möglichkeiten zu informieren.

Das Themenspektrum der politischen Parteischriften war, wie die nachfolgende Übersicht zeigt, ziemlich breit. Wohl zu den ersten Broschüren überhaupt, die die junge Partei herausbrachte, gehörte die Rede, die Rosa Luxemburg auf dem 426 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/43, Bl. 119.427 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 118. SAPMO-BArch RY1/I2/4/66, Bl. 70. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/26, Bl. 30. SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 337. SAPMO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 135. SAPMO-BArch RY1/I3/3/2, Bl. 42. SAPMO-BArch RY1/I3/6/16, Bl. 54.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 223

Gründungsparteitag der KPD über das Parteiprogramm gehalten hatte, und die 1919 im Verlag der „Roten Fahne“ erschien. Ein Jahr später, nach der Gründung der KI, erschienen das Statut der KI und die „21 Bedingungen“ zusammen in einer Broschüre. Im Protokollband des 4. Parteitags findet sich eine Anzeige, die für von der Zentrale herausgegebene Broschüren warb. Darunter befanden sich unter anderem zwei Werke von Karl Radek über aktuelle taktische Fragen, so-wie Titel von N.I. Bucharin und L.D. Trockij über die russische Revolution. Im Bericht der Agitprop-Abteilung der Zentrale über die zwischen dem 1. August 1920 und dem März 1921 von der Zentrale herausgegebenen Broschüren werden unter anderem Parteitagsbeschlüsse, Reden von Aleksandr Lozovskij, Heinrich Brandler und G.E. Zinov’ev erwähnt. Die politisch bedeutendste Broschüre überhaupt war vermutlich Paul Levis Polemik gegen die „Märzaktion“, die am 12. April 1921 unter dem Titel „Unser Weg. Wider den Putschismus“ erschien. In einer Liste der Zentrale über die zwischen dem Vereinigungsparteitag und dem 7. Parteitag herausgegebene Literatur findet sich eine Broschüre unter dem Titel „Die Aufgaben der Betriebsräte und politischen Arbeiterräte“, von der 10.000 Exemplare aufgelegt wurden, und die Broschüre „Was wir den Frauen zu sagen haben“, die in zwei Auflagen zu je 10.000 Exemplaren erschienen war.428

Die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie war immer ein zentrales Thema der politischen Publizistik der KPD. Das Orgbüro der BL Westsachsen empfahl 1924 anlässlich des Wahlkampfs dazu in seinem Rundschreiben vom 13. November 1924 die Broschüre „Der Weg des Verrats“, die sich mit dem „Sündenregister des ADGB“ befasste, und wies darauf hin, dass demnächst die antisozialdemokratische Broschüre „Meine Partei - Gedanken eines Sozialdemo-kraten“ erscheinen werde. Eine der wichtigsten Aufgaben der Broschürenlitera-tur bestand darin, die Beschlüsse der Parteigremien zu popularisieren. Zu diesem Zweck hatte die Zentrale 1924/25 eine Broschüre mit den „Thesen des Januar-Zentralausschusses“ in 30.000 Exemplaren drucken lassen. Zu den politischen Broschüren gehörte die Schrift eines Genossen Weiß mit dem Titel „Ratio-nalisierung und Arbeiterklasse“, deren Lektüre die Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet Ende 1926 in ihren Richtlinien zur Einführung neuer Mitglieder empfahl. Auch jede größere Kampagne der Partei wurde durch die Veröffentli-chung entsprechender Broschüren flankiert, so etwa die China-Kampagne von 1927, zu der die Berliner Bezirksleitung das Heft „Der Kampf der 450 000 000“ in 50.000 Exemplaren drucken ließ. Kurz vor dem in Kraft treten des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung im gleichen Jahr empfahl die BL Pommern den Genossen die Broschüre „Die Arbeitslosenversicherung“ zu bestellen. Ebenfalls 1927 wurden auch die Bedürfnisse der Organisationsspe-

428 Bericht 5. Parteitag, S. 107. Das Erscheinen dieser Broschüre war offenbar im allgemeinen Chaos des Jahres 1920 untergegangen, weshalb die Veröffentlichung des KI-Statuts beim Parteitag beantragt worden war. Bericht 4. Parteitag. SAPMO-BArch RY1/I2/707/117, Bl. 1. Paul Levi: Zwischen Spartakus und Sozialdemokratie. Schriften, Aufsätze, Reden und Briefe, Frankfurt 1969, S. 44-94. Bericht 7. Parteitag, S. 19.

224 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

zialisten mit der Herausgabe einer aus dem russischen übersetzten Broschüre über „Der organisatorische Aufbau der Kommunistischen Partei“ und einer Bro-schüre des sowjetischen ZK-Sekretärs L.M. Kaganovič mit dem Titel „Der organisatorische Aufbau der RKP“ befriedigt.429

Um Erfahrungen aus den Wahlkämpfen und die dazu gehörenden Anwei-sungen leichter zu transportieren, veröffentlichte die Parteiführung 1928 noch rechtzeitig vor den Wahlen die Instruktionsbroschüre „Sonderanweisungen für die Wahlkämpfe 1928“. Auf die Maiereignisse in Berlin 1929 reagierte die KPD mit der Herausgabe der Broschüre „Blutiger Mai in Berlin“, die kurz nach den Ereignissen erschien. Ebenfalls mit diesen Ereignissen befasste sich auch die Hauptrede Thälmanns auf dem 12. Parteitag (9.-15.6.1929), der gleich die un-verhoffte Gelegenheit zum Generalangriff auf die SPD nutzte, die kurz vorher ihren Parteitag in Magdeburg durchgeführt hatte. Diese Thälmann-Rede war bald darauf unter dem Titel „Wedding gegen Magdeburg“ käuflich zu erwerben. Den größten Ausstoß an Broschüren hatten die Parteiverlage zumeist zu Wahl-kampfzeiten. So auch 1930, als das zentrale Propagandainstrument eine 24sei-tige Broschüre namens „Sowjetstern oder Hakenkreuz“ war.430

* * *

Einer Untersuchung der Rezeption stehen nicht nur die äußerst dürftigen Quellen entgegen. Vieles bleibt trotz ausführlicher Vertriebslisten im Vagen. Wie viele Käufer waren eingeschriebene Mitglieder, durch wie viele Hände gingen die Broschüren und die wenigen Bücher, und wie hoch war die Intensität der Lektüre und das Verständnis des Gelesenen?

Die ausführlichste Übersicht über den Literaturvertrieb stammt aus dem Be-richt der BL Westsachsen über den Zeitraum zwischen dem 1. April 1924 und dem 31. März 1925 (Tabelle 25).431 Sie zeigt, dass bei einem Gesamtvertrieb von 8.150 Broschüren in diesem einen Jahr nicht einmal jedes der durchschnittlich 9.104 Mitglieder des Bezirks eine Broschüre erstanden hat. Die Rangliste des Broschürenvertriebs zeigt außerdem deutlich die authentischen Präferenzen der Parteibasis und des Umfelds. Die Schmäh-Broschüre über den Reichsprä-sidenten Ebert steuerte allein mehr als vierzig Prozent des Absatzes bei. Eben-falls wohl auf das Sympathisantenumfeld zielten die beiden Titel über das Sach-429 SAPMO-BArch RY1/I3/10/124, Bl. 15. Bericht 10. Parteitag, S. 37. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/43, Bl. 8. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/19, Bl. 199. SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 235. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/28, Bl. 106.430 SAPMO-BArch RY1/I2/3/31. SAPMO-BArch RY1/I3/3/20, Bl. 222. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/3, Bl. 183. HStAD Regierung Düsseldorf 30657b.431 Leider war es mir nicht möglich herauszufinden, wann die Broschüren erstmals aufgelegt worden waren, und ob jede dieser acht Broschüren im gesamten Zeitraum verfügbar war. Auch die Preise der Broschüren, die ja nun nicht ganz unerheblich für den Absatz waren, sind mir nur zum geringsten Teil bekannt.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 225

verständigengutachten und die Selbststilisierung der KPD „als einzige Arbeiter-partei“ ab, die zusammen noch einmal fast 35 Prozent des Absatzes auf sich ver-einten. Am Auffälligsten aber ist, dass die beiden einzigen eher theoretischen Publikationen, die Broschüren von Stalin und Bucharin/Preobraženski nur die Schlusslichter der Rangfolge bildeten, auf die zusammen nur dreieinhalb Pro-zent des Umsatzes entfielen. Möglicherweise lag der dürftige Absatz der Stalin-Broschüre, die wohl eine geraffte Übersetzung der Vorlesungen an der Moskau-er Sverdlov-Universität vom April und Mai 1924 enthielt, aber auch daran, dass sie erst kurz vor dem Ende des Berichtszeitraums erschienen war. Es bleibt dennoch viel sagend, dass eine der wohl am populärsten geschriebenen Broschü-ren über den Leninismus, die zugleich der erste Beitrag zur Kanonisierung der kommunistischen Ideologie in Form des Marxismus-Leninismus war, in den ersten beiden Monaten nur von maximal 2,53 Prozent der eingetragenen Mit-glieder des Bezirks erworben wurde.

Tabelle 25: Broschürenvertrieb im Bezirk Westsachsen (1.4.1924- 31.3.1925)Titel ExemplareEbert 3.300Das Sachverständigen-Gutachten der Arbeiter 1.600Die K.P.D., die einzige Arbeiterpartei 1.220G.E. Zinov’ev: Die Einheit der Gewerkschaften 700Felix Halle: Wie verteidigt sich der Proletarier vor Gericht? 600Paul Frölich: Zehn Jahre Krieg und Bürgerkrieg 470J.W. Stalin: Lenin und der Leninismus 230N.I. Bucharin/J.A. Preobraženski: Das ABC des Kommunismus 50

Quelle: Bericht Westsachsen (1.4.1924-31.3.1925), S. 34.

Auch wenn es sich bei dieser Übersicht aus dem Bezirk Westsachsen nur um eine Momentaufnahme handelt, so stimmt doch die Tendenz ganz mit dem über-ein, was andere Quellen vermitteln, nämlich dass es ein negativ lineares Verhält-nis zwischen dem theoretischen Abstraktionsniveau einer Veröffentlichung und der Kaufbereitschaft seitens der Genossen gab. Nicht viel besser bestellt war es um die Nachfrage nach den Protokollbänden und Beschlüssen der Parteitage und KI-Weltkongresse. So wurden seitens der BL Westsachsen am 18. Juli 1923 bei der Zentrale für den gesamten Bezirk nur ganze sechs Exemplare des Protokolls des 4. Weltkongresses der KI bestellt, was wohl auf einschlägige Erfahrungen mit dem Verkauf solch schwerer Bände zurückgeführt werden muss. Augen-scheinlich war ein Großteil der Parteimitglieder der Meinung, durch die Bericht-erstattung in der Parteipresse und parteiintern ausreichend informiert worden zu sein. Daher erachtete es nur eine kleine Minderheit für nötig, etwa die sechs Reichsmark für das Protokoll des 11. Parteitags auszugeben. Es war die Domäne der professionellen und halbprofessionellen Funktionäre, sich ausführlicher dar-

226 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

über zu informieren. Das hatte zur Folge, dass der Großteil der ‚einfachen‘ Ge-nossen keinen Zugriff auf dieses Herrschaftswissen hatte.432

4.2.2.2 Die „Klassiker“ des Marxismus-LeninismusDas schwache Interesse der Mitglieder an theoretischer Lektüre zeigt sich auch in Bezug auf die Rezeption und das Verständnis der „Klassiker“ der kommunis-tischen Bewegung. Auf der Basis der parteiinternen Überlieferung lässt sich leider kaum mehr gewinnen als ein grober Überblick über die Schwerpunkte der Veröffentlichungstätigkeit der KPD und ihrer Verlage in diesem Bereich. Sobald man versucht, sich über die Umsatzzahlen den Lesegewohnheiten der ‚einfa-chen‘ Mitglieder anzunähern, wird es wieder äußerst prekär.

Um trotzdem halbwegs fundierte Aussagen zu diesem Bereich treffen zu können, habe ich mich vorrangig an die Memoirenliteratur gehalten. Ich habe dazu die Selbstzeugnisse von 137 ehemaligen KPD-Mitgliedern ausgewertet. Da ihre Auswahl nicht methodisch gesteuert sein konnte, können die auf dieser Grundlage gewonnenen Daten nicht als repräsentativ gelten. Auch zeigt schon ein oberflächlicher Blick auf die Memoirenliteratur, dass sie die Domäne einer ganz spezifischen Gruppe von Parteimitgliedern waren, nämlich der „intellektu-ellen Elite der Arbeiterklasse“, wie sie Barrington Moore genannt hat. Das durchschnittliche KPD-Mitglied mit Volksschulbildung, das als ungelernter Arbeiter oder als Facharbeiter tätig war, hat normalerweise keine Memoiren ge-schrieben. Daher verwundert es nicht weiter, dass 26 Selbstzeugen aus bürgerli-chen Familien kamen, die damit im Verhältnis zur Gesamtmitgliedschaft krass überrepräsentiert sind. Noch deutlicher wird die sozialstrukturelle Differenz zwischen den Selbstzeugen und der Parteimitgliedschaft im Hinblick auf die Schulbildung. Während laut der Reichskontrolle von 1927 nur 5,40 Prozent der Mitglieder eine höhere Schule als die Volksschule besucht haben, sind es unter den Selbstzeugen immerhin 29,18 Prozent - 13 von ihnen haben eine Realschule oder Oberrealschule und sogar 27 ein Gymnasium besucht.433

Nur 72 der 137 Selbstzeugen machen verwertbare Angaben über die von ihnen gelesenen politisch-theoretischen Bücher und Broschüren. Zwölf von ihnen nennen leider nur pauschal die Namen der Autoren der von ihnen gelesenen Werke, darunter natürlich vor allem Marx, Engels, Lenin, Bebel, Luxemburg und Stalin. Bleiben 60 Selbstzeugen übrig, die uns beim Lesen ein wenig über die Schulter blicken lassen. Die anhand der dort genannten konkreten Buchtitel erstellte Liste (Tabelle 26) bleibt notgedrungen unvollständig, da nicht jeder

432 SAPMO-BArch RY1/I3/10/119, Bl. 94. SAPMO-BArch RY1/I3/10/118, Bl. 57. SAPMO-BArch RY1/I3/10/128, Bl. 78.433 Eine ausführlichere Würdigung des Leseverhaltens auf der Basis der Werke von 103 Selbstzeugen ist zu finden bei Eumann: Kameraden, S. 108-115. Moore: Ungerechtigkeit, S. 262.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 227

Selbstzeuge jedes einzelne von ihm oder ihr jemals gelesene und hier inter-essierende Buch aufgeführt haben dürfte.

Tabelle 26: Theoretische Lektüre von 60 ehemaligen KPD-MitgliedernAutor und Titel LeserzahlMarx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei 33Lenin: Der „linke Radikalismus“ 17Lenin: Staat und Revolution 16Marx: Das Kapital 16Marx: Lohn, Preis, Profit 13Bucharin/Preobraženski: Das ABC des Kommunismus 6Bebel: Die Frau und der Sozialismus 4Engels: Die Entwicklung des Sozialismus ... 4Engels: Der Ursprung der Familie 4Engels: „Anti-Dühring“ 3Lenin: Der Imperialismus ... 3Marx: Lohnarbeit und Kapital 2Rest (4 Werke) 1

Quelle: diverse Selbstzeugnisse (siehe Literaturverzeichnis, Abschnitt 7.3).

Das meistgelesene Werk der Selbstzeugen war das „Manifest der Kommunis-tischen Partei“ von Marx und Engels aus dem Jahre 1848. Für einige von ihnen war der Lebensabschnitt, in dem sie sich der KPD zuwandten, eng mit der Lektüre des „Manifests“ verbunden, das entweder den Anstoß zum Parteibeitritt geliefert hatte oder unmittelbar im Anschluss daran gelesen wurde.434 Vielleicht noch aufschlussreicher als die doch zu erwartende Spitzenposition des „Mani-fests“, ist, dass immerhin 45 Prozent des illustren Kreises der Selbstzeugen das „Manifest“ nicht gelesen haben. Die KPD verstand sich als „die Partei des Kom-munistischen Manifestes“, das sie quasi als ihre Gründungsurkunde betrachtete. Seine Lektüre wurde den Genossen daher immer wieder ans Herz gelegt. In der Literaturliste „Was soll man lesen?“ des Mitgliedsbuchs von 1923 stand neben dem Hinweis auf das „Manifest“ die Bemerkung „mehrfach durcharbeiten“.435 Der Anteil der „Manifest“-Leser unter Gesamtmitgliedschaft wird wesentlich geringer gewesen sein als ihr Anteil von 55 Prozent an den Selbstzeugen. Ein beredtes Wort darüber spricht der Bericht des Sekretariats der BL Westsachsen an das ZK vom 15. August 1927 über das Auftreten Leipziger Genossen, die

434 Vgl. Eumann: Kameraden, S. 105.435 Zitat aus einem Redebeitrag Ottomar Geschkes (Bericht 10. Parteitag, S. 427). SAPMO-BArch RY1/I3/20-21/20, Bl. 126. In einer Übersicht, die Carsten Krinn für seine Dissertation über die Schulungsarbeit der KPD angefertigt hat, kommt das „Manifest“ bei 13 verschie-denen Quellen entnommenen Leseempfehlungslisten als einziges Werk auf zehn Erwähnungen (Krinn: Schulungsarbeit, S. 193).

228 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

anlässlich des in diesem Jahr in der Messestadt durchgeführten Reichsbanner-tages die Aufgabe hatten, mit den Reichsbanner-Mitgliedern zu diskutieren:

„Die Diskussionsgruppen, von denen wir berichteten, sind natürlich [!] nicht immer ge-schickt vorgegangen. Statt von den Dingen zu reden, die wir ihnen am Informations-abend erklärt hatten, sprachen sie vom Kapp-Putsch usw. Bei dieser Gelegenheit hat ein RB-Mann sich auf das Kommunistische Manifest berufen und unseren Genossen gefragt, seit wann dieses existiere. Unser Genosse hatte natürlich [!] keine Ahnung vom Kommunistischen Manifest noch von seinem Entstehen und erklärte, das Manifest exis-tiere seit 1920. Es war klar, daß unser Genosse dem Gelächter der anderen anheim fiel.“436

Ebenfalls ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Rezeption dieses aus der Sicht vieler führender Funktionäre wichtigsten Grundlagenwerkes wirft das Schicksal einer nicht näher gekennzeichneten zweiten Auflage der Parteiausgabe des „Manifests“ vom Mai 1924 in Höhe von 10.000 Exemplaren. Laut Tätigkeitsbe-richt des Orgbüros der Zentrale waren davon bis Ende September 1924 1.840 Exemplare und laut Bericht der Zentrale an den 10. Parteitag 1925 bis zum 15. Juni 1925 4.500 Exemplare verkauft worden. Nach einer Aufstellung der Organisationsabteilung des ZK vom Dezember 1930 stieg aber die Zahl der Mit-glieder vom 1. zum 2. Halbjahr 1924 allein um 27.902. Sie haben offenbar nur in sehr begrenztem Maße das grundsätzlichste Werk über den Kommunismus nachgefragt.437

Auf den nächsten vier Plätzen in der Rangliste der von den Selbstzeugen ge-lesenen theoretischen Literatur finden wir das politökonomische Hauptwerk von Marx, „Das Kapital“ nebst der populären Zusammenfassung „Lohn, Preis und Profit“ sowie zwei der wichtigsten Werke Lenins, „Staat und Revolution“ und „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“, mit einer Leserschaft von jeweils zwischen zwanzig und dreißig Prozent. Am Über-raschendsten ist hier die Nennung des „Kapitals“ an so prominenter Stelle, da es das schwerste intellektuelle Kaliber unter den Werken war, die man in der Weimarer Republik zum engeren Kreis der klassischen Schriften des Marxis-mus-Leninismus zu zählen pflegte. Vier der 16 „Kapital“-Leser brachen die Lektüre daher entweder frühzeitig wieder ab, oder stellen rückblickend fest, nicht allzu viel davon verstanden zu haben. Von den einfachen Mitgliedern der KPD hat sich ohnehin kaum einer an das „Kapital“ heran getraut. Selbst für die meisten der 34 Teilnehmer an der Reichsparteischule in Hohnstein 1927 - also die Crème de la crème der Nachwuchsfunktionäre - war es ein Buch mit sieben Siegeln geblieben, wie sie auf Anfrage des Lehrgangsleiters Hermann Duncker zugeben mussten:

436 SAPMO-BArch RY1/I3/10/129, Bl. 33.437 SAPMO-BArch RY1/I2/4/24, Bl. 188. Bericht 10. Parteitag, S. 53. Die nichtbeitragleis-tenden Mitglieder sind dabei noch gar nicht erfasst (SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 173).

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 229

„Er wollte wissen, ob wir uns schon einmal mit dem Hauptwerk von Karl Marx, dem ‚Kapital‘, vertraut gemacht und wie wir es verstanden hätten. Nach einigen Minuten des verlegenen Schweigens kam heraus: Dieser oder jener hatte zwar einmal einen Blick ins ‚Kapital‘ geworfen, das Vorwort und das eine oder andere Kapitel gelesen - richtig stu-diert aber hatte es niemand. Wir gaben offen zu, daß wir mit manchen Begriffen und Fremdwörtern nicht klar gekommen waren, deshalb meist bald aufgegeben hatten.“438

Die populäre Zusammenfassung des „Kapitals“, „Lohn, Preis und Profit“, an de-ren Lektüre sich 13 der 60 Selbstzeugen erinnern, wurde zunächst 1923 als dritter Band der „Elementarbücher des Kommunismus“ veröffentlicht. Leider konnte ich nichts über die Höhe der Auflage herausfinden. Das Büchlein soll aber 1927 in 10.000 Exemplaren wieder aufgelegt worden sein, und die zweite Auflage soll innerhalb eines Jahres komplett abgesetzt worden sein, so dass et-was weniger als zehn Prozent der gut 122.000 durchschnittlichen abgerechneten Mitgliedern ein Exemplar hätten erwerben können. 1928 erschien daher dann schon die dritte Auflage. Es lässt sich natürlich nicht feststellen, in welchem Maße die Parteimitglieder öffentliche oder parteiinterne Bibliotheken nutzten, oder sich das Bändchen anderweitig ausliehen, um einen Blick in „Lohn, Preis und Profit“ zu werfen. Die Empfehlungen der Lektüre dieses Werks sowohl durch das Mitgliedsbuch von 1923 („Was soll man lesen?“) als auch durch die „Richtlinien für die Einführung neuer Mitglieder in die Kommunistische Partei“ der Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet vom November 1926 und im Anhang der wichtigsten KPD-Agitationsbroschüre „Was wollen die Kommunis-ten“ von Josef Lenz scheinen nicht den einschneidenden Einfluss auf das Lese-verhalten der Genossen gehabt zu haben. Die Propagandisten, die solche Emp-fehlungen aussprachen, lebten offenbar in einer von der der allermeisten ‚einfa-chen‘ Mitglieder deutlich getrennten kulturellen Welt, in der Lesen nicht durch die mühselige Aneignung von Wissen und das Ringen um ein Verständnis kom-plexer Sachverhalte gekennzeichnet, sondern unverzichtbare genussvolle Lebensäußerung war.439

Gleichfalls von allen drei Bücherlisten empfohlen wurde die Lektüre von Lenins revolutionstheoretischem Hauptwerk „Staat und Revolution“, an die sich immerhin ein gutes Viertel der Selbstzeugen erinnert. Der intensiv in der Schu-lungsarbeit der Partei engagierte Hermann Duncker äußerte sich 1922 dahinge-hend, dass jeder, der sich Kommunist nennen wolle, Lenins „Staat und Revoluti-on“, das für ihn „das theoretische Hauptwerk des modernen Kommunismus“ war, lesen und immer wieder durcharbeiten müsse. Laut Kinner erschienen 1918-24 jährlich neue Auflagen von Lenins „Staat und Revolution“. Auch in

438 Willi Persike u.a. (Hg.): Damals in Fichtenau. Erinnerungen an die zentrale Parteischule der KPD, Berlin (DDR) o.J. [1979], S. 29.439 Günter Griep/Alfred Förster/Heinz Siegel: Hermann Duncker - Lehrer dreier Generationen. Ein Lebensbild, Berlin (DDR) 19762, S. 93 bzw. 108. SAPMO-BArch RY1/I3/20-21/20, Bl. 126. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/43, Bl. 8. Vgl zu Lenz Krinn: Schulungsarbeit, S. 282-290.

230 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

diesem Fall konnte ich leider fast gar keine Angaben über die Zahl der Auflagen und ihre Höhe ermitteln. Ebenfalls 1925 erschien eine von Arkadij Maslow aus-führlich eingeleitete Neuausgabe von „Der ‚linke Radikalismus‘“, der im Juni 1920 seine deutsche Erstveröffentlichung erlebt hatte, nachdem schon im April und Mai 1920 Auszüge in der bekanntlich an der Basis kaum gelesenen „Kom-munistischen Internationale“ erschienen waren. Von letzterem heißt es im Be-richt der Zentrale an den 10. Parteitag 1925, dass in dem eineinvierteljährigen Berichtszeitraum 5.000 Exemplare der von Maslow eingeleiteten Fassung aufge-legt worden seien.440

Die wenigen unmittelbaren Angaben über den Verkauf theoretischer Werke, die ich finden konnte, zeigen dass es mit der Marx- und Lenin-Rezeption der einfa-chen Mitglieder nicht sehr weit her war. Mallmann liegt daher mit seiner Faust-regel vollkommen richtig: „Die Kirchenväter des Sozialismus wurden kaum im Original gelesen, bestenfalls in vereinfachenden Broschüren und auch das nur selten.“ Die BL Oberschlesien zum Beispiel meldete in ihrem Bericht an den Bezirksparteitag am 13./14. April 1929, dass im Berichtszeitraum Februar 1928 bis April 1929 insgesamt 32 Exemplare der Lenin-Werke, 69 Exemplare der Marxistischen Bibliothek, aber immerhin 377 broschierte „Elementarbücher des Kommunismus“ verkauft worden seien. Das bedeutet, dass bei 932 durchschnitt-lichen abgerechneten Mitgliedern im Jahr 1929 maximal 3,43 Prozent der oberschlesischen Kommunisten sich einen der - sicherlich nicht ganz billigen - Lenin-Bände gekauft, während 7,40 Prozent einen Band der „Marxistischen Bi-bliothek“, und immerhin 40,45 Prozent eine Broschüre aus der Reihe der Elementarbücher erworben haben. Auch ein Bericht der BL Sachsen vom 30. April 1930 spricht vom schlechtem Umsatz der „großen parteitheoretischen Bü-cher“.441

Im Unterschied zu einigen wirklich eindrucksvollen exemplarischen Lebens-geschichten bildungshungriger Arbeiterkinder, war dem ‚einfachen‘ prole-tarischen KPD-Mitglied, dem die Volksschule auch kaum das selbständige Lesen nahegebracht hat, der sozialhistorisch noch recht neue Kampf mit dem auch noch teuren Buch doch zumeist zu mühselig. Für aktive Genossen und ehrenamtliche Funktionäre hatte die praktische politische Arbeit die eindeutige Priorität vor dem Lesen: „In unserer Partei zeigt sich oft bei den tüchtigsten Ge-nossen eine gewisse Verachtung der Theorie. Man spottet über alles theoretische Zeug und ist ,bloß für die Praxis‘.“ Billige popularisierende Massenbroschüren der Partei stießen daher schon auf eine größere Nachfrage. Arbeiter, die sich wissensdurstig und bildungsbeflissen nach ermüdendem Arbeitstag in der karg bemessenen Freizeit neben der Parteiarbeit die abendliche Lektüre der

440 Kinner: Geschichtswissenschaft, S. 43 bzw. S. 76. Bericht 10. Parteitag, S. 37.441 Mallmann: Kommunisten, S. 217. SAPMO-BArch RY1/I3/6/5, Bl. 12. Der letzte Bezirks-parteitag hatte im Februar 1928 stattgefunden. SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/147, Bl. 18.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 231

,Klassiker‘ des Marxismus-Leninismus abrangen, machten doch nur eine kleine Minderheit der Weimarer Kommunisten aus. Nicht vergessen werden sollten außerdem die hartleibigen Nichtleser, die völlig in der Parteiarbeit aufgingen.442

Der ‚Marxismus-Leninismus‘ der ‚einfachen‘ Parteimitglieder war infolge-dessen eine Melange aus einigen eher fragmentarischen Leseeindrücken und einem starken Fundament an früh verinnerlichten, emotional aufgeladenen pro-letmoralischen Wertvorstellungen, zu denen es sich eventuell über die Lektüre nur einen luftigen ideologischen Überbau gebastelt hat. Die in der KPD real vor-findliche Vielfalt an Einstellungen hatte, je weiter man nach unten schaut, immer weniger Ähnlichkeiten mit der von Stalin erfundenen „Weltanschauung“. Dem Großteil der Genossen reichte das Wissen völlig aus, dass ihre unzweifel-haft wahre Weltanschauung eine wissenschaftliche war, und viele zogen daraus eine Würde, die ihnen sonst verwehrt war. Das Alltagsdenken der allermeisten Genossen war ohnehin weniger theoretisch als radikal konkret und naiv empiris-tisch. Die Parteiideologie lieferte dafür vielfach nur den groben Rahmen.

4.2.2.3 Schöngeistige ParteiliteraturIn den ersten Jahren der Weimarer Republik wurde die ‚proletarische Literatur‘ auch in den Feuilletons der Parteizeitungen zunächst noch durch die sowjetische und durch die ‚linksbürgerliche‘ Literatur von Autoren wie Jack London, Emile Zola, Henri Barbusse und Upton Sinclair geprägt. Mit der Einrichtung der Reihe der „Roten Eine-Mark-Romane“ durch den parteieigenen Internationalen Arbei-terverlag (IAV) Anfang 1929 wurde hingegen versucht, ein Massenpublikum für eine Literaturform zu gewinnen, die sich eng an den Zielen und Methoden der früheren Proletkul’t-Bewegung in der Sowjetunion orientierten.

Die Reihe der „Roten Eine-Mark-Romane“ wurde eröffnet durch Hans Mar-chwitzas stark autobiografischen Bericht über den Ruhrkampf 1920 unter dem Titel „Sturm auf Essen“. Marchwitza war als arbeitsloser Bergmann und Arbei-terkorrespondent der KPD-Zeitung „Ruhr-Echo“ besonders vertraut mit dem proletarischen Denken. Der Roman soll eine Gesamtauflage von 15.000 Exem-plaren gehabt haben. Der vierte Band, Willi Bredels Betriebszellen-Entwick-lungsroman „Maschinenfabrik N & K“, erfüllte die Erwartungen der höheren Parteifunktionäre in jeder Hinsicht. Er war ursprünglich angeregt worden durch eine Anzeige des IAV im Organ des Bundes proletarisch-revolutionärer Schrift-steller, „Die Linkskurve“. Dort war 1930 eine Literatur verlangt worden, in der die KPD-Betriebsaktivitäten einmal idealtypisch dargestellt werden. Das Ergeb-nis bestand laut Udo Köster in

„stereotypen Handlungskonstellationen, in denen Sozialdemokraten und Kommunisten gegenübergestellt wurden, und zwar durchgehend alte, unsichere, traditionalistische SPD-Mitglieder und junge, optimistische, opferbereite, politisch bewußte KPD-Ge-

442 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/98, Bl. 21.

232 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

nossen; argumentationsschwache, autoritäre, arbeiterfeindliche SPD-Funktionäre und mitreißende, kameradschaftliche Agitatoren der KPD;“443

Bredels „Maschinenfabrik N & K“ war damit geradezu der klassische Ausdruck proletarischer Literatur, wie sie sich die führenden Funktionäre vorstellten. Eine Literatur, in der engagierte Kommunisten die Anweisungen der Parteiführung pünktlich, vollständig und selbstverständlich auch noch erfolgreich durch-führten. Weitere Beiträge aus der Reihe, die sich an Bredels Muster orientierten, und damit gleichsam eine bessere ‚Realität‘ als die wirkliche in die prole-tarischen Wohnungen brachten, waren Klaus Neukrantz‘ Roman über die Maiereignisse 1929 in Berlin, der 1931 unter dem Titel „Barrikaden am Wed-ding“ erschien, und der noch einmal die kommunistische Interpretation des „Blutmais“ zu vermitteln suchte, oder der fünfte Band, Franz Kreys Ab-treibungs-Krimi „Maria und der Paragraph“ von 1931, der die Kampagne der KPD gegen den Paragraphen 218 agitatorisch unterstützte, und der eine Auflage von 35.000 Exemplaren erreicht haben soll.444

Insgesamt zeichneten sich die Werke aus der Reihe der „Roten Eine-Mark-Romane“ mehr durch Agitation, Political Correctness im Sinne der KPD und un-mittelbares Erzählen als durch schriftstellerisches Können oder Originalität aus; sie wirkten aber gerade deswegen auf ihr proletarisches Publikum, sprachen sie doch in seiner Sprache. Sie lieferten gleichsam vorfabrizierte Idealerfahrungen mit der immer erfolgreichen Generallinie der Partei. Auf diese Weise leisteten sie auch einen Beitrag zur Stabilisierung der emotionalen Parteibindung - ganz zu schweigen von ihrem eventuellen Beitrag zur Gewinnung neuer Mitglieder, die freilich schnell bemerkt haben dürften, wie sehr sich die Realität von der Li-teratur unterschied.

4.2.3 Das Schulungswesen der KPDDrittes Standbein der ideologischen Integration der Mitglieder und der Vereinheitlichung der Partei war die Schulungsarbeit. Wandten sich die Partei-presse und die Parteiverlage im Prinzip immer an eine größere Öffentlichkeit, war die Parteischulung, sieht man einmal von der 1925 in Berlin als offenes Angebot der KPD gegründeten „Marxistischen Arbeiter-Schule“ (MASCH) ab, eindeutig nach innen gerichtet. Die KPD-Forschung hat die Schulungsarbeit der Partei lange Zeit mehr oder weniger ignoriert, und statt dessen die diesbezügli-chen Erfolgsmeldungen der Parteiführung recht unkritisch übernommen. Eine Monografie liegt zu diesem Thema bislang nicht vor.445

443 Simone Bark u.a. (Hg.): Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945, Stuttgart 1994, S. 401f. Udo Köster: Zum Verhältnis von proletarisch-revolutionärer Belletristik und kommunistischer Politik in Deutschland 1919-1932, in: IWK 8/1972, S. 1-15, hier: S. 9f.444 Lexikon Sozialistischer Literatur, S. 401.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 233

Die Erwartungen der Parteiführung an die Schulungsarbeit waren extrem:„Die Bildungsarbeit der Partei hat die Aufgabe, die Mitgliedermassen in leichtverständ-licher elementarer Form mit den Grundsätzen und taktischen Richtlinien der Partei und mit der Geschichte der Arbeiterbewegung bekannt zu machen, sie zu befähigen, in Be-trieb und Gewerkschaft, in Genossenschaft und sonstigen Arbeitervereinen bei Agitati-on und Propaganda ihre Pflicht zu tun, ferner einen Stab geschulter Parteifunktionäre zu erziehen, die als Organisatoren, Agitatoren, Redakteure, Kursuslehrer, kommunistische Gewerkschafts- und Genossenschaftsfunktionäre, kommunistische Parlamentarier oder Kommunalvertreter das Rückgrat der Parteibewegung bilden, agitatorisch und organi-satorisch die Bewegung der Massen leiten und vorwärts treiben.“446

Der in der KPD verwendete Bildungsbegriff schloss also weder an den der Bil-dungsvereine in der Frühzeit der deutschen Arbeiterbewegung noch an den der Vorkriegssozialdemokratie an. Bildung wurde im Großen und Ganzen nicht verstanden als Ansatz zur Entwicklung der individuellen Persönlichkeit, sondern rein instrumentell als Maschinerie zur Erzeugung fähiger und ideologisch ver-sierter Funktionäre, um dadurch die Partei in die Lage zu versetzen, ihre poli-tischen Ziele zu erreichen.

4.2.3.1 Entwicklung und Struktur der Schulungsarbeit der KPDIn der Parteigründungsphase spielte die Schulung der Parteimitglieder so gut wie keine Rolle. Die führenden Kreise der Partei und auch wohl der Großteil der Mitglieder sahen sich unmittelbar vor dem politischen Entscheidungskampf. Die praktische politische Arbeit besaß daher die absolute Priorität. Die ideologische Bildung und Weiterbildung der Genossen - so sahen es viele - konnte man ge-trost auf die Zeit nach der Revolution verschieben. Erst das nur mit einiger Ver-zögerung durch die Partei akzeptierte Abflauen der revolutionären Welle ver-schaffte den Stimmen Gehör, die den Stand marxistischer Bildung in der Partei kritisch in Frage stellten. Sicherlich trug dazu auch das verbreitete Nachdenken über die Gründe für das Scheitern der deutschen Revolution bei. Für viele Funktionäre drängte sich zu Anfang der 1920er Jahre auf, was später zur in-flationär verwendeten Standardformel wurde: nämlich dass die Mängel in der bisherigen Politik der KPD entweder auf die ungenügende Schulung der Ge-nossen oder auf die daraus resultierende zu schmale Personaldecke zurückzufüh-ren sind.

445 Es darf daher mit Spannung auf die Veröffentlichung der Tübinger Dissertation von Carsten Krinn zu diesem Thema gewartet werden. Einige Arbeiten aus der ehemaligen DDR - darunter viele Beiträge von Klaus Kinner - geben, wenn man sie vom ideologischen Gestrüpp befreit, erste Einblicke. Zu ihnen zählt insbesondere die Dissertation von Uwe Falkenberg über die Schulungsarbeit im Bezirk Erzgebirge-Vogtland 1925-29 (Uwe Falkenberg: Die Schulungsarbeit der Bezirksparteiorganisation Erzgebirge-Vogtland der KPD 1925-1929, Diss., Karl-Marx-Stadt 1989).446 Bericht 8. Parteitag, S. 89.

234 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

Als die KPD dann doch endlich mit der organisierten Schulungsarbeit begann, orientierte sie sich, wie in vielen anderen Tätigkeitsfeldern auch, an der Vor-kriegssozialdemokratie. Das lag natürlich nicht zuletzt daran, dass das aktive Personal im Schulungswesen der KPD teilweise auch schon im Schulungswesen der wilhelminischen Sozialdemokratie tätig gewesen war. Ein Beispiel dafür ist der umtriebige Hermann Duncker, der während der gesamten Zeit der Weimarer Republik federführend in der Schulungsarbeit der KPD aktiv war, und der schon 1912 bis 1914 an der Parteischule der SPD Geschichte des Sozialismus gelehrt hatte, nachdem er vorher Wanderlehrer der SPD gewesen war.447

Diese beiden Institutionen, den Wanderlehrer und die zentrale Parteischule, nahm die KPD Anfang der 1920er Jahre wieder auf. Von ihnen entwickelte aber nur die letztere eine gewisse Kontinuität. Die erste zentrale Parteischule fand vom 18. November bis zum 11. Dezember 1919 in Hanau und die zweite ab dem 19. Dezember 1921 am Sitz der Zentrale in Berlin statt. Laut Bericht der Zentra-le an den 8. Parteitag 1923 verfügte die Partei über vier von der Zentrale bezahl-te Wanderlehrer, die in 16 Bezirken mit 78 Ortsgruppen „wissenschaftliche Wanderkurse“ durchgeführt haben sollen. Zwischen dem 20. November und dem 20. Dezember 1922 fand die dritte zentrale Parteischule mit 40 Teil-nehmern in Berlin statt. Sie scheint aber nicht übermäßig erfolgreich gewesen zu sein: „Die Parteischule hat ihr Ziel nicht erreicht und zwar aus verschiedenen Gründen: die Zeit war zu kurz, die Lehrer zu sehr mit anderen Arbeiten in An-spruch genommen und die Schüler nicht genügend ausgewählt“. Die hier ange-sprochenen Probleme sollten die Partei während der Folgezeit immer wieder beschäftigen.448

Erst allmählich, nachdem die Vereinigung mit der linken USPD vollendet, die beiden Krisen nach der „Märzaktion“ von 1921 und dem „deutschen Oktober“ von 1923 mitsamt den Austrittsbewegungen überwunden waren, die Struktur der Partei sich ausdifferenziert und stabilisiert und sich eine gewisse Professio-nalisierung des Funktionärskaders entwickelt hatte, ging man daran, die Lücken zwischen den äußerst unregelmäßigen Angeboten für Spitzenfunktionäre und den eher basisorientierten sporadischen Angeboten der frühen Wanderlehrer zu schließen. Das Ziel bestand darin, auf jeder vom Statut vorgesehenen Ebene der Partei auch die entsprechenden Einrichtungen zur Funktionärsausbildung an-bieten zu können. Schon der oben bereits zitierte Parteitagsbericht erwähnt die Zahl von insgesamt sieben zwei- bis dreitägigen Bezirksparteischulen, die im Jahr 1922 durchgeführt worden seien, wobei der Oberbezirk Westen, der aus den Parteibezirken in den preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen bestand, im Januar und im März/April, und der Bezirk Westsachsen im April und im Mai berührt worden seien. Von besonderer Wichtigkeit für die Ausdiffe-renzierung des Schulungswesens war der Aufbau wirklich arbeitsfähiger und

447 Griep: Duncker, S. 38. 448 Bericht 8. Parteitag, S. 90f. (Hervorhebung im Original).

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 235

kompetenter Agitprop-Apparate von den Bezirken hinab bis zu den Orts-gruppen. Sie hatten, wie es im Bericht der Zentrale an den 10 Parteitag 1925 hieß, die „Parteierziehungsarbeit im Sinne des Marxismus-Leninismus“ zu organisieren (vgl. Abschnitt 3.3.2.2).449

Dies scheint aber, folgt man dem Hauptreferat Philipp Dengels auf dem 11. Parteitag 1927, in dem er die Politik des ZK zu rechtfertigen suchte, wenig von Erfolg gekrönt gewesen zu sein. Er machte den Delegierten aber Hoffnung auf Besserung der „Parteierziehung“: „Erst in der letzten Zeit ist es mit dieser Arbeit besser geworden, kommt ein System in diese Arbeit.“ Sicherlich wurde die Schulungsarbeit nach 1925 allmählich systematischer, wenn damit gemeint war, dass nach und nach auf allen Ebenen der Partei, wenn auch nicht flächende-ckend, Schulungsstrukturen aufgebaut wurden. Auf der untersten Ebene der Ortsgruppen und Zellen ersetzten ab 1926 die zentral durch die Agitprop-Abtei-lung des ZK geplanten Elementarkurse die bisherigen Formen der Einführung neuer Mitglieder in die Parteitheorie und -geschichte. Sie versuchten, anhand be-stimmter teilweise aktueller Themen eine Einführung in die Sichtweise der Partei zu geben. Hinzu kamen Kurse für Ortsgruppen- und Zellenfunktionäre. Auf den nächsthöheren Ebenen gab es Angebote zur Ausbildung von Funktio-nären auf Unterbezirks- und Bezirksbasis. Den Abschluss der nationalen Schu-lungsstruktur bildete die zentrale Parteischule, die auf Grund der horrenden Kos-ten nach vierjähriger Pause erstmals wieder 1927 stattfinden konnte. Nach wei-terer zweijähriger Verzögerung fand sie ab 1929 ein festes Domizil in Berlin-Fichtenau. Schließlich führte die Internationale Lenin-Schule der KI in Moskau im Frühjahr 1926 ihren ersten Kurs zur Ausbildung zukünftiger Spitzenfunktio-näre der KI-Sektionen durch. Parallel zu diesen Kursangeboten gab es auf den verschiedenen Ebenen Schulungen für spezielle inner- oder außerparteiliche Aufgabenbereiche, also etwa für Org-Funktionäre, Betriebszellenmitglieder oder für die so genannten Propagandisten, die hinterher selber als Lehrer für Element-arkurse tätig werden sollten, oder für kommunistische Betriebsräte, Gewerk-schafter oder Kommunalvertreter.

Mit dem Jahr 1927 fand der Aufbau der Schulungsstruktur mehr oder weniger seinen Abschluss. Die MASCH als offiziell parteiunabhängiges offenes Angebot, die aber auch helfen musste, die noch recht großen Lücken im Netz der Schulungseinrichtungen der Partei zu stopfen, entwickelte sich gegen Ende der 1920er Jahre zu einer Art kommunistischer Volkshochschule mit Stütz-punkten in zahlreichen Großstädten und laut Mallmann ca. 4.-5.000 durch-schnittlichen Hörern. Ein weitere Neuerung waren die auf dem 11. Parteitag 1927 von Duncker angeregten und ab Ende der 1920er Jahren in den Quellen fassbaren Selbstbildungsecken, als Angebot für Gruppen aber auch für individu-elle Mitglieder, für die die Parteizeitungen Schulungsmaterial mitsamt Literatur-hinweisen und Kontrollfragen veröffentlichten. Sie sollten als (durch den Ver-

449 Bericht 8. Parteitag, S. 90. Bericht 10. Parteitag, S. 33.

236 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

zicht auf Kurslehrer) kostenneutrale und ressourcenschonende zweite Säule der Grundausbildung der Mitglieder das Angebot der stärker durchorganisierten Elementarkurse ergänzen, waren damit aber zugleich Eingeständnis des Schei-terns der marxistisch-leninistischen Elementarbildung in der KPD. Die Schu-lungsstruktur KPD war offenbar erst gegen 1929 auf dem Stand, der seit der Mitte der 1920er Jahre immer wieder teils noch gefordert, teils bereits bean-sprucht worden war.450

4.2.3.2 Frequenz und Reichweite der Schulungen in den BezirkenAus der Sicht einer Sozialgeschichte des Kommunismus ist die wichtigste Frage im Zusammenhang mit der Schulungsarbeit die nach der Intensität der ideolo-gischen Mitgliederintegration, also danach, wie viele Mitglieder der Partei wie regelmäßig durch die Schulungsbemühungen erreicht wurden. Sie zielt ab auf den Grad an Übereinstimmung der offiziellen Parteiideologie mit den an der Ba-sis kursierenden theoretischen Konzepten, und damit vor allem auf den wirkli-chen Einfluss der Parteispitze auf das Denken und Handeln der ‚einfachen‘ Mit-glieder. Leider sind schon der rein quantitativen Beantwortung dieser Frage durch die Quellen enge Grenzen gesetzt. Da es auch auf zentraler Ebene keine kontinuierliche Auswertung der Teilnehmerzahlen an den verschiedenen Schu-lungstypen gab, musste ich versuchen, auf Grundlage weniger verstreuter, teil-weise kaum verallgemeinerbarer Befunde, ein Bild der Entwicklung zu zeich-nen.

In den ersten Jahren nach der Gründung tat sich die Partei schwer, die an-spruchsvollen Ziele zu erreichen. Das lässt sich allerdings mehr aus Äußerungen zuständiger Funktionäre und offiziellen Verlautbarungen zu diesem Thema als aus den wenigen Dokumenten über die Schulungsarbeit selbst herauslesen. So heißt es etwa in einem Bericht der BL Westsachsen über die Bildungsarbeit des Bezirks aus dem Jahr 1922: „Eine planmäßige Bildungsarbeit im Bezirk 10 hat bis jetzt nicht stattgefunden. Die Ursache ist im Mangel an geeigneten ausfüh-renden Kräften zu suchen.“ Auf der Sitzung der BL Oberschlesien am 30. April 1925 wurde ein desaströses Fazit der bisherigen Ansätze gezogen: „Unsere Gen[ossen]. begreifen nicht unsere Politik und können deshalb nicht diskutieren. Eine systematische Schulungsarbeit muß beginnen.“451

Es gab zwar keine Statutenbestimmung, die verlangt hätte, dass alle neuen Mitglieder einen Einführungskurs besuchten – ebenso wenig war festgelegt, dass nur Funktionär werden kann, wer einen Funktionärskurs absolviert hatte - aber es fehlte nicht an derartigen Beschlüssen oder Anweisungen. Die Mitgliedskarte für die neu aufgenommen Mitglieder aus dem Jahr 1925 verlangte etwa: „Jedes

450 Vgl. zur MASCH die tendenziöse Monografie von Gabriele Gerhard-Sonnenberg: Marxis-tische Arbeiterbildung in der Weimarer Zeit (MASCH), Köln 1976. Mallmann: Kommunis-ten, S. 218. 451 SAPMO-BArch RY1/I3/10/115, Bl. 49. SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 47.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 237

neu aufgenommene Mitglied ist verpflichtet, an den von der Partei eingerichte-ten Einführungskursen teilzunehmen. Der Besuch ist vom Kursusleiter in nach-stehenden Rubriken zu bestätigen“ und enthielt sechs freie Felder für die den Kursbesuch bestätigenden Stempel. Nur fehlte jahrelang ein Schulungsangebot, das es den Genossen ermöglicht hätte, sich auch diesen Anweisungen gemäß zu verhalten. Im Unterschied zu anderen Bereichen der Parteiarbeit lag dem Schei-tern dieser Erwartung an das Mitgliederverhalten zunächst einmal ein unzurei-chendes Angebot zu Grunde.452

Schon ein wenig dichter wird die Materiallage für die Mitte der 1920er Jahre. Sie erlaubt zumindest einen Überblick über die Durchführung der Element-arkurse in den verschiedenen Bezirken. Die Zielrichtung der ab 1926 einge-führten, zentral durch die Agitprop-Abteilung des ZK geplanten und nach einheitlichem Konzept reichsweit auf der gleichen Materialbasis über mehrere Wochen an jeweils einem bestimmten Wochentag durchgeführten Element-arkurse wird in den Quellen nicht ganz klar. Manche Kurse vermittelten Grund-lagen für neue Mitglieder, so etwa der von Hermann Duncker für den Januar 1926 konzipierte Kurs über „Die wirtschaftliche Ausbeutung“. Im Schulungs-plan des Bezirks Sachsen vom 13. Oktober 1930 heißt es über die Element-arkurse, sie hätten die Funktion, „die neuen Genossen ... zu wirklich überzeug-ten Kommunisten zu erziehen.“ Es gab aber auch andere Elementarkurse, die im Zusammenhang mit den jeweils laufenden politischen Kampagnen darauf ab-zielten, einen möglichst großen Teil der Mitglieder mit der Sichtweise der Partei zu einer bestimmten aktuellen Frage vertraut zu machen, wie der für 1927 ge-plante Elementarkurs über Krieg und Kriegsgefahr.453

Im Vorzeigebezirk Berlin-Brandenburg wurde die Einführung der Element-arkurse Anfang Februar 1926 zunächst einmal verschoben. Der Leiter der Agit-propabteilung, Horst Fröhlich, hatte sein Amt erst am 6. Februar 1926 angetre-ten, und wollte mit der Verschiebung eine bessere Vorbereitung der Kurse ermöglichen. Ein Bericht Walter Ulbrichts über die Sitzung der Agitprop-Abtei-lung des Berliner Verwaltungsbezirks Wedding mit den Agitpropleitern der Be-triebszellen am 29. Januar 1927 zeigt, wie es zu dieser Zeit in der Berliner Hochburg der Partei um die Elementarschulung beschaffen war. Dort nämlich nahmen ganze 20 von 80 neuen Mitgliedern an dem einzigen stattfindenden Schulungskurs für neue Mitglieder teil. Die Leitung des Berliner Verwaltungs-bezirks Kreuzberg, der im März 1927 1.977 abgerechnete Mitglieder hatte, be-richtet für den Zeitraum zwischen März und Oktober 1927 von zwei Kursen mit je neun Teilnehmern im März, zwei Kursen mit je acht Teilnehmern April/Mai und zwei Kursen mit 21 Teilnehmern im Oktober, sowie von vier laufenden

452 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 225.453 SAPMO-BArch RY1/I2/707/93, Bl. 71-86. SAPMO-BArch RY1/I2/707/98, Bl. 140. SAP-MO-BArch RY1/I3/8-10/155, Bl. 317.

238 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

Kursen. Auf der Sitzung der Leitung des Verwaltungsbezirk Prenzlauer Berg am 28. Juni 1926 wies Polleiter Grasse auf Probleme mit den Elementarkursen hin:

„Den neu eingetretenen Mitgliedern ist die Möglichkeit gegeben, sich mit der Frage des Klassenkampfes zu befassen, Kurse werden eingerichtet, die Versuche werden also ge-macht; aber von Abend zu Abend verschwinden mehr Teilnehmer.“

Aus dem späteren Unterbezirk Nord, der zwischen dem 1. Mai 1930 und dem 31. März 1931 2.189 neue Mitglieder zu verzeichnen hatte, von den allerdings 661 die Partei schon wieder verlassen hatten, heißt es, 1.200 Mitglieder seien durch Elementarkurse erfasst worden, die aber nicht alle abgeschlossen werden konnten: „Ein großer Mangel ist noch, daß viele Kurse nicht bis zu Ende geführt wurden, weil andere Arbeiten dazwischen kamen.“454

Ähnliche Probleme bei der Durchführung von Elementarkursen werden auch aus dem Bezirk Ruhrgebiet berichtet. Der Abschnitt über die Schulungsarbeit des Berichts der BL vom 9. Dezember 1926 beginnt mit einer Aufzählung der Schwierigkeiten, angefangen bei „dem Mangel ausreichender Lehrkräfte“ bis hin zu dem Problem der Wechselschichten der teilnehmenden Genossen, die ih-nen eine regelmäßige Teilnahme und dem Schulungsleiter ein kontinuierliches Fortschreiten im Stoff erschwert hätten. Die BL sprach sich daher generell gegen die Form der Elementarkurse aus, und schlug vor, den neu eingetretenen Genossen statt dessen ein Referat zu halten, das ihnen „jeweils ein abge-schlossenes ganzes Bild“ liefert. Der Arbeitsplan des BL-Sekretariats vom 27. Dezember 1927 sah aber wieder die Durchführung von Elementarkursen vor. Ende 1928, so berichtete ZK-Instrukteur Sawadzki, kursierte der Plan, den neu-en Mitgliedern das Eintrittsgeld in die Partei zu stunden, und sie erst in eigens dazu eingerichteten „Kursuszellen“ zusammenzufassen, und ihnen dort Grund-begriffe beizubringen. Die Fortschritte scheinen aber nur gering gewesen zu sein, denn im Arbeitsplan für November 1930 wurde festgestellt, die Einfüh-rungsschulungskurse für neue Mitglieder seien bisher nur „sehr ungenügend durchgeführt worden.“455

Im Bezirk Westsachsen waren die Elementarkurse schon im Rundschreiben der BL vom 18. Januar 1926 angekündigt worden. Auf Grund der großen Start-schwierigkeiten der neu ins Leben gerufenen Agitprop-Abteilung der BL, konn-te erst wieder im Monat Oktober 1927 die Durchführung eines Schulungskurses gemeldet werden. Vorher hatten sich bildungswillige Genossen mit dem dichten Angebot der Leipziger Bildungsinstitutionen, also der sozialdemokratisch ge-prägten Leipziger Volkshochschule und des 1907 von den Freien Gewerk-schaften und der SPD gegründeten Arbeiterbildungsinstituts, behelfen müssen.

454 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 2ff. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/35, Bl. 34. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/57, Bl. 21. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/33, Bl. 28. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/32, Bl. 159.455 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 193. HStAD Regierung Düsseldorf 30657c. SAP-MO-BArch RY1/I3/18-19/13, Bl. 158. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/17, Bl. 75.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 239

Im Rundschreiben der BL vom 6. Mai 1924 hieß es beispielsweise dazu: „Die Genossen sind verpflichtet, sich selbst zu schulen.“ Im gleichen Monat verfügte der Bezirk über 8.064 abgerechnete Mitglieder in 89 Orts- und sieben (Leip-ziger) Stadtteilgruppen. Im Januar 1928 sollen im Bezirk schon 10 Kurse in sieben Ortsgruppen und drei Stadtteilen von Leipzig durchgeführt worden sein. Für den März berichtet die BL, dass im ersten Quartal 1928 insgesamt 17 acht- bis zehnwöchige Elementarkurse stattgefunden hätten, die eine durchschnittliche Beteiligung von 30 Genossen gehabt hätten, so dass also in diesem Zeitraum 510 Mitglieder elementar geschult worden wären. Geplant sei aber ursprünglich die doppelte Anzahl von Kursen gewesen. Im Juli 1928 soll es drei laufende Elementarkurse in Leipzig gegeben haben, mit insgesamt 90 Teilnehmern, und im September 1928 wird von vier Schulungskursen im Bezirk berichtet. Von diesem Elan scheint im folgenden Jahr wenig übrig geblieben zu sein. Auf einer der letzten BL-Sitzungen des selbständigen Bezirks Westsachsen am 18. No-vember 1929 meinte ein nicht namentlich genannter Genosse: „Wir haben über ein Jahr lang überhaupt keine Schulungsarbeit geleistet“.456

Im Bezirk Pommern, der im ersten Quartal 1926 durchschnittlich 1.626 abge-rechnete Mitglieder und im Herbst 1926 angeblich 70 Ortsgruppen hatte, startete man laut Bericht der Agitprop-Abteilung der BL Anfang 1926 mit vier Element-arkursen, von denen drei im Bezirksvorort Stettin abgehalten wurden. Einer da-von fiel „wegen schlechten Besuchs“ aus, ein weiterer „wurde beim Aus-scheiden des Referenten unterbrochen.“ Schließlich kam aber noch ein weiterer Elementarkurs in Demmin hinzu. Die ursprüngliche Planung des BL-Agit-propleiters Behm, acht Kurse unter Leitung der Funktionäre der BL durchzufüh-ren, ließ sich nicht verwirklichen, da sich die Bezirksleitung auf ihrer Sitzung am 14. Februar 1926 gegen eine derartige Verwendung der ohnehin überlasteten Funktionäre aussprach. Im Rechenschaftsbericht des geschassten Polleiters Steffen vom Mai 1927 heißt es aber, dass 20 zehnwöchige Elementarkurse ca. 300 KPD- und RFB-Mitglieder erfasst und damit den Mangel an geschulten Funktionären abgestellt hätten.457

Aus dem Bezirk Oberschlesien gibt es einen für sich selbst sprechenden Be-richt der Unterbezirksleitung Oppeln vom 26. April 1926. Dort seien eine Reihe vierzehntägiger Elementarkurse mit durchschnittlich 25 bis 30 Teilnehmern über „Maxzizmuss“ durchgeführt worden. Auf der Sitzung des BL-Sekretariats am 2. Oktober 1926 wurde die Schulungsarbeit im Bezirk als „unter aller Kanone“ be-zeichnet. Für den Oktober 1927 werden im Bericht der BL vom 17. November Elementarkurse zum Thema „10 Jahre Sowjetunion“ in sechs Ortsgruppen ver-meldet, aber: „Die Beteiligung der Genossen läßt, abgesehen von Oppeln, sehr 456 SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 116. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 249. SAP-MO-BArch RY1/I3/10/119, Bl. 36. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 317. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 501. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 563. SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 665457 SAPMO-BArch RY1/I3/3/36, Bl. 30. SAPMO-BArch RY1/I3/3/14, Bl. 72.

240 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

zu wünschen übrig.“ Am 5. Dezember 1928 wurde auf der Sitzung der Orgabtei-lung der BL Oberschlesien festgestellt, dass die für Dezember angesetzten Elementarkurse schon zum zweiten Mal wegen anderer parteiinterner Veran-staltungen verschoben worden seien. Besserung scheint hier Anfang 1929 einge-treten zu sein, denn auf der Sitzung der Orgabteilung der BL am 28. Januar 1929 war die Rede von 14 laufenden Kursen über das KI-Programm.458

Tabelle 27: Elementar geschulte Funktionäre 1929Bezirk Oberschlesien RuhrgebietOrganisationsform BZ OG SZ BZ OG SZAnzahl 27 37 24 174 114 289Mitglieder 255 802 380 3.248 k.A. 5.076Funktionäre 98 110 101 471 710 522Elementarkurs besucht 57 58 50 130 180 192

Quellen: Oberschlesien (SAPMO-BArch RY1/I3/6/16, Bl. 118, SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 105ff.), Ruhrgebiet (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 85-90). (Organisationsformen: BZ = Betriebszellen, OG = Ortsgruppen, SZ = Straßenzellen).

Diese Befunde aus den Bezirken über die Frequenz und Reichweite der Elementarkurse werden durch die Ergebnisse der Reichskontrolle von 1929 im Großen und Ganzen bestätigt (Tabelle 27). Offenbar waren die ehrenamtlichen Funktionäre während der 3. Reichskontrolle 1929 generell nach den von ihnen besuchten Schulungskursen gefragt worden, leider ist aber keine Statistik zu dem Ergebnis überliefert. Drei Jahre nach der Einführung dieser Schulungsform hatten 46,60 Prozent aller Basisfunktionäre in Oberschlesien und sogar 70,52 Prozent von ihnen im Ruhrgebiet nie einen Elementarkurs besucht. Der Anteil der nicht elementar geschulten ‚einfachen‘ Mitglieder wird noch höher gewesen sein. Hier findet sich wieder die gleiche Disproportion wie schon bei der Über-sicht über die Lektüre des „Parteiarbeiters“ durch die Funktionäre (vgl. Ab-schnitt 4.2.1.2). Der infrastrukturschwache, aber auch mitgliederarme Bezirk Oberschlesien hatte Basisfunktionäre, die wenn auch nicht durchgängig ge-schult, so doch besser ‚ausgebildet‘ waren im Sinne der Partei, als der reiche und große Bezirk Ruhrgebiet.

In den letzten Jahren der Weimarer Republik soll es aber zu einem Aufschwung bei der Schulungsarbeit an der Basis gekommen sein. Außerdem sollen 1929 endlich in dem Maße, wie es seit 1925 ständig gefordert worden war, in ausrei-chendem Maße Lehrer für die Schulung der einfachen Mitglieder und ehrenamt-lichen Funktionäre vorhanden gewesen sein. Dem entsprechen auch die Zahlen, die Mallmann anführt, wonach Ende 1929 insgesamt zehn Prozent der Mitglie-

458 SAPMO-BArch RY1/I3/6/15, Bl. 66. SAPMO-BArch RY1/I3/6/17, Bl. 11. SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 97. SAPMO-BArch RY1/I3/6/16, Bl. 79. SAPMO-BArch RY1/I3/6/16, Bl. 6.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 241

der und 1931 25 Prozent der Mitglieder geschult worden seien. Auch eine Äuße-rung des KPD-Orgleiters August Creutzburg, wonach 1930/31 60 Prozent der neuen Mitglieder einen Elementarkurs von drei bis sechs Abenden besucht hät-ten, stützt diese These.459

Skeptisch macht an diesen Zahlen aber allein schon die angebliche Verdoppe-lung der abgerechneten Mitgliederzahl zwischen dem zweiten Halbjahr 1929 (116.065 Mitglieder) und dem zweiten Halbjahr 1931 (230.034 Mitglieder). Dies kann ja nur bedeuten, dass die Effektivität des Schulungswesens verfünf-facht worden wäre. Gegen den Trend spricht auch eine Sonderkontrolle, die im Oktober 1932 im Unterbezirk Duisburg durchgeführt wurde. Danach hatten im Juli 1932 von 91 erfassten Betriebszellen nur neun und im September nur 40 von 107 Betriebszellen einen Schulungskurs durchgeführt, und wurde der „der politische Schulungstag“ im Juni, Juli und August 1932 nur von insgesamt 223 von 1.547 Zellen (23 von 157 Betriebszellen) durchgeführt. Die Grundlage dieses Aufschwungs, wie groß er immer auch ausgefallen sein mag, war sozial-struktureller Natur, und wurde mit der Weltwirtschaftskrise und der Betriebspo-litik der Parteiführung gelegt. Gemeinsam bewirkten sie, dass der Großteil der Mitgliedschaft und der ehrenamtlichen Funktionäre erwerbslos wurde, und da-durch im Unterschied zu früher nun endlich genug Zeit hatte, um zu schulen und geschult zu werden. Der ewige Konflikt um die knappen Ressourcen, nament-lich um die wenigen kompetenten Funktionäre, die auch fähig waren, als Kursleiter zu fungieren, aber auch um die knappe Zeit der zu schulenden Ge-nossen, war damit entscheidend entschärft. Außerdem scheinen die zuständigen Funktionäre der KPD bei dieser außerordentlichen Steigerung der Schulungs-effektivität zu demselben Mittel gegriffen haben, das auch in der Sowjetunion benutzt wurde, um die Erfüllung ambitionierter Pläne zu ‚erreichen‘, nämlich der Ausbau der Quantität durch die Senkung der qualitativen Ansprüche.460

Die zweite Säule des Schulungswesens der KPD war die Ausbildung von Funktionären, wobei ich mich hier auf die Tätigkeit in den Bezirken kon-zentrieren möchte. Inhaltlich ging es dabei weniger darum, die Funktionäre auf den verschiedenen Ebenen mit den notwendigen politischen und verwaltungs-

459 Mallmann: Kommunisten, S. 218. SAPMO-BArch RY1/I2/4/29, Bl. 154.460 Detlev J.K.Peukert: Die KPD im Widerstand. Verfolgung und Untergrundarbeit an Rhein und Ruhr 1933-1945, Wuppertal 1980, S. 51. Ein Licht auf die Ausbildung von Kurslehrern werfen die Memoiren von Tetje Lotz, der um 1929 an einer vierwöchigen Schulung teilnahm: „Ach, du liebe Zeit, da gab es Dinge, von denen ich noch nie etwas gehört hatte ... Politische Ökonomie - Historischer und dialektischer Materialismus - Schon vor den Worten konnte man Angst bekommen.“ Gleich im Anschluss daran wurde er Agitpropsekretär der Ham-burger Stadtteilgruppe Winterhude-Uhlenhorst, und organisierte und leitete selbst Elementar-schulungen (Lotz: Einschnitte, S. 58ff.). Mitgliederzahlen nach SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 173. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 178f.

242 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

technischen Fertigkeiten auszustatten, als sie zu ideologisch versierten Kennern der jeweils aktuellen Parteistrategie zu erziehen.

Auch hier waren die Anfänge zögerlich. Eine entscheidende Starthilfe bei der Funktionärsschulung war offenbar die Vorarbeit in der Sozialdemokratie im Kaiserreich. Schließlich brauchte man zur Ausbildung von Funktionären zu-nächst einmal andere Funktionäre, die schon das Niveau erreicht hatten, das erstere erst erreichen sollten. Die Ausgangslage auf Bezirksebene war daher für die westsächsische und die Berliner Partei um einiges günstiger als für die ‚zu spät gekommenen‘ Bezirke Ruhrgebiet und Oberschlesien, die, wie der Diaspo-rabezirk Pommern aus anderen Gründen, mehr oder weniger bei Null beginnen mussten.461 Dazu passt die Feststellung der Orgabteilung des Bezirks Rheinland-Westfalen in ihrem Brief an die der Zentrale vom 10. März 1922: „Leider müssen wir immer wieder feststellen, daß unsere Partei an einem ziemlichen Kräftemangel leidet“, der nur durch „intensive Schulung unserer Funktionäre“ geheilt werden könne. Auch das darauf folgende Jahr scheint da keine Besse-rung gebracht zu haben. Der Bericht eines namentlich nicht genannten Instruk-teurs über das Ruhrgebiet vom 14. April 1923 zeigt die gleiche Problematik: „Unserer Partei fehlt überall ein geschulter Funktionär-Kern, wie wir ihn in Ber-lin haben.“ Ein erster Bericht über die Schulungen von Funktionären aus einem der beiden kleinen Bezirke stammt aus der Mitte des Jahres 1924. Am 30. Mai und 1. Juni 1924 führte ein Instrukteur der Zentrale in Stettin einen Kurs über Organisationsfragen durch. Einen weiteren dieser Kurse leitete Mitte Juli desselben Jahres der Betriebszellenspezialist Walter Ulbricht, der in seinem Be-richt eine niederschmetternde Bilanz des Kenntnisstands der teilnehmenden pommerschen Funktionäre zog.462

Auch im Bereich der Funktionärsschulung scheint Mitte der 1920er Jahre et-was in Bewegung gekommen sein. Für den Februar 1925 werden vier Funktio-närskurse aus dem Ruhrgebiet (in Essen, Bochum, Dortmund und Buer) und vier aus Pommern (in Stralsund, Stargard, Stettin und Stolp) berichtet. In

461 An dieser historisch gewachsenen und strukturell bedingten ‚Spaltung‘ der Partei scheint sich auch bis Anfang der 1930er Jahre wenig geändert zu haben. Die Agitprop-Abteilung des ZK schlug daher in ihrem Rundschreiben vom 3. März 1931 vor, an der Reichsparteischule zwei getrennte Kurse einzurichten: Einen zur Ausbildung von hauptamtlichen Funktionären für die Genossen aus den stärkeren Bezirken wie Berlin-Brandenburg, dem Ruhrgebiet und Sachsen, und einen zur Verbesserung der Bezirksleitungen für die Genossen aus den schwä-cheren Bezirken wie Pommern und Oberschlesien (SAPMO-BArch RY1/I2/707/12, Bl. 59f.)462 SAPMO-BArch RY1/I3/20-21/20, Bl. 12. SAPMO-BArch RY1/I2/708/42, Bl. 7. „Bei der Fragestellung während des Kurses zeigte sich, daß den Genossen die wesentlichsten Kampferfahrungen der Partei nicht bekannt waren, sogar die Fragen über die organisato-rischen Erfahrungen des Oktobers [1923] wurden völlig ungenügend beantwortet. Die Frage, wer die Beschlüsse des III. Kongresses über die Organisationsfragen kennt, wurde von sämtli-chen Anwesenden verneinend beantwortet. Ebenso waren die Genossen sich nicht klar über die Beschlüsse des Frankfurter Parteitages [April 1924]. Gelesen hatte sie niemand der Anwesenden.“ (SAPMO-BArch RY1/I2/4/66, Bl. 7).

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 243

Oberschlesien waren die fünf 1924/25 angesetzten Kurse für Funktionäre nach sechs Wochen eingegangen, weil der Kurslehrer anderweitig beansprucht wurde. Im Dezember 1925 machte man einen weiteren Anlauf, und richtete zwei Kurse für Ortsgruppen- und Zellenfunktionäre zur Geschichte der Arbeiterbewegung ein.463

Wie eine gut geschmierte Schulungsmaschine lief, zeigt der am besten ausge-statteten Bezirk Berlin-Brandenburg. Für die Weihnachtswoche 1925 plante er beispielsweise eine Schulung von 200 Funktionären aus der Stadt und der Pro-vinz. Und für den Januar 1926 war sogar geplant, in allen Verwaltungsbezirken Kurse durchzuführen, an denen alle Mitglieder der Verwaltungsbezirksleitungen und Zellengruppenleitungen und alle Zellenobleute der Betriebe teilnehmen soll-ten, also alle Funktionäre unterhalb der Bezirksleitung. Dabei handelt es sich um die mit am besten dokumentierten Kurse überhaupt, da sich die ausführlichen Protokolle der Sitzungen der Kursuslehrer erhalten haben. Es scheint zwar einige kleinere Probleme gegeben zu haben, so etwa dass doch nicht alle dazu Aufgerufenen wirklich teilnahmen, oder dass auch hier die Teilnehmerzahlen sukzessive zurückgingen, aber insgesamt scheinen diese Kurse erfolgreich ge-wesen zu sein.464

Die höchste Stufe der Funktionärsschulung auf Bezirksebene waren die Bezirks-parteischulen für die gegenwärtigen und zukünftigen Spitzenfunktionäre der Be-zirke. An den dazu vorliegenden Berichten lassen sich deutlich die Unterschiede zwischen den Bezirken, gerade in Bezug auf die bezirkliche Infrastruktur und die Ressourcenausstattung aufzeigen (vgl. die Abschnitte 3.3.2 und 3.3.5).

Die BL Pommern begann die Planung ihrer wahrscheinlich ersten Bezirks-parteischule, die der anwesende ZK-Vertreter Fred Oelßner in seinem Bericht als „eine Lebensfrage für den Bezirk“ bezeichnete, auf ihrer Sitzung am 26. Ok-tober 1926. Sie sollte acht Tage dauern, und zehn der besten Funktionäre sowie einige arbeitslose Genossen aus dem Bezirksvorort Stettin in die Lage versetzen, später höhere Funktionen zu übernehmen. Die Kosten inklusive der Ernährung der Schüler schätzte der Bezirk auf 200 RM. Diese konnte die BL aber aus eigener Kraft nicht aufbringen. Mit dem Rundschreiben der BL vom 19. No-vember 1926 gingen gleichzeitig Sammellisten an die Ortsgruppen hinaus, von deren Erträgen die BL abhängig machte, wie viele Teilnehmer die Schule haben würde. Doch scheint dabei nicht viel herumgekommen sein, wie die BL in ihrem Rundschreiben vom 2. Februar 1927 schreibt. Manche Ortsgruppen antworteten einfach, „daß sie dafür kein Interesse haben und kein Geld.“ Außerdem wurde auf der BL-Sitzung am 27. November 1926 bekannt gegeben, dass das ZK nun

463 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/31, Bl. 2. SAPMO-BArch RY1/I3/3/26, Bl. 3. SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 29. SAPMO-BArch RY1/I3/6/14, Bl. 94.464 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/17, Bl. 468. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/18, Bl. 104. SAP-MO-BArch RY1/I3/1-2/98, Bl. 4.

244 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

doch keinen Kurslehrer stellen würde, was ein bezeichnendes Licht auf das strategische Gewicht des Bezirks bei der Parteiführung wirft. Am 15. Februar 1927 konnte die BL aber dem ZK brieflich melden, dass die Bezirksparteischule am 13. Februar mit 40 Teilnehmern eröffnet worden ist.465

Ähnlich große Anlaufschwierigkeiten gab es in Oberschlesien, wo die BL im Rundschreiben vom 2. August 1927 vollmundig die Eröffnung ihrer Bezirks-parteischule für den 15. November 1927 ankündigte. Die Kosten schätzte sie auf 60 RM pro Teilnehmer. Laut Rundschreiben des Sekretariats der BL vom 4. No-vember 1927 musste aber die Geldsammlung für die Schule bis zum 1. Januar 1928 verlängert werden. Eine Vollzugsmeldung über diese oberschlesische Be-zirksparteischule ist im Übrigen nicht zu finden. Im doch finanziell besser ge-stellten Bezirk Ruhrgebiet gab es anscheinend solche fundamentalen Probleme nicht. Er führte im Januar 1927 eine Bezirksparteischule mit 30 Funktionären aus den Unterbezirken durch. Der Berliner Bezirk hatte Mitte 1927 selbst auch Probleme, den „kühnen Plan“ einer kontinuierlich arbeitenden Bezirkspartei-schule zu finanzieren, wie Polleiter Pieck auf der BL-Sitzung am 26. Juni 1927 einräumte. 1932 aber sollen zwei Kurse durchgeführt worden sein. Aus dem Be-zirk Westsachsen ist die Durchführung einer Bezirksparteischule nicht über-liefert, und der im Dezember 1929 gegründete Bezirk Sachsen hielt seine erste Bezirksparteischule ein Jahr nach der Gründung ab.466

Insgesamt wurde das Angebot auch für den Bereich der Funktionärsschulung zu Anfang der 1930er Jahre breiter. Die BL Ruhrgebiet meldete am 26. Juni 1930, sie habe 30 Schulungskurse durchgeführt, die 60 Prozent der Funktionäre erfasst hätten. Der Bezirk Sachsen will, wie er am 1. Februar 1932 berichtet, zwischen Juli 1931 und Januar 1932 sogar mindestens 5.000 Funktionäre in 133 Kursen über einen Artikel Thälmanns geschult haben, und für die laufende Kampagne zur Massenfunktionärsschulung Berichte von 84 Kursen mit 3.864 Teilnehmern erhalten haben. Der Bezirk Berlin-Brandenburg berichtete am 14. Januar 1933, er habe im September 1932 in 16 Unterbezirken Schulungsabende für Funktionäre, in 6 Unterbezirken Wochenendschulungen über einen Thäl-mann-Artikel über den Faschismus in der „Internationale“, sowie in 12 Unterbe-zirken Unterbezirks-Wochenschulen mit einer Dauer von vier bis 14 Tagen durchgeführt.467

465 SAPMO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 145. SAPMO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 151. SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 178. SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 185. SAPMO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 160. SAPMO-BArch RY1/I3/3/20, Bl. 15.466 SAPMO-BArch RY1/I3/6/14, Bl. 209. SAPMO-BArch RY1/I3/6/17, Bl. 62. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/48, Bl. 31. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/19, Bl. 300. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/70, Bl. 150. SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/166, Bl. 224.467 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 52. SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/148, Bl. 22. SAP-MO-BArch RY1/I3/1-2/70, Bl. 150.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 245

Neben den bisher untersuchten Kursen für Funktionäre der verschiedenen Ebenen, gab es eine Reihe von besonderen Angeboten für spezielle Gruppen von Mitgliedern, also zum Beispiel für Kommunalvertreter, Betriebsräte und Ge-werkschaftsfunktionäre. Der Bezirk Oberschlesien richtete im Dezember 1925 jeweils einen Kurs für Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre ein. Im Be-zirk Ruhrgebiet gab es laut Arbeitsplan der BL für den Winter 1928/29 laufende Betriebsrätekurse in fünf Unterbezirksvororten, und war geplant, in den anderen drei ebenfalls solche durchzuführen. Mit der Schulung von Gewerkschafts-funktionären und Betriebsräten wagte sich die KPD in einen Bereich vor, der eine Domäne des ADGB war, dessen Verbänden Mitte der 1920er Jahre fast hundert Prozent der organisierten Kommunisten angehörten. Ein gewisser Teil der Parteimitglieder, die in diesen Feldern tätig waren, wird also - jedenfalls in der realpolitischen Phase der KPD 1925 bis 1928 - von der Schulungsarbeit der Freien Gewerkschaften berührt worden sein.468

4.2.3.3 Die Arbeitsweise der SchulungenDie Schulungsarbeit der KPD war inhaltlich weit entfernt von einem pragma-tischen Ansatz, wie er in der Schulungsarbeit der SPD und vor allem der ADGB-Verbände zu finden war. Im Gegenteil, die Schulungsarbeit in der KPD war größtenteils extrem ideologisiert. Es war wichtiger, dass der geschulte Funktionär der KPD sich in der parteioffiziellen Auslegung der wichtigsten Thesen des Marxismus-Leninismus und den zentralen Aussagen der Parteifüh-rung oder der KI zur aktuellen Politik zurechtfand, als ihn in die Lage zu versetzen, seine praktische Alltagsarbeit kompetent organisieren und autonom Entscheidungen im Sinne der Partei treffen zu können. In den frühen 1930er Jahren war die Schulungsarbeit der KPD noch stärker als schon zuvor von der „mentalen Standardisierung“ (Sofsky) der Schüler dominiert, die den Funktionär zum willigen Automaten der Parteiführung, und das ‚einfache‘ Mitglied zum ge-horsamen Parteisoldaten zu formen versuchte.

Die Schulungsarbeit der KPD hatte drei grundlegende Themenkomplexe: erstens die Theorie des Marxismus-Leninismus, zweitens die Geschichte der deutschen (und russischen) Arbeiterbewegung und drittens aktuelle Fragen der Politik. Die ersten beiden wurden dabei oft miteinander kombiniert, wie etwa bei dem Lenin-Zirkel für Funktionäre der BL Westsachsen, der Ende August 1925 begonnen wurde. Er bestand aus drei Blöcken, den „Grundproblemen des Marxismus“, einem „Überblick über die Geschichte der Arbeiterbewegung und Revolution“ und „Der Leninismus“, und bot damit gleichsam den gesamten ‚Bildungskanon‘ der Weimarer KPD an. Ähnlich strukturiert war die Schule, die der Unterbezirk Leipzig vom 25. bis zum 31. Dezember 1930 durchführte. Dort bestand der Lehrplan aus zehn Stunden Politischer Ökonomie, jeweils sechs Stunden Geschichte der KPD, Strategie und Taktik der KPD und Strategie und

468 SAPMO-BArch RY1/I3/6/14, Bl. 94. HStAD Regierung Düsseldorf 60642a.

246 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

Taktik der RGO, sowie jeweils vier Stunden Rolle und Aufbau der KPD und Fünfjahresplan und Roter Aufbau (in der Sowjetunion). Die aktuellen Themen, die geschult wurden, flankierten ab der Mitte der 1920er Jahre die großen Kam-pagnen der KPD, wie zum Beispiel 1927 ein Elementarkurs über Krieg und Kriegsgefahr. In den späteren Jahren wurden auch zentrale Aufsätze der füh-renden Funktionäre zum Anlass für größere Schulungskampagnen. So zum Bei-spiel Thälmanns Artikel „Einige Fehler in unserer theoretischen und praktischen Arbeit und der Weg zu ihrer Überwindung“ im Doppelheft der „Internationale“ für November/Dezember 1931.469

Die methodische Vorgehensweise der Kurse für einfache Mitglieder und untere Funktionäre blieb traditionell. Idealtypisch betrachtet stand der wissende Lehrer den unwissenden Schülern gegenüber und versuchte nach einem von oben vorgegebenen Schulungsplan frontal möglichst viel Stoff in die Hirne der Schü-ler hineinzustopfen. Diese Vorgehensweise mag zum Teil wohl auch der Bil-dungssozialisation der meisten Genossen zu schulden gewesen sein, die in der Volksschule wenig zum eigenständigen Denken oder dazu, sich aktiv einzu-bringen, erzogen worden waren. Die KPD musste in ihrer Schulungsarbeit nun einmal mit dem ‚Material‘ arbeiten, das ihr zur Verfügung stand. Außerdem hät-te man für eine ausgedehnte Anwendung interaktiver Methoden pädagogisch versierte Lehrer haben müssen. Statt dessen standen auch bei deren Ausbildung die Inhalte klar im Mittelpunkt.

Auf den höheren Stufen der Funktionärsausbildung experimentierte man mit anderen Methoden, für die sich der besonders engagierte Edwin Hoernle schon auf dem vierten Weltkongress der KI im Herbst 1922 eingesetzt hatte. Dabei stand die seminaristische Methode im Mittelpunkt, deren Einführung ausdrück-lich mit der Intention verbunden war, vom Frontalunterricht wegzukommen. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass Lehrer und Schüler nach einem kurzen einlei-tenden Vortrag des Lehrers gemeinsam den Stoff etwa anhand von vorgelegten Texten erarbeiteten. Den Schülern sollte damit auch ermöglicht werden, das po-litische Argumentieren zu erlernen. Es dauerte offenbar geraume Zeit bis die Be-zirke in der Lage waren, Funktionärsschulungen nach der seminaristischen Me-thode durchzuführen. Laut dem Berliner Agitpropleiter Fröhlich waren die Kurse für Verwaltungsbezirksfunktionäre im Februar 1926 die ersten Kurse im Bezirk Berlin-Brandenburg, die in seminaristischer Weise durchgeführt worden seien.470

Eine andere Methode war die Schulung nach dem Dalton-Plan von Helen Pankhurst, bei der der Lehrer noch mehr in den Hintergrund tritt, und die Schü-ler selbsttätig und eigenverantwortlich den Stoff erarbeiten sollten, womit gleichzeitig die Befähigung zum selbständigen Arbeiten vermittelt oder bestärkt

469 SAPMO-BArch RY1/I3/10/119, Bl. 53. Weber: Hauptfeind, S. 45.470 Vgl. Krinn: Schulungsarbeit, S. 348. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/98, Bl. 21.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 247

werden sollte. Mit der Methode des Dalton-Plans war Mitte der 1920er Jahre in den Parteischulen der KPdSU experimentiert worden. Was die KPD betrifft, so scheint es beim ersten Experiment, das auf der Reichsparteischule 1929 durch-geführt wurde, geblieben zu sein.471

Zum Schluss dieses Abschnitts stellt sich natürlich die Frage, was bei den Schü-lern der diversen Schulungen inhaltlich überhaupt angekommen ist. Natürlich lässt sich auf der Grundlage des sehr durchwachsenen Quellenmaterials keine seriöse Wirkungsanalyse vornehmen. Hinweise auf einige Problemfelder sind aber dennoch möglich. Die unzureichende Schulbildung der meisten Schüler etwa war ein ernsthaftes Hindernis eines vertieften Eindringens in die geschulten Themenkreise. Da es, wie schon zu sehen war, keine didaktisch und vom Schwierigkeitsgrad her aufeinander aufbauenden Bildungsstufen gab, war dieses Problem nicht auf die Einführungskurse und Elementarschulung begrenzt, son-dern wirkte sich auch auf die Funktionärsausbildung aus. Leider lässt sich nicht einschätzen, wie repräsentativ die folgende Bestandsaufnahme des Berliner Agitpropleiters Fröhlich vom 16. Februar 1926 ist. Er bezieht sich auf einen Kursus für Funktionäre des Verwaltungsbezirks Tempelhof, unter dessen ma-ximal 20 Teilnehmern, denen Fröhlich „Vorkenntnisse = Null“ bescheinigt, elf Genossen waren, die seit 1923 oder früher Mitglied der Partei waren. Da kann es natürlich nicht verwundern, wenn es auch bei der Schulung höherer Funktionäre immer wieder zu Verständnisproblemen kam, wie etwa bei der Bezirkspartei-schule, die der Bezirk Ruhrgebiet im Januar 1927 für 30 Unterbezirksfunktio-näre durchführte, wo sich hinterher herausstellte, dass „sich die Genossen in der Frage des Mehrwertes nicht klar geworden“ seien, also der zentralen Kategorie der Marxschen Politischen Ökonomie.472

Die Schulungsarbeit der KPD war sicherlich nicht generell ein Fiasko. Viele ambitionierte Absichten schlugen aber auf Grund von Verhältnissen fehl, die die KPD nicht beeinflussen konnte, wie eben zum Beispiel die ungenügende Vorbil-dung der Genossen. Die Schulungsarbeit war daher kaum der große Hebel zur Generierung eines ideologisch versierten Funktionärsstammes, wenn auch im Laufe der Jahre auf diesem Gebiet Fortschritte zu verzeichnen waren. Auf Grund ihrer spezifischen Begrenztheit war die Schulungsarbeit daher auch nicht der entscheidende Schlüssel zur intensiven Vermittlung der Deutungsangebote der Parteiführung. Die Aneignung der Parteiideologie und der jeweils gültigen Linie durch die ‚einfachen‘ Genossen erfolgte doch zu großen Teilen unsys-tematisch. Die im Folgenden zitierte Äußerung eines Genossen Gerber auf der Sitzung der Berliner BL mit Vertretern der Verwaltungsbezirksleitungen am 14. Mai 1925 bringt dieses Problem auf den Punkt: „Unsere Parteigenossen unten

471 Krinn: Schulungsarbeit, S. 352ff. 472 SAPMO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 145. SAPMO-BArch RY1/I2/707/93, Bl. 121. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/48, Bl. 31.

248 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

erhalten ihre leninistische Schulung nicht auf Grund von Kursen, sie erhalten sie auf Grund der Diskussionen.“ Insofern Schulungsarbeit aus der Sicht der KPD-Führung das letztlich nur als totalitär zu bezeichnende Projekt war, den Eigensinn der Genossen, und damit die aus Unkenntnis, Unverständnis und Un-einsicht resultierenden Dissonanzen in der alltäglichen Parteiarbeit auszurotten und Widerspruch zu eliminieren, war sie ein phänomenaler Fehlschlag.473

4.2.4 Die Vermittlung der Entwicklung der Sowjetunion„Mit der Existenz der Sowjetunion besaß die KPD einen wirkungsmächtigen Werbe- und Integrationsfaktor sui generis, die Vision eines realen, aber gleich-wohl fernen ,Arbeiterparadieses‘, dem die SPD nichts Gleichwertiges ent-gegenzusetzen hatte.“ Die Verbindung der Kommunisten mit der charisma-tischen Sowjetunion, wie sie am Sinnfälligsten in der „Internationale“, dem meistgesungenen Parteilied, und in der Fahne der Partei zum Ausdruck kam - die ja beide offizielle staatliche Symbole der Sowjetunion waren -, verlieh der KPD eine Attraktivität, die sie sonst nicht besessen hätte. Ohne die Wirkungs-kraft des großen Vorbilds hätte die KPD wahrscheinlich insgesamt weniger und auch weniger gut integrierte Mitglieder gehabt. Seit im Februar 1917 von der Ostfront die Nachricht durchsickerte, dass der Zar gestürzt ist, verfolgten deut-sche Arbeiter die Ereignisse in Russland mit großer Aufmerksamkeit. Seit der ersten großen Kampagne für die Hungerhilfe von 1921 war die Sowjetunion ein in Deutschland etablierter Propagandafaktor ersten Ranges. Im Laufe der folgenden zwölf Jahre war die Sowjetunion in der Partei permanent präsent, konnte sich kaum ein Genosse dem Rummel entziehen, den die Partei, ihre Zeitungen und Verlage inszenierten.474

4.2.4.1 MedienHöhepunkt einer ohnehin permanenten Berichterstattung durch die Parteipresse war wohl die Jubiläumskampagne 1927, zu der beispielsweise die „Rote Fahne“ ab dem 30. März eine neue Rubrik unter dem Titel „Der Weg zum roten Ok-tober 1917. Vor 10 Jahren“ einführte. Noch einmal intensiviert wurde die Beschäftigung der Parteipresse mit der Sowjetunion seit dem Beschluss des in-dustriellen Aufbaus im Rahmen des ersten Fünfjahresplans im Jahr 1929. Näher auf die Sowjetunion-Berichterstattung der Parteizeitungen einzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.475

473 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/49, Bl. 5.474 Mallmann: Kommunisten, S. 230. Zu den Einstellung der ‚einfachen‘ Mitglieder zur So-wjetunion, die ich hier nicht näher behandeln kann, vgl. Eumann: Kameraden, S. 125-127.475 Kinner: Geschichtswissenschaft, S. 309. H. Fliege: Zur Rezeption der Sowjetliteratur in der KPD-Presse 1919 bis 1933, in: Deutschland-Sowjetunion. Aus fünf Jahrzehnten kultureller Zusammenarbeit, Berlin (DDR) 1966, S. 309-314, hier: S. 312.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 249

Von größerer Bedeutung noch als die Parteizeitungen war die „Arbeiter-In-ternationale Zeitung“ (AIZ). Sie wurde während der Hungerhilfe-Kampagne der soeben gegründeten IAH von Münzenberg ins Leben gerufen und erschien am 7. November 1921 zum ersten Mal als Monatsschrift unter dem Namen „Sowjet-rußland im Bild“. 1922 wurde sie in „Sichel und Hammer“ umbenannt und zum Ende des Jahres wurde ihr Umfang verdoppelt. Ab der Ausgabe vom 30. No-vember 1924 war die Zeitschrift, die am 1. März 1925 auf halbmonatliches Er-scheinen umgestellt wurde, endlich zu ihrem markanten Namen gekommen, und hatte sich als zweitgrößte Illustrierte am Markt etabliert. Ohne ein großes und lebendiges Interesse an der Entwicklung der Sowjetunion bei der deutschen Leserschaft, die bis 1925 das einzige Thema der AIZ war, wäre das nicht möglich gewesen. 1926 wurde sie auf wöchentliches Erscheinen umgestellt. Ihre Auflage lag laut Angaben der Agitprop-Abteilung des ZK der KPD im Januar 1924 bei 51.000 Exemplaren. Im April 1924 wurde erstmals eine Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren erreicht, mit dem vierten Heft im Januar 1927 wurde die Marke von 200.000 und schon mit Heft 37/1927 die von 300.000 Ex-emplaren überschritten.476

Die AIZ berichtete ausführlich über alle Bereiche des Lebens in der Sowje-tunion. Der Tenor dieser Berichterstattung war - vollkommen bewusst - positiv bis unkritisch. Sibylle Groß, die frühere Mitgeschäftsführerin des NDV, der die AIZ herausgab, schreibt dazu in ihrem Buch über ihren damaligen Lebensge-fährtin Münzenberg: „Wichtigstes Anliegen war die Berichterstattung über Sow-jetrußland. Sie war ganz und gar unkritisch und bediente sich der fragwürdigsten Mittel. Viele Arbeiter wollten eine Fata Morgana sehen, nicht die triste Wirklichkeit.“ Die besondere Aufmerksamkeit der AIZ galt dem industriellen Aufbau. Sie berichtete groß über die Turksibirische Eisenbahn, den ersten Stalingrader Traktor und das erste in der Sowjetunion produzierte Auto. Ein weiterer Schwerpunkt war das Alltagsleben der Arbeiter in der Sowjetunion. Besonders populär bei den Lesern war die mit Heft 38 im Jahr 1931 gestartete Bildreportageserie über die Moskauer Familie Filipov, bei der es sich um eine von sowjetischen Agitpropfunktionären produzierte Fiktion handelte. Dazu wieder Sibylle Groß:

„Da saß diese beneidenswerte Familie mit fünf zum Teil schon erwachsenen Kindern in einer einfach, aber hübsch eingerichteten Wohnung am Frühstückstisch, der jedem von ihnen Eier und Milch bot. Später in der Straßenbahn, bei der Fahrt zur Arbeit, hatte je-der seinen bequemen Sitzplatz. An der Arbeitsstätte herrschten Ordnung und ungetrüb-tes Einvernehmen zwischen den Kollegen. Der Feierabend der Filipows war eine

476 Surmann: Münzenberg-Legende, S. 54ff. Heinz Willmann: Geschichte der Arbeiter Illus-trierten Zeitung 1921-1938, Berlin (DDR) 1975, S. 20. SAPMO-BArch RY1/I2/707/132, Bl. 44 bzw. Bl. 141f. Hinzu kamen diverse Sonderhefte insbesondere aus Anlass bestimmter Jah-restage, wie etwa 1928 das AIZ-Sonderheft über die Rote Armee, von dem 152.000 Exempla-re verkauft worden sein sollen (SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 277).

250 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

einzige Idylle, ob auf geräumigen Sportplätzen beim fröhlichen Spiel oder beim beiläu-figen Kauf eines Anzugs für 27 Rubel für einen der Filipowsöhne.“

Zehn Hefte nach dem Beginn der Filipov-Serie wurde dieser potemkinschen Fa-milie eine natürlich verelendete proletarische deutsche Familie aus dem Berliner Wedding kontrastierend gegenübergestellt. Die in der Propaganda der Partei bestens bewährte Gegenüberstellung der erfolgreichen Oktoberrevolution mit der missglückten Novemberrevolution, und damit der sich stetig verbessernden Lebensverhältnisse in der Sowjetunion mit dem Niedergang in Deutschland, die stets ein besonders Anliegen der AIZ war, hatte einen neuen Höhepunkt er-reicht.477

Darüber hinaus taten sich die AIZ und der 1923 von Münzenberg übernommene NDV ganz besonders bei der Vermittlung der sowjetischen Literatur hervor. Die AIZ veröffentlichte regelmäßig sowjetische Romane in Fortsetzungen. Das glei-che tat auch ein Großteil der Tageszeitungen der Partei. Dort erschien im Durch-schnitt pro Blatt jedes Jahr ein sowjetischer Roman. Insgesamt brachten deut-sche Verlage während der Zeit der Weimarer Republik ca. 300 Werke sowje-tischer Autoren in deutscher Übersetzung heraus. Der Höhepunkt dieser Form der Vermittlung sowjetischer Literatur, war sicherlich der Abdruck von Fjodor V. Gladkovs Roman „Zement“ aus dem Jahr 1924 - dem „ersten Roman vom kommunistischen Aufbau“ -, der „in fast allen Bezirkszeitungen der Partei im zweiten Halbjahr 1927“ abgedruckt wurde. Die Buchausgabe von „Zement“, die 1927 im Wiener KI-Verlag für Literatur und Politik erschien, wurde mit zwei Auflagen in einer Gesamthöhe von 18.000 Exemplaren zu dem Bestseller der sowjetischen Literatur in Deutschland. Auch die Nachfrage in den städtischen Bibliotheken nach diesem Werk war erheblich. Von den 60 Selbstzeugen, die konkrete Buchtitel angeben, haben 13 „Zement“ gelesen. Dieses literarisch eher dürftige Werk des Bauernsohns Gladkov, das mit einer langatmigen Beschreibung der proletarischen Lebensweise beginnt, und die ganze Palette der proletarischen Vorurteile parat hat, hat bei der KPD-Mitgliedschaft neben Ej-zenštejns Film „Panzerkreuzer Potemkin“ wahrscheinlich den größten Beitrag zur Verbreitung des Mythos vom unermüdlichen Bolschewiken überhaupt ge-leistet.478

Die zweite Säule der Sowjetunion-Publizistik der parteieigenen und der Partei nahestehenden Verlage waren die Broschüren zu den verschiedensten Aspekten der Entwicklung des Landes. Exemplarisch seien hier genannt: A. Bychovski:

477 Groß: Münzenberg, S. 164. Karlheinz Schaller: Der sozialistische Aufbau in der Sowje-tunion während des ersten Fünfjahrplans und die politische Massenarbeit der KPD, in: BGA 5/1982, S. 710-719, hier: S. 716.478 Jürgen Rühle: Literatur und Revolution, München 1963, S. 48. Fliege: Rezeption, S. 313. Christa Schwarz: Die Rolle der sowjetischen Belletristik im deutschen Verlagsschaffen 1917-1933, Phil. Diss., Berlin (DDR) 1966, S. 163.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 251

„Sozialversicherung in der U.d.S.S.R.“ (1926), Frida Rubiner: „Der Arbeiter als Herr im Staate“ (1927) und V. Molotov: „Der Fünfjahresplan siegt!“ (1931). Trotz des hohen Preises ebenfalls sehr begehrt waren die Bildbände des NDV. 1928/29 erschien die „Illustrierte Geschichte der Russischen Revolution“ in einer Auflage von 25.000 Exemplaren, und die „Illustrierte Geschichte des Bürgerkrieges in Rußland“ brachte es auf 20.000 Exemplare. Der industrielle Aufbau im Rahmen des Fünfjahrplans wurde verherrlicht durch die Bildbände „Der Staat ohne Arbeitslose“ von Franz Carl Weiskopf und Ernst Glaeser von 1930 und „15 eiserne Schritte. Die Sowjetunion in den Jahren des Aufbaus 1917-1932“ von Otto Katz und Alfred Kurella.479

Zu erwähnen ist schließlich noch die überreiche Menge an Reise-Reportagen. Laut Furler erschienen zwischen 1917 und 1932 insgesamt 128 Reisereportagen über die Sowjetunion, davon waren 28 eindeutig kommunistischen oder der Partei nahestehenden Autoren zuzuordnen. Die meisten der letzteren hielten sich im Großen und Ganzen an die Praktiken der AIZ. Die oft des Russischen nicht mächtigen kommunistischen Reporter verzichteten, selbst wenn ihnen vor Ort keine Potemkinschen Dörfer präsentiert worden waren, von vornherein auf jeden Zweifel, und stellten sich damit leidenschaftlich ganz in den Dienst der Sowje-tunion-Propaganda. Exemplarisch dafür stehen die Werke F.C. Weiskopfs. Sein Buch „Umsteigen ins 21. Jahrhundert“ von 1927 war, wie das folgende Zitat zeigt, nichts als ein vom eigenen Enthusiasmus überwältigter Lobgesang:

„USSR! Sowjetmacht! Wunderbare, abenteuerliche und doch so nüchtern wirkliche, zielbewußte Zeitmaschine, auf der 150 Millionen, geführt von einer jungen Klasse, sich den Weg zu bahnen versuchen aus dumpfer Vergangenheit in ein neues, lichteres Jahr-hundert.“

Wohl der große Bestseller der Reportage-Literatur auch bei den KPD-Mitglie-dern aber war der Bericht der ersten deutschen Arbeiterdelegation in die Sowje-tunion, der im November 1925 unter dem Titel „Was sahen 58 deutsche Arbeiter in Rußland?“ im NDV erschien, und schnell eine Gesamtauflage von 130.000 Exemplaren erreicht haben soll.480

* * *

Von ebenfalls kaum zu überschätzender Wirkung auf die Mitglieder der KPD war der sowjetische Film. Sergeij M. Ejzenštejns Film „Panzerkreuzer Potem-

479 Von den beiden Bildbänden zur Geschichte der Sowjetunion wurden sogar im Niedriglohn-bezirk Oberschlesien 100 bzw. 30 Exemplare verkauft, wie die BL dem Bezirksparteitag am 13./14.4.1929 in ihrem Bericht stolz vermeldet (SAPMO-BArch RY1/I3/6/5, Bl. 64).480 Bernhard Furler: Augen-Schein. Deutschsprachige Reportagen über Sowjetrußland 1917-1939, Frankfurt am Main 1987, S. 151-167. Zitat aus: Erhard Schütz: Kritik der literarischen Reportage. Reportagen und Reiseberichte aus der Weimarer Republik über die USA und die Sowjetunion, München 1977, S. 142. SAPMO-BArch RY1/I2/707/132, Bl. 48 bzw. 169.

252 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

kin“, der am 29. April 1926 seine deutsche Uraufführung im Apollo-Theater in der Berliner Friedrichstraße erlebte, dürfte als singuläres Propagandaereignis mehr neue Genossen für die KPD gewonnen haben, als irgendetwas anderes. Willy Sägebrecht und seine Frau hatten 1926 Gelegenheit, den „Panzerkreuzer Potemkin“ in den Alhambra-Lichtspielen im Berliner Wedding zu sehen. In sei-ner Autobiographie beschreibt er die Wirkung dieses Films: Bei der Szene, in der die aufständischen Matrosen die zaristischen Marineoffiziere entwaffnen, „sprangen die [proletarischen] Jugendlichen von ihren Sitzen und warfen voller Begeisterung ihre Mützen in die Luft. Sie umarmten einander und brachen immer wieder in Beifallskundgebungen aus“ bis die erwachsenen Zuschauer sie beruhigten. Er wurde regelmäßig auf Veranstaltungen der KPD oder ihr nahe stehender Organisationen aufgeführt, so zum Beispiel am 25. Oktober im west-sächsischen Bennewitz im Rahmen einer KPD-Veranstaltung zum zehnten Jah-restag der Oktoberrevolution.481

Diese Form der Propagandaarbeit begann ebenfalls im Rahmen der Aktionen der Hungerhilfe von 1921. Im Oktober 1921 reiste Max Barthel, ein Freund Münzenbergs und einer seiner Mitarbeiter beim Aufbau der IAH, der im Juli 1920 erstmals Sowjetrussland besucht hatte, im Auftrag der KPD mit einem Lichtbildervortrag durch die Lande. Der Lichtbildervortrag wurde zu einer ein-geführten Form der kommunistischen Sowjetunion-Propaganda, weil er mit weniger Aufwand und damit günstiger aufzuführen war als der Film. Zum zehn-ten Jahrestag der Oktoberrevolution stellte die IAH einen Lichtbildervortrag „10 Jahre Sowjetunion“ zusammen, der von zahlreichen Ortsgruppen der KPD vorgeführt wurde. Im März 1922 wurde in Deutschland der erste sowjetische Dokumentarfilm gezeigt. Wohl im gleichen Jahr, spätestens aber 1923 wurden mit „Polikuschka“ und „Das Wunder des Soldaten Iwan“ auch die ersten Spiel-filme gezeigt. Münzenbergs IAH, die sich mehr und mehr zum Medienkonzern entwickelte, übernahm dabei, wie es im Bericht der Zentrale an den 8. Parteitag 1923 hieß, die Organisation.482

Insgesamt konnte ich in den Quellen 36 verschiedene Titel sowjetischer Spiel- und Dokumentarfilme ausfindig machen, die im Rahmen der Agitproparbeit der KPD aufgeführt wurden. Der Höhepunkt der Filmarbeit erst der IAH, dann der aus diesem Zusammenhang 1925 von Münzenberg gegründeten „Prometheus“ als Vertriebs- und Verleihgesellschaft waren, wie gesagt, die Aufführungen des „Panzerkreuzer Potemkin“. Ebenfalls sehr populär waren „Sturm über Asien“ von Vsevolod Pudovkin von 1928, Ejzenštejns Revolutionsfilm „Oktober“ von

481 Willy Sägebrecht: Nicht Amboß, sondern Hammer sein. Erinnerungen, Berlin (DDR) 1968, S. 94. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 123.482 Max Barthel: Kein Bedarf an Weltgeschichte. Geschichte eines Lebens, Wiesbaden 1950, S. 69. Gisela Jähn: Die brüderlichen Beziehungen zwischen den sowjetischen Werktätigen und den deutschen Arbeitern in den Jahren 1921 bis 1924, Diss., Berlin (DDR) 1964, S. 62. Willi Lüdecke: Der Film in Agitation und Propaganda der revolutionären deutschen Arbei-terbewegung (1919-1933), Berlin (DDR) 1973, S. 24. Bericht 8. Parteitag, S. 123.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 253

1929 und der 1927 von einer deutschen Arbeiterdelegation gedrehte Streifen „Quer durch Sowjetrußland“. Die KPD-Führung wusste sehr wohl, welches pro-pagandistische Pfund ihr mit den sowjetischen Filmen zugespielt worden war. Sie setzte sie relativ systematisch zur Mitgliederwerbung ein, und sie waren zu Wahlkampfzeiten eines der wichtigsten Propagandainstrumente. Die BL West-sachsen schrieb in ihrem Monatsbericht für April/Mai 1928, sie habe 83 Film-abende durchgeführt, und dort neun verschiedene sowjetische Filme aufgeführt, darunter natürlich der „Panzerkreuzer Potemkin“ sowie der Lenin-Film „Sein Mahnruf“.483

Die in der KPD-Mitgliedschaft populären sowjetischen Lieder wurden oben schon behandelt (vgl. Abschnitt 4.1.3). Die Genossen verfolgten die sowjetische Musik in kaum geringerem Maße als die Literatur und den Film. Der erste große Attraktion war die Konzerttournee des russischen Geigers Soermus im Spätsom-mer 1922, die laut dem Bericht der Abteilung Bildung und Propaganda der Zentrale an den 8. Parteitag 1923 ein großer propagandistischer Erfolg für die KPD war. Der nächste Höhepunkt war die Tournee der bekanntesten sowje-tischen Agitprop-Truppe „Blaue Blusen“ im Spätherbst 1927. Zwischen dem 15. Oktober und dem 1. November 1927 absolvierten sie zunächst 13 Auftritte, mussten die Tournee aber wegen des Andrangs bis zum 18. Dezember 1927 verlängern. Ihr Auftritt am 12. Oktober 1927 in Leipzig soll laut Bericht der BL Westsachsen für den Oktober 1927 schon tagelang vorher ausverkauft gewesen sein, weshalb ein weiterer für den 27. November 1927 angesetzt wurde. Die „Blauen Blusen“ sollen 1927 in 25 Städten vor insgesamt 150.000 Zuschauern aufgetreten sein, und die AIZ berichtete selbstverständlich ausführlich darüber. Die besondere Ausstrahlung der „Blauen Blusen“ zeigt sich darin, dass sich in beinahe jeder Stadt, in der sie aufgetreten waren, bald darauf deutsche Agitprop-Truppen gründeten. Auch ein deutsch-russisches Balalaikaorchester existierte, das 1928 und 1929 in Westsachsen vieles dazu beitrug, Wahlveranstaltungen der KPD attraktiver zu machen.484

4.2.4.2 VeranstaltungenAuch eine große Zahl an Parteiveranstaltungen befasste sich mit der Entwick-lung der Sowjetunion. Dabei handelt es sich einerseits um öffentliche Versamm-lungen, andererseits um parteiinterne Mitgliederversammlungen, teils zur Diskussion bestimmter Fragen, teils zur Information der Genossen im Rahmen der Vorbereitung der zahlreichen Sowjetunion-Kampagnen der Partei.483 Kurt Langmaack: Ich wählte mein Unglück, Hamburg 1953, S. 11. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 384.484 Bericht 8. Parteitag, S. 93. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 101. Bodek: Megaphone, S. 194ff. Gunter Reus: Oktoberrevolution und Sowjetrußland auf dem deutschen Theater. Zur Verwendung eines geschichtlichen Motivs im deutschen Schauspiel von 1918 bis zur Gegen-wart, Bonn 1978, S. 111.

254 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

Ganz besonders ragen unter den öffentlichen Veranstaltungen die seit der Mit-te der 1920er Jahre durchgeführten Veranstaltungen zur Berichterstattung der verschiedenen Arbeiterdelegationen hervor, die in allen fünf Bezirken doku-mentiert sind. Nach dem Besuch einer Delegation des britischen Trade Union Congress in der Sowjetunion im November und Dezember 1924, wurde die So-wjetunion-Touristik der Arbeiterdelegationen zu einer regelmäßigen Einrich-tung. Sie bildete in Deutschland zwischen 1925 und 1928 eine zentrale Säule der Sowjetunion-Propaganda der KPD. Die erste deutsche Arbeiterdelegation hielt sich vom 14. Juli bis zum 28. August 1925 in der Sowjetunion auf, und bestand aus 56 Arbeitern und 2 Lehrern, von denen 28 der SPD und 16 der KPD ange-hörten. Am letzten Tag ihres Aufenthalts beschrieb sie in einer Resolution ihre ursprüngliche Zielsetzung wie folgt:

„Die entscheidende und für die deutsche Arbeiterklasse wichtigste Frage war: Ist So-wjetrußland wirklich ein Staat, in welchem die Prinzipien von Marx und Engels in die Tat umgesetzt sind; hat die Arbeiterklasse wirklich die Macht in den Händen, oder übt eine kleine Clique eine Diktatur über ein Millionenvolk aus?“

Dort zeigte man ihnen ausgewählte industrielle und landwirtschaftliche Be-triebe, Kasernen der Roten Armee, Kinderheime oder Schulen. Weil die meisten Delegierten der russischen Sprache nicht mächtig waren, und daher nicht mit den Arbeitern oder Soldaten reden konnten, kehrten die meisten mit höchst posi-tiven Eindrücken zurück.485

Darauf, dass eine Mehrheit der Teilnehmer Sozialdemokraten waren, legten die Richtlinien für die Entsendung von Arbeiterdelegationen ausdrücklich Wert, um der Sowjetunion-Kritik der SPD und ihrer Presse etwas entgegen zu setzen. Auf diese Weise sollte in der SPD „eine rußlandfreundliche Stimmung geschaf-fen und verstärkt werden.“ Die mitreisenden Kommunisten und KPD-Sympathi-santen dienten in diesem Kalkül „zur Beeinflussung der übrigen.“ Außerdem legte man Wert darauf, dass die Delegierten in Belegschaftsversammlungen ge-wählt wurden, um dem Ganzen von vornherein einen festlichen Rahmen zu verleihen und „einen möglichst großen Kreis von Arbeitern dahin zu bringen, daß sie den gewählten Delegierten als ihren Abgesandten, als ihren Vertrauens-mann betrachten.“486

Der Bericht der ersten deutschen Arbeiterdelegation war ein Riesenerfolg. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr wurde wurden die Teilnehmer von der KPD auf Berichtstournee geschickt. Im vorläufigen Bericht der zuständigen Funktio-

485 Claus Remer: Die drei großen Arbeiterdelegationen nach der Sowjetunion (1925-1927), in: ZfG 2/1956, S. 343-365, hier: S. 345. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. VIII: Januar 1924 bis Oktober 1929, Berlin (DDR) 1966, S. 190. Die „Rote Fahne“ begleitete die erste deutsche Arbeiterdelegation mit fünf Artikeln zwischen dem 30. Juli und dem 25. Au-gust (Remer: Arbeiterdelegationen, S. 103).486 SAPMO-BArch RY1/I2/708/56, Bl. 1f.

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 255

näre der Gewerkschaftsabteilung des ZK über die Arbeit der Arbeiterdelegierten vom 26. November 1925 ist die Rede davon, dass die Russlanddelegierten bis-lang vor ca. 1.000 Versammlungen mit einer halben Million Teilnehmern gesprochen hätten. Zum Beispiel hatte der Berliner Delegierte Walter Zahn auf 68 Versammlungen mit 39.000 Teilnehmern berichtet. Bei Theo Overhagen, einem KPD-Mitglied aus Essen, waren es 52 Veranstaltungen mit 32.000 Teil-nehmern, und Max Girndt, KPD-Ortsgruppenleiter in Oppeln, sprach in Oberschlesien vor 26 Versammlungen mit 14.720 Teilnehmern. Insgesamt sollen die einzelnen Teilnehmer der ersten deutschen Arbeiterdelegation schließ-lich vor ca. 1.400 Versammlungen gesprochen haben.487

Die Berichtskampagne setzte sich mit den nächsten Delegationen fort. Die zweite deutsche Arbeiterdelegation, die aus 65 Teilnehmern bestand, von denen 45 Sozialdemokraten waren, weilte vom 27. Juli bis zum 15. Oktober 1926, die dritte mit 77 Teilnehmern (davon 34 Sozialdemokraten) vom 15. Oktober bis zum 18. November 1927 in der Sowjetunion. Im Bezirk Westsachsen etwa gab es laut Monatsbericht der BL für den Januar 1928 allein 13 Veranstaltungen mit den vier westsächsischen Arbeiterdelegierten, die 4.000 Teilnehmer gehabt haben sollen. Aus Pommern ist die Planung der Berichterstattung des Kösliner Ortsgruppenleiters Latzke über den Arbeitsplan der BL für den Dezember 1929 überliefert, nach der die Ortsgruppen dazu aufgefordert wurden, so viele Be-richtsversammlungen wie möglich zu organisieren. Latzke hatte bereits in Stettin und hinterpommerschen Ortsgruppen Berichtsversammlungen abgehal-ten.488

487 SAPMO-BArch RY1/I2/708/56, Bl. 36-42. Remer: Arbeiterdelegationen, S. 349ff.488 Remer: Arbeiterdelegationen, S. 349. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 101. SAPMO-BArch RY1/I3/3/29, Bl. 115.

256 4.2 Die Deutungsangebote der Parteiführung

4. Die symbolische Integration der Mitglieder 257

„Unsere Genossen müssen ihre Partei lieb gewinnen.“489

5 Die politische Praxis der Partei5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit5.1.1 Die Basisorganisationen5.1.1.1 Die Wohnbezirke bis 1924Die Organisationsform, der in den ersten Jahren nach der Gründung der KPD die allermeisten Mitglieder unmittelbar angeschlossen waren, war der von der SPD übernommene Wohnbezirk. Seine geographische Ausdehnung hing von der Mitgliederdichte der unterschiedlichen Gebietseinheiten ab. Sein Einzugsgebiet reichte daher von einigen Straßen im Großstadtkiez bis hin zu kompletten Klein-städten.490

Die Wohnbezirksorganisationen der SPD im Kaiserreich waren relativ locker gefügte Gebilde gewesen, die ihr politisches Leben vor allem zu Wahlzeiten ent-falteten. Ihr Vorteil bei der Durchführung von Wahlkampagnen lag darin, dass sie den Wahlkampf dort führen konnten, wo die Wähler zu finden waren. Da die erfolgreiche Führung von Wahlkämpfen in der KPD offiziell nicht mehr die oberste Priorität besaß, musste diese ererbte Organisationsform bald problema-tisch werden. Die Wohnbezirksorganisationen der KPD waren außerdem durch recht hohe Mitgliederzahlen gekennzeichnet. Dies erschwerte aus Sicht vieler Hauptamtlicher die Heranziehung der großen Mehrheit der Mitglieder zur Ak-tivität. Daher gelangten führende Funktionäre der Partei schon recht früh zu der Überzeugung, dass der Aufbau der KPD auf den Wohnbezirken die Partei daran hinderte, ihre spezifische revolutionäre Zielsetzung zu verfolgen. Das erste Ex-periment mit einer anderen Basis-Struktur waren die Zehnergruppen, die 1921 nach der Märzaktion eingeführt wurden.

Unterhalb der Wohnbezirke angesiedelt fanden sich die größtenteils aus der USPD übernommenen Betriebsfraktionen, zu denen sich die in einem bestimm-ten Betrieb arbeitenden Genossen zwecks Koordination ihrer politischen Arbeit im Betrieb zusammenschließen konnten. Sie wurden durch den Vereinigungs-parteitag von 1920 als den Wohnbezirken gleichwertige Organisationseinheiten in das Statut aufgenommen.

Geografische Zentren der kommunistischen Wohnbezirksorganisationen waren, wie in der wilhelminischen SPD, die Verkehrslokale. Dabei handelte es sich um Gastwirtschaften, in denen die Kommunisten ihre Materialien lagerten

489 ZK-Mitglied Arthur Golke auf der Sitzung der BL Pommern am 2. November 1926 (SAP-MO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 153).490 Die Ortsgruppen werde ich hier nicht gesondert behandeln. Sofern sie selbst noch einmal zum Beispiel in Zellen unterteilt waren (1930 traf das auf 872 Ortsgruppen zu), waren sie nicht die im Zentrum dieser Arbeit stehende kleinste Organisationseinheit. Für die nicht-un-terteilten Ortsgruppen (1930 waren das 3.537 Ortsgruppen) gilt im Prinzip vieles was nach-stehend über Wohnbezirke und Straßenzellen zu lesen ist.

258 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

und ihre Mitgliederversammlungen abhielten. Dort traf man sich vor gemein-samen Aktionen und dort wurden auch die Beiträge kassiert.

5.1.1.2 Die Reorganisation der KPD (1925-1928)Die Betriebszellen waren einerseits in Form der Betriebsfraktionen der USPD endogenes Produkt der deutschen Arbeiterbewegung. Andererseits, und das war wesentlicher, waren sie ein Import aus der revolutionären Erfolgsgeschichte der Bol’ševiki. Ihren eloquentesten Verfechter hatte die Zellenorganisation im Ob-mann der Parteizelle im Berliner Maschinenbaubetrieb Schwartzkopff, der in seinem Bericht vom 7. Dezember 1925 wie folgt schrieb:

„Warum gerade Zellenarbeit und nicht Fraktionsarbeit? Die Natur, der Mensch, wie überhaupt alle Lebewesen sind auf das Gewebe der Zellen aufgebaut, die nun je nach Beschaffenheit krank, gesund oder tot, das Leben, Gedeihen oder Vergehen in der Natur wie bei allen Lebewesen bestimmen. Wie in der Natur die Zelle das Leben bestimmt, so müssen in dieser kapitalistischen Wirtschaft die kommunistischen Zellen in den Be-trieben und überall wo es notwendig ist, das Leben oder den Untergang dieser kapitalis-tischen Gesellschaft bestimmen. Aus diesen eben angeführten Gründen ergibt sich die Notwendigkeit einer gut organisierten, politisch klaren systematisch arbeitenden Zelle.“

Von Anfang an, und das war 1922/23, legten die Propagandisten der Betriebs-zelle großen Wert auf den Hinweis, dass die Oktoberrevolution ohne die Existenz von Betriebszellen nicht möglich gewesen wäre. Oder wie es im Mit-teilungsblatt des Bezirks Berlin-Brandenburg vom 6. Juli 1923 heißt: „Die Kom-munistische Partei Rußlands konnte vor allem deshalb die Macht erobern, weil sie fest in den Betrieben verwurzelt war.“ Aus heutiger Sicht ist kaum noch zu verstehen, dass aus dem letzten den Sozialdemokraten in der russischen Auto-kratie noch verbliebenen politischen Betätigungsfeld nach der Machtergreifung der Bol’ševiki auf Grund ihres immensen Einflusses in der KI allmählich das allgemeingültige Strukturmuster der revolutionären Partei werden konnte.491

Die früheste in den Quellen dokumentierte Äußerung über Betriebszellen stammt aus dem Jahr 1922. Am 31. Mai 1922 diskutierte die BL Westsachsen bereits über den Betriebszellenaufbau. Der Politische Leiter des Bezirks, Max Strötzel, verlangte vom Bezirksvorort Leipzig, dass er den anderen Ortsgruppen mit gutem Beispiel vorangeht. Im Mai 1923 forderte der Zentralausschuss der Partei generell den Aufbau von Betriebszellen in Angriff zu nehmen. Sogar der sonst stets etwas zurückgebliebene Bezirk Pommern konnte auf diesem Gebiet schnelle Erfolge verzeichnen. Schon im Monatsbericht der Pommerschen BL für den Juli 1923 wurden die ersten Anfänge des Betriebszellenaufbaus im Bezirk und zwar in der Ostsee- und der Vulkanwerft in Stettin erwähnt. Im Bericht der BL für den September 1923 ist sogar schon von sechs Betriebs- und einer Guts-zelle im Bezirk die Rede. In den vier Unterbezirken Essen, Buer, Gelsenkirchen

491 Mallmann: Kommunisten, S. 308. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 108. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/50, Bl. 15.

5 Die politische Praxis der Partei 259

und Bochum des Bezirks Ruhrgebiet, so wurde auf einer Konferenz der Un-terbezirkssekretäre am 11. Oktober 1923 festgestellt, soll es einen Monat später sogar schon in 177 Betrieben kommunistische Zellen gegeben haben. Im Bezirk Westsachsen schließlich existierten laut Bericht der Zellenabteilung der BL vom 19. November 1923 in 133 Betrieben Parteizellen, von denen 105 im Gebiet der Stadt Leipzig ansässig waren.492

Der Aufbau dieser frühen Zellen und ihre Funktion wird ausführlich in der Ausgabe des Mitteilungsblatts des Bezirks Berlin-Brandenburg vom 6. Juli 1923 beschrieben, wo die Richtlinien zur „Bildung von kommunistischen Zellen in den Berliner Betrieben“, die auf der BL-Sitzung am 2. Juli 1923 verabschiedet worden waren, wiedergegeben wurden. Gemeinsam in einem Betrieb arbeitende Genossen hatten danach die Aufgabe, sich angefangen bei den Großbetrieben in Zellen zu organisieren. „Jeder Genosse ist verpflichtet, bei seinem Eintritt in einen neuen Betrieb, sich sofort mit der kommunistischen Zelle in Verbindung zu setzen und sich zur Zellenarbeit zu melden.“ Als die wichtigste Aufgabe der Betriebszelle wurde dabei die „Eroberung der gewerkschaftlichen Funktionen im Betrieb“ genannt, außerdem wurden vierzehntägige Zellenversammlungen vorgeschrieben.493

Inwieweit diese ad hoc aus dem Boden gestampften Zellen oder umgewidme-ten USPD-Betriebsfraktionen des Jahres 1923 wirklich jemals ein eigenes organisatorisches Leben entfaltet haben, lässt sich nicht mehr feststellen. Schaut man auf die Ergebnisse der nächsten Versuche der Umstrukturierung der Partei, stellt sich starker Zweifel am Realitätsgehalt der oben aufgeführten Zahlen ein. Sicher ist hingegen, dass die Ereignisse um den Hamburger Aufstand (23.-26.10.1923), die darauf folgenden Diskussionen in der Partei und das Parteiver-bot (11.11.1923-28.2.1924) im Zusammenhang mit der wachsenden Arbeits-losigkeit unter den Parteimitgliedern diesen ersten Ansätzen der Partei den Garaus machte. Dies trug mit dazu bei, der Verankerung und dem Einfluss von Kommunisten in Großbetrieben ein frühzeitiges Ende zu setzen.

Der 9. Parteitag der KPD (7.-10.4.1924), der sich für eine grundsätzliche Änderung der Parteilinie ausgesprochen hatte, setzte im Einvernehmen mit dem EKKI unter der Parole der „Bolschewisierung“ erneut die Umorganisation der Partei auf Betriebszellen auf die Agenda. In ihrem Bericht an den Parteitag verlangte die neu gewählte Zentrale kategorisch: „Der Schwerpunkt der poli-tischen Organisationsarbeit muß in die Betriebszellen verlegt werden.“ Der fünf-te Weltkongress der KI (17.6.-8.7.1924) unterstützte dies mit seinen Beschlüssen zur Umstellung der Sektionen auf Betriebszellen unter der Losung

492 SAPMO-BArch RY1/I3/10/112, Bl. 1. SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 40. SAPMO-BArch RY1/I3/3/27, Bl. 26. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/20, Bl. 10. SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 7.493 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/28, Bl. 108.

260 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

der „Bolschewisierung der kommunistischen Parteien“. Den größten Anteil an dieser nun allgemeinen Anerkennung der Aufbauprinzipien der RKP(b) als de-finitives Organisationsmodell für die Sektionen der KI hatte wohl die nun für alle offenkundige absteigende Tendenz der Revolution in Westeuropa. Die Attraktivität der Umstellung der Parteien auf Zellen lag für die führenden Funktionäre außerdem darin, dass sie sich von ihr eine bessere Kontrolle der Ba-sis erhofften.494

Welche Methoden wählten nun die Zentrale und die Bezirksleitungen, um die Umstellung der Partei zu organisieren, wie wurden die Betriebszellen und ihre Aufgaben in den maßgeblichen Anweisungen definiert? Die ausführlichste Quelle dazu ist der Tätigkeitsbericht des Orgbüros der Zentrale für den Zeitraum 10.4.-1.10.1924. Die erste Phase der Reorganisation bestand danach in der Ein-richtung einer Zentrale-Abteilung für den Zellenaufbau unter der Federführung von Walter Ulbricht, der sich in dieser Funktion den Spitznamen „Genosse Zelle“ erwarb. Die Zellenabteilung sollte die Reorganisationsarbeit reichsweit koordinieren und die dabei gemachten Erfahrungen bündeln und weiter ver-mitteln. Die Mitarbeiter dieser Abteilung fuhren dazu in die Bezirke, instruierten die Bezirksleitungen und legten gemeinsam mit diesen Betriebe für die vor-rangige Einrichtung von Zellen fest. Im nächsten Schritt referierten Zentrale-Vertreter in eigens dazu einberufenen Mitglieder- oder Funktionärsversamm-lungen in den wichtigsten Großstädten. Es war anschließend die Aufgabe der Ortsgruppen, die ihrem Gebiet befindlichen Betriebe zu ermitteln. Dabei seien, wie der Autor des Tätigkeitsberichts sarkastisch bemerkte, von einigen Orts-gruppen, die angegeben hatten, dass es in ihrem Bereich keine in Fragen kom-menden Betriebe gebe, „verschiedene Großbetriebe neu entdeckt“ worden. Eine Abschrift der Liste der Betriebe sollten die Ortsgruppenleitungen dann den Be-zirksleitungen zugehen lassen, die auf dieser Grundlage die Betriebe festzulegen hatten, auf die sich der Zellenaufbau zunächst konzentrieren sollte. Am Schluss dieses Maßnahmenkatalogs stand schließlich die Registrierung der Mitglied-schaft nach ihrer Betriebszugehörigkeit.495

Die Bezirksleitungen konnten daraufhin auf der Grundlage des von den Orts-gruppen gelieferten Materials daran gehen, die Genossen auf dem Papier umzu-schichten und sie den einzelnen einzurichtenden Betriebszellen zuzuweisen. Der Bezirk Berlin-Brandenburg als Modellbezirk begann damit im Juni 1924. Der nächste Schritt bestand darin, die neuen Betriebszellen formal zu konstituieren, also Gründungsversammlungen abhalten und Zellenleitungen wählen zu lassen. Abgeschlossen wurde die formelle Reorganisation dann - jedenfalls in der Theo-rie - durch die Kassierung der Genossen im Betrieb. Dieser Übergang vom stets geduldigen Papier in die Praxis aber gestaltete sich äußerst beschwerlich. Es kam in zahlreichen Orten zu Widerspruch und Widerstand seitens der Genossen,

494 Bericht 9. Parteitag, S. 40.495 SAPMO-BArch RY1/I2/4/24, Bl. 100f.

5 Die politische Praxis der Partei 261

bis hin zu einer ganzen Reihe von Parteiaustritten. Außerdem konnte es den Un-ternehmern nicht gefallen, dass sich die von ihnen beschäftigten Kommunisten im Betrieb stärker organisierten, weshalb sie zu Gegenmaßnahmen griffen, die von der noch engeren Beobachtung der ja zumeist im Betrieb bekannten kom-munistischen Aktivisten bis hin zur Entlassung kommunistischer Arbeiter reich-ten. Der Zeitpunkt der Umstellung der Partei im Juni 1924 war aber vor allem deswegen für alle Bezirke im höchsten Maße problematisch, weil die Arbeits-losigkeit unter der Mitgliedschaft, die Ende 1923 ihren ersten Höhepunkt er-reicht hatte, unverändert hoch war, und erst wieder 1925/26 zurückgehen sollte. Dieses Problem war im Bezirk Ruhrgebiet besonders groß, weil dort in Folge des großen Bergarbeiterstreiks im Mai 1924 ohnehin schon viele Betriebe sich eines großen Teils ihrer kommunistischen Mitarbeiter entledigt hatten. Im Be-richt des Orgbüros der Zentrale an das EKKI-Präsidium über den Zeitraum 10.4.-1.10.1924 hieß es dazu: „Systematisch wurde die Betriebszellenarbeit [im Bezirk Ruhrgebiet] erst nach dem Bergarbeiterstreik in Angriff genommen. Die pessimistische Stimmung der Genossen und die Säuberung der Betriebe bot große Schwierigkeiten.“ Diese angespannte Grundsituation führte dazu, dass eine große Zahl von Parteimitgliedern versuchten, sich in den Betrieben unsicht-bar zu machen: „Der Aufbau der Betriebszelle vom Betrieb aus zeigte, daß nur ein Teil der Parteimitglieder, in der Regel 25-50 % erfaßt werden konnten, wäh-rend sich die anderen drückten.“496

Dass sich die Hälfte bis drei Viertel der betriebstätigen Mitglieder dem An-schluss an Zellen in ihren Betrieben entzogen, zeigt mehr als deutlich, wie um-stritten die Reorganisation an der Basis war. Die teilweise leidenschaftlich ge-führten Diskussionen über die Reorganisation zogen sich über Jahre hin. Schon auf einer Sitzung der Leipziger Ortsgruppenleitung Ende Mai 1924 war laut Be-richt des Instrukteurs Wienand Kaasch offen die Umstellung in Frage gestellt worden:

„Zu beachten ist, daß in dieser Leitungssitzung unter allgemeiner Zustimmung ein füh-render Genosse des Bezirks sagte, er sei der Auffassung, daß die Umstellung der Partei auf Betriebszellen für Leipzig nicht in Frage komme, da hier angeblich nicht solche Riesenbetriebe vorhanden sind.“

Diese Ausrede war bei reorganisationsunwilligen Ortsgruppenfunktionären besonders beliebt. Auch die in zahlreichen Quellen erwähnten Gegenmaß-

496 SAPMO-BArch RY1/I2/4/24, Bl. 110. SAPMO-BArch RY1/I2/4/24, Bl. 101. Zu den Folgen des Bergarbeiterstreiks und der Aussperrung für die KPD-Betriebszellen hieß es im Bericht Ulbrichts über seinen Besuch im Ruhrgebiet Ende Juni 1924: „Die besten Funktionäre wurden gemaßregelt, andere, die der Verfolgung ausgesetzt waren, mußten ihr Tätigkeitsge-biet wechseln, und ein Teil wurde von den Schergen der Grubenmagnaten hinter Schloß und Riegel gesetzt. Darauf ist es auch zurückzuführen, daß die Betriebszellen eine ganze zeitlang brach zu liegen kamen, daß weiter die Betriebsräte, die noch im Arbeitsverhältnis verblieben, ungeheuer passiv wurden und sehr wenig zur Aktivisierung der Belegschaften zu gebrauchen waren.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/28, Bl. 25).

262 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

nahmen der Unternehmer waren manchmal Produkt einer vorsätzlich drama-tisierten Berichterstattung, um den oberen Instanzen die ‚objektive‘ Unmöglich-keit der Umstellung zu verdeutlichen.497

Obwohl man die Betriebszellen ursprünglich optimistisch als die einzige Grund-organisation geplant hatte, war es angesichts des starken Arbeitslosenanteils an der Mitgliedschaft eigentlich unumgänglich, darüber nachzudenken, was mit den arbeitslosen Genossen, oder - noch genereller - mit den nicht betriebstätigen Ge-nossen insgesamt anzufangen sei. Das vom 9. Parteitag im April 1924 angenom-mene Statut bezeichnete die Betriebszelle als „Grundlage der Parteiorganisati-on“, der „alle Kommunisten, die in einem bestimmten Betrieb arbeiten“ anzu-schließen sind. Für die „Parteimitglieder, die nicht in Fabriken, Werkstätten, Ladengeschäften usw. arbeiten (Einzelbeschäftigte, Hausfrauen, Dienstboten usw.)“ wurde die Einrichtung von Zellen „nach Straßen“ vorgesehen. Die Partei-führung tendierte also, statt sich auf die realen Gegebenheiten einzustellen, so-gar dazu, den Tatbestand, dass es arbeitslose Genossen gab, völlig zu ignorieren. Dazu trug sicherlich bei, dass die Zentrale, wie es in einem Bericht der Orgab-teilung über die Reorganisation von Ende 1924 hieß, keinen genauen Überblick über den Anteil der Arbeitslosen an der Mitgliedschaft hatte, den sie auf 20 bis 50 Prozent schätzte. Die Zentrale verlangte in ihrem Bericht an den 9. Parteitag, dass alle erwerbslosen Genossen den Zellen ihrer früheren Betriebe anzuglie-dern seien. Falls sie längere Zeit ohne Arbeit blieben, sollten sie den Betriebs-zellen ihrer Wohngebiete zugewiesen werden. Die Probleme, die mit einer sol-chen Lösung verbunden waren, zeigt exemplarisch das Rundschreiben der Org-Abteilung der BL Westsachsen vom 17. September 1925. Dort wird auf die „Gefahr einer Majorisierung der Betriebsgenossen“ durch die nicht betriebstä-tigen Mitglieder hingewiesen. Dies könne zur Folge haben, dass die Betriebs-zelle ihre eigentliche politische Aufgabe vernachlässigt, da der Interessen-schwerpunkt der Mitgliedermehrheit dann nicht mehr auf den betrieblichen und gewerkschaftlichen Fragen läge.498

Zwischen diesen beiden Aussagen lag ein Jahr voller höchst widersprüchli-cher Anweisungen verschiedener Instanzen und unterschiedlichster ad-hoc-Lö-sungen für das Problem der Erwerbslosen. Schon die Resolution zur Organisa-tionsfrage, die die Zentrale dem 10. Parteitag im Juni 1925 vorgelegt hatte, hatte die Spielräume der Bezirksleitungen beim Umgang mit arbeitslosen Genossen gelockert. Das Problem einer möglichen Majorisierung der Betriebszellen durch die Erwerbslosen, das die Org-Abteilung der BL Westsachsen beschäftigte, wurde auch im Rundschreiben der BL Oberschlesien vom 2. Oktober 1925 angesprochen. Die Lösung der oberschlesischen Bezirksleitung für die Orts-

497 SAPMO-BArch RY1/I3/10/117, Bl. 20.498 SAPMO-BArch RY1/I2/4/26, Bl. 63. Bericht 9. Parteitag, S. 189 bzw. 40. SAPMO-BArch RY1/I3/10/124, Bl. 41.

5 Die politische Praxis der Partei 263

gruppen, die schematisch alle, auch die erwerbslosen Genossen den Betriebs-zellen angegliedert hatten, bestand - mindestens ebenso schematisch - in der folgenden Anweisung: „In der Regel dürfen nicht mehr als ein Drittel der Mit-glieder der Zellen aus angegliederten bestehen, die dann noch übrigen Genossen und Genossinnen sind in Straßenzellen zusammen zu fassen.“ Ende 1926 hatte die KPD immer noch keinen Königsweg im Umgang mit den erwerbslosen Ge-nossen gefunden. Im Bericht der BL Berlin-Brandenburg an das EKKI vom 13. Dezember 1926 heißt es dazu:

„Mit der Angliederung von erwerbslosen Genossen haben wir mit Ausnahme von erwerbslosen Genossen, die aktiv sind und in der Zelle wirklich mitarbeiten (das ist aber nur ein kleiner Prozentsatz), schlechte Erfahrungen gemacht. Insofern stimmen unsere Erfahrungen mit denen der anderen Bezirke im Reiche überein.“499

Daher beschloss man die erwerbslosen Genossen nun an Betriebszellen anzu-schließen, die sich in der Nähe ihrer Wohnorte befanden. Dadurch wurden aber die Frage kommenden Betriebszellen teilweise aufgebläht, während gleichzeitig die Anzahl noch betriebstätiger Betriebszellen-Mitglieder durch Entlassungen weiter zurückging. Das konnte etwa in den wenig industrialisierten Berliner Verwaltungsbezirken mit einem hohen Arbeiteranteil an der Bevölkerung wie dem Prenzlauer Berg oder Neukölln dazu führen, dass es Betriebszellen gab, denen fast keine betriebstätigen Mitglieder mehr angehörten.

„Es trat damals folgendes ein: es waren ehemals 4-5 Genossen in einem Betrieb beschäftigt, die alle aufs Straßenpflaster flogen, aber als Zelle beisammen blieben und denen 30-40 erwerbslose Genossen zugeteilt wurden, so daß wir dort - Neukölln war da-für ein typisches Beispiel - ungefähr 8 oder 9 Betriebszellen hatten, von denen kein einziges Mitglied mehr im Betrieb tätig war, die aber trotzdem als Betriebszellen figu-rierten. Dies führte zu einer vollkommenen Diskreditierung des Aufbaus der Partei-organisation auf Zellen.“

Ein Beispiel dafür war die Kindl-Brauerei in Neukölln, deren Betriebszelle aus zwei betriebstätigen, 31 arbeitslosen Genossen und sieben zugeteilten Partei-angestellten bestand - von denen letztere übrigens kaum mehr als Formalmitglie-der waren.500

Das Hauptproblem der Reorganisation bestand neben der generellen Reserve der Mitgliedschaft gegenüber Neuerungen aber in der nur zu berechtigten Angst

499 Bericht 10. Parteitag, S. 227. SAPMO-BArch RY1/I3/6/14, Bl. 69. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 104. Die Org-Abteilung der BL Berlin-Brandenburg plädierte daher in ih-rem Bericht über die Reorganisation vom 2. Dezember 1925 für eine Angliederung der in-aktiven erwerbslosen Betriebszellenmitglieder an die Straßenzellen: „Wir sind vielmehr der Meinung, daß solche passiven erwerbslosen Genossen, wenn sie in einer Straßenzelle erfaßt sind, viel eher zu einer aktiven Arbeit von der Straßenzellenleitung herangeholt werden, oder zumindest regelmäßig kassiert werden können“ (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 110).500 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/42, Bl. 1 (Hervorhebung im Original, U.E.).

264 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

eines Großteils der betriebstätigen Genossen vor der Entlassung. Schon vor der Umstellung auf Zellen hatten Kommunisten ausgiebig Erfahrungen damit ma-chen können, wie gefährlich es war, im Betrieb als Kommunist tätig zu sein. An-statt zu versuchen, einen gangbaren Kompromiss zwischen den Erfordernissen kommunistischer Betriebspolitik und den Interessen der in Betrieben beschäftig-ten Genossen zu finden, verlangte die Parteiführung von ihnen nun, im Betrieb offen als Parteigruppe zu agieren. Dabei wäre eine pragmatischere Vorgehens-weise vollkommen im Interesse der Partei gewesen. Es konnte schließlich nicht in ihrem Sinn sein, den Unternehmern eine Handhabe zu geben, die Betriebs-zellen immer wieder durch die Entlassung der aktivsten Mitglieder zu zer-schlagen, und damit die Umsetzung der Parteitaktik in einem hohen Maße von der Vorgehensweise der Arbeitgeber abhängig zu machen. Da aber den Funktio-nären der Parteiführung das kurzfristige Ziel der Vollendung des Zellenaufbaus letztlich offenbar weitaus wichtiger war als das langfristige Ziel einer kontinu-ierlichen Zellenarbeit, mussten die betriebstätigen Mitglieder selbst für sich sorgen.

Die Partei versuchte, dem Sich-unsichtbar-machen durch die Verschärfung des Pflichtenkatalogs im Statut beizukommen, doch blieben solche Methoden in ihrer Wirkung eng begrenzt. Ein Genosse Meier äußerte auf der gemeinsamen Sitzung der Betriebszellen der Leipziger Firma Kirchner am 3. September 1925, dass in seinem Betrieb 80 Genossen beschäftigt seien, die sich nicht als solche zu erkennen gäben. Im Bericht der Berliner Org-Abteilung an die Org-Abteilung des EKKI vom 2. Dezember 1925 heißt es sogar, dass sich 50 bis 75 Prozent der in Großbetrieben arbeitenden Mitglieder der Mitarbeit in den Betriebszellen ent-zögen. Laut Bericht des ZK-Instrukteurs Leps vom 5. Juli 1926 wurde im Bezirk Berlin-Brandenburg erst im Herbst 1925 eine systematische Registrierung der Genossen nach Betrieben durchgeführt:

„Immerhin ist interessant, daß sich jetzt auch bei der Registratur herausstellte, daß eine Anzahl von Genossen in den verschiedensten Betrieben vorhanden waren; kein Mensch hatte aber die Ahnung, daß sie überhaupt Kommunisten sind und den betreffenden Be-trieben arbeiten. Selbst in den Betrieben, wo schon Zellen bestanden, waren solche Ge-nossen vorhanden, die sich nicht als Kommunisten zu erkennen gaben. Erst mit Hilfe dieser Registratur war es möglich, diese Genossen ausfindig zu machen.“

Der pommersche Polleiter Steffen berichtete am 15. März 1926 an die Org-Ab-teilung des ZK, dass der Aufbau der Betriebszellen in den wichtigsten Betrieben im Bezirk nur schwierig vorankäme, da sich die wenigen dort beschäftigten Ge-nossen „mit allen Mitteln verborgen halten und der Zellenbildung feindlich gegenüberstehen.“501

Bei dem Problem, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre rapide zurückge-hende Zahl an Betriebsarbeitern wirklich den Zellen in ihren Betrieben anzu-

501 SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 184. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 4. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 60. SAPMO-BArch RY1/I3/3/27, Bl. 41.

5 Die politische Praxis der Partei 265

schließen, blieb es. Es gab immer einen relevanten Anteil an betriebstätigen Ge-nossen, die sich in den Straßenzellen tummelten. So heißt es etwa in einem Be-richt der Org-Abteilung des ZK vom November 1926: „Die Straßenzellen sind in Groß-Leipzig das Sammelbecken aller Mitglieder, die an und für sich gegen die Betriebszellen sind.“ Das Orgbüro der BL Ruhrgebiet stellte in seinem Rundschreiben vom 2. Juli 1926 eine Liste von Tätigkeiten auf, die die Orts-gruppen bei der Reorganisation durchzuführen hatten. Unter Punkt neun hieß es dort: „Säuberung der Straßenzellen [von Genossen], die in die Betriebszellen ge-hören.“ Wie Franz Dahlems Revisionsbericht über den Bezirk Westsachsen vom 14. August 1927 zeigt, war es aber nicht nur so, dass sich betriebstätige Ge-nossen in den Straßenzellen versteckten. Nicht selten verblieben Mitglieder, die nach einer Phase der Erwerbslosigkeit wieder eine Arbeit aufgenommen hatten, trotzdem bewusst in ihren Straßenzellen - und wenn sie sich ihrer Betriebszelle anschlossen, so der Bericht der Orgabteilung des ZK an den 13. Parteitag, hielten sie sich politisch zurück, „um nicht dem Unternehmerterror wieder zum Opfer zu fallen.“502

Die Reichskontrolle von 1928 ermittelte einen Anteil von nur 30,43 Prozent kommunistischen Betriebsarbeitern, die einer Betriebszelle angehörten. Im Be-zirk Berlin-Brandenburg sollen 1929 allein 5.189 betriebstätige Mitglieder Stra-ßenzellen angehört haben, also fast die Hälfte der durchschnittlich 10.407 be-triebstätigen Genossen in diesem Jahr. Die Bezirksleitungen, wie etwa die des Ruhrgebiets, versuchten mit allen Mitteln die betriebstätigen Mitglieder, die sich in den Straßenzellen verborgen hielten, aufzufinden. Laut Bericht des ZK-In-strukteurs D.O. vom 5. Oktober 1929, führten solche Säuberungsmaßnahmen in Duisburg sogar zur „Rebellion“. Das Merkblatt für die Mitglieder zur dritten Parteikontrolle, die im Bezirk Berlin-Brandenburg zwischen dem 6. Januar und dem 15. Februar 1930 durchgeführt werden sollte, bezeichnete ihren Haupt-zweck mit der „endgültigen Reinigung der Straßenzellen von den Betriebsarbei-tern und deren Überweisung an die Betriebszellen oder ihre Zusammenziehung zu Betriebszellen“. Zu Anfang der 1930er Jahre war es aber eher noch schwie-riger, die wenigen verbliebenen betriebstätigen Genossen vollständig in die Be-triebszellen zu bringen als fünf Jahre zuvor. Die hohe Fluktuation in der Mit-gliedschaft trug ihren Teil dazu bei, den Überblick der Funktionäre zu erschwe-ren. Außerdem machte die wachsende Arbeitslosigkeit gemeinsam mit der für die Arbeitsplätze der Mitglieder hochriskanten Streikpolitik der Partei, die Be-triebszellen eher noch unattraktiver.503

Die höhere Gefährdung der betriebstätigen Mitglieder durch die Reorganisati-on war ein zentrales Thema der Diskussionen der Jahre 1924 bis 1926. Viele 502 SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 32. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/27, Bl. 15. SAPMO-BArch RY1/I3/10/117, Bl. 60. SAPMO-BArch RY1/I2/4/29, Bl.10.503 SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 67. Lange: Berlin, S. 886. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/74, Bl. 34. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/14, Bl. 29. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/28, Bl. 196.

266 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

Genossen argumentierten gereizt, dass es sich bei dem Aufbau von Betriebs-zellen um „russische Methoden“ handele, und wiesen darauf hin, dass die Kon-zentration der Parteiarbeit auf die Betriebe in der Sowjetunion, wo sie in der Hand der Partei waren, natürlich wesentlich einfacher wäre, als in der privatka-pitalistisch organisierten deutschen Wirtschaft. Solche Argumente wollte der Referent Werner Scholem in seinem Referat auf der Konferenz der Org-Sekretä-re der Bezirke am 28. Februar 1924 nicht gelten lassen:

„Es kommt hinzu, daß die Partei eine 60jährige sozialdemokratische Tradition zu über-winden hat, was an sich sehr schwierig ist. Und es war deshalb zu verstehen, daß ein ganzer Teil der Genossen die Auffassung vertrat, man dürfe die russischen Organisa-tionsmethoden nicht mechanisch übertragen. Die Organisationsprinzipien der Bolsche-wiki gelten voll und ganz für jede Kommunistische Partei Westeuropas.“

Mit apodiktischen Äußerungen dieser Art aber war das Problem nicht zu lösen. Auf der Sitzung des Orgbüros der BL Berlin-Brandenburg am 5. Februar 1925 forderte etwa ein Genosse namens Oskar: „Die Berliner Bezirksleitung bezw. das Org.Büro soll den Parteigenossen [im EKKI] klar machen, daß in Deutsch-land die Verhältnisse doch noch anders sind als in Rußland, daß wir die Macht noch nicht ergriffen haben.“ Auf einer Mitgliederversammlung der Zellengruppe 5 aus dem Berliner Wedding am 14. Dezember 1926 wies ein Genosse darauf hin, „daß die Zellen für Rußland sehr gut seien, weil dort für die Parteimitglie-der keine Gefahr besteht.“504

Die Konsequenz aus dieser besonderen Gefährdung lag für viele Genossen darin, eine Rückkehr zu den Wohnbezirken zu fordern. In dem Bericht des ZK-Instrukteurs Ernst über den Bezirk Pommern vom 31. Oktober 1924 heißt es, die Genossen in Torgelow, einem Stettiner Vorort, der zu den Hochburgen der Partei im Bezirk gehörte, weigerten sich, Betriebszellen zu bilden, „da die alte Wohnorganisation besser wäre.“ Aus dem Bericht des Instrukteurs Reichert über die Sitzung der Gewerkschaftsabteilung der Unterbezirksleitung Gelsenkirchen am 5. Januar 1926 geht hervor, wie aufgewühlt die Stimmung an der Basis durch die Reorganisation war: „In der Diskussion kam eine offene Feindschaft gegen die Reorganisation zum Ausdruck. Ein Genosse gebrauchte den sehr dras-tischen Ausdruck: ,Scheiß auf die ganze Reorganisation, wir wollen vor allen Dingen Politik machen‘.“ Vieles spricht dafür, dass die Einsicht der Genossen in die Zweckmäßigkeit der Zellen für die politische Arbeit, abgesehen von der ganz abstrakt vielleicht akzeptierten Rolle der Betriebszellen in der Revolution, auch in den Folgejahren nicht zunahm. Sobald im Betrieb Probleme auftauchten, wurde das Organisationsprinzip Betriebszelle als solches wieder in Frage ge-

504 Margarete Buber-Neumann: Kriegsschauplätze der Weltrevolution. Ein Bericht aus der Praxis der Komintern 1919-1943, Stuttgart 1967, S. 135. SAPMO-BArch RY1/I/4/3, Bl. 2. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/67, Bl. 11. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/32, Bl. 215. Die Mitglie-derversammlung sprach sich daher mit 25 gegen sechs Stimmen bei zwei Enthaltungen für die Abschaffung der Betriebszellen ab.

5 Die politische Praxis der Partei 267

stellt. Genau darauf ging der oberschlesische Polleiter Langner auf der Sitzung der engeren Bezirksleitung 12. Oktober 1928 ein: „Bei der Arbeit der Betriebs-zellen ergeben sich eine Reihe organisatorischer Schwierigkeiten. Die Genossen versuchen sie nicht zu überwinden, sondern rufen: zurück zur Wohnorganisati-on.“505

Das Hauptproblem beim Betriebszellenaufbau in den Bezirken Ruhrgebiet und Oberschlesien bestand in den Arbeitsstrukturen im Bergbau. Die Zechen waren in verschiedene, oft kilometerweit auseinander liegende Flöze aufgeteilt, und die Arbeit wurde im Dreischichtsystem durchgeführt und nach Akkord bezahlt. Dies erschwerte das Zusammenholen der Betriebszellenmitglieder zu den Mitglieder-versammlungen und zur politischen Arbeit erheblich. Laut Bericht der Org-Ab-teilung des Bezirks Ruhrgebiet für den September 1925 war die Beitrags-kassierung im Bergbau auch deswegen problematisch, weil die Genossen ungern Geld mit zur Arbeit nahmen, da sie es nicht wegschließen konnten. In seinem Bericht über eine organisatorische Beratung mit fünf Betriebszellenleitern am 31. Oktober 1925 wies der Polleiter Wilhelm Florin unter anderem darauf hin, dass in zahlreichen Zechen mit angeschlossenen Werkssiedlungen die Genossen weiterhin in den Wohnungen kassiert würden. Ähnliche Probleme mit dem Zu-sammenholen der Genossen aus einem Betrieb bestanden nach dem Bericht eines Instrukteurs über das Ruhrgebiet von Ende Oktober 1925 bei den unstän-digen Arbeitern im Duisburger Hafen, sowie bei den Bauarbeitern im Unterbe-zirk Essen. Im Bezirk Berlin-Brandenburg gab es ähnliche Probleme mit den kommunistischen Mitarbeitern von Eisenbahn und Straßenbahn.506

Bei all diesen Problemen verwundert es nicht, dass sich in den Quellen kein Do-kument finden lässt, in dem der Umbau der Partei auf Betriebszellen als abge-schlossen bezeichnet wird. An Ankündigungen, mit dem Aufbau von Betriebs-zellen beginnen zu wollen, und an Neufestsetzungen des Abschlusstermins be-steht hingegen kein Mangel. Die Reorganisation der Partei wurde vom einma-ligen Akt zum Dauerzustand, und die Bolschewisierung der KPD damit zum un-vollendeten Dauerprojekt.

So verlangte etwa die von der Zentrale dem 10. Parteitag vorgelegte Resoluti-on zur Organisationsfrage den Abschluss der Reorganisation bis zum nächsten Parteitag, der turnusmäßig etwa um die Mitte des Jahres 1926 hätte stattfinden müssen. Das Rundschreiben der BL Westsachsen vom 14. Mai 1924 verlangte: „Der Aufbau der Betriebszellen muß jetzt mit aller Schärfe begonnen werden.“ 505 SAPMO-BArch RY1/I3/3/18, Bl. 11. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/53, Bl. 21. SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 152. Der weit verbreitete Widerstand gegen die Reorganisation richte-te sich außerdem „instinktiv gegen die leichtere Kontrolle der Arbeit des einzelnen Genossen durch die Zellenleitung“ (SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 72).506 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/28, Bl. 62. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/26, Bl. 9. SAP-MO-BArch RY1/I3/18-19/12, Bl. 87. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 112.

268 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

In ihrem Rundschreiben vom 17. September 1925 setzet die BL einen neuen Termin, und verlangte darin die Umstellung der Ortsgruppe Leipzig bis Mitte Oktober. Die BL Berlin-Brandenburg hoffte in ihrem Rundschreiben vom 5. September 1924 so weit zu kommen, dass in einigen Großbetrieben bis zum 1. Dezember kassiert werden könne. Am 23. Dezember 1924 meldete das Orgbüro des Bezirks die Registrierung der Mitglieder nach Betriebszugehörigkeit zu 85 Prozent durchgeführt zu haben. Ein Jahr später war man offenbar nicht nur nicht weiter gekommen, sondern hatte sogar Rückschläge zu verzeichnen gehabt, denn in dem wahrscheinlich vom Polleiter Wilhelm Pieck verfassten Bericht über die BL-Sitzung am 30. Dezember 1925 heißt es: „Im Allgemeinen befindet sich die Schaffung von Betriebszellen nur erst im Anfangsstadium und dort, wo sie begonnen wurde, geschah das auch nur rein formal.“507

Zur Reorganisation des Bezirks Ruhrgebiet schrieb der Oberpräsident der Provinz Westfalen in seinem Bericht vom 13. Juni 1925: „Die Umstellung der Partei auf Betriebszellen, die bereits zum 1. Januar 1925 sich vollzogen haben sollte, ist als mißlungen zu betrachten.“ Am 21. Mai 1926 gab das Orgbüro der BL ein Schema für die Umstellung der Stadtorganisationen heraus. Am 2. Juli 1926 verlangte ein Rundschreiben der gleichen Instanz, dass die Reorganisation bis zum 30. August 1926 vollendet sein müsse. Trotzdem kritisierte Polbüro-Mitglied Philip Dengel in seiner Rede vor dem 11. Parteitag im März 1927, dass im Bezirk Ruhrgebiet von Betriebszellenaufbau „noch keine Rede sein“ könne. Für den Bezirk Oberschlesien sah das Rundschreiben der BL vom 10. Januar 1925 für die erste Februarwoche die Konstitution der Betriebszellen vor. Ver-gleicht man dies mit einer Aussage aus einem Rundschreiben der BL vom 7. September 1925, hat es den Anschein, dass die Uhren bei der oberschlesischen KPD verkehrt herum gelaufen sind: „Wir haben schon in einer Reihe von Rund-schreiben und Versammlungen auf die Notwendigkeit der Umstellung der Partei auf Betriebszellen hingewiesen.“ Schließlich noch der Bezirk Pommern. Die Org-Abteilung der BL berichtete am 19. März 1925, dass die „Registrierung der Mitgliedschaft entsprechend dem Umbau der Partei von den Wohnbez. auf die Betriebszelle ... leider noch in ihren Anfängen“ stecke. Dabei scheint es im Großen und Ganzen geblieben zu sein. Der Niedergang der Stettiner Werften zwischen 1926 und 1928, die zu den wenigen betriebszellenfähigen pommer-schen Großbetrieben zählten, trug einen großen Teil dazu bei. Die BL schrieb daher im Zusammenhang mit dem Aufbau eines revolutionären Vertrauensleute-körpers in den Betrieben in den Arbeitsplan für den Juni 1929 hinein: „Es ge-winnt deshalb der von den verschiedenen Ortsgruppen so wenig beachtete Auf-bau von Betriebszellen an Bedeutung“. Es zeigt sich also relativ systematisch in allen fünf untersuchten Bezirken das gleiche Phänomen, das einerseits auf eine rein mechanische Einrichtung von Betriebszellen an den grünen Tischen der Be-507 Bericht 10. Parteitag, S. 227. SAPMO-BArch RY1/I3/10/119, Bl. 42 (Hervorhebung im Original, U.E.). SAPMO-BArch RY1/I3/10/124, Bl. 40. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 227. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/70, Bl. 48. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/12, Bl. 118.

5 Die politische Praxis der Partei 269

zirksleitungsbüros und andererseits auf die fortdauernde Resistenz eines Groß-teils der betriebstätigen Genossen zurückzuführen ist.508

Zu den wichtigsten Kriterien dafür, ob eine Betriebszelle wirklich politisch im Betrieb tätig war, gehören die Betriebskassierung der Beiträge und die Heraus-gabe von Zellenzeitungen. Das Org-Rundschreiben der BL Berlin-Brandenburg vom 15. Juni 1924 definierte die Betriebskassierung als Abschluss der Umstel-lung. Und das Rundschreiben der Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet vom 21. Mai 1931 verdeutlichte den Stellenwert der Öffentlichkeitsarbeit der Be-triebszelle: „Die Herausgabe einer Betriebszeitung ist der sichtbare Ausdruck der Aktivität der Zelle“.509

Ende Mai 1925, als der Bolschewisierungsbeschluss des 9. Parteitags ein Jahr alt war, war die Betriebskassierung eher die Ausnahme denn die Regel (Tabelle 28). Nur der Bezirk Oberschlesien mit seiner handvoll Betriebszellen erreichte nach diesen Angaben eine halbwegs den Vorstellungen der Parteiführung ent-sprechende Quote. Von den anderen Bezirken lag nur noch Westsachsen bei der Kassierung über dem Reichsdurchschnitt. Verglichen damit können die Ergeb-nisse aus dem Modellbezirk Berlin-Brandenburg nur als niederschmetternd be-zeichnet werden.

Tabelle 28: Betriebszellen in den Bezirken (mit Kassierung) 31.5.1925Bezirk Betriebszellen mit Kassierung mit Kass. (%)Berlin-Brandenburg 626 4 0,64Ruhrgebiet 122 29 23,77Westsachsen 129 49 37,98Pommern 10 0 0,00Oberschlesien 19 12 63,16Reich 2.673 796 29,78

Quellen: SAPMO-BArch RY1/I2/4/31, Bl. 126b.

Der Bezirk Ruhrgebiet will aber in den Monaten nach dieser Bestandsaufnahme weitere Fortschritte bei der Durchsetzung der Kassierung der Betriebszellenmit-glieder im Betrieb gemacht haben. Im Bericht eines namentlich nicht genannten ZK-Instrukteurs von Ende Oktober 1925 ist davon die Rede, dass zum 4. Juli 1925 122 Betriebszellen bestanden, von denen 29 im Betrieb kassierten (23,77 Prozent). Zum 21. Oktober 1925 soll es im Bezirk nur noch 93 Betriebszellen 508 HStAD Regierung Düsseldorf 16922. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 45f. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/27, Bl. 15. 11. Parteitag, S. 29. SAPMO-BArch RY1/I3/6/16, Bl. 9. SAPMO-BArch RY1/I3/6/14, Bl. 65. SAPMO-BArch RY1/I3/3/28, Bl. 4. SAPMO-BArch RY1/I3/3/29, Bl. 81 (Hervorhebung im Original, U.E.).509 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 216. 10. Parteitag, S. 234. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/44, Bl. 99.

270 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

gegeben haben, von denen aber 68 im Betrieb kassierten (73,12 Prozent). Im Be-zirk Westsachsen gab es laut Bericht der Org-Abteilung der BL für den Zeit-raum September/Oktober 1925 169 Betriebszellen, von denen 83 die Betriebs-kassierung regelmäßig durchführten (49,11 Prozent).510

Noch kritischer war die Durchsetzung einer regelmäßigen Herausgabe von Zellenzeitungen durch die Betriebszellen. Diese hätten sich damit noch viel stär-ker als ohnehin schon durch die Zellentätigkeit im Betrieb exponiert. Darauf wies unter anderem ein Bericht der Abteilung Betriebszellen der BL Ruhrgebiet vom 30. Mai 1931 hin, in dem typische Antworten der Betriebszellengenossen auf Fragen der BL wiedergegeben werden. Auf die vierte Frage „Warum gebt Ihr keine Betriebszeitungen heraus?“ soll demnach häufig geantwortet worden sein: „Unsere eigenen Genossen liefern uns keine Berichte aus Angst, als Artikelschreiber erkannt zu werden“. Ganz ähnlich sahen das die Mitglieder der Parteizelle in der Leipziger Druckmaschinenfabrik J.F. Schelter & Giesecke, die von der Org-Abteilung des ZK in ihrem Extrakt aus Zellenberichten vom 2. De-zember 1925 wie folgt zitiert werden: „Infolge der für die einzelnen Genossen damit verbundenen Gefahren hat die Zelle nach reiflichem Erwägen von der Herausgabe einer Betriebszellenzeitung abgesehen.“ Eine weitere Rolle spielte, dass den Betriebszellen oft einfach die Mittel zur Herausgabe einer Zeitung fehl-ten. Außerdem waren auch viele kommunistische Betriebsräte gegen die Heraus-gabe von Zeitungen durch die Parteizellen in ihren Betrieben. Einem Bericht der Orgabteilung der Zentrale von Ende 1924 ist zu entnehmen, dass die kommunis-tischen Betriebsräte nach Erscheinen der Zeitungen besonders unter Druck gerieten, weil sie des Verstoßes gegen das BRG verdächtigt wurden: „Wenn die Zellenzeitung im Betrieb erscheint, ist gewöhnlich der Teufel los. Dann geraten unsere Betriebsräte gegenüber dem Unternehmertum in eine persönlich für sie unerquickliche Situation.“511

Schon Ende 1924 forschte das Orgbüro der BL Berlin-Brandenburg in seinem Schreiben an die Zentrale nach den Ursachen dafür, dass so wenige Betriebs-zellenzeitungen herauskamen:

„Der Druck des Unternehmertums zusammen mit einer guten Organisation der Abtei-lung Ia des Polizeipräsidiums in der Auffindung der verantwortlichen Herausgeber von Zellenzeitungen, machen bei der Herstellung große Schwierigkeiten.“

Im Tätigkeitsbericht der Agitprop-Abteilung der BL Berlin-Brandenburg für den Zeitraum 5.1.-15.2.1926 heißt es schlicht: „Die Herausgabe von Zellenzeitungen war vollständig eingeschlafen.“ Ebenfalls nur wenige Angaben gibt es aus den Bezirken Westsachsen, Oberschlesien und Pommern. In Oberschlesien hatten laut Bericht der Org-Abteilung der BL vom 12. März 1926 von 40 Betriebs-510 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/12, Bl. 85. SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 181.511 HStAD Regierung Düsseldorf 30657e. SAPMO-BArch RY1/I2/4/67, Bl. 62. SAPMO-BArch RY1/I2/4/26, Bl. 65.

5 Die politische Praxis der Partei 271

zellen keine einzige eine Zellenzeitung herausgegeben, und in Pommern waren, wie BL-Polleiter Steffen am 15. März 1926 an die Org-Abteilung des ZK schrieb, nur in der Betriebszelle des Stettiner Hafens bisher ingesamt zwei Zeitungen erschienen. Am besten dokumentiert ist die Entwicklung auf diesem Sektor für den Bezirk Ruhrgebiet. Laut Bericht eines namentlich nicht genann-ten ZK-Instrukteurs vom Oktober 1925 ging die Zahl der Betriebszellen-zeitungen dort von 27 am 1. Juni 1925 auf acht am 4. Juli und nur noch vier (un-regelmäßig erscheinende) Zellenblätter am 21. Oktober 1925 zurück. Im August 1927 sollen es dann nach einem Bericht der Essener Polizei 17 Zeitungen ge-wesen sein, und im Oktober 1928 laut Rundschreiben der Agitprop-Abteilung der BL vom 27. November 1928 22. Folgt man einem Rundschreiben der Agit-prop-Abteilung der BL Ruhrgebiet vom April 1931, veränderte sich die Lage nach dem November 1928 radikal zum Besseren. Danach erschienen im Oktober 1930 35, im November 83, im Dezember 123, im Januar 1931 37, im Februar 78 und im März 1931 262 Betriebszeitungen. Damit lag der Ruhrbezirk vergleichs-weise gut im Rennen. Laut dem Bericht, den der ZK-Orgleiter Creutzburg 1931 vor der KI hielt, wurden von den 1.524 Betriebszellen der Partei (Stand 15. Sep-tember 1930) im November 1930 155 Betriebszellenzeitungen herausgegeben. Neunzig Prozent der Betriebszellen taten sich diesbezüglich also nicht hervor, waren damit also eher zu den inaktiven Betriebsparteiorganisationen zu rech-nen.512

Der sprunghafte Anstieg der Zahl der Betriebszeitungen im Bezirk Ruhrgebiet zwischen dem November 1928 und dem März 1931 überrascht vor allem des-wegen, weil die Zahl der kommunistischen Betriebsarbeiter durch die Weltwirt-schaftskrise und die Streikpolitik der Partei immer stärker zurückging. Schaut man sich die Terminologie näher an, werden die Hintergründe schon etwas kla-rer. In dem Rundschreiben der Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet vom April 1931 ist nämlich nicht mehr von Betriebszellenzeitungen, sondern nur noch von Betriebszeitungen die Rede. Zwei Dokumente bieten Hinweise zur Er-klärung dieses Widerspruchs. Im Arbeitsplan des BL-Sekretariats des Ruhrge-biets für den Januar 1930 heißt es, dass auf Grund der Passivität einiger Be-triebszellen „die Herstellung der Betriebszeitung die Straßenzelle“ übernehmen musste. Der „rote Waffenschmied. Betriebszeitungs-Korrespondenz für das Ruhrgebiet“ schrieb in seiner Ausgabe vom Juli 1929, dass die „überwiegende Mehrzahl aller Betriebszeitungen ... auf den Unterbezirkssekretariaten herge-stellt“ werden. Die Zahl an Betriebs(zellen)zeitungen in jenen Jahren wäre daher auch kein valider Indikator mehr für die Aktivität der Betriebszellen.513

512 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/70, Bl. 57. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 94. SAPMO-BArch RY1/I3/6/16, Bl. 110. SAPMO-BArch RY1/I3/3/27, Bl. 41. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/12, Bl. 89. HStAD Regierung Düsseldorf 16934. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/43, Bl. 31. HStAD Regierung Düsseldorf 30657e. SAPMO-BArch RY1/I2/4/29, Bl. 194.513 HStAD Regierung Düsseldorf 30657c. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/43, Bl. 56. Laut Be-richt der BL Oberschlesien für den September 1925 waren die früheren Zellenzeitungen zu-

272 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

Tabelle 29: Betriebszellen in den Bezirken 1924-1930Bezirk/Jahr Berlin-Brdbg Ruhrgebiet Westsachsen Pommern Oberschlesien1924 1.800 150 128 10 61925 626 122 129 10 191926 407 119 148 25 421927 319 268 109 18 361928 276 145 89 16 291929 307 173 3 251930 344 152 5 271931 451 213 (Sachsen:) 201 6 30

Quellen: SAPMO-BArch RY1/I2/4/26, Bl. 61 (zum 31.12.1924). SAPMO-BArch RY1/I2/4/31, Bl. 126b (zum 31.5.1925). SAPMO-BArch RY1/I2/4/38, Bl. 156 (1926-28 ohne Westsachsen). SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 72f. (Westsachsen 1927-28). SAP-MO-BArch RY1/I2/4/32, Bl. 43f. (zum 15.9.1930). Aumann: Legality, S. 240 (1931). SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 352 (Westsachsen April 1926).

Kommen wir zum Abschluss dieses Abschnitts endlich zur Statistik des Be-triebszellenaufbaus (Tabelle 29). In den meisten Bezirken stagnierte die Zahl der Betriebszellen zwischen 1925 und 1930. Im Bezirk Berlin-Brandenburg startete man mit einer verdächtig hohen Zahl an Betriebszellen, die sich dann allmählich bis 1928 auf ein Sechstel reduzierte. Im Bezirk Ruhrgebiet gab es im Jahr 1927 ein Zwischenhoch, das wohl auf den zwischenzeitlichen Kapazitätsausbau im Bergbau zurückzuführen ist. 1930 war aber die Zahl der Betriebszellen im Ruhrgebiet insgesamt nur um ganze zwei höher als im Jahr 1924. Der Bezirk Pommern konnte ebenfalls im wirtschaftlichen Zwischenhoch zwischen Inflati-on und Weltwirtschaftskrise Zugewinne verbuchen. Dafür traf ihn dann das an-schließende Werftensterben umso härter.

Tabelle 30: Mitgliederanteil von Betriebszellen (in Prozent) 1929/30Bezirk 1929 1930Berlin-Brandenburg 25,04 26,30Ruhrgebiet 38,44 34,12Reich 18,96 14,70

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/4/31, Bl. 75.

Ein Bericht der Org-Abteilung des ZK über die Werbeergebnisse der Reichs-tagswahlkampagne 1930 zeigt, dass obwohl die Zahl der Betriebszellen im Be-zirk Berlin-Brandenburg von 1929 auf 1930 leicht anstieg, der Anteil der Be-triebszellenmitglieder an der Gesamtmitgliedschaft leicht zurückgegangen ist. Dennoch gehörte dieser Bezirk zu den Bezirken, wo der Aufbau von Betriebs-

meist durch Bezirksleitung selbst hergestellt worden (SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 64).

5 Die politische Praxis der Partei 273

zellen offenbar noch mit am besten durchgeführt worden ist (Tabelle 30). Besser noch war der Bezirk Ruhrgebiet trotz des leichten Rückgangs an Betriebszellen und Betriebszellenmitgliedern. Dass in der Gesamtpartei 1929, also im Jahr des Ausbruchs der Weltwirtschaftskrise, nur noch weniger als ein Fünftel der Mit-glieder Betriebszellen angeschlossen waren, bestätigt nur die bisher schon vor-liegenden Erkenntnisse. Danach wurde es eher noch schlimmer. Laut einem Be-richt der BL Sachsen aus dem zweiten Quartal 1931 waren im März 1931 sogar nur noch 12,7 Prozent der KPD-Mitglieder in Betriebszellen organisiert. Der Be-zirk Sachsen lag mit 9,7 Prozent sogar noch unter dieser Marke. In der Stadt Berlin lag laut Vortrag des Berliner Orgleiters Langner auf der Konferenz der Orgleiter der Unterbezirke am 11. Mai 1930 der Anteil der Mitglieder der Un-terbezirke in Betriebszellen zwischen sieben (UB Nord) und fast 46 Prozent (UB Zentrum). Der Kernsatz des Parteistatuts von 1924 - „Die Grundlage der Partei-organisation bilden die nach Betrieben aufgebauten Parteizellen.“ - war ganz of-fensichtlich in der Partei nicht durchsetzbar gewesen!514

5.1.1.3 Die praktische Arbeit der BetriebszellenVon der mit der Umstellung der Partei auf Betriebszellen einhergehenden Verle-gung des Schwerpunkts „der politischen Organisationsarbeit ... in die Betriebs-zellen“ erwarteten die führenden Funktionäre erstens ganz allgemein eine He-bung der Aktivität der Mitglieder - die KPD sollte „von einer Propaganda- zur Aktionspartei“ werden. Zweitens sollte die nun wesentlich systematischer und konkreter mögliche Verbindung von Betriebsangelegenheiten mit politischen Fragen der Partei „erst einen wirklich dauernden und engen Kontakt mit den Massen“ ermöglichen. Drittens schließlich zielte man auf ganz konkrete Ver-besserungen bei der Basistätigkeit in bestimmten Politikbereichen ab, wie etwa die Eroberung betrieblicher und gewerkschaftlicher Mandate und Funktionen oder die Führung der ökonomischen Kämpfe der Belegschaften.515

Die Praxis aber zeigt, dass es sich bei der Betriebszelle keineswegs um die Eier legende Wollmilchsau handelte. Um alle Mitglieder zu aktivieren, wie es die ambitionierten Pläne der Parteiführung vorsahen, reichte es nicht aus, sie nur nach einem anderen Prinzip zu organisieren. Im nachhinein lässt sich die auf dem 10. Parteitag geäußerte Kritik Heinrich Galms an derartigen Illusionen nur als hellsichtig bezeichnen: „Wenn es nur eines Beschlusses bedürfte, um die Partei aktiver zu machen durch die Zellenarbeit, dann wären wir sehr schnell fertig.“516

514 SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/148, Bl. 2. SAPMO-BArch RY1/I2/4/6, Bl. 4.515 Bericht der Zentrale an den 9. Parteitag (Bericht 9. Parteitag, S. 39). SAPMO-BArch RY1/I2/4/3, Bl. 2. Resolution der Zentrale zur Organisationsfrage (Bericht 10. Parteitag, S. 226f.). Rundschreiben Orgbüro BL Ruhrgebiet vom 2.7.1926 (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/27, Bl. 15). §14 des Parteistatuts (Bericht 10. Parteitag, S. 234).

274 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

Die Verkleinerung der Gruppengröße dürfte zwar generell von Vorteil für die Aktivierung der einzelnen Mitglieder gewesen sein - dies zählt zum gesicherten Wissen der Soziologie. Den entgegengesetzten Effekt dürfte die mangelnde Be-reitschaft der Arbeitgeber gehabt haben, die politische Arbeit der Kommunisten im Betrieb zu tolerieren. Es ist daher kaum zu ermessen, wie viele Betriebs-zellen nur auf dem Papier bestanden haben. Für berufstätige Genossen, die sich nicht der Gefahr einer Entlassung aussetzen wollten, die sich aber auch nicht of-fen gegen die Beschlüsse ihrer Partei stellen wollten, war die nur formale Ein-richtung einer inaktiven Betriebszelle wohl der beste Kompromiss.517

Die ersten Meldungen über das Engagement der Mitglieder in den Betriebs-zellen waren daher ernüchternd. Genosse Nr. 11 etwa meinte auf der Sitzung der BL Berlin-Brandenburg am 30. März 1925: „Die Betriebsarbeit wird immer wieder nur von den aktiven Genossen geleistet. Die Arbeit im Betrieb ist allerdings auch viel schwieriger als im Wohnbezirk.“ Das Rundschreiben der BL Oberschlesien vom 7. September 1925 beschrieb die Situation der Betriebs-zellen - nicht nur in diesem Bezirk - wie folgt:

„In einer Reihe von Betrieben besteht auch bereits eine Zelle, aber es ist wenig davon zu merken, daß sie politisch lebendig ist. Das kommt daher, daß unsere Genossen glauben, die Zellenarbeit bestände nur in guter Registrierung, Kassierung der Mitglieder und in pünktlicher Kolportage.“

Die Gründe für ein solches Verhalten erläutert ein Bericht, den die Betriebszelle B5 aus dem oberschlesischen Hindenburg am 28. Dezember 1925 zur Veröffent-lichung an den „Parteiarbeiter“ schickte: „Die politische Schulung der Genossen ist sehr mager, wo die Zellenleitung schwere Arbeit hat, denn kein Genosse will kommunistische Arbeit leisten. Und zuletzt muß die Zellenleitung alles alleine machen, wenn was gemacht werden mußte.“518 Außerdem stand hinter dem Pro-blem der Aktivierung der Betriebsgenossen die Tatsache, dass in Folge der Gegenmaßnahmen vieler Unternehmer gegen die Betriebszellen immer wieder die engagiertesten Genossen aus den Betrieben geworfen wurden. Daher muss-ten viele Betriebszellen fortwährend neu aufgebaut werden und immer wieder neue Genossen gefunden werden, die bereit waren, aus ihrer Deckung hervorzu-kommen, und Funktionen der Betriebszellen zu übernehmen. Die Kommunisten, die in den späten 1920er Jahren die Parteibastionen in den Betrieben aufrecht erhielten, waren also zumeist nicht mehr die Betriebszellenaktivisten der ersten

516 Bericht 10. Parteitag, S. 477.517 Um eine solche bewusst rein formale Betriebszelle scheint es sich auch bei der in der Firma M.f.M.-Sielaff, die in Berlin-Neukölln Waagen herstellte, zu handeln. Polleiter Pieck erwähnte auf der BL-Sitzung am 9. Januar 1927, die Betriebszelle habe „eine Resolution angenommen, in der sie erklärt, daß sie Parteiarbeit ablehnt.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/19, Bl. 80).518 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/17, Bl. 200. SAPMO-BArch RY1/I3/6/14, Bl. 65. SAPMO-BArch RY1/I3/6/15, Bl. 51.

5 Die politische Praxis der Partei 275

Stunde, sondern Genossen aus der zweiten oder dritten Reihe, denen nicht selten einfachste Grundbegriffe politischer Arbeit fehlten.

Das nächste Problem nach der Aktivierung der Betriebszellen bestand darin, die Genossen in den Betriebszellen zu politisieren. Grundlage einer wirklich po-litisch im Sinne der Beschlüsse handelnden Betriebszelle war natürlich die regelmäßige Abhaltung von Mitgliederversammlungen. Ob dies möglich war oder nicht, hing vor allem von der Betriebsstruktur ab. Besonders schwer war das regelmäßige Zusammenholen der Mitglieder bei Schichtbetrieb wie im Bergbau oder wenn die Betriebszellengenossen auf verschiedene Werkstätten eines Betriebes aufgeteilt waren, wie etwa bei Krupp in Essen. Ein weiteres Pro-blem war die Einrichtung wirklich arbeitsfähiger Zellenleitungen. Auf einer Be-ratung der BL Ruhrgebiet mit den Leitern von fünf Betriebszellen des Bezirks am 31. Oktober 1925 wurde genau dies einer kritischen Überprüfung unterzo-gen:

„Dabei stellte sich heraus, daß die meisten Betriebszellenleitungen noch keine wirkli-chen Leitungen waren, daß sie keine Leitungssitzungen machten und die Arbeit nur auf den Schultern einzelner Genossen ruhte und dadurch folglich auch die Betriebszellen in ihrer Arbeit die Schwäche ihrer Leitung stets fühlten.“

Erschwerend kam hinzu, dass die Arbeitsorganisation in vielen Betrieben die Tätigkeit der Betriebszellenfunktionäre erschwerte. Im Bericht des Politischen Leiters der Betriebszelle in der Spamer’schen Druckerei in Leipzig für Mai/Juni 1925 heißt es dazu: „Meine Arbeiten für die Zelle kann ich nur während meiner Frühstücks- und Mittagspause durchführen, da ich schlecht von meiner Ma-schine wegkomme, weil die Kontrolle eine zu große ist.“519

Obwohl schon die gedruckten Richtlinien zur Reorganisation der Partei von 1923 darauf hingewiesen hatten, dass „alle Fragen, die auf der Tagesordnung der Gesamtpartei stehen, ... auch in der Betriebszelle zur Verhandlung kommen“ müssten, neigten die meisten frühen Betriebszellen zunächst einmal ganz ‚natür-lich‘ dazu, sich vorrangig den Problemen des unmittelbaren Nahbereichs, also den betrieblichen Fragen zu widmen. Einerseits knüpften sie damit an die Praxis der Betriebsfraktionen an - es dauerte geraume Zeit, bis einem Großteil der Be-triebszellenmitglieder der Unterschied zwischen diesen beiden Organisations-formen hinreichend klar wurde. Andererseits wurden die Betriebszellen, nach-dem sie einmal gegründet worden waren, vielfach von den höheren Ebenen sich selbst überlassen. Ihre Mitglieder entschieden sich daher spontan für einen Arbeitsschwerpunkt, der eine hohe Affinität zu ihren unmittelbaren Interessen und Kenntnissen hatte. Im Monatsbericht der BL Oberschlesien für den Septem-ber 1925 heißt es daher: „Die Betriebszellen beschäftigen sich mehr mit Be-triebsangelegenheiten. Eine systematische Politisierung der Zellen ist nach Be-

519 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/26, Bl. 7ff. Zur Situation bei Krupp vgl. den Bericht der Org-Abteilung der BL Ruhrgebiet über die Krupp-Betriebszelle vom 15.6.1930 (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/28, Bl. 172-175). SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 158.

276 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

zirksangabe schwer zu vollziehen.“ Dabei handelte es sich offenbar nicht um eine oberschlesische Besonderheit, denn die im Bericht der BL Ruhrgebiet vom 14. November 1925 an der Praxis der Betriebszellen geäußerte Kritik stößt ins gleiche Horn: „Die Politisierung der Zellen läßt noch viel zu wünschen übrig. Ihre Tätigkeit beschränkt sich lediglich auf regelmäßiges Zusammenkommen und einige Betriebsfragen zu besprechen, mit Ausnahme von wenigen Zellen.“520

Der Bericht der Org-Abteilung der BL Berlin-Brandenburg an die Org-Abtei-lung des EKKI vom 2. Dezember 1925 legt nahe, dass die Politisierung der Be-triebszellen im Bezirk nach einem halben Jahr Reorganisation allmählich Fort-schritte machte, und die Zellen nunmehr alle politischen und parteitaktischen Fragen diskutierten. Auf der gemeinsamen Sitzung der Agitprop-Abteilung der BL Berlin-Brandenburg mit den Agitprop-Leitern der Verwaltungsbezirke am 29. Oktober 1926 wurde aber schon wieder ausführlich über die Gründe für die Passivität der Betriebszellen diskutiert, die unter anderem auf die „fehlende Po-litisierung der Zellen, die fast nur anlässlich von Parteidiskussionen von oben bedacht werden“ zurückgeführt wurde.521

Die Betriebszellen waren nach einem Prinzip organisiert, das quer zu denen aller anderen proletarischen Organisation lag. Dennoch wäre es den KPD-Zellen in den Betrieben sicherlich ohne Weiteres möglich gewesen, etwa in Wahlkampf-zeiten im Betrieb aktiv zu werden. Statt dessen aber verhielten sich die Mitglie-der vieler Betriebszellen bei größeren Werbeeinsätzen so, als hätte es die Um-stellung der Partei nie gegeben. In seinem Bericht über die Reorganisation im Berliner Bezirk vom 5. Juli 1926 kritisierte der ZK-Instrukteur Georg Leps ver-breitete „Tendenzen zur Wiederherstellung der alten Wohnorganisation“, da auch die Betriebszellen ihre Werbearbeiten nicht von den Betrieben, sondern „ausschließlich von den Agitationslokalen aus“ durchgeführt hätten. Im Bericht eines namentlich nicht bekannten Kollegen von Leps über die Wahlkampfarbeit im Bezirk Ruhrgebiet aus dem Mai 1928 heißt es: „Im Allgemeinen lag das Schwergewicht des Wahlkampfes in den Ortsgruppen. Es gelang nicht die Be-triebszellen umfassend zu mobilisieren und zu aktivisieren.“522

5.1.1.4 Die StraßenzellenDa die Straßenzellen kein Wunschkind der Parteiführung und der Bolsche-wisierer in der KI waren, sondern eine Konzession an die schwierige Sozial-struktur der Mitgliedschaft und die daraus resultierenden Einstellungen und Verhaltensweisen vieler Genossen, musste man bei ihrem Aufbau quasi bei Null

520 SAPMO-BArch RY1/I2/4/26, Bl. 33 (Hervorhebung im Original, U.E.). SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 64. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 138.521 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 4. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 28.522 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/71, Bl. 58. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/13, Bl. 116 (Her-vorhebung im Original, U.E.).

5 Die politische Praxis der Partei 277

anfangen. Die Funktionäre und Mitglieder der Straßenzellen hielten sich bei ih-rer politischen Arbeit an das ihnen gut bekannte Muster der Wohnbezirke. Diese Problemlage beschreibt ein Rundschreiben der Org-Abteilung der BL West-sachsen vom 20. September 1926: „Die Straßenzellen sind noch jung, haben sich noch kaum zu selbständig arbeitenden unteren Parteiorganisationen entwi-ckelt, schleppen noch mit sich die Methoden und Traditionen der alten Wohn-organisation.“523

Die Mitglieder der Straßenzellen hatte einzig das Kriterium der Nichtbetrieb-stätigkeit zusammengeführt. Die Straßenzelle war daher ein Zusammenschluss von Angehörigen einer Restkategorie, die wenig verband. Ein durchaus re-präsentativer Bericht der BL Pommern vom 15. März 1926 über die 600 Mit-glieder der 15 Stettiner Straßenzellen beschreibt ihre Mitgliederstruktur: „Die Mitglieder der Straßenzellen sind zum wesentlichen erwerbslose Genossen, Arbeiter aus Kleinbetrieben, Maurer und Zimmerleute, die mal hier mal dort arbeiten.“ Den Großteil der Straßenzellenmitglieder stellte also die zunehmende Zahl arbeitsloser Genossen. Hinzu kamen die Hausfrauen - meist Ehefrauen von Genossen -, die Kleingewerbetreibenden, die Intellektuellen, sowie die Arbeiter aus verschiedenen schwer in Betriebszellen zu organisierenden Branchen, wie die Bauarbeiter. Da nun einmal beschlossen war, dass der Großteil der Partei-arbeit auf die Eroberung der Gewerkschaften verwandt werden sollte, und da die Mitglieder der Straßenzellen zum übergroßen Teil nicht organisiert oder gar nicht organisationsfähig waren, war die Straßenzelle aus politisch-strategischer Perspektive eine vollkommen überflüssige Institution ohne eine eigene positive Zielsetzung. Der Anfang Dezember 1929 im Ruhrgebiet eingesetzte ZK-Instruk-teur Hans Sawadzki schrieb dazu: „In den Straßenzellen ist die Passivität beson-ders stark; es fehlt an konkreter Aufgabenstellung“. Die von Heinrich Giwan auf der Sitzung der Weddinger Verwaltungsbezirksleitung am 24. November 1925 geäußerte Kritik, die Konzentration der Parteiführung auf den Aufbau und die Arbeit der Betriebszellen laufe auf „eine Stempelung der Genossen in den Stra-ßenzellen zu Mitgliedern zweiter Klasse“ hinaus, entsprach daher genau den Tatsachen. Die Straßenzellen mussten erst noch nachträglich mit einer spezi-fischen Funktion versehen, und diese mit Inhalt gefüllt werden.524

In den Quellen findet sich eine endlose Litanei von Klagen von Funktionären, dass sich die Straßenzellen kaum von den früheren Wohnbezirksorganisation

523 SAPMO-BArch RY1/I3/10/124, Bl. 67. Einen Ansatz zur Lösung sah der Autor vor allem im organisierten Erfahrungsaustausch zwischen den Straßenzellen-Leitern.524 SAPMO-BArch RY1/I3/3/27, Bl. 41. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/14, Bl. 41. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/32, Bl. 49. Im Bericht der BL Ruhrgebiet an den Bezirksparteitag im Mai 1930 hieß es dazu, der Bezirk habe laut 3. Reichskontrolle 1929 60 Prozent seiner Mitglieder in Straßenzellen: „Man konnte die Feststellung machen, daß auf Grund der Verlegung des Schwergewichts der Arbeit in die Betriebe, die Straßenzellen nicht genügend beachtet wurden und die Bedeutung der Arbeit der Straßenzellen unterschätzt wurde.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/3, Bl. 47).

278 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

unterscheiden würden. Im Bericht der Org-Abteilung der BL Westsachsen vom 7. Januar 1926 hieß es zum Beispiel: „Es zeigt sich, daß in verschiedenen Wohnbezirken unter der Bezeichnung ,Straßenzelle‘ eine Weiterexistenz dieser Wohnbezirke versucht wird.“ Der ZK-Instrukteur Paul Hoffmann stellte bei sei-ner Versammlungsreise durch Pommern Anfang August 1926 fest, die Tätigkeit der Stettiner Straßenzellen: „riecht zu stark nach Wohnbezirk.“ Und der Berliner Orgleiter Langner meinte gar noch 1930 auf einer Organisationskonferenz des Bezirks Berlin-Brandenburg am 11. Mai: „Die Straßenzellen unterschieden sich im wesentlichen nicht viel von einem sozialdemokratischen Wahlverein.“ Die Beharrlichkeit traditioneller Strukturen konnte sich der prinzipiellen Reserve vieler Genossen gegenüber Neuerungen bedienen. Eine ganze Reihe von Stra-ßenzellen, sind wahrscheinlich von vornherein mit der bewussten Absicht ge-gründet worden waren, die Wohnbezirksorganisation beizubehalten. Doch brauchte es kaum die an der Basis weit verbreitete Verweigerungshaltung gegenüber der Zellenorganisation, um die obigen Urteile zu stimulieren. Die Straßenzellen unterschieden sich schon von ihrer Konstruktion her nur wenig von den Wohnbezirken. Aus dem geografischen Organisationsprinzip resultierte quasi automatisch die Konzentration der Zellenarbeit auf den Bereich der Agita-tion, dessen Höhepunkt nun einmal traditionell in den Wochen vor bedeutenden Wahlentscheidungen lagen.525

Außerdem wirkte sich die Größe vieler Straßenzellen lähmend auf die Aktivi-tät der einzelnen Mitglieder aus. So hatten laut Jahresbericht der BL West-sachsen für die Zeit vom 1. April 1925 bis zum 31. März 1926 die 50 Leipziger Straßenzellen 4.507 Mitglieder, so dass im Durchschnitt also gut 90 Genossen eine Straßenzelle bildeten. Die größte Leipziger Straßenzelle hatte sogar 250 Mitglieder. Auch im Bezirk Berlin-Brandenburg gab es laut Bericht des Orglei-ters Langner vor der oben schon erwähnten Konferenz am 11. Mai 1930 „Mammutstraßenzellen mit 160 Mitgliedern“, was dazu geführt haben soll, dass die Straßenzellenleitungen arbeitsunfähig gewesen seien. Die BL beschloss da-her in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der KI und des ZK, die großen Straßenzellen mit über 50 Mitglieder zu teilen, stieß dabei aber auf Widerstand. Das Hauptargument der teilungsunwilligen Straßenzellenmitglieder bestand dar-in, dass es angeblich nicht genügend geeignete Funktionäre für die neu einzu-richtenden Straßenzellen gebe, was das BL-Sekretariat laut seinem Rund-schreiben vom 2. Juni 1930 für einen Vorwand hielt: „Auch die Funktionäre, die heute solche großen Straßenzellen leiten, haben einmal den Schritt vom einfa-chen Mitglied zum Funktionär gemacht.“ Die Bezirksleitung Ruhrgebiet meinte sogar in ihrem Arbeitsplan für den September 1931, es sei ein Leichtes, den re-klamierten Mangel an Funktionären aus dem Reservoir der neu eintretenden Mitglieder aufzufüllen.526

525 SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 319. SAPMO-BArch RY1/I3/3/18, Bl. 35. SAPMO-BArch RY1/I2/4/6, Bl. 12.

5 Die politische Praxis der Partei 279

Tabelle 31: Straßenzellen in den Bezirken 1926-1932Bezirk/Jahr Berlin-Brdbg Ruhrgebiet Westsachsen Pommern Oberschlesien1926 115 56 22 561927 189 254 52 0 191928 198 192 53 18 171930 268 289 57 241931 502 915 60 641932 659 1.165

Quellen: SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 31 (1926). SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 72f. (1927-28). SAPMO-BArch RY1/I2/4/32, Bl. 6ff. (1931). SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/70, Bl. 145 (Berlin-Brandenburg 1931-32). SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 185 (Ruhrgebiet 1931-32). Aumann: Legality, S. 240 (Pommern und Oberschlesien 1931).

Leider ist die Quellenüberlieferung über die Entwicklung der Zahl der Straßen-zellen in den einzelnen Bezirken nicht so gut wie die über die Betriebszellen (Tabelle 31). Die Tendenz stimmt aber mit den Zahlen überein, die bisher über die Gesamtpartei bekannt waren. In den Bezirken gab es bis etwa 1929 weniger Straßen- als Betriebszellen, und hier wie dort nahm die Zahl der Straßenzellen nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise rapide zu. So gab es auf Reichsebene 1927 2.135 Betriebs- und 2.461 Straßenzellen. Im November 1932 gab es schon fast dreimal so viele Straßenzellen (ca. 6.000) wie Betriebszellen (2.210). Was den Zuwachs an Straßenzellen in der Endphase der Weimarer Republik betrifft, ragt der Bezirk Ruhrgebiet besonders heraus. Die Zahl von 1931 ist dort um gut 500 Prozent höher als die von 1928, während es in den Bezirken Pommern und Berlin-Brandenburg nur jeweils etwa 230 Prozent waren. Dabei dürfte es sich um eine direkte Auswirkung der besonderen wirtschaftlichen Situation der Schwerindustrie handeln.527

Interessanter noch als die Angaben über die Zahl der Straßenzellen ist die Statis-tik über den Mitgliederanteil dieser Organisationsform (Tabelle 32). Die Über-sicht zeigt, dass eine absolute Mehrheit der Mitglieder im Reich und mit Aus-nahme von Oberschlesien auch in den hier untersuchten Bezirken auch schon im letzten guten wirtschaftlichen Jahr 1928 in den Straßenzellen zuhause war. Eine ‚Spitzenposition‘ nahm dabei ausgerechnet der Musterbezirk Berlin-Branden-burg ein, der zwar nur 15,60 Prozent der durch die Reichskontrolle von 1928 befragten Mitglieder, aber 21,81 Prozent der gesamten Straßenzellenmitglieder umfasste. Interessante Daten ergibt ein Vergleich der Zahl der Straßenzellenmit-glieder mit der Anzahl der Straßenzellen in den Bezirken. Danach kam die

526 SAPMO-BArch RY1/I3/10/115, Bl. 169. SAPMO-BArch RY1/I2/4/6, Bl. 13f. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/77, Bl. 53. HStAD Regierung Düsseldorf 30657f.527 Siegfried Bahne: Die KPD und das Ende von Weimar. Das Scheitern einer Politik 1932-1935, Frankfurt am Main 1976, S. 16. SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 72f.

280 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

durchschnittliche Straßenzelle 1928 im Bezirk Pommern auf fast 71 Mitglieder. Im Bezirk Berlin-Brandenburg waren es im Durchschnitt gut 62 Mitglieder, im Ruhrgebiet gut 25 und in Oberschlesien hatten die Straßenzellen durchschnitt-lich weniger als 22 Mitglieder. Ebenso wie die Zahl der Straßenzellen selbst stieg nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise auch der Mitgliederanteil der Straßenzellen noch einmal an, gefüttert durch die arbeitslose Kommunisten pro-duzierende Betriebspolitik der KPD, aber vor allem durch den auch für KPD-Verhältnisse weit überproportionalen Anteil der Erwerbslosen an den neu beitre-tenden Mitglieder, der sich etwa im Bezirk Ruhrgebiet im Oktober 1931 auf 85,07 Prozent und im März 1932 auf 86,40 Prozent belief.528

Tabelle 32: Mitgliederanteil von Straßenzellen (Reichskontrolle 1928)Bezirk Mitglieder SZ-Mitglieder SZM (%)Berlin-Brandenburg 16.447 12.329 74,96Ruhrgebiet 8.656 4.929 56,94Pommern 1.733 1.277 73,69Oberschlesien 840 369 43,93Reich 105.451 56.514 53,59

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/4/31, Bl. 75.

5.1.2 „Ehrenmitglieder“ und „Berufsrevolutionäre“Das in der KPD verbreitete Image des Bolschewisten präsentiert den Kom-munisten als einen unentwegt im Dienst der revolutionären Sache tätigen Men-schen. Der Gedanke, die KPD könnte in Bezug auf die Aktivität und das Engagement der Mitglieder im Vergleich zu anderen Parteien keine Ausnahme-erscheinung gewesen sein, will nicht so recht zum Mythos der Partei der Berufs-revolutionäre passen. Aber die KPD war keine klandestine Vereinigung exilierter Intellektueller, die sich, von einem allgegenwärtigen Zentralkomitee finanziell abhängig, professionell der revolutionären Politik widmeten. Die KPD war eine Massenpartei westeuropäischen Zuschnitts, und weist daher in Bezug auf das Engagement der Mitglieder eine ganze Reihe von Parallelen zu anderen Parteien auf.

Die KPD-Forschung hat bislang die Frage nach der Aktivitätsbereitschaft der KPD-Mitglieder als vollkommen unbedeutend betrachtet und dementsprechend ignoriert. Ich werde im folgenden versuchen, Antworten auf sie zu finden. An-schließend werde ich mich der formal am leichtesten identifizierbaren Gruppe der Aktivisten zuwenden, also den ehrenamtlichen Funktionären der Partei, die das Rückgrat der Organisation bildeten. Zwischen den ‚Karteileichen‘ und den Funktionären standen die Aktivisten ohne Funktion. Diese sind aber leider quellenmäßig kaum zu greifen, und finden daher hier keine nähere Betrachtung.

528 SAPMO-Barch RY1/I3/18-19/29 Bl. 183.

5 Die politische Praxis der Partei 281

Außerdem spricht vieles dafür, dass ein Großteil der regelmäßig aktiven Mit-glieder auch eine oder mehrere Funktionen innehatten.

Die Parteienforschung hat festgestellt, dass nur ein kleiner Teil der Mitglieder der Parteien regelmäßig und aktiv an der Parteiarbeit teilnimmt. Laut einer Stu-die über die SPD von 1977 gehören nur 25 Prozent der Mitglieder zum „,harten Kern‘ der Aktiven“. Weitere 15 Prozent der Parteiangehörigen sind darüber hin-aus bei besonderen Gelegenheiten mobilisierbar, während zwei Drittel der Mit-glieder passiv sind. Oskar Niedermayer schätzt in seiner soziologischen Studie über die politische Partizipation in den Parteien von 1989 die Zahl der wirklich aktiven Mitglieder von Parteien auf 20 bis 25 Prozent. Die von ihm befragten 1.433 SPD-Mitglieder im Bezirk Pfalz stuft er wie folgt ein: 18 Prozent von ih-nen seien reine Formalmitglieder, 47 Prozent wenig aktiv, 19 Prozent stärker ak-tiv und 16 Prozent sehr aktiv - der „,harte Kern‘ der Parteiaktivisten“.529

Maßgebliche Bedeutung bei der Erforschung politischer Partizipation hat der Apathie-Ansatz. Dieser geht davon aus, dass die politische Apathie (außerhalb und innerhalb der Parteien) eine ganz entscheidende Bedingung für Olig-archisierungsprozesse ist. Der Begriff der „Apathie“ steht dabei einmal für die nur geringe Neigung der Staatsbürger zum politischen Engagement und zum anderen für Phänomene der Passivität innerhalb von Parteien, wie ich sie im nächsten Abschnitt am Beispiel der Weimarer KPD beschreiben werde. Diese Apathie oder Passivität wird dabei neuerdings vor dem Hintergrund einer ‚ratio-nalistischen‘ Handlungstheorie durchaus als relativ bewusstes Produkt einer Ent-scheidung verstanden.

5.1.2.1 Die ‚Karteileichen‘Die vom Leninismus übernommene, und auf eine Partei mit völlig anderen Strukturen und Traditionen als die vorrevolutionäre RSDAP(b) aufgepfropfte Erwartung, dass sich alle eingetragenen Mitglieder regelmäßig und aktiv an der täglichen Parteiarbeit beteiligen, entpuppt sich beim Quellenstudium schnell als größenwahnsinnige Utopie. Auch die KPD war keine Partei ohne ‚Karteilei-chen‘.

Belege über die Passivität in der Partei lassen sich in beinahe beliebiger An-zahl beibringen. Sicher muss dabei der oben schon angesprochene professionelle Schiefblick der meisten Funktionäre (vgl. Abschnitt 1.3) Berücksichtigung finden, denen es der Aktivismus der Parteimitglieder gemessen an ihrem eigenen Engagement nie recht machen konnten. Insgesamt aber sprechen diese Belege eine beredte Sprache vom Scheitern des groß angelegten Versuches, eine Massenpartei wie einen Geheimbund arbeiten zu lassen. Ihrem äußerst ambi-tionierten Ziel, jeden Genossen zu einem regelmäßig aktiven Mitglied oder gar

529 Horst Becker/Bodo Hombach u.a.: Die SPD von innen. Bestandsaufnahme an der Basis der Partei. Auswertung und Interpretation empirischer Untersuchungen in der SPD Nordrhein-Westfalen, Bonn 1983, S. 79. Niedermayer: Partizipation, S. 45 bzw. S. 224.

282 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

zum Funktionär zu machen, kam die Partei während der Weimarer Republik zu-mindest bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise nicht einen Schritt näher.

Schon eineinhalb Jahre nach der Gründung der KPD sah sich die BL Rhein-land-Westfalen gezwungen, das unzureichende Engagement zahlreicher Ge-nossen zu kritisieren. In ihrem Rundschreiben vom 28. Juni 1920 hieß es: „Es geht nicht an, wie es in einzelnen Ortsgruppen vorgekommen ist, daß ein Ge-nosse alle Arbeiten auf sich nimmt.“ Der Entwurf der Thesen der Zentrale vom Juli 1924 über die Reorganisation der Partei lässt vermuten, dass zwischenzeitli-che Bemühungen der Parteiführung vergebens gewesen waren:

„Es ist eine Tatsache, das heute das Gros der Parteimitgliedschaft passiv ist. Die Haupt-last der Parteiarbeit liegt auf den Schultern eines verhältnismäßig kleinen Teils von Funktionären. Die Mehrheit der Parteimitgliedschaft kommt nur bei besonderen Anlässen: Demonstrationen, Streiks, besonderen Parteiveranstaltungen in Bewegung.“

Das Problem wurde hier vielleicht deswegen etwas dramatisiert, um der Umstel-lung der Partei auf Betriebszellen besondere Legitimation zu verleihen. Aber auch die Reorganisation war, wie ich oben dargestellt habe, nicht der ent-scheidende Hebel zur durchgreifenden Verbesserung der Aktivität der Mitglie-der. Daher war es für die BL Berlin-Brandenburg bei der Abfassung des Rund-schreibens vom 23. Juni 1926 wieder einmal an der Zeit, die Genossen an ihre Pflichten zu erinnern, und sie vor allem darauf hinzuweisen, dass die Partei-arbeit nicht nur in wenigen herausragenden Aktionen bestand: „Die sogenannte Kleinarbeit, die von allen Parteimitgliedern zur Gewinnung von Mitkämpfern und zur Stärkung der Organisation und der Presse unausgesetzt betrieben werden muß, hat leider immer noch nicht innerhalb der Partei die erforderliche Beachtung gefunden.“ Ein ZK-Instrukteur namens Konrad hielt in seinem Be-richt über den Unterbezirk Leipzig vom 3. September 1930 sogar die nicht in der Partei organisierten Arbeiter für aktiver als die eigenen Genossen: „Fast alle Stadtteilleiter beklagen sich darüber, daß die Aktivität der Parteigenossen viel zu wünschen übrig lasse und teilweise von der Aktivität der nicht der Partei ange-hörenden Arbeiter übertroffen werde.“530

Die Ermittlung des Anteils der entweder nur sporadisch oder gar nicht aktiven Mitglieder ist natürlich im geschichtswissenschaftlichen Kontext methodisch um einiges schwieriger als in den Sozialwissenschaften. Ich musste mich daher der in den Quellen zu findenden Zahlenangaben über den Grad der Aktivität der Mitglieder behelfen.

Die erste Angabe über den Anteil aktiver Mitglieder auf Bezirksebene findet sich im Mitteilungsblatt der BL Berlin-Brandenburg vom 6. Juli 1923. Die Autoren schätzten, dass sich 60 Prozent der Mitglieder des Bezirks nicht aktiv

530 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/16 (Hervorhebung im Original, U.E.). SAPMO-BArch RY1/I2/4/26, Bl. 26. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/28, Bl. 47. SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/149, Bl. 4.

5 Die politische Praxis der Partei 283

an der Parteiarbeit beteiligen. Das wäre eine Quote, die sich im Vergleich zu den oben aufgeführten Angaben über die Mitgliederaktivität bei den heutigen Bundestagsparteien sehr gut ausmacht. Auch im Bezirk Westsachsen lag nach einer Äußerung des BL-Mitglieds Pütz auf der Sitzung der Erweiterten Bezirks-leitung am 28. Juni 1928 die Aktivität der Mitglieder bei höchstens 30 Prozent. Ebenfalls in dieser Größenordnung bewegte sich die Schätzung von ZK-Instruk-teur Hans Sawadzki, die sich in seinem Kontrollbericht aus dem Bezirk Ruhrge-biet vom 26. November 1929 findet, worin es heißt, die Mitgliederaktivität „be-trägt 30 bis 35 %.“531

Ähnliche Angaben finden sich auch auf der Unterbezirksebene. So heißt es in einem Bericht der BL Ruhrgebiet vom 18. März 1925, dass die Werbewoche des Bezirks im März bislang am besten vom Unterbezirk Essen durchgeführt worden sei. „Dieses Resultat ist jedoch auch nur das Ergebnis von vielleicht 100 Genossen, die wirklich gearbeitet haben, während die übrigen zum großen Teil passiv gewesen sind.“ Gemessen an den 1.725 Mitgliedern, die im Januar 1926 allein der Essener Stadtorganisation angehört haben sollen, war das schon ein sehr bedenklicher Grad von Passivität oder Verweigerung, der wohl nicht zuletzt auf die an der Basis weit verbreitete Kritik an der immer schnelleren Aufein-anderfolge von Werbeeinsätzen zurückzuführen ist (vgl. Abschnitt 5.2.3.1). Der Tätigkeitsbericht der Agitprop-Abteilung der BL Berlin-Brandenburg für den März 1926 konnte immerhin stolz melden, dass sich am letzten Sonntag der Kampagne für das Volksbegehren über die Fürstenenteignung am 14. März die Hälfte der Parteimitgliedschaft beteiligt habe. Diese Aktivitätskurve der großen Mitgliedermehrheit entsprach im Übrigen fast exakt den Schwerpunkten der Ak-tivität der Sozialdemokraten im Kaiserreich, die zu überwinden, ein Hauptziel der verschiedenen Strukturreformen seit 1921 gewesen war. Wirklich nie-derschmetternd war eine Statistik, die die Agitprop-Abteilung des 11. Verwaltungsbezirks Schöneberg auf der Grundlage „einer genauen täglichen Re-gistratur aller Wahlhelfer der KPD und der Sympathisierenden“ erstellt hatte. Die nämlich zeigte, dass „im Durchschnitt nur 15 % der Genossen sich aktiv an der Agitprop.-Arbeit für das Volksbegehren“ beteiligt hatten. Demgegenüber schnitten die Genossen in Berlin-Mitte während derselben Kampagne laut Tätig-keitsbericht der Verwaltungsbezirksleitung für den Zeitraum November 1925 bis Juni 1926 doch etwas besser ab: „Schätzungsweise beteiligten sich an der prak-tischen Arbeit 20-25 % der Parteigenossen.“ In dem Resümee der Werbewoche vom 10. bis 17. Oktober 1926, das auf der gemeinsamen Sitzung der Agitprop-Abteilung der BL Berlin-Brandenburg mit den Agitpropleitern der Verwaltungs-bezirke gezogen wurde, wurde festgestellt, dass sich im 9. Verwaltungsbezirk Wilmersdorf nur 30 Prozent der Genossen an der Werbearbeit beteiligt hätten.

531 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 107. SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 324. SAP-MO-BArch RY1/I3/18-19/14, Bl. 44.

284 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

Im 5. Verwaltungsbezirk Friedrichshain sollen es sogar nur 18 bis 23 Prozent der Mitglieder gewesen sein.532

Schaut man auf die Ebene der Basisorganisationen, zeigt sich was sich hinter derartigen Zahlen verbarg. So heißt es etwa in dem Bericht der Betriebszelle in der Spamer’schen Druckerei in Leipzig-Reuditz aus dem Jahr 1925, dass nur sechs von 26 Mitgliedern der Zelle „regelmäßige Parteiarbeit“ leisten. Das war ungefähr das notwendige Minimum an Aktiven, um eine Parteizelle am Leben zu erhalten. Die Mitgliederversammlungen der Zelle, so ist weiter zu lesen, be-suchten immerhin 45 bis 50 Prozent der Genossen. Über diese an realistischen Maßstäben gemessen noch recht hohe Versammlungsbeteiligung hätte sich der Obmann der Betriebszelle im Gaswerk in Berlin-Reinickendorf sicherlich gefreut. Dort kamen laut seinem Bericht vom 15. November 1925 durchschnitt-lich nur zwei bis fünf der insgesamt 17 Genossen zu den Mitgliederversamm-lungen. Die Bandbreite der Versammlungsteilnahme zeigen Zahlen, die ein Funktionär mit dem Geheimkürzel „B/12“ auf der Sitzung der Leitung des Ber-liner Verwaltungsbezirks Steglitz am 15. Februar 1926 anführte. Danach hatte es auf den Mitgliederversammlungen der Zellen des Verwaltungsbezirks in der Vorwoche folgende Beteiligungsquoten gegeben: In Steglitz-West waren in der dortigen Betriebszelle 14 von 30 Genossen anwesend (46,67 Prozent), in der Straßenzelle waren es acht von 17 (47,06 Prozent); in der Betriebszelle in Steglitz-Ost kamen 18 von 50 Mitgliedern (36 Prozent) und in einer dortigen Straßenzelle 38 von 47 (80,85 Prozent); in einer Straßenzelle in Lichterfelde-Lankwitz schließlich waren 14 von 30 Genossen anwesend (46,67 Prozent). Einen anderen Aspekt beleuchtet ein Instrukteursbericht von Arthur Vogt über eine Funktionärssitzung der oberschlesischen Ortsgruppe Hindenburg am 19. September 1928, an der im Übrigen nur 18 der 29 geladenen Funktionäre teil-nahmen. Dort wurde von einem Funktionär geäußert, dass in einer Hindenburger Straßenzelle in einem Jahr „60 % der Mitgliedschaft überhaupt an keiner Partei-veranstaltung teilgenommen“ hätten.533

Die KPD wies also in einem ganz zentralen Bereich der Parteitätigkeit eine wesentlich größere Ähnlichkeit mit vergleichbaren Parteien jedweder politischer Couleur auf als mit dem Idealbild der bolschewistischen Partei, an dem die füh-renden Funktionäre dennoch unbeirrbar festhielten. Auch der Mythos der „Partei Lenins“ als Kernpunkt der kommunistischen Ideologie konnte seine Anhänger nicht dazu bringen, der KPD jede freie Minute des Privatlebens zu widmen.

532 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 101. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 117. SAP-MO-BArch RY1/I3/1-2/30, Bl. 54. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 29.533 SAPMO-BArch RY1/I3/10/126, Bl. 144. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/48, Bl. 3. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/18, Bl. 103. SAPMO-BArch RY1/I3/6/12, Bl. 176 (Hervorhebung von mir, U.E.).

5 Die politische Praxis der Partei 285

5.1.2.2 Die ehrenamtlichen FunktionäreDie ehrenamtlichen Funktionäre waren das Rückgrat der KPD. Sie hatten der Partei zu ihrer ganz unverzichtbaren lokalen Präsenz zu verhelfen, für den Aus-bau der Mitglieder- und Wählerbasis zu sorgen, und die Partei vor Ort zu re-präsentieren. Ohne ehrenamtliche Funktionäre, schrieb der französische Partei-enforscher Maurice Duverger völlig zurecht, ist „eine wirkliche Durchführung der Parteidirektiven gar nicht möglich“. Kein noch so routiniert arbeitender professioneller Apparat kann alles selbst leisten, wenn er in dem dafür notwen-digen Umfang überhaupt finanzierbar wäre. Die Domäne der ehrenamtlichen Funktionäre waren die Betriebs- und Straßenzellen sowie die Ortsgruppen. Ihr Einfluss reichte aber bis weit hinein in die Bezirksleitungen, denen neben den angestellten Parteisekretären ebenfalls zahlreiche Ehrenamtliche angehörten. Vollständig professionalisiert war nur die Zentrale bzw. das ZK.534

Tabelle 33: Parteifunktionäre und Funktionen (Reichskontrolle 1928)Bezirk Mitglieder Funktionäre Funktionen Funktionäre %Berlin-Brandenburg 16.447 3.918 4.983 23,82Ruhrgebiet 8.656 2.018 2.018 23,31Pommern 1.733 384 384 22,16Oberschlesien 840 270 342 32,14Reich 105.451 22.132 24.878 20,99

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/4/31, Bl. 81.

Ein hoher Anteil an Funktionären an der Mitgliedschaft war erklärtes Zahl der Parteiführung. Zahlenangaben dazu sind daher mit Vorsicht zu genießen. Laut einer Aufstellung der Organisationsabteilung des ZK auf der Grundlage der Reichskontrolle von 1928 (Tabelle 33) sollen 21 Prozent der Mitglieder Funktio-näre gewesen sein. Gemessen an den äußerst ambitionierten Erwartungen der Parteiführung war die Tatsache, dass nur ein Fünftel der organisierten Kom-munisten dazu bereit war, auch eine Funktion zu übernehmen, ein grandioser Fehlschlag. Drei von vier der hier untersuchten Bezirke, über die Zahlen vor-liegen, liegen recht nahe am Gesamtdurchschnitt. Nur der Bezirk Oberschlesien ragt mit einem knappen Drittel an Funktionären etwas heraus. Zwei Jahre später war der Anteil der Ehrenamtlichen an der Mitgliedschaft laut dem Bericht, den der Orgleiter des ZK, August Creutzburg, 1931 der KI vorlegte, auf 31,9 Prozent gewachsen.535

Auch wenn sich die letzte Zahl gemessen an den Erwartungen des ZK immer noch recht moderat und damit anscheinend plausibel ausnimmt, ist ihre Stichhaltigkeit stark zu bezweifeln. Gemessen an den durchschnittlichen jährli-chen abgerechneten Mitgliederzahlen (vgl. Tabelle 7) würde das Wachstum des

534 Maurice Duverger: Die politischen Parteien, Tübingen 1959, S. 126.535 SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 65. SAPMO-BArch RY1/I2/4/29, Bl. 153.

286 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

Funktionärskaders von 21 auf 31,9 Prozent der Mitgliedschaft bedeuten, dass die absolute Zahl der Funktionäre in drei Jahren von 25.564 auf 67.256 gestiegen wäre, also um 163 Prozent. Ein derartiger Durchbruch in der Heranziehung der Mitglieder zu Funktionären wird in keiner anderen Quelle greifbar. Insofern es wirklich in dieser Phase zu einer Vergrößerung des Funktionärkaders kam, wird sie in erster Linie auf die Einrichtung neuer bzw. die Teilung bereits bestehender Straßenzellen zurückzuführen sein. Die dabei ernannten neuen Funktionäre aber werden zum Großteil zumindest in der ersten Zeit nur auf dem Papier Funktio-näre gewesen sein.

Das methodische Grundproblem der Ermittlung der Zahl der Funktionäre durch die Parteiführung aber war ein definitorisches. Funktionär war wohl im Prinzip jeder, der in ein Parteiamt gewählt worden war. In den Quellen findet sich nicht der geringste Hinweis darauf, dass man etwa ‚politische‘ Ämter, wie dem des Polleiters, von ‚nichtpolitischen‘, wie dem des Litobmanns oder des Unterkassierers, begrifflich voneinander abgegrenzt hätte. Es macht einen großen Unterschied, ob die Unterkassierer, die jeweils für etwa zehn Genossen zuständig waren, also ca. zehn Prozent der Mitgliedschaft ausmachten, statis-tisch als Funktionäre erfasst wurden oder nicht. Leider ist darüber nichts be-kannt. Ebenfalls unterschieden viele Genossen nicht zwischen Funktionen und Funktionären. Diese terminologische Unsicherheit zeigt sich auch in den oben angeführten Bezirkszahlen aus der Reichskontrolle von 1928.

Über die Sozialstruktur der ehrenamtlichen Funktionäre war bisher nur wenig bekannt. Man musste sich mit der Extrapolation von Zahlenangaben über Funktionäre behelfen, die an einzelnen Veranstaltungen teilgenommen hatten, und dort per Fragebogen erfasst worden waren. Leider bietet das parteiinterne Material aus dem Parteiarchiv nicht viel mehr Einblick. Während der Reichs-tagswahlkampagne 1930 wurden in zehn Bezirken recht grobe Angaben zur So-zialstruktur der Funktionäre gesammelt. Demnach waren insgesamt 31,09 Pro-zent der Mitglieder auch Funktionäre. Von diesen Funktionären waren zwischen 10,06 (Danzig) und 51,85 Prozent (Ruhrgebiet) Betriebsarbeiter. Zwischen 24,40 (Ruhrgebiet) und 73,52 Prozent (Danzig) der Funktionäre waren erwerbs-los. Außerdem wurde festgestellt, dass 12,90 Prozent der Funktionäre des Be-zirks Ruhrgebiet Hausfrauen waren. Laut Bericht des ZK-Orgleiters Creutzburg waren im Jahr 1931 noch 44,20 Prozent der Funktionäre Betriebsarbeiter, wäh-rend 40 Prozent erwerbslos waren.536

Die Arbeitslosen standen zwei Jahre vor dem faktischen Verbot der Partei also auch kurz davor, die Mehrheit bei den Funktionären zu übernehmen, nach-dem sie schon seit zwei Jahren die größte und am schnellsten wachsende Gruppe unter den Mitgliedern stellten. Während die zunehmende Arbeitslosigkeit der KPD-Mitglieder die politischen Spielräume der Partei immer mehr verengte, fiel der Parteiführung durch sie gleichzeitig in organisatorischer Hinsicht ein unaus-

536 SAPMO-BArch RY1/I2/4/31, Bl. 99. SAPMO-BArch RY1/I2/4/29, Bl. 153.

5 Die politische Praxis der Partei 287

schöpfliches Reservoir an Funktionären in die Hand. Die Weltwirtschaftskrise brachte gleichsam die Lösung für das Aktivierungsproblem, an dem sich die Parteiführung so viele Jahre vergeblich abgearbeitet hatte. Nun standen endlich genügend Mitglieder zur Verfügung, die über ihre Zeit frei entscheiden konnten. Viele arbeitslose Funktionäre stellten sich nicht selten gleich nach der Entlassung komplett in den Dienst der Partei.

Der Einstieg in eine Parteifunktion bestand für viele neue Mitglieder zunächst in der Übernahme der Position des Gruppenkassierers. Willi Dickhut bekam zehn Tage nach seinem Beitritt 1926 durch einen Genossen sein Mitgliedsbuch ge-bracht und wurde von ihm gleich zum Kassieren der 18-köpfigen Straßenzelle eingeteilt. Auch Alfred Spitzer wurde gleich auf der ersten KPD-Mitgliederver-sammlung, die er besuchte, zum Unterkassierer befördert. In Hinblick auf eine Parteikarriere war der Posten des Unterkassierers ideal. Man lernte die Genossen der eigenen Parteigruppe recht intensiv kennen, da man jede Woche einmal mit ihnen zusammen kam, und konnte darüber die ersten Ansätze zum Aufbau einer Gefolgschaft unternehmen.537

Der Aufstieg des einfachen Mitglieds in eine politische Funktion, also die Einnahme des Posten des Pol- oder Orgleiters, des Gewerkschafts- oder Agit-propleiters einer Zelle, war im Prinzip ebenfalls nicht schwer. Die verbreitete Passivität in der Mitgliedschaft und die dünne Personaldecke erleichterten den ehrgeizigen Neulingen den Einstieg sehr. So sieht es auch Helmuth Warnke: „Für Parteineulinge ist es ... leicht, eine Funktion zu erlangen. Wer sich durch Aktivität hervortut und der jeweiligen Parteilinie zustimmt, gelangt bald zu Po-sitionen, die beträchtlichen Einblick in die Organisation erlauben.“ Bruno Retzlaff-Kresses Bericht über seine ersten Tage als KPD-Mitglied in Stettin im Sommer 1930 beschreibt etwas durchaus Übliches:

„Auf der ersten Straßenzellenversammlung, an der ich als neugebackenes Mitglied der KPD teilnahm, wollte man mich gleich zum Politischen Leiter dieser Zelle machen, weil ich mich sofort an der Diskussion beteiligt und offenbar kein dummes Zeug gere-det hatte.“538

Für den 22-jährigen Retzlaff-Kresse kam diese Offerte zu früh, auch wenn er sich schon zwei Jahre mit dem Marxismus befasst, und bei den Arbeiterturnern und den Freidenkern schon erste Organisationserfahrungen gesammelt hatte. Für die Mitglieder der Stettiner Straßenzelle hingegen kam dieser neue Genosse wie gerufen. Er konnte sich artikulieren und aus ihrer begrenzten Sicht recht flüssig marxistisch argumentieren. Außerdem war noch sehr jung und ohne Familie, so

537 Willi Dickhut: So war’s damals. Tatsachenbericht eines Solinger Arbeiters 1926-1948, Stuttgart 1979, S. 13. Alfred Spitzer: Neugersdorf - meine zweite Heimat (1925-1933). Er-innerungsbericht, Löbau 1986, S. 12.538 Helmuth Warnke: „Bloß keine Fahnen“. Auskünfte über schwierige Zeiten 1923-1954, Hamburg 1988, S. 41. Retzlaff-Kresse: Illegalität, S. 21.

288 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

dass sein Risiko geringer war, als das der Familienväter, die nicht nur an das Vorankommen ihrer Partei denken durften. Gegen die Übernahme einer Partei-funktion sprach für viele Genossen auch, dass sie zwar viel Arbeit, Verant-wortung und Gefahren mit sich brachte, man aber kaum auf viel positive Rück-meldung hoffen durfte.

Ein weiteres Selektionskriterium, das zeigen die Dokumente der Partei und die Memoiren ehemaliger Mitglieder gleichermaßen, waren die organisato-rischen Erfahrungen eines Mitglieds bzw. seine Einbindung in das proletarische Milieu am Ort. Ein Genosse, der sich bei den Arbeitersportlern oder in der Ge-werkschaft hervorgetan hatte, wurde schnell auch in Parteifunktionen gewählt. In der soziologischen Parteienforschung ist eine erhebliche Überrepräsentanz von Vereinsmitgliedern unter den Mitgliedern politischer Parteien gut belegt. Niedermayer führt dies darauf zurück, dass Vereine den in der Sozialisation erworbenen Grad der Soziabilität eines Individuums steigern können. Diese Überrepräsentanz lässt sich ohne weiteres auch für die KPD nachweisen (vgl. Tabelle 10). Dadurch wuchs den lokalen Vereinsfunktionären in der KPD besonderes strategisches Gewicht zu: sie waren erstens am Ort präsent bis omni-präsent, hatten zweitens ihre Führungsqualitäten bereits nachgewiesen, drittens waren sie auf besonders intensive Weise in das lokale Arbeitermilieu einge-bunden und viertens konnten sie politisch entscheidende Ressourcen kon-trollieren und für die Parteigruppe mobilisieren. Der Politologe Andreas Engel geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass „eine [durch] stetige Mitglied-schaft und Mitarbeit in Vereinen abgesicherte Gefolgschaft einen hohen ,Kapi-tal-‘ und ,Tauschwert‘ auf dem innerparteilichen Einflußmarkt“ hat. Diese besondere Position lokaler Multifunktionäre hatte eine Politik der kurzen Wege zur Folge. Es gab einige eher kleinere Gemeinden, in denen der Ortsgruppenvor-sitzende der KPD im inneren Monolog mit dem Leiter der örtlichen ATSB-Filiale oder dem Vorsitzenden des ADGB-Ortskartells ‚verhandeln‘ konnte.539

Verschärft wurde die herausragende Stellung derart omnipräsenter Multi-funktionäre durch die Passivität in der KPD-Mitgliedschaft, deren Aus-wirkungen auf die Selektionskriterien für Funktionäre und vor allem auf deren Rolle in der Parteigruppe sich daher kaum überschätzen lassen. Wie gesagt, war man scheinbar auf der sicheren Seite, wenn man den kommunistischen Vor-sitzenden des Turnvereins- oder der Arbeitersänger auch zum Ortsgruppenleiter wählte. Das ohnehin ausgeprägte Problem der Überlastung der Funktionäre wurde damit aber im Endeffekt nur noch verschärft. Das Mitteilungsblatt der BL Berlin-Brandenburg kritisierte in der Ausgabe vom 6. März 1923:

539 Niedermayer: Partizipation, S. 100ff. Die 1.433 von ihm untersuchten Mitglieder des SPD-Bezirks Pfalz waren zu 61 Prozent auch Mitglieder von Vereinen (S. 200). Andreas Engel: Wahlen und Parteien im lokalen Kontext. Eine vergleichende Untersuchung des Basisbezugs lokaler Parteiakteure in 24 nordhessischen Kreisparteiorganisationen von CDU, FDP und SPD, Bonn 1987, S. 203.

5 Die politische Praxis der Partei 289

„Überlastung der aktiven Funktionäre mit zu vielen Funktionen: die Klagen nehmen sehr überhand; deshalb ersuchen wir die Bezirks- und Gruppenleitungen, dafür zu sorgen, daß jeder Genosse nicht mehr Funktionen hat, als er unbedingt ausführen kann, um diese richtig und korrekt ausüben zu können.“

Ähnliches findet man in einem Bericht von ZK-Instrukteur Vogt vom 12. März 1928 aus dem Unterbezirk Gelsenkirchen, worin er einen Genossen Jakubowski zitiert, der wohl Orgleiter des Unterbezirks war: „Die ungeheure Überlastung der Funktionäre hindere eine gute Durchführung der gestellten Aufgaben. So hätten z.B. die 15 Funktionäre seines Stadtteils über 100 Funktionen.“ Mit diesen durchschnittlich je 6,66 Funktionen pro Funktionär stach der Gelsenkir-chener Unterbezirk kaum heraus. Besonders hoch war die Belastung der Partei-funktionäre durch die Ämterhäufung sicherlich im Bezirk Oberschlesien, was ein nicht namentlich genannter ZK-Instrukteur in seinem Bericht vom 19. Mai 1926 auf die dort besonders weit auseinander klaffende Schere zwischen der außerordentlich hohen Zahl von Funktionen und dem geringen Anteil von Ge-nossen, die sich für Ämter zur Verfügung zu stellen bereit waren, zurückführte. In seinem Referat vor der Orgkonferenz des Bezirks Berlin-Brandenburg am 11. Mai 1930 bezog sich der Berliner Orgleiter Paul Langner auf mir leider nicht vorliegendes Zahlenmaterial aus der Reichskontrolle von 1929, wonach „im Durchschnitt jeder Parteifunktionär 3-4 Funktionen hat. Es gab sogar Funktio-näre mit 22 Funktionen.“ Der Parteiführung war es zwar im Prinzip ganz recht, über einflussreiche Funktionäre zu verfügen, dies durfte nur nicht die Kontinui-tät der Parteiarbeit gefährden.540

Tabelle 34: Funktionen von Parteimitgliedern (Reichskontrolle 1928)Funktion in Bln-Brdbg. Ruhrgeb. Pommern Oberschl ReichMitglieder 16.447 8.656 1.733 840 105.451Partei 3.918 2.018 384 270 22.132KPD-Nebenorg. 2.009 1.226 297 196 13.103Sportvereine 1.255 465 165 38 8.636Kulturvereine 501 636 43 43 5.214Betriebe 2.099 976 96 143Gemeinde 1.838 1.518 222 187Gewerkschaften 6.133Krankenkassen 117 87 28 11Summe 11.737 6.926 1.235 888 55.218

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bll. 51f, 53, 58, 81 und 87-91 (vgl. Tabellen 12 und 13 für differenziertere Angaben).

540 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 87f. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/13, Bl. 57. SAP-MO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 89. SAPMO-BArch RY1/I2/4/6, Bl. 15.

290 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

So weit es die Zahlenangaben aus der Reichskontrolle von 1928 erlauben, wo-von sich leider die bezirkliche Aufschlüsselung der Gewerkschaftsfunktionäre unter den Mitgliedern nicht erhalten hat, errechnet sich ein maximaler Anteil der Funktionäre der verschiedensten Arbeiterorganisationen an der Mitgliedschaft von zwischen 103,45 Prozent im Bezirk Oberschlesien und 68,26 Prozent im Bezirk Pommern (Tabelle 34). Teilt man die oben ermittelten Summen an Funktionen durch Langners Zahl von durchschnittlich drei bis vier (=3,5) Funktionen pro Parteifunktionär, gehörten etwa 3.350 Mitglieder des Bezirks Berlin-Brandenburg zu diesen Multifunktionären (ca. 20 Prozent der Mitglieder), im Ruhrgebiet waren es etwa 1.980 (ca. 23 Prozent), in Pommern etwa 350 (ca. 20 Prozent) und in Oberschlesien etwa 250 (ca. 30 Prozent). Diese von mir geschätzten Anteile der Multifunktionäre an der Mitgliedschaft decken sich übrigens in hohem Maße mit den Anteilen der Parteifunktionäre an der Mit-gliedschaft, die in Berlin-Brandenburg 23,82, im Ruhrgebiet 23,31, in Pommern 22,16 und in Oberschlesien 32,14 Prozent der Mitglieder umfassten.

Nimmt man diese grobe Annäherung an die Zahl der multiplen Funktionäre zur Grundlage, wird schon deutlich, welchen Arbeitsaufwand ein ehrenamtlicher Funktionär, der auch noch einer Berufstätigkeit nachging, zu bewältigen hatte. Ein Extrembeispiel dafür war der namentlich nicht genannte Leiter des west-sächsischen Arbeitsgebiets Wiederitzsch, der in seinem Bericht für den Dezem-ber 1927 seine Funktionen aufzählte. Er war Pol- und Orgleiter des Arbeitsge-biets in Personalunion sowie Leiter der Ortsgruppe Wiederitzsch. Außerdem war er ehrenamtlich als Fürsorgepfleger, Elternratsmitglied, Vorstandsmitglied des Arbeiter-Gesangvereins, Turnvereinsfunktionär, ADGB-Ortskartellvorsitzender, Betriebsrat und Arbeiterkorrespondent tätig und engagierte sich auch bei den Freidenkern und im RFB. Er sah sich „körperlich und finanziell“ nicht mehr dazu in der Lage, alle diese Funktionen auszufüllen. Daher wollte er vier Funktionen niederlegen, „obgleich ich nicht weiß, welcher Genosse sie über-nehmen soll.“541

Der Beitrag der Parteiführung zur Auflösung des Dilemmas zwischen der per-sonellen Präsenz der Partei in den verschiedenen Arbeiterorganisationen und der dadurch bewirkten Überlastung der Funktionäre bestand allein darin, regelmäßig via Anweisungen eine bessere Verteilung der Aufgaben zu fordern.

Wie ich gezeigt habe, hatten die Funktionärsschulungen der KPD ihren Schwer-punkt bei den Inhalten. Kaum Wert wurde darauf gelegt, den Parteifunktionären auch die grundsätzlichsten Organisations- und Verwaltungsmethoden zu ver-mitteln. Die meisten ehrenamtlichen Funktionäre hatten sich daher ihre Vorge-hensweise wohl vor allem entweder von Rollenvorbildern - das waren zumeist wohl ältere einflussreiche Funktionäre, konnte aber auch der Meister im Betrieb oder der Unteroffizier im Schützengraben des Ersten Weltkriegs sein - abge-

541 SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 238.

5 Die politische Praxis der Partei 291

schaut oder allmählich per Trial-and-Error weiter entwickelt. Da die meisten Funktionäre völlig unbehelligt von der Parteiführung arbeiten konnten, hatten sie genügend Freiräume, um ganz individuelle Methoden zu entwickeln. Mit einer rationalen Bürokratie aber dürfte das Ergebnis nur wenig gemeinsam ge-habt haben.

Ein weiterer Auslöser von überflüssigen Reibungsverlusten waren diejenigen Funktionäre, die glaubten, nur sie seien in der Lage, ihre Arbeit zu machen. Viele KPD-Funktionäre waren schlichtweg nicht fähig, Aufgaben zu delegieren. Einen Beitrag dazu leistete sicherlich auch der in der Partei weit verbreitete Kontrollfetischismus. Zumeist verschärften diese Funktionäre im Endeffekt auf diese Weise ganz unabsichtlich selbst das Problem der eigenen Überlastung. Über dieses Phänomen berichtete etwa das Rundschreiben des BL-Sekretariats des Bezirks Berlin-Brandenburg am 2. Juni 1930:

„Es gibt viele Funktionäre, die aus Angst, daß die Arbeit nicht richtig gemacht wird, alles allein machen wollen und die es deshalb unterlassen, anderen Parteigenossen be-stimmte Arbeiten zu übertragen. Das Ergebnis einer solchen falschen Einstellung verantwortlicher Funktionäre ist dann, daß viele Arbeiten unerledigt bleiben, weil sie gar nicht in der Lage sind, alle Arbeiten zu bewältigen.“

Typischerweise handelt es sich bei diesen Funktionären um ältere Genossen, langjährige Angehörige der Arbeiterbewegung, die sich in der Gründungsphase ihrer eher kleinen Ortsgruppe unentbehrlich gemacht hatten, oder von den weniger engagierten Genossen in diese Rolle gedrängt worden waren. Bekannt wurden solche Fälle der Parteiführung zumeist erst dann, wenn die Selbstherr-lichkeit solcher Funktionäre zu Beschwerdebriefen seitens frustrierter enga-gierter Genossen an die Parteiführung geführt hatte oder aber wenn die Orts-gruppe plötzlich von der Oberfläche der internen Parteikorrespondenz verschwand, weil der ‚Mann für alles‘ auf einmal ausgefallen war. Ein Beispiel dafür ist etwa die westsächsische Ortsgruppe Monstab. ZK-Instrukteur Anton Jadasch berichtete am 31. März 1925 wie folgt von seiner Versammlungstour, die ihn auch dorthin geführt hatte: „In dieser Ortsgruppe mangelt es an durchge-schulten Funktionären und der eine Genosse, der in einer Person alles darstellt, kann die nötige Arbeit allein nicht bestreiten.“ Ein ähnlicher Fall war die west-pommersche Ortsgruppe Stralsund, wie es im Bericht Eugen Hoernles über die Kreiskommunalkonferenz Ende Juli 1928 heißt: „Im Allgemeinen ist die Orts-gruppe durchaus passiv. Alle Arbeit wird vom Genossen Willi Harder erledigt. Er ist seit Jahren erwerbslos, erhält keinerlei Unterstützung und lebt bei den Eltern seiner Braut, die ihn vollkommen mit erhalten.“ Dieses Phänomen des ‚le parti c’est moi!‘ gab es in allen Bezirken, aber anscheinend war es in den beiden kleinen Diasporabezirken noch etwas stärker verbreitet. Auch das Engagement der Genossen in der pommerschen Provinz und in den oberschlesischen Klein-städten war wohl generell noch etwas schwächer als in den anderen Bezirken. Das führte nicht selten zum Kollaps von Ortsgruppen, wie es der pommersche

292 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

Polleiter Hans Fladung am 2. April 1925 berichtete: „Unsere Ortsgruppen hängen noch viel zu viel von einzelnen Genossen ab, die, wenn es diesen Ge-nossen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage unmöglich ist, sich [im Ort] zu hal-ten, dann einfach zusammenbrechen.“542

Ein anderes potenziell gravierendes Problem für die Parteiführung waren die bestens integrierten langjährigen und erfahrenen Funktionäre, die im Laufe der Jahre eine feste Gefolgschaft von Genossen um sich geschart hatten. Die be-kanntesten Fälle sind Heinrich Galm in Offenbach, Guido Heym in Suhl und August Ziehl in Geesthacht. Ihnen gelang es sogar, nachdem sie aus der Partei ausgeschlossen worden waren, einen Großteil der Mitglieder ihrer Ortsgruppen in die Partei, der sie sich nach der KPD anschlossen, mitzunehmen. Diese Namensliste ließe sich sicher leicht noch verlängern. Beispiele aus den hier be-handelten Bezirken wären etwa Otto Engert, der lange Jahre den westsäch-sischen Unterbezirk Meuselwitz leitete, Hugo Joachim, im gleichen Bezirk Lei-ter des UB Borna oder der schon mehrfach erwähnte Fritz Latzke, der der rebellischen pommerschen Ortsgruppe Köslin vorsaß. Der linksradikale Orglei-ter der Leipziger Ortsgruppe, Arthur Vogt, bereitete dem ZK große Schwierig-keiten. Sein Rückhalt in der Ortsgruppe war offenbar so groß, dass die Partei-führung es nicht wagte, scharf gegen ihn vorzugehen. Sie verfiel daher 1925 auf die Idee, ihn dadurch auszuschalten, dass sie ihn in den Instrukteursapparat des ZK beförderte.

* * *

Ein relativ gut dokumentierter Fall ist der des Leiters der oberschlesischen Orts-gruppe Oppeln, Max Girndt, der offenbar auch dem Unterbezirk Oppeln vorsaß und Mitglied der BL Oberschlesien war. Über Girndts Person selbst ist leider nicht viel zu erfahren. ZK-Mitarbeiter Peter Maslowski bezeichnete ihn in sei-nem Reisebericht vom August 1927 als führenden Eisenbahngenossen, der schon vor längerer Zeit durch die Betriebsleitung gemaßregelt worden sei. Die Deutsche Reichsbahn besaß in Oppeln ein Eisenbahnausbesserungswerk mit 1.100 Beschäftigten, dessen Betriebsrat Mitte 1926 aus acht Kommunisten und einem Sozialdemokraten bestand. Es liegt nahe, dass Girndt dort ebenfalls ein-mal Betriebsrat gewesen ist.543

Die Betriebszelle der KPD im Eisenbahnausbesserungswerk war die Bastion des Kommunismus in Oberschlesien. Sie wird als beinahe einzige oberschlesische Basisorganisation in den Berichten der BL häufiger gelobt: Die Oppelner Kommunisten nahmen die meisten Exemplare des „Parteiarbeiter“ und 542 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/77, Bl. 52 (Hervorhebung im Original). SAPMO-BArch RY1/I3/10/117, Bl. 46. SAPMO-BArch RY1/I3/3/22, Bl. 75. SAPMO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 44 (Fladung bezog sich dabei auf das Problem, dass sich führende Genossen auswärtig nach Arbeit umschauen mussten, und dann im Ort nicht mehr zur Verfügung standen.).543 SAPMO-BArch RY1/I3/6/12, Bl. 66. SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 89.

5 Die politische Praxis der Partei 293

der „Internationale“ ab, führten regelmäßig Schulungen durch, leisteten eine hervorragende Gewerkschaftsarbeit und führten regelmäßig die Beiträge ab. Außerdem waren die Oppelner Genossen stärker als die der meisten anderen oberschlesischen Ortsgruppen und Zellen in den Organisationen des Arbei-termilieus verankert. Diese Stellung der Oppelner Kommunisten wirkte sich auch bei den Reichstagswahlen aus. Während die SPD in Oppeln eine Klein-partei von zwischen 3,87 (4.5.1924) und 6,66 Prozent (1928) der Wähler-stimmen blieb, lag die KPD mit etwa doppelt so vielen Wählern zwischen 8,49 (1920) und 12,52 Prozent (4.5.1924).544

Dennoch oder vielleicht gerade deshalb war Girndt auf den Sitzungen der BL ein Exponent einer sehr pragmatisch ausgerichteten KPD-Politik. Das zeigen seine Diskussionsbeiträge als BL-Mitglied deutlich. Auf der Sitzung der BL am 20. April 1926 kritisierte Girndt die Unselbständigkeit des ZK wie folgt:

„Es scheint, daß unsere Parteiführung immer erst nach Moskau fahren muß, um sich In-struktionen zu holen, entweder wir wollen die Einheitsfront oder wir lassen sie sein. Es darf in den sozialdemokratischen Arbeitern nicht der Argwohn erweckt werden, daß wir Entlarvungstaktik betreiben.“

Auf der BL-Sitzung vom 19. März 1927 äußerte sich Girndt positiv über die Beschlüsse des 11. Parteitags (2.-7.3.1927) und plädierte für mehr Sachlichkeit: „Bisher war genügend von russischem Enthusiasmus vorhanden, aber weniger amerikanische Nüchternheit.“ Dementsprechend war Girndt auch nicht für die neue Linie in der Gewerkschaftspolitik ab 1928 zu gewinnen. Auf der BL-Sitzung am 17. Februar 1928 meinte er dazu: „Sich aus der Gewerkschaft raus-schmeißen zu lassen, das dürfte man nicht empfehlen. Die schwachen Positionen leichtfertigerweise aufs Spiel setzen, das würde uns sehr weit zurückwerfen.“545

Diese moderate Haltung Girndts und seine gewerkschaftliche Orientierung wurde offenbar von der großen Mehrheit der Mitglieder der Ortsgruppe Oppeln geteilt. Auf der Sitzung der BL am 4. Juni 1925 kritisierte Polleiter Müller den Eigensinn der Oppelner Genossen:

„Die Ortsgruppen reagieren überhaupt nicht auf unser Anfordern über das Abhalten [sic!] von Versammlungen. Ein Beispiel bildet Oppeln. Wir verlangten dort das Abhal-ten einer öffentlichen Versammlung mit dem Thema: Die Arbeit der Kommunisten im Landtag, und erhalten als Antwort aus Oppeln die Nachricht, daß die dortigen Genossen es für richtiger halten, eine öffentliche Eisenbahnerversammlung abzuhalten.“

Die harsche Kritik des Polleiters Diedrichs an den Oppelner Genossen auf der BL-Sitzung am 21. August 1926 zeigt die politische Haltung der Ortsgruppe sehr klar auf:

544 SAPMO-BArch RY1/I3/6/12, Bl. 85.545 SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 244. SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 34. SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 111.

294 5.1 Strukturen und Methoden der Basistätigkeit

„Die Genossen treiben eine vollkommen falsche Politik gegenüber der Sozialdemokra-tie. In der Auffassung, es sei falsch, die SPD als Partei zu kritisieren, denn damit meine man die Arbeiter, grenzen sie sich überhaupt nicht von der S.P.D. ab. Es ist charakteris-tisch, daß ein Mitglied der Ortsgruppe in der B.L. [Girndt?] äußerte, daß die kommunis-tischen Redner in der Volksentscheidskampagne in Versammlungen auch nichts anderes sagen konnten als die SPD-Redner. Die Genossen protestierten gegen jenen Satz im Aufruf des Z.K., in dem gesagt wird, daß die sozialdemokratischen Parteien [sic!] mit allen Kräften den schamlosen Fürstenraub unterstützt haben. Über die genannten Fragen wurde in einer Mitgliederversammlung der Ortsgruppe Oppeln diskutiert, wo ein Be-zirkssekretär referierte. In dieser Versammlung war eine 2/3 Mehrheit für die op-portunistische Politik vorhanden. Der Vertreter der Bezirksleitung blieb mit einem Drittel Stimmen in der Minderheit.“546

Es war daher nur konsequent, dass sich die Unterbezirksleitung Oppeln im Ok-tober 1928 gegen eine Amnestierung Thälmanns aussprach. Girndt begründete diesen Standpunkt auf der Sitzung der BL am 16. Oktober 1928 wie folgt:

„Wir sollen uns nicht nach den Manieren des bürgerlichen Gerichts richten, wenn aber eine moralische Korruption vorliegt, so kann man diese nicht amnestieren, weil angeblich eine rechte Gefahr im Verzuge sei. Ich bin der Ansicht, daß durch die Amnes-tierung des Genossen Thälmann das Vertrauen zur Partei und Exekutive erschüttert wird. Wenn das EKKI sagt, daß Genosse Thälmann sich von den Sorgen um die Partei leiten ließ, um die Angelegenheit zu einem für die Partei günstigen Zeitpunkt zu erle-digen, so ist das eine opportunistische Auffassung des EKKI.“

Dass es in Oberschlesien nur in den Ortsgruppen- und Zellenversammlungen in Oppeln zu starkem Widerspruch anlässlich der Berichterstattung über die Beschlüsse des 6. KI-Weltkongresses bezüglich der Aufstellung eigener Listen zu den Betriebsratswahlen kam, ist daher nicht weiter überraschend. Der Stellen-wert, den Girndt in der Ortsgruppe Oppeln hatte, zeigte sich auch daran, dass die Ortsgruppe ihn entgegen einer Weisung der BL auf den ersten Listenplatz bei der Kommunalwahl 1929 setzte. Über die weitere Entwicklung der Ortsgruppe Oppeln und der Betriebszelle im Eisenbahnausbesserungswerk sowie das Schicksal Girndts nach 1929 ist leider nichts mehr zu erfahren.547

5.2 Der politische Parteialltag5.2.1 Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit5.2.1.1 Die gewerkschaftspolitische ArbeitDie Tätigkeit in den Freien Gewerkschaften war über die Jahre unbestritten der wichtigste Pfeiler der Parteiarbeit. Unter wechselnden Schwerpunktsetzungen bestand das Ziel, ausgesprochen oder nicht, darin, die Freien Gewerkschaften als

546 SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 66. SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 340 (Hervorhebung im Original).547 SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 157. SAPMO-BArch RY1/I3/6/23, Bl. 66. SAPMO-BArch RY1/I3/6/12, Bl. 203.

5 Die politische Praxis der Partei 295

größte Arbeiterorganisation und entscheidenden Pfeiler der kapitalistischen Wirtschaft von innen heraus zu erobern.

Entscheidend für die gewerkschaftpolitische Arbeit war der Organisations-grad der KPD-Mitglieder. Gerade in Bezug auf den Anteil organisierter Gewerk-schafter an der Mitgliedschaft finden sich die stärksten Unterschiede zwischen den Bezirken, je nachdem wie sich die Sozialdemokratie und die Freien Ge-werkschaften dort während des Kaiserreichs entwickelt hatten. Sowohl in der Schwerindustrie des Ruhrgebiets als auch im oberschlesischen Bergbau waren es die syndikalistischen Verbände, die nach der Revolution von 1918 in enor-mem Maße von den neuen Freiheiten bei der gewerkschaftlichen Betätigung profitierten. Bis zur Verschmelzung der Branchenzweige der wichtigsten syndi-kalistischen Organisation, der Union der Hand- und Kopfarbeiter (UdHKA), mit den entsprechenden ADGB-Verbänden im Jahr 1925, war der Großteil der Kommunisten Oberschlesiens und des Ruhrgebiets dort organisiert. In den Be-zirken Berlin-Brandenburg, Westsachsen und Pommern hingegen wurden oder blieben die meisten Kommunisten Mitglieder der Freien Gewerkschaften.

5.2.1.1.1 Organisationsgrad der KPD-MitgliederDie Bedeutung der Gewerkschaftsarbeit für die Geschichte der KPD ist von der bisherigen Forschung ausreichend gewürdigt worden. Eine grundlegende quanti-tative Erforschung des Organisationsgrades der Parteimitglieder sucht man hin-gegen vergebens, ebenso wie Längsschnittanalysen auf der Ebene der Bezirke.

Berlin-BrandenburgAuf dem 9. Parteitag 1924 warf EKKI-Vertreter Schwarz548 dem Gewerk-schaftssekretär der BL, Redetzky, vor, zwischen 1923 und 1924 den Organisa-tionsgrad der Berliner Kommunisten durch seine Politik von 70 auf 20 bis 30 Prozent gesenkt zu haben. Im November 1927 soll der Bezirk Berlin-Branden-burg, folgt man einer Einschätzung des ZK zu einem Bericht der BL, 9.175 organisierte Gewerkschaftsmitglieder in seinen Reihen gehabt haben. Das war bei einer Zahl von insgesamt 16.760 Mitgliedern ein Anteil von 54,74 Prozent. Anlässlich des Berliner Bezirksparteitags vom 16./17.3.1929 gab der Orgleiter Hans Pfeiffer bekannt, dass es im Bezirk noch 3.100 organisationsfähige Ge-nossen gebe, die nicht gewerkschaftlich organisiert seien. Ihr Anteil an den 18.636 abgerechneten Mitgliedern des Monats betrug 16,88 Prozent. Nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise dürfte der Anteil organisierter Mitglieder auch im Bezirk Berlin-Brandenburg auf Grund der zunehmenden Dominanz der Erwerbslosen auch unter den Beitretenden weiter gesunken sein. Interessanten Aufschluss darüber gibt ein Bericht des Unterbezirks Südwest über die neuen KPD-Mitglieder des Monats März 1932. Von den 488 neu Beigetretenen waren

548 Dabei handelte es sich entweder um Aleksandr Lozovskij oder um Otto Kuusinen.

296 5.2 Der politische Parteialltag

nämlich nur ganze 87 (17,83 Prozent) gewerkschaftlich organisiert, und davon waren noch 28 Mitglieder der RGO.549

Ruhrgebiet Aus dem Bezirk liegen erste vage Aussagen über den Organisationsgrad der Ge-nossen erst aus dem Jahre 1923 vor. Ein Bericht der Gewerkschaftsabteilung der BL vom 21. Februar 1923 verweist darauf, „daß über die Hälfte der Parteimit-glieder in der Union der Hand- und Kopfarbeiter organisiert ist“. Auch ein In-struktionsbesuch des Statistikexperten Wienand Kaasch im Herbst 1924 brachte kaum weitere Aufschlüsse:

„Wie nun unsere eigenen Parteigenossen gewerkschaftlich organisiert sind, darüber tappt man völlig im Dunkeln. Die meisten geben zwar an gewerkschaftlich organisiert zu sein, sind aber nicht in der Lage, ein gewerkschaftliches Mitgliedsbuch vorzuzeigen. Es ist also Flunkerei.“

Da ihm offenbar keine Gesamtstatistik des Bezirks vorlag, belegte er diese Aus-sage mit Angaben aus einzelnen Ortsgruppen. Danach waren in der Ortsgruppe Hamborn von 197 Genossen 109 unorganisiert (55,33 Prozent), in Oberhausen zählten dazu 28 von 211 (13,27 Prozent) und in Wehoven 50 von 88 Mitgliedern (56,82 Prozent). Die Zahl der organisierten Mitglieder im gesamten Bezirk schätzte Kaasch etwas nebulös auf zwischen 25 und 75 Prozent, von denen aber die meisten der UdHKA angehörten. Ein Vierteljahr später schätzte die BL so-gar, dass die große Mehrheit der Parteimitglieder des Bezirks in der UdHKA organisiert war, deren Mitgliedschaft zu 80 Prozent aus Genossen bestanden haben soll. Genauere Zahlen über den Organisationsgrad der Mitglieder liefern zwei Quellen aus dem Jahr 1925. Danach waren im Februar 25 Prozent der Ge-nossen nicht organisiert, während im November die kommunistischen Betriebs-arbeiter schon fast wieder zu 90 Prozent organisiert gewesen sein sollen. Etwas präziser war die BL in ihrem Bericht von 14. Mai 1927, in dem sie auf der Basis von sechs der acht Unterbezirke einen Organisationsgrad von 59 Prozent errech-nete.550

OberschlesienWeitere bezirkliche Informationen liegen leider nur noch aus diesem Bezirk vor. Dort waren laut Bericht der BL für den September 1925 293 von 703 Mitglie-dern gewerkschaftlich organisiert (41,68 Prozent). In den Bezirks-Informationen der Informationsabteilung des ZK vom 30. Dezember 1925 wird die Zahl von 35 Prozent freigewerkschaftlich organisierter Genossen angegeben. Die Gewerk-

549 Bericht 9. Parteitag, S. 331. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/23, Bl. 201. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/8, Bl. 47. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/56, Bl. 39.550 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/26, Bl. 14. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/12, Bl. 49. SAP-MO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 78. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/31, Bl. 5. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/26, Bl. 10. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/7, Bl. 23f.

5 Die politische Praxis der Partei 297

schaftsabteilung der BL gab im April 1926 an, dass nunmehr 561 von 1.085 Mitglieder organisiert seien (51,70 Prozent), während 389 organisationsfähige Mitglieder keiner Gewerkschaft angehörten (35,85 Prozent). Zwei Jahre später schließlich hieß es im Bericht der BL an den Bezirksparteitag vom 13./14.4.1928, dass von den Betriebsarbeitern in der Partei 65,9 Prozent, und von der Gesamtmitgliedschaft 38,2 Prozent organisiert seien.551

Tabelle 35: Gewerkschaftsmitgliedschaft und Beitritt (Reichskontrolle 1927)Bezirk Mitglieder Gew-Mgl Org-Grad

(%)Beitrittsjahr

vor 1915 1915-18 1919-27Berlin-Brandenburg 14.015 9.175 65,47 3.833 957 4.385Ruhrgebiet 8.681 4.336 49,95 1.526 483 2.327Westsachsen 7.183 5.361 74,63 2.329 623 2.409Pommern 60,41Oberschlesien 47,69Reich 115.702 71.388 61,70 29.562 8.539 33.287

Quellen: SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/23, Bll. 179-187, SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29 Bl. 73f., SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bll. 444-446.

Bei der Reichskontrolle von 1927 zählte die Frage nach der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zu den wichtigsten Fragen, da das Interesse der Parteifüh-rung an einer möglichst vollständigen (Wieder-)Eingliederung der Mitglieder in die Gewerkschaften stark war (Tabelle 35). Das Ergebnis zeigt für die Gesamt-partei einen recht hohen Organisationsgrad von 61,7 Prozent - allerdings auf der Grundlage aller, auch der nicht erwerbstätigen Mitglieder, so dass der eigentli-che Organisationsgrad noch um einiges höher lag. Angeblich sollen insgesamt fast 82 Prozent der Mitglieder organisationsfähig gewesen sein, so dass also nur drei Viertel der organisationsfähigen Mitglieder wirklich organisiert waren. Da-mit waren die KPD-Mitglieder dennoch sehr viel stärker organisiert als die Arbeiter insgesamt, deren Organisationsgrad bei 30,7 Prozent lag. Auch die Quoten der drei großen Bezirke liegen fast alle über 50 Prozent, wobei der sozi-aldemokratische Traditionsbezirk Westsachsen die Spitze mit 74,63 Prozent bildete, während der ‚verspätete‘ Bezirk Ruhrgebiet ‚nur‘ knapp 50 Prozent er-reichte.

Organisiert war der Großteil dieser 71.388 kommunistischen Gewerkschafts-mitglieder in folgenden Verbänden:

• 29,7 Prozent im Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV)• 12,2 Prozent im Baugewerksbund (BGB)• 8 Prozent im Fabrikarbeiter-Verband (FAV)

551 SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 64. SAPMO-BArch RY1/I2/706/5, Bl. 34. SAPMO-BArch RY1/I3/6/22, Bl. 86. SAPMO-BArch RY1/I3/6/5, Bl. 8.

298 5.2 Der politische Parteialltag

• 6,8 Prozent im Deutschen Bergarbeiter-Verband (BAV)• 6 Prozent im Deutschen Transportarbeiter-Verband (DTV)• 5,9 Prozent im Deutschen Holzarbeiter-Verband (DHV)• 4,1 Prozent im Deutschen Textilarbeiterverband (DTAV)• 3,6 Prozent im Graphischen Verband• 3,3 Prozent im Eisenbahnerverband (DEV)• 3,2 Prozent im Zentralverband der Angestellten (ZdA).

Ihr Anteil an den 1927 in den ADGB-Verbänden organisierten 4.150.160 Arbeitern und Angestellten betrug verschwindende 1,72 Prozent.552

Tabelle 36: Gewerkschaftsmitgliedschaft (Reichskontrolle 1928)Bezirk Mitglieder org-fähig organisiert org. Mgl (%) Org-Grad (%)Berlin-Brandenburg 16.447 12.704 10.893 66,23 85,74Ruhrgebiet 8.656 7.058 4.295 49,62 60,85Pommern 1.733 1.478 984 56,78 66,58Oberschlesien 840 722 337 40,12 46,68Reich 105.459 88.213 64.124 60,80 72,69

Quelle: SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 18-91

Auch im Rahmen der Reichskontrolle von 1928 wurde nach der Gewerkschafts-mitgliedschaft gefragt (Tabelle 36). Im Vergleich zum Vorjahr war die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Genossen um etwa 7.000 Mitglieder zurückge-gangen, der Organisationsgrad der KPD-Mitgliedschaft bezogen auf die Ge-samtmitgliedschaft um fast einen Prozentpunkt auf knapp 61 Prozent gesunken. Auch die Bezirke Ruhrgebiet, Pommern und Oberschlesien hatten einen, wenn auch knappen Rückgang der Organisationsquote zu verzeichnen, während der Bezirk Berlin-Brandenburg einen ganz leichten Zuwachs aufwies. Interessant an den Ergebnissen von 1928 ist insbesondere die Differenzierung zwischen organisationsfähigen und wirklich organisierten Genossen. Den höchsten Anteil an organisationsfähigen Mitgliedern, die auch organisiert waren, wies dabei der Bezirk Berlin-Brandenburg mit 85,74 Prozent auf. In Pommern lag ihr Anteil bei 66,58, im Ruhrgebiet bei 60,85 und in Oberschlesien bei nur 46,68 Prozent. Auf die Gesamtpartei bezogen waren 72,69 Prozent derjenigen Genossen, die organisationsfähig waren wirklich organisiert.

5.2.1.1.2 Parteilinie und BasisstimmungenWenn auch nicht für den gesamten Zeitraum der Existenz der Partei, so spiegeln diese Zahlen doch relativ exakt die verschiedenen Stimmungswellen in der Mit-gliedschaft in Bezug auf die Einstellung zu den Freien Gewerkschaften bzw. die Entwicklung der gewerkschaftspolitischen Linie durch die Parteiführung wider.

552 SAPMO-BArch RY1/I2/707/98, Bl. 13.

5 Die politische Praxis der Partei 299

Wie Millionen anderer Arbeiter auch, traten die damals schon oder erst später beigetretenen Kommunisten in der nachrevolutionären Phase 1919/20 den Ge-werkschaften in großer Zahl bei. Insgesamt fast 18 Prozent der organisierten Kommunisten von 1927 gehören zu dieser Gruppe. Schon in dieser Phase wurde sehr deutlich, dass es an der Parteibasis (und innerhalb der Parteiführung) eine ganze Bandbreite von Einstellungen gegenüber den Gewerkschaften gab. Den Genossen, die sich primär als Gewerkschafter definierten, standen andere gegen-über, die die Gewerkschaften in der in Deutschland entwickelten Form als ge-schichtlich überholte Organisationen generell ablehnten. Der extremste Aus-druck dieser Gewerkschaftskritik kam von den 1919 aus der Partei gedrängten Linksradikalen um Wolffheim und Laufenberg, die für eine politisch-gewerk-schaftliche Einheitsorganisation eingetreten waren.

Die Mehrheit der Mitglieder der frühen KPD dürfte aber durchaus den Fest-stellungen Lenins zugestimmt haben, die er in seiner „Linksradikalis-mus“-Schrift über den Verbleib und die Arbeit der Kommunisten in den be-stehenden Gewerkschaften gemacht hatte. Im Dezember 1920 wurden diese vom Vereinigungsparteitag zur Beschlusslage der Partei erhoben. Die VKPD bekann-te sich dort erstmals offen zu ihrer Absicht, die Gewerkschaften von innen „sys-tematisch erobern“ und ihre Mitgliedermassen, wie Brandler es in seiner Rede ausdrückte, zu „Aktivposten der Revolution“ machen zu wollen. Der Hebel dazu sollten die kommunistischen Gewerkschaftsfraktionen sein. Die Parteiführung warb daher in den folgenden Jahren unaufhörlich für den Beitritt der nicht organisierten Genossen in die Gewerkschaften.553

Im Laufe der nächsten Jahre verschob sich die Stoßrichtung der Kritik der ge-werkschaftskritisch gesinnten Mitglieder und Funktionäre. Der Topos, dass die Gewerkschaften sich zu Organisationen des Klassenverrats entwickelt hätten, und es daher von vornherein vergeblich sei, sie durch eine engagierte kom-munistische Minderheit erobern zu wollen, gewann zunehmend an Unter-stützung. An der Basis beruhte die Zustimmung zu diesem Standpunkt oft auf kurzlebigen Stimmungen. Dies wurde von Zentrale-Mitglied Emil Unfried auf dem 8. Parteitag 1923 einer heftigen Kritik unterzogen:

„Das kommt daher, weil der Kampf um die Eroberung der Gewerkschaften und die Be-kämpfung der Treibereien der Gewerkschaftsbürokratie immer schwerer wird. Dabei sind unsere Genossen ermüdet, sie möchten diesen Kämpfen deshalb aus dem Wege ge-hen und in andere Organisationen übertreten.“

Wohl eine Mehrheit wollte indes weiter für die Eroberung der Gewerkschaften von innen kämpfen. So lange, wie erfahrene Gewerkschafter wie Heinrich Brandler, Fritz Heckert oder Jakob Walcher an der Spitze der Partei oder ihrer Reichsgewerkschaftszentrale (RGZ) bzw. der Gewerkschaftsabteilung der Zentrale standen, war die ‚optimistischere‘ Variante mit kleineren Schwan-

553 Bericht Vereinigungsparteitag, S. 155.

300 5.2 Der politische Parteialltag

kungen die Linie der kommunistischen Gewerkschaftspolitik. Und ebenso lange war es Common Sense, dass so viele Kommunisten wie möglich gewerkschaft-lich organisiert sein sollten. Die Gewerkschaftsabteilung der BL Pommern etwa machte daher in ihrem Rundschreiben vom 10. März 1924 größtmöglichen Druck: „Alle Mitglieder der Partei sind verpflichtet, Mitglied einer Gewerk-schaft zu sein und darin nach den Anweisungen der Partei zu arbeiten. Wer das nicht tut, kann nicht Mitglied der K.P.D. bleiben.“554

Den Höhepunkt ihres Einflusses in den Freien Gewerkschaften aber hatte die KPD zu diesem Zeitpunkt schon hinter sich. Wenn das Ziel der Eroberung der Freien Gewerkschaften überhaupt jemals realistisch war, dann in den ersten vier Jahren der Parteigeschichte. Zwischen 1919 und 1923 verfügte die Partei über eine deutlich überproportionale Präsenz auf den Gewerkschaftstagen und eine große Anzahl von Gewerkschaftsangestellten, und sie dominierte eine ganze Reihe der Ortsverwaltungen der Einzelgewerkschaften bzw. Ortsausschüsse des ADGB. Der Hamburger Aufstand der KPD am 23. Oktober 1923, der Einmarsch der Reichswehr in Sachsen sechs Tage später, und die Maßnahmen der Polizei, der Unternehmer, aber auch sozialdemokratischer Gewerkschaftsfunktionäre gegen die Kommunisten in der Phase des Parteiverbots zwischen dem 23. No-vember 1923 und dem 28. Februar 1924 führten zum totalen Zusammenbruch der kommunistischen Gewerkschaftsbastionen.

Erst die 1924 installierte Führung unter Ruth Fischer und Arkadij Maslow brach generell mit der ‚Eroberungslinie‘, und unternahm erste Ansätze in Rich-tung auf den Aufbau eigener kommunistischer Gewerkschaften nach dem Mus-ter der französischen KP. Die Debatten über die Vorstöße der linken Führung zeigte, dass es unter der Mitgliedschaft immer auch eine gewisse Zahl von Anhängern einer solchen Gewerkschaftspolitik gab. Die Niederlagen der Ge-werkschaften in den Jahren 1923 und 1924 - zum Beispiel der Verlust des 1918 erkämpften Achtstundentages im Jahr 1924, den Potthoff zu recht „die symbol-trächtigste Errungenschaft der Novemberrevolution“ nennt - sowie eine aufrei-bende, mitunter gefährliche, aber nicht unbedingt Erfolg versprechende Arbeit in den Gewerkschaft legten atmosphärisch das Fundament für derartige Auf-fassungen. Außerdem gab es zu jeder Zeit eine kritische Masse an Kommunis-ten, die nur darauf warteten, dass die Parteiführung die frustrierende Sisyphus-arbeit der Eroberung der ADGB-Verbände durch eine Minderheit von nicht ein-mal zwei Prozent der Mitglieder aufgab. Sowohl die Brandler-, als auch die Fischer-Linie - und ihre respektiven Nachfolger - konnten also mit Zuspruch von relevanten Teilen der Basis rechnen. Ein Bericht der Gewerkschaftsabtei-lung der BL Ruhrgebiet vom 20. März 1924, in dem von Unklarheiten im Bezirk in Bezug auf die Gewerkschaftstaktik der Partei die Rede ist, bringt diese Situa-tion an der Basis exakt auf den Punkt:

554 Bericht 8. Parteitag, S. 308. SAPMO-BArch RY1/I3/3/38, Bl. 39 (Hervorhebung im Origi-nal).

5 Die politische Praxis der Partei 301

„Ein Teil der Genossen wünscht, daß sofort ein Bruch mit der Gewerkschaftsbürokratie herbeigeführt wird, um noch die in den Gewerkschaften befindlichen Arbeiter, die unter unserem Einfluß stehen, den zu bildenden Industrieverbänden zuzuführen. (...) Ein anderer Teil der Genossen steht auf dem Standpunkt, durch gute kommunistische Arbeit in den Gewerkschaften die Arbeiter für uns zu gewinnen, durch unsere Arbeit sie von dem Einfluß der reformistischen Bürokratie zu lösen, dem Kampf mit den Verbandslei-tungen nicht aus dem Wege zu gehen, um so, wenn die Leitungen zur Spaltung überge-hen, wir den größten Teil der Mitglieder in unserer Hand behalten.“555

Das kurze Intermezzo der offenen Antigewerkschaftspolitik der Fischer-Maslow-Führung, wurde 1925 offiziell vom 10. Parteitag beendet. Die KPD kehrte zu ihrer Strategie von 1920 zurück, und die Parteiführung gab die Parole aus, dass 75 Prozent der Parteiarbeit Gewerkschaftsarbeit sein müsse. Daher wurden auch die Anstrengungen wieder erhöht, die Genossen möglichst voll-ständig in den Gewerkschaften zu organisieren, was sich positiv auf den Organi-sationsgrad der KPD-Mitgliedschaft auswirkte. Die vollmundige Erfolgsmel-dung der Zentrale in ihrem Bericht an den Parteitag - „Die Verpflichtung für je-den Kommunisten, Mitglied einer freien Gewerkschaft zu sein, ist durchgeführt worden.“ - war dennoch eher Propaganda als eine Tatsachenbeschreibung.556 Das Jahr 1925 markiert auch das Ende der parteinahen UdHKA und anderer kleinerer kommunistisch dominierter Branchenorganisationen.

Während der dreijährigen realpolitischen Phase der KPD zwischen 1925 und 1928 war ein Großteil der Parteimitglieder gewerkschaftlich organisiert, die überwältigende Mehrheit von ihnen freigewerkschaftlich. Auch wenn die Parteifraktionen bei weitem nicht so arbeiteten, wie es beabsichtigt war, und auch der Beschluss über die 75 Prozent der Parteiarbeit, die Gewerkschaftsarbeit sein sollte, graue Theorie blieb, funktionierte die Arbeit der Kommunisten in den Gewerkschaften relativ gut. Dazu trug sicherlich auch der zwischenzeitliche wirtschaftliche Aufschwung bei, der eine ganze Reihe von Genossen wieder in Arbeit gebracht und die Spielräume für Verteilungskämpfe erweitert hatte. Dennoch verstummten die Stimmen an der Basis nicht völlig, die Schluss ma-chen wollten mit der tatsächlich unrealistischen Zielsetzung, die Gewerk-schaften von innen zu erobern.

Längst nicht alle Genossen teilten etwa die hyperoptimistische Auffassung des Redakteurs Gollmick, der auf der Sitzung der BL Oberschlesien am 1. No-vember 1926 erklärte: „Der Sieg über die SPD in den Freien Gewerkschaften ist nicht nur möglich, sondern sogar sicher.“ Ebenfalls problematisch war, dass die Erwartungen der Parteiführung in Sachen Gewerkschaftsbeitritt und Gewerk-schaftspolitik in sich widersprüchlich waren: die von den Genossen verlangte

555 Potthoff: Gewerkschaften, S. 182. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/55, Bl. 28.556 Bericht 10. Parteitag, S. 25. Schon am 6. Dezember 1925 warb nämlich zum Beispiel die BL Westsachsen in einem Rundschreiben wieder für den Beitritt (SAPMO-BArch RY1/I3/10/138, Bl. 25). SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 112.

302 5.2 Der politische Parteialltag

Fraktionsarbeit wurde von den führenden Instanzen als statutenwidrig gewertet und konnte zum Ausschluss aus der Gewerkschaft führen. Ein Genosse Kol-schewski aus Bochum nannte diese ‚Linie‘ auf einer Unterbezirkskonferenz im Januar 1925 „politisch ein Rin-in-die-Kartoffel, Raus-aus-die-Kartoffel.“ Nach seiner Ansicht trieb die Parteiführung „ein schlechtes Spiel mit den Genossen“, indem sie verlangte, „daß die Genossen in die reformistischen Gewerkschaften zurückkehrten, ... aber gleichzeitig von ihnen dort eine solche Arbeit [verlangte], daß sie wieder herausfliegen würden.“ Auf der Sitzung der BL Westsachsen am 1. Juli 1925 kam eine ähnliche Kritik von einem Genossen Schurig, der der Mei-nung war, die Parole der KPD „Hinein in die Gewerkschaften“ habe „bei den anderen das ,Heraus mit den Kommunisten‘ erwirkt.“

Schon in der vergleichsweise ruhigen Phase der relativen Stabilisierung der Weimarer Wirtschaft wurde so eine wichtige psychologische Grundlage für den Linienwechsel von 1928/29 gelegt. Die kritische Masse in der Mitgliedschaft, die ein Umsteuern der Parteiführung in Richtung auf den politisch und persön-lich weitaus bequemeren Aufbau eigener kommunistischer Gewerkschaften hät-te tragen können, war um die Mitte der 1920er Jahre längst erreicht.557

Die letzten Jahre der Weimarer Republik unter der Last der Weltwirtschaftskrise und auf Grund der daraus folgenden rein defensiven Orientierung der Freien Ge-werkschaften sahen wieder einen Rückgang der kommunistischen Organisa-tionsquote. Die Anweisungen des ZK und der Bezirksleitungen an die Genossen, in den Freien Gewerkschaften zu bleiben oder sogar erst beizutreten, gewannen zunehmend den Charakter von Lippenbekenntnissen. Viele Mitglieder traten stillschweigend aus ihren Verbänden aus, sobald sie erwerbslos geworden waren.

Nachdem der sechste Weltkongress der KI (17.7.-1.9.1928) Evgenij Vargas Theorie der Dritten Periode zur Grundlage gemacht, die Sozialdemokratie zum Hauptfeind erklärt und darauf fußend den Kurswechsel nach links eingeläutet hatte, schlug auch die KPD-Führung in Bezug auf ihre Gewerkschaftspolitik bald wieder den Weg ein, den die Fischer-Maslow-Führung schon 1924 ge-gangen war. Der Aufbau kommunistischer Gegengewerkschaften (RGO) war noch zu einem großen Teil auf den Druck der Basis, insbesondere aus der Ber-liner Rohrleger-Branche des DMV ausgeschlossener Genossen, initiiert. Der bei einem Großteil der organisierten Genossen extrem unpopuläre Beschluss, sich taktisch wieder darauf zu konzentrieren, durch die Organisation der Un-organisierten eine Hausmacht in den Gewerkschaften aufzubauen, ist demgegen-über wohl in erster Linie auf den Einfluss der KPdSU zurückzuführen. Die RGO blieb allerdings eine Gewerkschaft der nichtbeitragzahlenden Arbeitslosen, und damit einflusslos. Beides sorgte für heftige Kontroversen in der Partei. Die frei-gewerkschaftlich orientierten Genossen hatten zwar nun die Meinungsführer-557 SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 374. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 75. SAPMO-BArch RY1/I3/10/112, Bl. 211.

5 Die politische Praxis der Partei 303

schaft in der Partei eingebüßt, aber die Probleme, die die Partei damit hatte, ihre ‚revolutionäre‘ Gewerkschaftstaktik der Jahre 1928-32 umzusetzen, zeugen da-von, dass sie keineswegs verschwunden waren.

Es war im Grunde dann nur konsequent, von der immer schneller schrumpfenden Zahl der noch betriebstätigen Genossen zu verlangen, nicht mehr auf sozialdemokratisch dominierten Betriebsratslisten, sondern auf eigenen so genannten „Roten Listen“ zu kandidieren. Genauso selbstmörderisch war das Ziel der KPD, wenn möglich bei jedem Streik die Führerschaft übernehmen zu wollen. Dies musste natürlich vor allem für diejenigen Betriebe gelten, in denen die KPD stark war. Diese Taktik versetzte den Betriebs- und Betriebsratsbas-tionen der Partei den Todesstoß, und ließ die Zahl der kommunistischen Be-triebsarbeiter weiter schrumpfen. Die KPD-Führung sorgte auf diese Weise weitgehend selbst für den Rückzug der Kommunisten aus den Freien Gewerk-schaften, da sie viele gewerkschaftlich engagierte Genossen zu einem Verhalten zu zwingen suchte, das nur den Gewerkschaftsausschluss zur Folge haben konn-te.

Die Zusammenarbeit von RGO und NSBO im Berliner Verkehrsarbeiterstreik Anfang November 1932 bildete dann nur den unrühmlichen Abschluss der drei-zehnjährigen äußerst wechselhaften Geschichte kommunistischer Gewerk-schaftspolitik in der Weimarer Republik.

5.2.1.1.3 Die Arbeit der GewerkschaftsfraktionenHebel der kommunistischen Politik der Gewerkschaftseroberung sollten die Fraktionen sein. Systematisch in Angriff genommen wurde ihr Aufbau aber erst nach dem Beschluss des 2. Weltkongresses der KI (23.7.-7.8.1920) über die 21 Bedingungen zur Aufnahme befreundeter Partei in die kommunistische Welt-organisation. Die neunte Bedingung definierte die Strategie, an die sich alle Sek-tionen der KI in Bezug auf die Gewerkschaften zu halten hatten, wie folgt:

„Jede Partei, die der Kommunistischen Internationale anzugehören wünscht, ist ver-pflichtet, systematisch, hartnäckig innerhalb der Gewerkschaften ... kommunistische Arbeit zu leisten. In diesen Organisationen muß man kommunistische Zellen bilden, um durch langwierige, hartnäckige Arbeit die Gewerkschaften usw. für die Sache des Kom-munismus zu gewinnen. (...) Diese kommunistischen Zellen müssen vollkommen der Gesamtpartei untergeordnet sein.“558

Der Vereinigungsparteitag von KPD und linker USPD (4.-7.12.1920) machte sich die Forderungen der 21 Bedingungen nach kurzer Diskussion zu eigen. Während Hans Weber schon hellsichtig die gewerkschaftliche Reaktion auf diesen Beschluss vorwegnahm, nämlich den Vorwurf, die Kommunisten würden Parteipolitik in die Gewerkschaften hineintragen, hielt ein Delegierter namens

558 Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Der I. und II. Kongress der Kommunistischen Internationale. Dokumente der Kongresse und Reden W.I. Lenins, Berlin (DDR) 1959, S. 239.

304 5.2 Der politische Parteialltag

Neumann aus Berlin den Beschluss über die Zusammenfassung der Kommunis-ten für Richtung weisend, damit nicht jeder Genosse in den Gewerkschaften „tun und treiben kann, was er will.“559

Für die deutsche Gewerkschaftsbewegung, die sich in den 1890er Jahren von der Vorherrschaft der sozialdemokratischen Partei emanzipiert hatte, war ins-besondere der letzte Satz der neunten KI-Aufnahmebedingung eine offene Kampfansage. Eine Organisation, der ein Teil der Gewerkschaftsmitglieder angehörte, bekannte sich unumwunden dazu, in den Verbänden des ADGB eine ‚fünfte Kolonne‘ installieren zu wollen, die nicht der Gewerkschaftsführung, sondern nur der Führung der KPD gegenüber verantwortlich sein würde. Die of-fen geäußerte Absicht der KPD, die Gewerkschaften revolutionieren zu wollen, war für die Verbandsfunktionäre kaum weniger irritierend. Viele Gewerk-schaftsfunktionäre griffen, noch bevor die ersten kommunistischen Gewerk-schaftsfraktionen überhaupt konstituiert waren, zu den härtesten Mitteln, um der kommunistischen Taktik von vornherein das Wasser abzugraben.

Auch viele kommunistische Gewerkschaftsmitglieder waren von diesen taktischen Entscheidungen überrascht, und reagierten zunächst mit heftigem Widerspruch. In dieser Situation zeigte sich zum ersten Mal, dass es in der Partei eine Vielzahl von Mitgliedern gab, die sich in erster Linie als Gewerk-schafter, und dann erst als Kommunisten verstanden. Auch viele kommunis-tische Gewerkschaftsmitglieder hielten die parteipolitische Unabhängigkeit der Gewerkschaften für ein hohes Gut. Vielen kommunistischen Gewerkschafts-funktionären oder Betriebsräten war außerdem der basisdemokratische Gedanke - die Verantwortlichkeit eines gewählten Mandatsträgers nur den eigenen Wäh-lern gegenüber - durchaus vertraut. Das sollte ein großes Dauerproblem für die Parteiführung werden. Da sie selbst kein Stimmrecht in den Gewerkschafts-instanzen haben konnte, war sie bei der Durchsetzung ihrer Gewerkschaftsstrate-gie vollkommen auf die Bereitschaft der organisierten Mitglieder angewiesen.

Auf Grund der frühzeitigen Gegenmaßnahmen der Gewerkschaftsfunktionäre bis hin zu Ausschlüssen auf Grund von kommunistischer Fraktionsarbeit, und der nur äußerst zaghaften Bereitschaft der organisierten Genossen, sich zu zentral angeleiteten Fraktionen zusammenzuschließen, kam der Aufbau der Ge-werkschaftsfraktionen nur schleppend voran. Die fehlgeschlagene „Märzaktion“ der KPD von 1921 trug dazu bei, ihn weiter zu verzögern. Die Reichsgewerk-schaftszentrale der KPD musste daher in ihrem Bericht an den 7. Parteitag im August 1921 zugeben, dass der Aufbau der kommunistischen Gewerkschafts-fraktionen ein Dreivierteljahr nach dem Beschluss noch immer nicht abge-schlossen war, und dass außerdem die bestehenden Fraktionen nicht so arbeite-ten, wie es beabsichtigt war: „Die Genossen haben noch nicht gelernt, vor jeder allgemeinen Mitgliederversammlung in der Fraktion zusammenzukommen, zu der Tagesordnung Stellung zu nehmen, Anträge auszuarbeiten und bestimmte

559 Bericht Vereinigungsparteitag, S. 182.

5 Die politische Praxis der Partei 305

Genossen mit der Vertretung dieser Anträge zu beauftragen.“ Die Parteitagsrede Jakob Walchers, eines Mitglieds der RGZ, zeigt, dass die oben beschriebene Graswurzelorientierung sogar unter den gewählten Leitern der kommunistischen Gewerkschaftsfraktionen verbreitet war:

„Einige Genossen waren der Meinung, daß sie als Fraktionsvorstände nicht der RGZ, nicht der Partei oder der örtlichen Parteileitung verantwortlich sind, sondern daß sie denjenigen Kreisen verantwortlich sind, die sie gewählt haben, von denen sie ihr Man-dat empfangen haben.“560

Dennoch konnte im Bericht der Zentrale gemeldet werden, dass die Partei im Bezirk Berlin-Brandenburg über „feste Fraktionen“ in 38 von 48 Berliner ADGB-Verbänden verfügte, die in drei kleineren Handwerker-Verbänden sogar die Mehrheit hinter sich geschart hatten. Die BL Pommern meldete in ihrem Tä-tigkeitsbericht für den März 1922 sogar, dass die gewerkschaftliche Fraktions-bildung im Bezirk „überall durchgeführt“ worden sei, was angesichts der Situa-tion des Bezirks nicht plausibel erscheint.561

Ausführliches Material über die Zahl der kommunistischen Gewerkschafts-fraktionen auf Reichsebene gibt es erst wieder aus dem Jahr 1923. In ihrem Be-richt an den 8. Parteitag schrieb die Gewerkschaftsabteilung der Zentrale, dass die Partei, soweit es sich anhand des unzureichenden Materials sagen ließe, über 997 Gewerkschaftsfraktionen verfüge. Von diesen bestanden 37 im Bezirk Ber-lin-Brandenburg, sechs in Pommern, 23 in Westsachsen und 65 im Bezirk Rheinland-Westfalen-Nord. Die stärksten Stellungen hatte die Partei im DMV mit 177 Fraktionen. Ebenfalls stark war die Partei im BAV mit 113 und im BGB mit 105 Fraktionen. In weiteren fünf Verbänden (bei den Eisenbahnern, den Holz-, Transport-, Fabrik- sowie den Staats- und Gemeindearbeitern) kam die KPD reichsweit auf über 50 Fraktionen. Um den Fraktionsaufbau weiter voranzubringen, verlangte die Gewerkschaftsabteilung vom Parteitag, dass er „allen Genossen die Verpflichtung auferlegt, aktive Mitglieder der Gewerk-schaften zu werden und an allen Fraktionsarbeiten teilzunehmen.“ Ernst Meyer, Mitglied des Polbüros der Zentrale, kritisierte in dem von ihm vorgetragenen Bericht der Zentrale an den Parteitag die zu schwache Verankerung der Partei in den Betrieben und Gewerkschaften. Eine wichtige Ursache dafür sah er in der verbreiteten Angst vieler Genossen vor der Fraktionsarbeit:

„Diese Furcht, die bei einzelnen Genossen vorhanden war, war absolut unberechtigt, sie entsprang einer recht alten sozialdemokratischen Tradition, die einen Gegensatz zwi-

560 Bericht 7. Parteitag, S. 32 bzw. S. 356f. Diese Einstellung konnte sogar dazu führen, dass eine kommunistische Zahlstellenmehrheit einen Sozialdemokraten zum Delegierten für den Verbandstag wählte, wie auf der Sitzung der erweiterten BL Westsachsen am 19. September 1929 über die Genossen in einem Steinbruch in Brandis-Beucha berichtet wurde, wurde von diesen damit begründet, dass „man nicht die Minderheit vergewaltigen wolle.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 633).561 Bericht 7. Parteitag, S. 65. SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 7.

306 5.2 Der politische Parteialltag

schen Gewerkschaften und Partei aufrichtete, die von der Selbständigkeit und Autono-mie der einen proletarischen Organisation gegenüber der anderen redete.“

Fritz Heckert, seit 1902 gewerkschaftlich organisiertes Mitglied der Zentrale meinte, die Lösung für dieses Problem zu kennen: „Alle oppositionellen revolu-tionären Arbeiter müssen sich fester als bisher verbinden, straff organisierte Fraktionen müssen überwachen, ob jedes revolutionäre Gewerkschaftsmitglied seine Pflicht tut.“562

Wie die Quellen zeigen, kam die Zusammenfassung der organisierten Ge-nossen in den Fraktionen sowie deren Arbeit auch in den nächsten Monaten nur wenig voran. Die Gewerkschaftsabteilung der BL Westsachsen berichtet für den Januar 1924, dass die Fraktionen in Leipzig nur lose zusammengefasst seien, und die Fraktionsführer sich nicht an die regelmäßige Berichterstattung ge-wöhnen wollen. Zwei Monate später schrieb die Gewerkschaftsabteilung der BL Pommern in ihrem Rundschreiben vom 15. März: „Es muß leider festgestellt werden, daß trotz aller Mahnungen die Genossen die Notwendigkeit einer sys-tematischen Zusammenfassung der Opposition nicht einsehen.“563

* * *

Symptomatisch für die Probleme der Parteiführung, ihre Richtlinienkompetenz in Bezug auf Gewerkschaftsfragen durchzusetzen, war der Konflikt, den die BL Ruhrgebiet mit dem kommunistischen Leiter der Essener DMV-Ortsverwaltung, Wilhelm Kischkat, zwischen 1923 und seinem Parteiausschluss im Frühjahr 1924 austrug. Kischkat war alt gedienter Gewerkschafter und im Januar 1923 von der Partei von Stuttgart nach Essen beordert worden, um die Fraktionsarbeit bei Krupp in Essen und im Ruhrgebiet insgesamt anzukurbeln. Ausgangspunkt der späteren Auseinandersetzungen war der Versuch der ‚linken‘ Bezirksleitung, Kischkat zum Rücktritt zu zwingen, um einen ihr genehmeren DMV-Vor-sitzenden einzusetzen. Erst auf einer Gewerkschaftskonferenz des Bezirks am 13. Januar 1924 konnte Kischkat die Erklärung abgerungen werden, die Richt-linien der Partei für die Gewerkschaftsarbeit als für ihn verbindlich zu akzep-tieren, nachdem er sich vorher nur an die „Beschlüsse der Fraktion und des Fraktionsvorstandes“ gebunden betrachtet hatte. Folgt man dem Bericht der BL Ruhrgebiet vom 23. Mai 1924 hatte Kischkat im Januar aber nur scheinbar ein-gelenkt:

„Es zeigen sich hier die größten Tendenzen ultramenschewistischer Anschauungen, die ihren Ausgang nehmen beim Metallarbeiterverband und im Krupp’schen Betrieb. (...) Wir haben bei den verschiedensten Gelegenheiten ganz konkrete Anweisungen über die Maßnahmen, die jeden Tag einzuleiten sind, herausgegeben. Diese Anweisungen

562 Bericht 8. Parteitag, S. 75f., S. 213 und S. 280.563 SAPMO-BArch RY1/I3/10/139, Bl. 35. SAPMO-BArch RY1/I3/3/39, Bl. 40.

5 Die politische Praxis der Partei 307

werden entweder von einigen führenden Leuten sabotiert und abgelehnt oder anerkannt, aber nicht durchgeführt.“

Das hatte die BL zum Anlass genommen, um Kischkat, der offenbar die große Mehrheit der im DMV organisierten Essener Kommunisten hinter sich geschart hatte, einstimmig mit der Begründung auszuschließen: „Er hatte sich geweigert, die Partei anzuerkennen als die Instanz, die für die Arbeit der Kommunisten in-nerhalb der Gewerkschaften anzusehen ist.“ Dieser Ausschluss scheint den Kon-flikt aber eher noch verschärft zu haben. Das legt jedenfalls der Bericht des Zentrale-Instrukteurs Wienand Kaasch vom 4. Oktober 1924 nahe:

„Seit dem Ausschluß des ersten Bevollmächtigten im hiesigen Metallarbeiterverband aus der Partei, haben wir in Essen in unserer Metallarbeiter-Fraktion einen tiefen Riß. Der größte Teil unserer Genossen steht hinter dem ausgeschlossenen ersten Bevoll-mächtigten.“

Die Folge der Brechstangentaktik der BL war, dass die KPD sehr schnell ihre starke Stellung in der Essener Ortsverwaltung des DMV verlor, und die Kom-munisten im Arbeiterrat von Krupp von der Mehrheit zur kleinen Minderheit wurden.564

* * *

Zu einem den ambitionierten Erwartungen der Parteiführung entsprechenden Durchbruch bei der Organisation der Gewerkschaftsfraktionen kam es auch in der realpolitischen Phase zwischen 1925 und 1928 nicht. Es blieb vielmehr bei den seit 1920 bekannten Problemen: der Unwilligkeit der Genossen, sich zu Fraktionen zusammenzuschließen, dem Widerstand vieler langjähriger Gewerk-schafter gegen das Hineintragen von Parteipolitik in die Verbände und schließ-lich den Gegenmaßnahmen der Freien Gewerkschaften selbst. Da es sich bei dieser Phase um eine ganz entscheidende handelt und das Geschehen in den Ge-werkschaftsfraktionen in dieser Zeit außerdem besonders gut dokumentiert ist, macht es Sinn, die Entwicklung bezirksweise zu untersuchen.

Berlin-Brandenburg Die erste und einzige ausführlichere Quelle über die Entwicklung der Fraktionen im Bezirk Berlin-Brandenburg ist der Bericht der BL für den November 1927. Darin heißt es, dass die Gewerkschaftsfraktionen im Bezirk 2.835 von 9.175 kommunistischen Gewerkschaftsmitgliedern organisiert hätten. Fast 70 Prozent der kommunistischen Gewerkschafter Berlins beteiligten sich also nicht an der Fraktionsarbeit der Partei.565

564 Peterson: Communism, S. 233. SAPMO-BArch RY1/I2/708/42, Bl. 112. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 50f. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/12, Bl. 43.565 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/23, Bl. 200.

308 5.2 Der politische Parteialltag

RuhrgebietWie der Polleiter der BL Ruhrgebiet, Theodor Neubauer, auf einer Besprechung der Zentrale mit den Bezirkssekretären am 25. Februar 1925 berichtete, kam die Partei im Ruhrgebiet auf insgesamt 134 Fraktionen, von denen aber nur die Hälfte wirklich arbeitete. Zu den Spätfolgen der Kischkat-Affäre gehörte mögli-cherweise dass von 14 Fraktionen im DMV nur fünf zu den aktiven zählten. Außerdem wies Neubauer darauf hin, dass die Leitung des BAV rigide gegen Mitglieder vorging, die im Verdacht stünden, Fraktionsarbeit zu leisten. Dies und die Tatsache, dass der Großteil der im Bergbau arbeitenden Genossen nicht im BAV, sondern in der UdHKA organisiert waren, sorgte dafür, dass der Einfluss der KPD auf die wichtigste Gewerkschaft im Ruhrgebiet gegen null ging.566

Die anhaltenden Probleme beim Aufbau der Fraktionen nahm die Gewerk-schaftsabteilung der BL am 13. Oktober 1925 zum Anlass, um die Verfahrens-weise noch einmal näher zu erläutern: „Alle zu einer Zahlstelle gehörenden Ge-nossen müssen zu einer Fraktion zusammengefaßt werden. Die Fraktion wählt ihren Vorsitzenden, Kassierer und Schriftführer. Es muß ein Protokollbuch angelegt werden und von jeder Sitzung Protokoll geführt werden.“ Der Bericht, den die Gewerkschaftsabteilung acht Tage später herausgab, zeigt dass derartige Hinweise auch nach fünf Jahren kommunistischer Gewerkschaftsfraktionen immer noch nötig waren. Im Bezirk gab es nun insgesamt 256 Fraktionen in 32 Gewerkschaften - fast doppelt so viele wie noch im Februar. Dazu zählten 101 Fraktionen im BAV - was in erster Linie eine Folge der 1925 vorgenommenen Überführung der UdHKA-Branche Bergbau in den BAV gewesen sein dürfte -, 17 im DMV, 16 im BGB und 15 im DEV. An der Qualität ihrer Arbeit hatte sich aber anscheinend kaum etwas geändert. Die Gewerkschaftsabteilung der BL Ruhrgebiet stufte die Tätigkeit von 40 Prozent der Gewerkschaftsfraktionen als schlecht und die weiterer 40 Prozent als mangelhaft ein. Nur einem Fünftel der Gewerkschaftsfraktionen wurde eine gute Arbeit bescheinigt. Gut ein Jahr spä-ter, in ihrem Bericht vom 9. Dezember 1926, schrieb die BL, dass die Zahl der Gewerkschaftsfraktionen weiter angewachsen sei, nämlich auf 385, wovon 210 auf den BAV, 33 auf den DMV, 21 auf den FAV und 19 auf den BGB entfielen. Problematisch war offenbar auch nicht selten die Informationslage der Gewerk-schaftsfraktion über die Beschlüsse der Parteiführung. Gustav Sobottka, im Sommer 1927 als Instrukteur der ZK-Gewerkschaftsabteilung im Revier unter-wegs, musste in seinem Bericht feststellen:

„daß die Anweisungen und Anregungen des Z.K. selbst von der Bezirksfraktionsleitung nicht bis in die Fraktionen durchgedrungen sind. Nirgends war den Genossen bekannt,

566 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/31, Bl. 3f.

5 Die politische Praxis der Partei 309

daß bereits am 10. August durch Rundschreiben des Z.K. auf die zwischentarifliche Lohnbewegung im Bergbau hingewiesen wurde.“567

Folgt man dem Bericht der Gewerkschaftsabteilung der BL für den September 1927 hatte sich die Zahl der Fraktionen inzwischen weiter auf 407 erhöht, von denen 242 auf den BAV, 22 auf den DMV und 34 auf den BGB entfielen. Was die Qualität der Arbeit der Fraktionen betraf, blieb es beim dem pessimistischen Urteil: „Höchstens 1/3 der Fraktionen kann als arbeitend angesprochen werden.“ Auch die Verbindung zwischen den Betriebszellen und den Fraktionen wurde kritisiert. Insgesamt wurde eine äußerst pessimistische Bilanz gezogen:

„Was wir in der Partei noch nicht erreicht haben ist, daß die Gewerkschaftsarbeit eine Arbeit der Gesamtpartei ist. Die einzelnen Fraktionen arbeiten in der Regel ohne ge-nügende Kontrolle durch die Parteileitung. Es kommen aus diesem Grunde auch zum Teil sehr üble [gewerkschaftspolitische] Entgleisungen vor.“568

WestsachsenGleichfalls wenig positiv entwickelte sich die Arbeit der Gewerkschaftsfrak-tionen in Westsachsen. Die BL Westsachsen schrieb dazu in ihrem Bericht für den Zeitraum April 1924 bis März 1925: „In dem größten Teil der Fraktionen wurde nicht so gearbeitet, wie es die Verhältnisse erforderten. Gegenüber der immer aktiver auftretenden Gewerkschaftsbürokratie ließ ein großer Teil unserer Genossen die nötige Aktivität vermissen.“ Im Juli 1925 zog die Gewerkschafts-abteilung der BL Westsachsen ein desaströses Fazit: Im BGB gebe es gar keine Fraktionsarbeit, im DTV sei sie nur äußerst schwach, und im FAV habe man keinen Einfluss, weil die Fraktionsleitung zu passiv sei. Auch die Beteiligung der Genossen an der Arbeit der bereits bestehenden Fraktionen ließ offenbar sehr zu wünschen übrig, wie die Gewerkschaftsabteilung der BL am 23. Sep-tember 1925 schrieb, die in ihrem Rundschreiben heftig den „unerträglichen Zu-stand“ geißelte, „daß wie bei den Metallarbeitern von 1100 Kommunisten ganze 25 die Fraktionssitzungen besuchen.“ Bis zum Juli 1927 scheint sich auch im Bezirk Westsachsen die Fraktionsarbeit gebessert zu haben, zumindest in der Quantität. Der Monatsbericht der BL jedenfalls führt auf, dass es in 26 Orten 93 Fraktionen in 33 Gewerkschaften gebe.569

PommernAus Pommern hat sich ein umfassender nach Verbänden gestaffelter Bericht der Gewerkschaftsabteilung der BL vom 23. Februar 1928 erhalten. Demnach gab es in 13 Ortsverwaltungen des DMV kommunistische Fraktionen. Die größte da-

567 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/56, Bl. 10. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/55, Bl. 70f. SAP-MO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 212f.568 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/55, Bl. 95.569 Bericht BL Westsachsen, S. 14. SAPMO-BArch RY1/I3/10/139, Bl. 68ff. SAPMO-BArch RY1/I3/10/138, Bl. 16. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 46.

310 5.2 Der politische Parteialltag

von natürlich in Stettin mit 140 Mitgliedern, von denen allerdings nur durch-schnittlich 40 Genossen regelmäßig die monatlichen Sitzungen besuchten. Im BGB verfügte der Pommersche Bezirk über Fraktionen in 14 Orten, deren größ-te in Stettin 80 Mitglieder hatte. Eine ähnlich starke Fraktion gab es in der Stettiner Ortsverwaltung des Deutschen Verkehrsbundes (DVB) mit 60 Mitglie-dern. Probleme gab es dort aber mit dem kommunistischen DVB-Angestellten Hopp, der beschrieben wird als „parteipolitisch und für unsere Gewerkschafts-arbeit sehr unzuverlässig. Er geht allen Dingen aus dem Wege, die ihn irgendwie in Konflikt mit der Verbandsleitung bringen können.“ Weitere DVB-Fraktionen gab es in fünf Orten. Beim DEV und beim FAV verfügte die Partei über Frak-tionen in jeweils sieben Orten.570

Eineinhalb Jahre später hatte sich die Situation im Bezirk eher verschlechtert. Auf Grund des Werftensterbens und der Krise bei den Zulieferern in der pom-merschen Metallindustrie schmolz die Zahl der Großbetriebe im Bezirk und die der (kommunistischen) Betriebsarbeiter weiter zusammen. In Stettin blieben nur ganze zwei Großunternehmen übrig. Der ZK-Instrukteur Kerff errechnete in sei-nem Bericht vom 9. Oktober 1929 nur noch neun Gewerkschaftsfraktionen mit 276 Mitgliedern, die außerdem schlecht arbeiteten, und teilweise nur auf dem Papier bestanden haben sollen.571

OberschlesienAm schwierigsten war die Organisation der kommunistischen Gewerkschafter offenbar im schwerindustriellen Bezirk Oberschlesien. Laut Bericht der BL für den September 1925 gab es keine einzige Bezirksgewerkschaftsfraktion - also keine die Tätigkeit der verschiedenen lokalen Fraktionen koordinierende In-stanz. Es gab im Bezirk überhaupt nur ganze zwei Gewerkschaftsfraktionen, nämlich im Deutschen Eisenbahner-Verband (DEV) in Oppeln und in Beuthen, deren Aktivitätskern wohl die beiden freigestellten kommunistischen Bezirksbe-triebsräte waren. Daran änderte sich offenbar in den folgenden anderthalb Jahren kaum etwas. Auf der Sitzung der BL am 6. Mai 1927 stellte ein Genosse Schwe-da fest, dass die KPD die Metallarbeiterbewegung nicht hatte vorantreiben können, „weil unsere Fraktionen im Metallarbeiterverband nicht aufgebaut sind.“ Gewerkschaftsleiter Paris ergänzte, dass Gleiwitz die stärkste KPD-Basti-on im DMV sei, während die kommunistische Opposition im BAV kaum vorangekommen sei.572

Ein Schlaglicht auf einige Ursachen schlechter Fraktionsarbeit wirft ein Bei-trag eines Genossen Schulz auf der Sitzung der BL am 29. Mai 1927, in dem er auf Probleme der KPD im Oppelner Verband der in Gemeinde- und Staatsbe-trieben beschäftigten Arbeiter und Unterangestellten (VGS) eingeht, die er dar-

570 SAPMO-BArch RY1/I3/3/39, Bl. 107. 571 SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 48.572 SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 63f. SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 52f.

5 Die politische Praxis der Partei 311

auf zurückführte, dass die meisten dort organisierten Genossen arbeitslos seien. Die Arbeitslosigkeit der Genossen blieb eines der Hauptprobleme in Bezug auf die Gewerkschaftsfraktionen. Am 2. Juni 1930 berichtete die BL:

„Von Fraktionsarbeit kann man im Bezirk O/S kaum reden. Die Tatsache, daß im Berg-bau kaum noch 20 % gewerkschaftlich organisiert ist [sic!], weiter die Tatsache, daß die Parteimitglieder zum großen Teil bereits früher aus den Zahlstellen ausgeschlossen wurden, hatte zur Folge, daß im gesamten Bergbau keine einzige gewerkschaftliche Fraktion besteht.“

Positiv hervorgehoben wurden wiederum die beiden gut arbeitenden Eisen-bahnerfraktionen in Gleiwitz und Beuthen. Polleiter Glagau verfiel daher auf der BL-Sitzung am 27. Juni 1927 auf die beinahe schon verzweifelte Idee, dem-nächst Sitzungen von Gewerkschaftsfraktionen durch die BL anberaumen zu wollen, „damit wirklich die Fraktionen aufgebaut werden.“573

Anfang der 1930er Jahre reißt die Fülle der Quellen über die Gewerkschaftsfrak-tionen ab. Die Arbeitslosigkeit einerseits und die kommunistische Gewerk-schaftspolitik der zweiten „ultralinken“ Phase andererseits, die zu Massenaus-schlüssen von Kommunisten aus den Freien Gewerkschaften und zur Ab-spaltung der kommunistischen Gewerkschaftsbewegung unter dem Kürzel RGO geführt hatte, machten eine kontinuierliche politische Arbeit in den ADGB-Ver-bänden ohnehin nahezu unmöglich.

Das strategische Ziel der KPD von 1919/20, die Gewerkschaften von innen zu erobern, endete eindeutig im Fiasko. Die Parteiführung hatte einmal mehr ihren Einfluss auf die Mitglieder maßlos überschätzt. Es war nicht nur die unaufheb-bare strukturelle Minderheitssituation der Kommunisten in der deutschen Arbei-terbewegung, die dem Erfolg der Gewerkschaftsfraktionen im Wege stand - engagierte Minderheiten können durchaus einen Einfluss gewinnen, der weit über ihren zahlenmäßigen Anteil hinausgeht. Neben den Schwankungen der Par-teilinie, der überproportionalen Arbeitslosigkeit der KPD-Mitglieder und der Furcht vieler Genossen vor dem auch materiell durchaus folgenschweren Ge-werkschaftsausschluss, der Verlust der in die Streikkassen oder in die von man-chen Verbänden angebotenen Invaliditätsversicherungen eingezahlten Beiträge, war es vor allem die Beharrlichkeit der im Arbeitermilieu seit Gründung der Ge-werkschaften tradierten Überzeugungen über die Funktion der Gewerkschaften und das Verhältnis von Partei und Gewerkschaft, die die Gewerkschaftsfrak-tionen zum Scheitern verurteilte. Außerdem waren für viele Kommunisten - denen der Spagat zwischen Partei- und Gewerkschaftsidentität ohne Weiteres gelang - Partei und Gewerkschaft zwei klar getrennte Lebenssphären. Parteipoli-tik hatte ihrer Ansicht nach in den Gewerkschaften nichts zu suchen. Dieselben Einstellungen zeigten sich verblüffender Weise sowohl in der parteinahen UdH-

573 SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 64. SAPMO-BArch RY1/I2/4/73, Bl. 171. SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 74.

312 5.2 Der politische Parteialltag

KA in der ersten Hälfte der 1920 Jahre als auch in den Verbänden der RGO zu Anfang der 1930er Jahre, wo viele der dort organisierten Genossen und Funktio-näre eifersüchtig über die Organisationsautonomie wachten, und sich gegen Übergriffe der Parteiführung zur Wehr setzten.

5.2.1.2 Betriebspolitik5.2.1.2.1 Betriebsarbeiter und BetriebsfunktionäreDie KPD-Mitglieder waren während der ganzen Phase der Weimarer Republik bekanntlich in einem überdurchschnittlichen Maße von Arbeitslosigkeit betrof-fen (vgl. Abschnitt 3.3.5.2). Leider hat es die Eigenart der über die Markenab-rechnung erfolgten Mitgliederstatistik an sich, dass der Erwerbslosenanteil wesentlich leichter zu ermitteln ist, als der Anteil der Betriebsarbeiter. Die Quellenbasis zur betrieblichen Verankerung der KPD ist daher relativ dünn, vor allem über die Zeit vor 1927 liegen kaum Angaben vor. Daher will ich mich auf die Momentaufnahmen der Reichskontrollen von 1927 und 1928 beschränken.

Zum Zeitpunkt der Erhebung von 1928 waren im Reichsgebiet 65.701 von 105.459 erfassten Mitgliedern betriebstätig (62,30 Prozent). Sie standen ange-sichts von insgesamt mehr als 13 Millionen Arbeitern in Industrie und Hand-werk (Volkszählung von 1925) im Betrieb klar auf verlorenem Posten. Von den vier Bezirken, aus denen Angaben vorliegen, schnitt der kleinste Bezirk Oberschlesien mit einem Anteil von 61 Prozent Betriebsarbeitern (512 von 840 Mitgliedern) am besten ab. Der Bezirk Berlin-Brandenburg kam indessen nur auf einen Anteil von 56,90 Prozent in Betrieben tätigen Mitgliedern (9.358 von 16.447 erfassten Genossen). Sowohl im Bezirk Ruhrgebiet als auch im Bezirk Pommern stellten die Betriebsarbeiter schon zu diesem Zeitpunkt nur eine Minderheit der Mitglieder, die sich im Ruhrgebiet auf 37,80 Prozent (3.272 von 8.656 Mitgliedern) und in Pommern auf 22,60 Prozent (392 von 1.733 Mitglie-dern) belief.574

Ebenso bedeutsam wie der Betriebsarbeiteranteil war die Größe der Betriebe, in denen diese Kommunisten arbeiteten. Ich bin darauf oben (vgl. Abschnitt 2.4.1) schon ausführlicher eingegangen, will die Ergebnisse daher hier nur noch einmal kurz zusammenfassen. Wie die Übersicht (Tabelle 37) zeigt, dominierten so-wohl im Reich als auch im Bezirk Berlin-Brandenburg die Arbeiter aus den Klein- und Mittelbetrieben mit bis zu eintausend Beschäftigten, in denen jeweils etwa 80 Prozent der kommunistischen Betriebsarbeiter tätig waren. Die Mehr-heit der erwerbstätigen Genossen aus dem Ruhrgebiet von knapp zwei Dritteln arbeitete hingegen in einem Großbetrieb mit mehr als eintausend Beschäftigten.

574 SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 18-91. Falter: Wahlen, S. 36. Hagemann: Frauenalltag, S. 469.

5 Die politische Praxis der Partei 313

Tabelle 37: Betriebsarbeiter nach Betriebsgrößen in Prozent (Reichskon-trolle 1927)

Reich Berlin RuhrgebietBetriebsarbeiter 53,28 51,70 54,28davon arbeiten in Betrieben mit:bis zu 50 Beschäftigten 36,35 36,17 17,5751-100 Beschäftigten 11,98 11,22 5,28101-500 Beschäftigten 22,35 25,15 8,32501-1.000 Beschäftigten 9,01 11,03 5,881.001-3.000 Beschäftigten 13,29 10,06 41,573.001-5.000 Beschäftigten 4,92 3,48 13,92mehr als 5.000 Beschäftigten 2,55 2,90 7,45

Quellen: Wunderer: Materialien, S. 279. Kaasch: Struktur, S. 1056.

Was eine solche Beschäftigungsstruktur in der Praxis für die Tätigkeit der Kom-munisten in den Betrieben bedeuten konnte, zeigen die folgenden Beispiele. Die BL Ruhrgebiet klagte unaufhörlich über die schlechte Verankerung der Partei in den Großbetrieben. Gemessen an der Zahl der Großbetriebe im Ruhrgebiet und ihren Beschäftigten, gab es nämlich einfach zu wenige Kommunisten. Und diese waren in den meisten Großbetrieben politisch in einer aussichtslosen Lage. Zum Beispiel bei Krupp in Essen, wo Ende 1925 von 27.000 Arbeitern nur ca. 300 KPD-Genossen waren. Beim Eisen- und Stahlwerk Hoesch in Dortmund kamen 28 Betriebszellenmitglieder auf 55.000 Beschäftigte, beim Eisen- und Stahlwerk Dortmunder Union waren 35 von insgesamt 9.000 Beschäftigten Mitglieder der KPD, und bei der Eisenhütte Phoenix waren von 5.000 Arbeitern acht Kom-munisten. In Duisburg hatte die Friedrich-Alfred-Hütte Ende 1927 7.000 Beschäftigte, von denen 35 Genossen waren, und in der Vestag fanden sich vier registrierte Kommunisten unter 9.500 Beschäftigten. Ähnlich sah es im Ruhr-bergbau aus. Dort gab es 1925 insgesamt 185 Zechen mit 409.404 Beschäftig-ten. Die KPD verfügte laut Bericht des Orgbüros der BL vom 5. Juni 1925 nur über 101 Zechen-Betriebszellen mit 2.697 Mitgliedern. Durchschnittlich standen also auf den 101 Zechen mit Betriebszellen knapp 27 Kommunisten fast 2.000 nichtkommunistische Kollegen gegenüber.575

Im Bezirk Pommern kamen nach diversen auf Arbeitskämpfe folgende Maß-regelungswellen im größten Betrieb, der Stettiner Vulkanwerft, Anfang 1925 noch 28 Kommunisten auf 3.150 Beschäftigte. Bei Siemens in Berlin gab es

575 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 131. SAPMO-BArch RY1/I2/4/66, Bl. 147. SAP-MO-BArch RY1/I2/4/66, Bl. 66. Paul Wiel: Wirtschaftsgeschichte des Ruhrgebiets. Tatsa-chen und Zahlen, Essen 1970, S. 131. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/28, Bl. 56. Geht man von der obigen Durchschnittsbelegschaft pro Zeche von 2.213 Arbeitern aus, hatten die 101 Zechen, in denen Betriebszellen bestanden, etwas mehr als 223.000 Mitarbeiter, von denen ca. 1,2 Prozent Kommunisten waren.

314 5.2 Der politische Parteialltag

Anfang 1926 200 Kommunisten unter 55.000 Beschäftigten. In Leipzig hatte die Spamer‘sche Druckerei Mitte 1925 1.200 Beschäftigte, während die Betriebs-zelle der KPD auf 26 Mitglieder kam. Im oberschlesischen Oppeln schließlich hatte das Eisenbahnausbesserungswerk im März 1926 1.100 Beschäftigte, von denen 31 der aktivsten Betriebszelle des Bezirks angehörten.576

In den Klein- und Mittelbetrieben war das (Miss-)Verhältnis von Kommunis-ten und Beschäftigten im Reichsdurchschnitt ähnlich. In den Hochburgen der Partei in der Provinz gab es sicherlich eine ganze Reihe von Betrieben mit einer starken kommunistischen Minderheit, da die Genossen nicht gleichmäßig über alle Betriebe verteilt waren. Laut der Reichskontrolle von 1928 arbeiteten die 19.999 Mitglieder der 1.556 KPD-Betriebszellen in weniger als einem Prozent der 191.211 Betriebe im Gebiet des Deutschen Reichs.577

Ein großer Anteil derjenigen Mitglieder, die in Betrieben tätig waren, engagierte sich in betrieblichen Funktionen, nämlich zwischen 5,54 (Pommern) und 17,02 Prozent (Oberschlesien) der durch die Reichskontrolle von 1928 erfassten Mit-glieder (Reich 12,25 Prozent). Dazu rechneten die KPD-Statistiker neben den Betriebsräten, die etwa die Hälfte der kommunistischen Betriebsfunktionäre stellten, die Arbeiter- und Angestelltenräte, die Betriebsgewerkschaftskassierer, die Gewerkschaftsvertrauensleute und die Knappschaftsältesten. Bezieht man diese Zahl der kommunistischen Betriebsfunktionäre auf die Zahl der Betriebs-arbeiter, wird das starke Engagement der Kommunisten in den Betrieben noch deutlicher. Ihr Anteil an den Betriebsarbeitern lag nämlich (maximal) zwischen 22,43 (Berlin-Brandenburg) und 29,83 Prozent (Ruhrgebiet). In Oberschlesien waren 27,91 Prozent der kommunistischen Betriebsarbeiter auch betriebliche Funktionäre, und in Pommern immerhin noch 24,51 Prozent. An diesen Zahlen zeigt sich, dass die Stärke der Partei in den Betrieben nicht zuletzt ihre im Ver-gleich mit anderen Arbeitnehmern weitaus intensiver engagierten betriebstätigen Genossen waren.

5.2.1.2.2 Kommunistische BetriebsräteZwischen drei (Pommern) und knapp zehn Prozent (Oberschlesien) der von der Reichskontrolle von 1928 erfassten Mitglieder waren Betriebsräte. In den Bezir-ken Berlin-Brandenburg und Ruhrgebiet lag ihr Anteil nahe am Reichsdurch-schnitt von 5,70 Prozent. Insgesamt bekleideten 6.013 KPD-Mitglieder von 1928 ein solches Amt, von denen 157 sogar von der Arbeit freigestellt waren. Aus dem Bezirk Berlin-Brandenburg kamen 16,86 Prozent aller kommunis-tischen Betriebsräte des Jahres 1928, aus dem Bezirk Ruhrgebiet weitere 8,15 Prozent. Besonders stark in den Betrieben verankert waren die Kommunisten of-

576 SAPMO-BArch RY1/I3/3/22, Bl. 132. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/34, Bl. 32. SAPMO-BArch RY1/I3/10/125, Bl. 158. SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 89.577 SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 67 bzw. 72f. Flechtheim: KPD, S. 239.

5 Die politische Praxis der Partei 315

fenbar im Bergbau. Im Referentenmaterial der Agitprop-Abteilung des ZK von 1928/29 heißt es, dass es 1926 im Ruhrgebiet insgesamt 1.460 freigewerkschaft-liche Betriebsräte im Bergbau gegeben habe. Von ihnen sollen 700 Kommunis-ten gewesen sein. In Oberschlesien sollen 43 von 90 freigewerkschaftlichen Be-triebsräten im Bergbau KPD-Mitglieder gewesen sein. Diese Angaben unter-stützt auch eine unterbezirksweise Aufstellung der BL Ruhrgebiet über kom-munistische Betriebsräte im Bezirk aus dem Jahr 1927. Demnach waren 302 der 502 kommunistischen Betriebsräte im Bezirk Mitglieder des BAV. Weitere 71 gehörten dem DMV an.578

Nach den Bestimmungen des Betriebsrätegesetzes (BRG) konnte jeder wahlbe-rechtigte Arbeiter eine Vorschlagsliste einreichen. In der Praxis der meisten Be-triebe waren es aber die Gewerkschaften, die die Betriebswahllisten aufstellten; und es war ein nicht zu überschätzender Vorteil für einen Betriebsrat eine starke Gewerkschaft hinter sich zu wissen. Der KPD-Führung bereitete diese starke Stellung der Gewerkschaften große Kopfschmerzen, da sie die politische Bewe-gungsfreiheit der kommunistischen Betriebsräte zusätzlich einschränkte.

Bis auf die Phasen 1924/25 und 1928-33 galt in der KPD in Bezug auf die Be-triebsrätewahlen die Devise, möglichst viele Kandidaten auf den freigewerk-schaftlichen Listen zu platzieren. Seit den Beschlüssen des 11. ADGB-Kongresses (19.-24.6.1922), die den Mitgliedern der freien Gewerkschaften un-ter Androhung des Ausschlusses verboten, auf Gegenlisten zu kandidieren, blieb der Partei, sieht man einmal von den Wahllisten ab, die die im Ruhrgebiet und in Oberschlesien starke parteinahe Gewerkschaft UdHKA aufstellte, auch nichts anderes übrig. Kurz vor den Betriebsratswahlen 1924 wies daher etwa die BL Berlin-Brandenburg in ihrem Mitteilungsblatt vom 7. Februar 1923 noch einmal auf diese Beschlüsse hin, und zog daraus die taktische Konsequenz, die Be-triebsfraktionen aufzufordern, um Plätze auf den freigewerkschaftlichen Listen zu kämpfen, und die „für fähig erkannten Genossen“ dazu, „die Kandidatur, wenn die Fraktion es beschließt, anzunehmen.“579

Die Ereignisse nach dem Fehlschlag vom Oktober 1923 brachten eine radika-le Wendung der Taktik der Partei in Bezug auf die Betriebsratswahlen. Die Parteiführung verlangte nun von den kommunistischen Betriebsarbeitern, in Be-trieben mit einer starken KPD gemeinsam mit Parteilosen und Unorganisierten eigene Listen aufzustellen. In völliger Ignoranz der ADGB-Beschlüsse von 1922 und der möglichen Konsequenzen für kommunistische Gewerkschafter wurden den Genossen Listenverbindungen oder Absprachen mit den Sozialdemokraten im Betrieb ausdrücklich verboten. Die Erfolgsaussichten dieser Taktik bewertete 578 SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 58. SAPMO-BArch RY1/I2/707/98, Bl. 38. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/55, Bl. 96.579 Lore Heer-Kleinert: Die Gewerkschaftspolitik der KPD in der Weimarer Republik, Frank-furt am Main 1983, S. 190. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 79 (Hervorhebung im Origi-nal).

316 5.2 Der politische Parteialltag

die BL Berlin-Brandenburg in ihrem Rundschreiben vom 22. Februar 1924 äußerst optimistisch: „Bei geschicktem Operieren wird es uns so in fast allen Fällen gelingen, in der Belegschaftsversammlung die Mehrheit für unsere Vor-schlagsliste zu bekommen.“ Die Folge war aber nur, dass die ohnehin schon durch das Parteiverbot und die damit einher gehende Repression gefährdeten ge-werkschaftlichen und betrieblichen Parteibastionen noch weiter beschädigt wurden - so weit jedenfalls, wie kommunistische Betriebsräte diesen Anwei-sungen überhaupt Folge leisteten. Auch in diesem Jahr wurden nämlich in allen Parteibezirken zahlreiche Kommunisten trotz der Beschlusslage über freige-werkschaftliche Listen erstmals gewählt oder in ihrem Amt bestätigt.580

Bei den Betriebsrätewahlen von 1925 wurde die Taktik erneut um 180 Grad gedreht. Ein namentlich nicht bekanntes Mitglied der BL Berlin-Brandenburg gab auf der Sitzung am 8. Januar 1925 bekannt, dass die BL auf ihrem letzten Treffen festgelegt habe, dass die Genossen mit Ausnahme der Ausgeschlossenen und der Unionisten keine eigenen Parteilisten zur Betriebsratswahl aufstellen dürfen. Im Bezirk Oberschlesien wurde an der Basis und auch in der BL sogar diskutiert, „die Betriebsrätewahl zu sabotieren, und keine kommunistischen oder unionistischen Listen aufzustellen.“ Die Ursache für dieses äußerst ungewöhnli-che Vorgehen lag laut Jahresbericht der BL für den Zeitraum 1.6.1924 bis 31.4.1925 daran, dass nach den Streiks für den Erhalt des Achtstundentags im Bergbau und in der Metallindustrie im Mai/Juni 1924 75 bis zu 80 Prozent der Betriebsräte gemaßregelt worden waren:

„In manchen Betrieben, wie z.B. Donnersmarckhütte, wurden auf diese Weise die Mit-glieder der Partei und der Union, durch zwei- bis dreimaliges Maßregeln unserer kom-munistischen und unionistischen Betriebsratskandidaten so eingeschüchtert, daß sie nachher überhaupt keine Liste mehr aufstellten.“

Die Folge bestand darin, dass der Anteil kommunistischer und unionistischer Betriebsräte in Oberschlesien von früher 65-70 Prozent auf nur noch 30-35 Pro-zent zurückgegangen sein soll.581

Bis zu den Betriebsratswahlen von 1928 blieb es dabei, dass kommunistische Kandidaten so weit möglich auf den Gewerkschaftslisten antraten. 1926 gab es dabei einige Anlaufschwierigkeiten gerade im Ruhrgebiet und in Oberschlesien. Auf Grund der für die ehemaligen UdHKA-Branchenorganisationen ungüns-tigen Beitrittsbedingungen der Freien Gewerkschaften wurde vielen zum Teil langjährigen kommunistischen Betriebsräten, die früher in der Union organisiert waren, faktisch ihr passives Wahlrecht entzogen. Der BAV etwa verlangte für die Kandidatur auf einer Gewerkschaftsliste eine zweijährige Mitgliedschaft. Ein Kriterium, das die ehemaligen UdHKA-Betriebsräte natürlich nicht erfüllen konnten, da sie ihm erst seit dem August 1925 angehörten. Ein weiteres Problem - nicht nur im Bezirk Ruhrgebiet, die BL berichtete am 26. Mai 1926 darüber - 580 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 187581 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/17, Bl. 127. SAPMO-BArch RY1/I3/6/11, Bl. 24f.

5 Die politische Praxis der Partei 317

bestand darin, dass 1925 zahlreiche kommunistische Betriebsräte aus den Freien Gewerkschaften ausgeschlossen worden waren, „weil infolge der falschen Ge-werkschaftstaktik im Jahre vorher ein großer Teil der alten Betriebsräte nicht mehr gewerkschaftlich organisiert war, insbesondere in der Metallindustrie, weil die Organisation [DMV] bis heute diese alten Leute noch nicht aufgenommen hat.“ Sie konnten daher ebenfalls nicht kandidieren.582

Grundlegend für die Tätigkeit der Betriebsräte war das Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920, das die KPD gemeinsam mit der linken USPD heftigst be-kämpft hatte, weil es einen Schlussstrich unter die während der Revolutionspha-se virulenten Rätemodelle bedeutete. Nicht weniger prägend für den Betriebs-ratsalltag waren die Rollenmodelle, die seit dem Hilfsdienstgesetz von 1916 und insbesondere in der chaotischen nachrevolutionären Phase in den Betrieben re-lativ spontan entwickelt worden waren. Ebenfalls von großer Bedeutung waren die parteipolitischen Machtverhältnisse in den Betrieben.

Was die Bestimmungen des BRG betrifft, so dauerte es geraume Zeit, bis der innerbetriebliche Aushandlungsprozess zwischen Geschäftsführung und Be-triebsräten - der „Kleinkrieg um die betriebliche Regelung der Handlungs-möglichkeiten der neuen Arbeitervertretungen“ (Plumpe) - zu einem halbwegs dauerhaften Kompromiss führte. Ein entscheidender Hemmschuh für eine Be-triebsratsarbeit im kommunistischen Sinne waren Bestimmungen wie in § 66 BRG, der von den Betriebsräten verlangte, für die „Wahrung des Betriebsfrie-dens“ einzutreten. Dies konnte mit dem Hinweis auf eine Störung des Betriebs-friedens in der Praxis relativ leicht zur Entlassung von Betriebsräten führen. Auch die begrenzten Rechte, die die Betriebsräte als Interessenvertreter der im Betrieb beschäftigten Arbeiter und Angestellten hatten, erschwerten von vornherein eine Betriebsratstätigkeit im Sinne der Parteibeschlüsse.583

Die Bestimmungen des BRG waren bei aller Auslegungsbedürftigkeit eine nicht wegzudiskutierende Determinante der Betriebsratsarbeit - wobei der so gut wie nicht vorhandene Kündigungsschutz für Betriebsräte eine besonders wichtige Rolle spielte. Und an die Paragrafen des BRG hielten sich zur Überra-schung vieler KPD-Funktionäre auch kommunistische Betriebsräte, die ja schon recht früh hatten erfahren können, wie leicht man als Betriebsrat auf die Straße fliegen konnte. Hermann Duncker sagte dazu in seinem Redebeitrag auf dem 5. Parteitag im November 1920: „Wenn man draußen in Betriebsversammlungen tätig ist, sieht man z.B., wie oft sogar revolutionär erscheinende Arbeiter das Gefühl haben, daß sie an die Paragraphen des Betriebsrätegesetzes gebunden seien.“ Damit das BRG nicht zum totalen Hemmschuh kommunistischer Be-

582 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 150.583 Benno König: Interessenvertretung am Arbeitsplatz: Betriebsrätepraxis in der Metallindus-trie 1920-1933, in: Klaus Tenfelde (Hg.): Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 66-90, hier: S. 74. Plumpe: Mitbestimmung, S. 309.

318 5.2 Der politische Parteialltag

triebsratspolitik wurde, sprachen sich viele führende Parteifunktionäre, wie etwa ein Genosse namens Mehlhofe aus Berlin auf dem Vereinigungsparteitag im De-zember 1920, schon früh dafür aus, dass kommunistischen Betriebsräte sich not-falls einfach über die Bestimmungen des BRG hinwegsetzen sollten. Re-präsentativ für die Einstellungen vieler kommunistischer Betriebsräte zu dieser Problematik waren die Äußerungen eines Genossen Kills auf einer Versamm-lung von Mitgliedern aus fünf Oberhausener Betrieben am 8. Juli 1924: „Der Betriebsrat kann keine revolutionäre Arbeit leisten. Das Betriebsrätegesetz legt ihm die Fessel an.“ Das Problem revolutionärer Betriebsratsarbeit war also auch Mitte der 1920er Jahre noch keineswegs gelöst. Der damit korrespondierende „Legalismus“ kommunistischer Betriebsräte blieb ein heiß diskutiertes Thema, dem später versucht wurde, auch durch disziplinarische Maßnahmen beizukom-men.584

Hinzu kam, dass viele kommunistische Betriebsräte - wie ich es oben schon in Bezug auf die kommunistischen Gewerkschafter beschrieben habe - sich ganz im Sinne der Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung vorrangig als Inter-essenvertreter der Kollegen verstanden, denen sie ihr Mandat verdankten. Viele von ihnen fühlten sich daher auch weder an die Beschlüsse der Parteiinstanzen noch der Betriebszellen gebunden, sie hüteten vielmehr eifersüchtig ihre kleinen Machtpositionen. Sogar ein gewisser Betriebspatriotismus spielte bei manchen eine gewisse Rolle. Diese Haltungen sorgten für permanenten Konfliktstoff, und erzeugten immer wieder Unruhe bei den einfachen Genossen im Betrieb. Schon am 15. Oktober 1923 berichtete ein namentlich nicht bekannter Instrukteur an die BL Ruhrgebiet von starker Empörung unter den Genossen in Eickel und Röhlinghausen über die kommunistischen Betriebsräte, denen sie vorwarfen „jede Arbeit unserer Zellen [zu] sabotieren und ihnen bei jeder Arbeit Steine in den Weg“ zu legen. Das konnte der Obmann der KPD-Betriebszelle im Stahl-werk Union Dortmund in seinem Bericht auf einer Orgberatung des Bezirks Ruhrgebiet am 30. Oktober 1925 auch für seinen Betrieb nur bestätigen: „Die kommunistischen Betriebsräte sind alles andere, nur keine Parteiarbeiter. Trotz mehrfacher Rücksprache mit ihnen führen sie die Beschlüsse der Zelle nicht durch.“ Bezirkschef Florin verallgemeinerte diese Erfahrungen in seinem Be-richt über die obige Beratung wie folgt:

„Jetzt stellt sich heraus, daß die Betriebsräte [die] in damaliger Zeit, als noch keine Be-triebszellen bestanden, gewählt wurden, sich der politischen Kontrolle der [durch die] Betriebszellen widersetzen. Es gibt darunter Genossen, die die Arbeit der Betriebszellen zu sabotieren versuchen, die sich sträuben, mit der Leitung der Zelle zusammenzuarbei-ten.“585

584 Redebeitrag Mehlhofe (Berlin), in: Bericht Vereinigungsparteitag, S. 147. Bericht 5. Parteitag, S. 155. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/55, Bl. 31.585 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/19, Bl. 7. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/26, Bl. 1. SAP-MO-BArch RY1/I3/18-19/26, Bl. 9.

5 Die politische Praxis der Partei 319

Da die KPD in den innerbetrieblichen Auseinandersetzungen faktisch nicht Partei war, war die Zentrale bzw. das ZK in Bezug auf die Durchführung ihrer Direktiven vom Wohlwollen der kommunistischen Betriebsräte abhängig. Trotz zahlreicher Versuche der Parteiführung, sich die kommunistischen Betriebsräte botmäßig zu machen, hat sich auch in den folgenden beiden Jahren kaum etwas an dieser Situation geändert. Die Spielräume für die führenden Funktionäre waren in diesem Bereich äußerst eng. Sie konnten im Grunde nur an die Ge-nossen appellieren, die solche Positionen inne hatten. Bei härterem Vorgehen bestand immer die Gefahr, dass aus kommunistischen Betriebsräten nichtkom-munistische Betriebsräte wurden, und dadurch der Einfluss der Parteiführung in den Betrieben noch geringer wurde.

Die kommunistischen Betriebsräte waren in einem Universum tätig, das sich fundamental von dem unterschied, in dem die professionelle Führungsspitze der Partei lebte. Sie waren geradezu durch das Amt zu Realismus und Pragmatismus gezwungen. In den Akten der Gewerkschaftsabteilung der Zentrale befindet sich die gesammelte Korrespondenz des Betriebsrates der Zeche in der Bruchstraße in Bochum-Langendreer für die Jahre 1921 bis 1934. Die dort behandelten Pro-bleme zeigen überdeutlich, wie sehr die Betriebsräte im hier und jetzt verankert sein mussten. Der vielleicht wichtigste Bereich ihrer Tätigkeit war der der Arbeitsbedingungen. Konkret ging es also etwa um den Zustand der Waschkaue, die Seilfahrt, die Holzausgabe, die Staubsauger der Hängebank, die Anbringung eines Geländers an der Kettenbahn, und die Abortkübel. Kaum weniger bedeu-tend war der Bereich der Entlohnung. Dort waren unter anderem Fragen der Lohnabzüge, Überarbeit, Deputatkohle, Notstandsarbeiten, Vergütungen für das Mitnehmen von Reservelampen, Kindergeldzahlungen und Sonntagsarbeit zu regeln und lösen. Hinzu kamen zahlreiche weitere Problemfelder: zum Beispiel die Klagen der Bewohner des Ledigenheims, die Witwenkohlen, die Entschädi-gung für bei einer Explosion verbrannte Grubenkleider, einen Zuschuss für Kon-firmanden oder die Ausbildung von Zechenhandwerkslehrlingen.586

Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass viele kommunistische Be-triebsräte sich in erster Linie als Betriebsräte und erst in zweiter Linie als Kom-munisten betrachteten. Die Betriebsratstätigkeit war durch die (oft überzogenen) Erwartungen der Kollegen, die Grenzen, die das BRG den Betriebsräten setzte, und durch die Schikanen vieler Arbeitgeber eine aufreibende Tätigkeit, die den ‚ganzen Mann‘ verlangte. Dies förderte zusätzlich eine Tendenz zur Spe-zialisierung. Ein Bericht der Gewerkschaftsabteilung des Bezirks Rheinland-Westfalen vom 12. September 1922 übte schon recht früh Kritik an solchen Tendenzen: „Sehr oft gehen die Genossen, sobald sie Betriebsrat sind, für die [kommunistische] Bewegung verloren. Sie werden vollständig absorbiert durch ihre Tätigkeit als Betriebsrat.“ Insbesondere galt das für die freigestellten Be-

586 SAPMO-BArch RY1/I2/708/114.

320 5.2 Der politische Parteialltag

triebsräte, die ebenfalls schon früh Zielscheibe der Animositäten der einfachen Genossen wurden. Ein namentlich nicht bekannter Instrukteur schrieb dazu in seinem Bericht über eine Orgkonferenz am 11. März 1928 im Unterbezirk Gelsenkirchen: „Aus der weiteren Diskussion war noch interessant eine Beschwerde über die freigestellten Betriebsräte, die sich nach Meinung eines Genossen mehr als Bonzen wie [sic!] als revolutionäre Betriebsarbeiter fühlen“ Und auf einer Betriebszellen-Funktionärskonferenz im oberschlesischen Hin-denburg am 29.7.1928 kochten, wie Berichterstatter Hans Sawadzki schrieb, die Emotionen der Genossen gegenüber den freigestellten kommunistischen Be-triebsräten derart hoch,

„daß fast alle Genossen die Abberufung, ja den Rausschmiß aller derjenigen Parteige-nossen forderten, die als Betriebsräte freigestellt sind. Diese Genossen Betriebsräte wurden von der Konferenz einmütig als sogenannte Berufsbetriebsräte bezeichnet, die nichts, aber auch nicht die mindeste Parteiarbeit im Betrieb leisten. Die Arbeit dieser Genossen unterscheidet sich in nichts von der der sozialdemokratischen Betriebsräte.“587

Viele kommunistische Betriebsräte, nicht nur die freigestellten, unterschieden sich in ihrer praktischen Tätigkeit - aber auch in ihrer betriebspolitischen Ein-stellung - tatsächlich kaum von ihren sozialdemokratischen Kollegen. Viele von ihnen scheinen nur ganz oberflächlich vom Marxismus-Leninismus berührt worden zu sein. Viele Quellen zeigen völlig unideologische Arbeitervertreter.

Angesichts der Häufigkeit ‚sozialdemokratischer Abweichungen‘ kommunis-tischer Betriebsräte verwundert es, dass solche ‚Fälle‘ nicht regelmäßig vor den Schiedsgerichten der Partei verhandelt wurden. Ein solcher Fall wurde zum Bei-spiel am 5. März 1924 in Berlin verhandelt. Ein Parteimitglied namens Kossellek aus dem Verwaltungsbezirk Lichtenberg war als Betriebsratsobmann einer Firma Krüger wegen unkommunistischen Verhaltens angeschuldigt worden:

„Kossellek hat als Betriebsratobmann zugelassen, daß kommunistische Mitglieder des Betriebsrats entlassen werden sollten. Er erklärte im Betrieb, daß die Verordnung wo-nach Mitglieder des Betriebsrat nicht entlassen werden dürften, nicht mehr bestehe, dieser Meinung waren auch die S.P.D.-Leute des Betriebsrat.“

Etwas später, am 9. April 1924, gab die Gewerkschaftsabteilung der Zentrale der Bezirksleitung Ruhrgebiet den Parteiausschluss von Heinrich Vollmar bekannt. Dieser hatte als Betriebsrat der KPD-nahen UdHKA bei der Gelsenkirchener Bergwerks-Gesellschaft genehmigt, die Arbeitszeit auf 10 Stunden zu verlängern. Am 9. September 1925 wurde vor dem Schiedsgericht des Berliner Verwaltungsbezirks Treptow gegen den Betriebsrat Sawatzki verhandelt, dem unter anderem mit folgender Begründung eine Rüge erteilt wurde:

587 SAPMO-BArch RY1/I3/20-21/26, Bl. 3. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/26, Bl. 27. SAP-MO-BArch RY1/I3/6/12, Bl. 175.

5 Die politische Praxis der Partei 321

„Es steht dem Betriebsrat nicht an, Spenden irgendwelcher Art anzunehmen, im vor-liegenden Fall Bier und Zigarren, zu deren Hergabe Mitglieder der S.P.D. bei dem Di-rektionsvertreter veranlassten [sic!], angenommen [zu] haben. Dadurch wird das Ver-trauen der Belegschaft dem kommunistischen Betriebsrat gegenüber erschüttert.“

Außerdem wurde ihm die wiederholte Teilnahme an Saufgelagen der SPD-Be-triebsräte vorgeworfen.588

Auch kommunistische Betriebsräte stellten sich den Zwängen des wirtschaft-lichen Lebens. Das zeigt zum Beispiel die Diskussion über das Verhalten kom-munistischer Betriebsräte bei Entlassungen auf der Sitzung der BL Oberschlesi-en am 29. Dezember 1925:

„sämtliche anwesenden Betriebsräte waren der Meinung, daß uns nichts anderes übrig bleibe, als bei Entlassungen dafür zu sorgen, daß zuerst die Ledigen, dann solche ohne Kinder und eben verheiratete Frauen, deren Männer Arbeit haben, entlassen werden, wobei besonders darauf zu achten sei, daß unsere Genossen im Betriebe bleiben.“

Der anwesende Referent schloss diesen Abschnitt seines Berichts mit der Be-merkung, dass die kommunistischen Betriebsräte nicht davon zu überzeugen waren, dass ein solches Verhalten unkommunistisch sei.589

Einen wichtigen Beitrag zur moderaten Haltung vieler kommunistischer Be-triebsräte leisteten die Entlassungswellen in den unruhigen Jahren zwischen 1920 und 1924. Durch die „Politik der selegierenden Belegschaftsreduktion“ (Plumpe) vieler Unternehmer, flogen natürlich immer wieder die radikalsten KPD-Betriebsratsmitglieder auf die Straße; diejenigen also, die wirklich dazu bereit waren, sich jenseits der engen Grenzen des BRG im Sinne der Partei zu engagieren. Beispiele lassen sich aus der internen Überlieferung und der Memoirenliteratur in großer Zahl beibringen, doch mögen hier zwei Fälle aus dem Bezirk Ruhrgebiet genügen. Auf der Orgberatung des Bezirks Ruhrgebiet am 30. Oktober 1925 berichtete der Obmann der Betriebszelle in der Schachtanlage Ickern I/II: „Es war uns auch dadurch möglich zu einem großen Teil die Belegschaft zu beeinflussen, indem unsere Betriebsräte stets eifrig ge-arbeitet haben, sind sie heute leider zum größten Teil entlassen.“ Ein Bericht der Bezirksleitung vom 9. November 1926 über ihre fehlgeschlagenen Versuche über die starken Zechen-Betriebszellen oder kommunistische Zechen-Betriebs-räte einzelne Zechen zum Solidaritätsstreik mit England zu bringen, wies im Nebensatz darauf hin, dass der aktivste kommunistische Betriebsrat der Zeche Lohberg entlassen und ein kommunistischer Betriebsrat der Zeche Beeckerwerth abgesetzt und gemaßregelt worden seien: „Es ist damit zu rechnen, daß noch weitere gemaßregelt werden.“ Die kommunistischen ‚Nachrücker‘ abgesetzter oder entlassener Betriebsräte zogen natürlich ihre Schlüsse daraus, und verhielten sich entsprechend moderat. Die ganze Schizophrenie kommunis-588 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/65, Bl. 10. SAPMO-BArch RY1/I2/708/40, Bl. 97. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/65b, Bl. 131.589 SAPMO-BArch RY1/I3/3/13, Bl. 76.

322 5.2 Der politische Parteialltag

tischer Betriebsratsarbeit kommt in den Äußerungen von Betriebsräten der Ber-liner Firmen Agfa und Kübler auf einer Betriebsrätesitzung der BL am 1. Febru-ar 1924 zum Ausdruck. Die Parteiführung hatte verlangt, die Arbeiter in der che-mischen Industrie zum Streik zu mobilisieren:

„Beide erklärten, besonders der Agfa-Betrieb, daß der Betriebsrat es ablehnen müsse, eine Mobilmachung der chemischen Arbeiter vorzunehmen, zu der sie als Kommunisten ihre Unterschrift im Betriebsrat geben müßten. Sie befürchten, daß sie dann sofort entlassen werden und glaubten, daß ihnen eine polizeiliche Verhaftung bevorstände. Sie sind wohl einverstanden damit, daß etwas gemacht wird, aber sie selbst können sich nicht daran beteiligen.“590

* * *

Die Probleme, die die KPD-Führung während ersten zehn Jahre der Weimarer Republik mit den kommunistischen Betriebsräten hatte, spitzten sich nach der erneuten Linkswende von 1928 dramatisch zu. Von entscheidender Bedeutung für die Exekution der neuen Linie war, die Genossen Betriebsräte dazu zu bringen, auf eigenen kommunistischen Listen zu kandidieren. Diese Zuspitzung der Situation zwang die kommunistischen Betriebsräte endgültig dazu, sich zwi-schen Partei- und Gewerkschaftszugehörigkeit eindeutig zu entscheiden.

Die erstmals bei den Betriebsrätewahlen im Februar 1929 umgesetzte Vorge-hensweise sah laut Rundschreiben der Gewerkschaftsabteilung der BL West-sachsen vom 12. Februar 1929 wie folgt aus: zunächst sollten von Belegschafts-versammlungen - die vom Betriebsrat einberufen werden mussten - „Einheitslis-ten“ aufgestellt werden, auf denen auch „Unorganisierte“ - also Nichtmitglieder der Freien Gewerkschaften - aufgestellt werden sollten. Diese Einheitslisten sollten dann einer Mitgliederversammlung der zuständigen Gewerkschaft vorge-legt werden. Erst bei Ablehnung dieser Einheitsliste sollten, wo möglich, eigene Listen der kommunistischen Opposition aufgestellt werden. Der Versuch der KPD, auf diese Weise die führende Partei in den Betrieben zu werden, kam einer wahnwitzigen Aufforderung der Minderheit an die Mehrheit sozialdemo-kratischer Gewerkschafter und Betriebsräte gleich, auf kommunistisch do-minierten Listen zu kandidieren. Die Aufstellung eigener Listen der kommunis-tischen Minorität musste schließlich die Konsequenz dieses Vorgehens sein.591

Um die Umsetzung der neuen Strategie in den Betrieben zu gewährleisten, wurde seitens des ZK ein großer Aufwand getrieben. Laut eines Berichts der Org-Abteilung des ZK über die Betriebsratswahlen vom April 1929 war am 26. Januar 1929 eine zweitägige Reichsparteiarbeiterkonferenz zu diesem Thema durchgeführt worden. Kurz darauf richtete das ZK eine Kommission ein, die die

590 Plumpe: Mitbestimmung, S. 193. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/26, Bl. 3. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 175f. SAPMO-BArch RY1/I2/708/113, Bl. 27.591 SAPMO-BArch RY1/I3/10/138, Bl. 63ff.

5 Die politische Praxis der Partei 323

Bezirksleitungen anweisen und durch Instrukteure kontrollieren sollte. Nachdem sich die Bezirksleitungen auf ihren Sitzungen mit den Beschlüssen der Reichs-parteiarbeiterkonferenz befasst hatten, wurden sie in intensiver Arbeit den ein-zelnen Betriebszellen übermittelt.592

Schon die in den Berichten der Bezirksleitungen wiedergegebenen Re-aktionen seitens der Betriebsfunktionäre zeigten deutlich, dass es nicht einfach werden würde, die neue Linie durchzusetzen. So argumentierten etwa Betriebs-zellen in Berliner Großbetrieben wie Osram, Borsig oder Siemens, die Aufstel-lung der Einheitslisten verbiete sich auf Grund des schwachen Einflusses der Betriebszelle. Am 12. Februar 1929 traf sich die Gewerkschaftsabteilung der BL Berlin mit dem Vorstand der KPD-Fraktion im DMV und kommunistischen DMV-Ortsverwaltungsmitgliedern. Dem ZK-Mitglied Wilhelm Pieck schlug dort die Kritik altgedienter kommunistischer Gewerkschafter und Betriebsräte entgegen. Ein Genosse namens Kaufmann meinte, er könne „doch als Verbands-funktionär nicht in die Betriebe gehen und dort vorschlagen, Unorganisierte auf die Listen zu setzen, das müssen die anderen Parteigenossen tun.“ Ein Genosse Frenzel sah die KPD auf dem Weg zur Gewerkschaftsspaltung und ein Genosse namens Becker hielt nicht viel von der Aufstellung Unorganisierter: „Ich glaube nicht, daß es richtig ist, auf die Unorganisierten gestützt zur Revolution zu schreiten.“ Ein weiterer Punkt für die mögliche Zurückhaltung der Genossen Betriebsräte wurde auf der Sitzung der Erweiterten Bezirksleitung Westsachsens am 11. März 1929 von Max Gerbig angesprochen. Er meinte, viele Genossen scheuten vor den Konsequenzen der neuen Strategie, insbesondere bei der Auf-stellung eigener Listen: „Da dieses Vorgehen gegen das Statut der Gewerkschaft verstößt, fürchten die Genossen einen Ausschluß aus ihrer Gewerkschaft.“ Aus dem Bezirk Oberschlesien schließlich wurde berichtet, dass entscheidende ge-werkschaftliche Einflussträger der Partei der neuen Linie äußerst skeptisch gegenüberstünden:

„Einzelne führende Betriebsfunktionäre, die durch jahrelange, zähe Gewerkschaftsarbeit sich Einfluß verschafft haben und wichtige Positionen, wie Vertrauensmann, Knapp-schaftsältester oder Betriebsrat besetzt haben, konnten sich mit den Gedanken nicht befreunden und wandten sich gegen unsere Taktik.593

Das Fazit, das die Parteiführung aus solchen Berichten zog, war dass die Ge-nossen zwar die Beschlüsse anerkannten, aber nicht generell bereit waren, sie auch umzusetzen. Erst die späteren Erfahrungen sollten zeigen, dass diese Ein-

592 SAPMO-BArch RY1/I2/4/72, Bl. 6-9.593 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/102, Bl. 23-27. SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 561. Die Furcht vor Ausschlüssen aus der Gewerkschaft war übrigens nur zu realistisch. Die Gewerk-schaftsabteilung der BL Westsachsen erwähnte in ihrem Vierteljahresbericht vom 8.7.1929, dass allein in Leipzig 83 Genossen wegen Aufstellung oppositioneller Betriebsratslisten aus ihren Verbänden ausgeschlossen worden seien (SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 647). SAPMO-BArch RY1/I2/4/72, Bl. 10f.

324 5.2 Der politische Parteialltag

schätzung an den realen Gegebenheiten vorbei ging. Die kommunistischen Be-triebsräte ließen sich nicht in die Karten schauen, und konnten durch die pau-schale Zustimmung zur neuen Strategie vorerst ihre Freiräume verteidigen. Im Bericht der Orgabteilung an den 13. Parteitag der KPD kommt sowohl die vorgeschaltete Diskussion als auch das Verhalten vieler Betriebsgenossen am Klarsten zum Ausdruck:

„Es ergab sich, daß bei der Parteidiskussion über die taktische Linie zur Durchführung der Betriebsrätewahlen die Genossen in der überwältigenden Mehrheit durch Abstim-mung ihre Zustimmung gaben. Sie hielten es theoretisch für richtig, daß die Partei, um die Mobilisierung der Hunderttausende von Unorganisierten für die revolutionäre Front durchzuführen, in den Betrieben, wo viel Unorganisierte vorhanden sind, auch klassen-bewußte unorganisierte Arbeiter als Kandidaten aufzustellen beschloß. [...] In der Praxis zeigte sich aber, daß in sehr viel Betrieben unsere Parteigenossen entweder still-schweigend diese Linie gar nicht anwandten oder dort, wo sie von seiten der übergeord-neten Parteileitungen gedrängt wurden, durch allerhand Manöver versuchten auszuwei-chen, indem sie erklärten, in ihren Betrieben gebe es keine Unorganisierten, die als Kan-didaten in Frage kämen. Ja sehr oft weigerten sich unsere Zellen, auch dort Oppositions-listen aufzustellen, wo die Gewerkschaftsbürokratie rücksichtslos alle oppositionellen Kollegen von den Listen strich. Diese Genossen sind auch heute noch in erster Linie Gewerkschafter und sie weigern sich mehr oder weniger diplomatisch, die Anwei-sungen der Partei durchzuführen, die im Gegensatz zu den Anweisungen der reformis-tischen Gewerkschaftsbürokratie stehen.“594

Schon bei der Generalprobe der neuen Strategie für Betriebsratswahlen im Jahr 1929 zeigte sich, dass vielleicht sogar die Mehrheit der kommunistischen Be-triebsfunktionäre und vor allem der Betriebsräte es ablehnte, sich entsprechend der Beschlüsse zu verhalten. Bei den Betriebsratswahlen 1929 wurden im Bezirk Berlin-Brandenburg 30, in Sachsen 20 und im Ruhrgebiet 45 kommunistisch do-minierte Konkurrenzlisten aufgestellt - angesichts von insgesamt 307 und 173 Betriebszellen im Berliner und im Ruhrbezirk war das ein deutliches Zeichen dafür, dass die neue Linie keineswegs akzeptiert wurde. Die von der Parteifüh-rung zur Entscheidung zwischen Gewerkschaft und Partei gezwungenen Be-triebsräte entschieden sich in zahlreichen Fällen für die Gewerkschaft.595

Ein besonders gut dokumentierter Fall für die Schwierigkeiten der Parteifüh-rung mit der Durchsetzung ihrer neuen Linie, wurde auf der Funktionärsver-sammlung der Ortsgruppe Stargard am 25. Mai 1929 verhandelt. Anlass war das Verhalten der Genossen Friedrich und Woock während der kurz zuvor stattge-fundenen Betriebsratswahlen im Eisenbahnausbesserungswerk Stargard. Diese beiden hatten trotz eines Votums einer Mitgliederversammlung der Ortsgruppe am 20. April 1929 auf der freigewerkschaftlichen Liste kandidiert. Die beiden Delinquenten, deren noch zu bestätigenden Ausschluss eine Mitgliederversamm-

594 SAPMO-BArch RY1/I2/4/29, Bl. 42f.595 Werner Müller: Lohnkampf, Massenstreik, Sowjetmacht. Ziele und Grenzen der „Revolu-tionären Gewerkschafts-Opposition“ (RGO) in Deutschland 1928 bis 1933, Köln 1988, S. 85.

5 Die politische Praxis der Partei 325

lung am 12. Mai 1929 beschlossen hatte, begründeten ihr Verhalten damit, dass die Betriebsratswahl „die alleinige Angelegenheit der Zelle sei, und daß weder die Ortsgruppe noch die Bezirksleitung da etwas hineinzureden habe.“ Ihnen widersprach der anwesende Polleiter der BL, Erich Gentsch. Seiner Ansicht nach war die Listenaufstellung nicht Sache der Betriebszellen, sondern „der Ge-samtmitgliedschaft der Ortsgruppe“. Ein Hauptkritikpunkt der Gegner von Friedrich und Woock bestand in dem niederschmetternden Wahlergebnis für die RGO, die nur ein knappes Fünftel der Stimmen für die freigewerkschaftliche Liste erreicht hatte. Da sich Friedrich und Woock weigerten, sich von ihrem Verhalten zu distanzieren, beschloss die Versammlung den Ausschlussantrag zu unterstützen.596

Meistens war es aber nicht so leicht, widerspenstige kommunistische Be-triebsräte loszuwerden. Das zeigt ein Schreiben der BL Oberschlesien vom 17. Juli 1929. Sie berichtet darin, dass eine ganze Reihe von Genossen auf freige-werkschaftlichen Listen kandidiert hatte:

„Mit einzelnen Genossen gab es dabei heftige Auseinandersetzungen. Sie weigerten sich, die Beschlüsse in der Praxis durchzuführen, obwohl sie bei den verschiedenen Be-richterstattungen [in den Mitgliederversammlungen] über die [KI-/RGI-] Kongreß-beschlüsse dafür gestimmt haben. Nur in den Ortsgruppen- bezw. in den Zellenver-sammlungen in Oppeln gab es auch bei der Berichterstattung starken Widerspruch.“

Im Unterschied zu ihrem pommerschen Pendant sah sich die BL Oberschlesien allerdings außerstande, hart gegen die Abweichler vorzugehen:

„Die Bezirksleitung konnte bei der schwachen Organisation im Bezirk und bei dem Mangel an geeigneten Funktionären nicht so weit gehen und die widerspenstigen Ge-nossen organisatorisch maßregeln. Ein großer Teil dieser Genossen ist schließlich nach langwierigen Verhandlungen von der reformistischen Liste zurückgetreten und es kam dann noch zur Einreichung eigener Listen der revolutionären Opposition.“597

Ein Jahr später, bei den Betriebsratswahlen 1930, war das Problem der reni-tenten kommunistischen Betriebsräte noch nicht gelöst. Die Parteiführung hatte einige Mitglieder wegen ihrer Kandidatur auf freigewerkschaftlichen Listen aus der Partei ausgeschlossen, sie hatte aber auf Grund des unzureichenden Informa-tionsstands nur einige Exempel statuieren können. Auch das ausdrückliche Ver-bot, „eine Vereinbarung mit den Sozialfaschisten“ zu treffen, das das Vollzugs-büro der Roten Gewerkschafts-Internationale im Januar 1930 erlassen hatte, und dem sich ebenfalls noch im Januar das ZK der KPD anschloss, bewirkte wenig. „Den kommunistischen Betriebsratsfunktionären fehlte vielfach der Wille, die

596 SAPMO-BArch RY1/I3/3/22, Bl. 47-51.597 SAPMO-BArch RY1/I3/6/23, Bl. 66.

326 5.2 Der politische Parteialltag

ZK- und RGO-Maximen durchzuführen, ferner waren sie häufig von ihren per-sonellen und materiellen Ressourcen her einfach zu schwach dazu.“598

Auch wenn wohl insgesamt die Zahl der nun so genannten „Roten Listen“ angestiegen war, gab es weiterhin eine große Zahl von Kandidaturen von Kom-munisten auf den Listen der Freien Gewerkschaften. Auf der Sitzung der BL Sachsen am 30. April 1930 wurde die Zahl der Roten Listen im Bezirk auf 130 geschätzt, was gegenüber den 40 im Vorjahr als Erfolg gewertet wurde. BL-Mit-glied Herbert Wehner schätzte allerdings, dass die Zahl der freigewerkschaftli-chen Listen mit kommunistischen Kandidaten ebenso groß sei. Die vom Partei-archiv zusammengestellte Akte der Orgabteilung des ZK zu den Betriebsrats-wahlen von 1930 umfasst mehr als 360 Blätter, was die im Bedeutung der Wahlen zeigt. Der größte Teil von ihnen ist den Abweichungen gewidmet. In ih-rem undatierten Gesamtbericht über die Betriebsratswahlen 1930 zeigte sich die Orgabteilung des ZK im Ganzen recht zufrieden mit der Aufstellung Roter Lis-ten etwa im Bezirk Ruhrgebiet: „Dennoch mußten infolge offener opportunis-tischer Entgleisungen auf mehreren Werken über 20 Ausschlüsse aus der Partei gegen Verbündete des Sozialfaschismus durchgeführt werden.“ Besonders deut-lich kritisierten die Autoren die Abweichungen in den Berliner Großbetrieben BVG, Siemens und Loewe, die offenbar auch in der Parteipresse ausgiebig be-handelt worden waren.599

Insbesondere die letzten drei Beispiele aus Berlin zeigen, dass auch die un-mittelbare Nähe zum Karl-Liebknecht-Haus keine Garantie für die Umsetzung der neuen Linie in den Betrieben war. Die Januarausgabe der Mitgliederzeit-schrift des Berliner Unterbezirks Nordwest, „Der Kampf“, setzte sich intensiv mit den Vorkommnissen auseinander. Demnach hatte sich die Betriebszelle im Siemens-Kabelwerk - dort musste nach einer Neuaufteilung der Werksabtei-lungen eine Betriebsratsneuwahl durchgeführt werden - geweigert, sich dafür einzusetzen, dass die Betriebsratsliste durch die Belegschaft aufgestellt wird, statt nur durch das Zwanzigstel, das dem DMV angehörte:

„Als nun die Partei verlangte, daß die Belegschaft mit zu entscheiden hätte bei der Auf-stellung der Liste, erklärten unsere Genossen, daß man unmöglich Unorganisierten das Recht zur Mitbestimmung einräumen könne, da diese nur deshalb nicht organisiert wä-ren, weil sie pro Woche 1,50 Mk sparen wollen. Selbst ein Beschluß der Konzernmit-gliederversammlung [d.h. der ‚Gesamt-Betriebszelle‘] vermochte nicht unsere Parteimitglieder zu veranlassen, im Kabelwerk eine revolutionäre Liste einzureichen. Sie stellten wiederum eine ,freigewerkschaftliche‘ Liste auf, auf der auch wiederum einige Sozialfaschisten prangten. Das Programm dieser Liste richtete sich gegen die

598 Müller: Lohnkampf, S. 123.599 SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/147, Bl. 26. SAPMO-BArch RY1/I2/4/73, Bl. 19. Wenn „Abweichungen“ so wichtig geworden waren, dass man sie in der kommunistischen Presse behandelte, war der Parteiausschluss der Delinquenten die sichere Folge. Die Parteiführung versuchte auf diese Weise, potentielle Störenfriede abzuschrecken und sich ein Image von Wachsamkeit und Konsequenz zu geben, das aber den realen Tatsachen nicht entsprach.

5 Die politische Praxis der Partei 327

Nazis, ohne ein Wort des Kampfes gegen den besonders in den Siemensbetrieben noch viel schlimmer wütenden Sozialfaschismus. (...) Die Partei hat ein Jahr lang versucht, die Genossen von der Richtigkeit der Parteitaktik zu überzeugen. Alle Versuche schei-terten an dem ,Argument‘, daß wir in den Gewerkschaften zu arbeiten haben. Bei der Aufstellung einer eigenen Liste würden wir aber aus den Gewerkschaften hin-ausfliegen.“

Eineinhalb Jahre nach dem Richtungswechsel der KI war bei den Kommunisten im Berliner Siemens-Kabelwerk noch kaum etwas von ihren Implikationen angekommen. Statt dessen wurde Lenin als Kronzeuge gegen die aktuelle Gene-rallinie benutzt. Die Berliner BL versuchte dann eine Belegschaftsversammlung durch Parteimitglieder außerhalb des Betriebs einberufen zu lassen, aber dazu war es schon zu spät. Fünf Genossen aus dem Betrieb wurden wegen ihrer Haltung aus der Partei ausgeschlossen. Ähnliche Argumente hatte es auch von den Mitgliedern der Betriebszelle bei der Loewe-Maschinenfabrik in Berlin-Moabit gegeben. Und selbst die Reaktion der Parteiführung auf die Ereignisse bei Siemens hatte die offenbar sehr homogenen Loewe-Genossen keines Besseren belehrt: „In einer kürzlich stattgefundenen Zellenversammlung wurde eine Resolution abgelehnt mit 16 Stimmen bei 6 Enthaltungen, die festlegte, daß jetzt bereits die Vorarbeiten begonnen werden sollen zur Aufstellung einer revo-lutionären Liste bei den BR-Wahlen.“600

5.2.2 Die Kommunisten im proletarischen Milieu5.2.2.1 Kommunisten in den Sport- und Kulturvereinen5.2.2.1.1 Mitgliederzahlen und EinflussverteilungAuch in den Milieuorganisationen bestand das Ziel der Parteiführung lange Jah-re darin, durch den Zusammenschluss der kommunistischen Vereinsmitglieder zu Fraktionen Funktionärsposten zu erobern und darüber langfristig die Vereine unter die kommunistische Hegemonie zu bringen. Auch hier wurde dann ab 1928/29 die Strategie radikal geändert, und auf den Aufbau eigener Organisa-tionen gesetzt. Ebenfalls vergleichbar mit der Situation in den Freien Gewerk-schaften war die - von lokalen Hochburgen oder den parteinahen Organisationen einmal abgesehen - strukturelle Minderheitsposition der Kommunisten, die einer erfolgreichen Umsetzung der ‚Eroberungsstrategie‘ auch hier von vornherein Grenzen setzte.

Neben den scheinautonomen kommunistischen Nebenorganisation wie dem Roten Frontkämpferbund, der Roten Hilfe, der Internationalen Arbeiterhilfe bestand das Arbeitervereinswesen aus einer großen Zahl von Verbänden, die sich, lässt man die Konsumgenossenschaften außen vor, nach den Bereichen Kultur und Sport differenzieren lassen. Der ‚Marktführer‘ im Bereich Arbei-tersport war der 1893 gegründete Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB). Im kulturellen Bereich war der 1905 gegründete Verband für Freidenkertum und Feuerbestattung (VFF) die größte Arbeiterorganisation.600 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/59, Bl. 8f.

328 5.2 Der politische Parteialltag

Leider sind Daten über die Mitgliederzahlen der einzelnen Verbände und die nach Sparten aufgeteilten Angaben aus der Reichskontrolle nicht vollständig kommensurabel zu machen (vgl. dazu auch Abschnitt 2.5.1). Dennoch verraten sie einiges über den Einfluss der Kommunisten in den Sport- und Kulturver-einen, denen sie angehörten (Tabelle 38). Die Minderheitsposition ist - wie nicht anders zu erwarten - offensichtlich. Etwas stärkeren Einfluss hatte die Partei auf der Ebene der Funktionäre der Sport- und Kulturorganisationen. Laut Reichs-kontrolle von 1928 waren 8,19 Prozent der Mitglieder im Reich Funktionäre von Sportorganisationen, und 4,94 Prozent der Genossen Funktionäre in Kultur-organisationen.601

Tabelle 38: Kommunisten in Arbeiterfreizeitvereinen (Reichskontrolle 1927)Verein Mitglieder (1928) Kommunisten Komm. %Arb.-Turn- und Sport-Bund 770.058 18.211 2,36Verein f. Freidenkertum 446.013 36.192 8,11Dt. Arb. Sänger-Bund (1926:) 326.125Arb.-Radfahrer-Bund 220.316 428 0,19Naturfreunde 79.000Arb.-Athleten-Bund 56.285Arb.-Samariter-Bund 42.800 2.279 5,32Verband Volksgesundheit (1927:) 11.200Arb.-Schach-Bund 12.167Arb.-Schützenbund 5.110 1.088 21,29Arbeiter-Theater-Bund 4.377Summe 1.973.451 58.198 2,95

Quellen: Ueberhorst: Frisch: S. 114f.; Kaiser: Arbeiterbewegung, S. 178; Fuhr: Musik, S. 103; Walter u.a.: Gesundheits- und Lebensreformverbände, S. 19; Bodek: Megaphone, S. 158. Kaasch: Struktur, S. 1056.602

Erst unterhalb der Gesamtschau auf Reichsebene zeigt sich ein differenzierteres Bild je nach Verband und/oder Region. Auf Grund der Komplexität der Thema-tik sind nur exemplarische Einblicke möglich. Die Hochburgen der Kommunis-ten in den regionalen und lokalen Verbänden weisen zum Teil eine ähnliche Struktur auf wie die Verteilung der Wählerstimmen. Insbesondere gelang es den Genossen mit Ausnahme der Konsumgenossenschaft in den Berliner Arbeiter-

601 SAPMO-BArch RY1/I2/4/28, Bl. 91.602 Da in der Reichskontrolle nicht nach Verbänden, sondern nach Sparten gefragt wurde, was die Zuordnung erschwert, habe ich die Zahl der Genossen, die eine Mitgliedschaft in einem Sportverein angaben, unter ATSB, und diejenigen, die Freidenker angaben, obwohl es eine ganze Reihe von konkurrierenden Verbänden gab, unter VFF aufgeführt. Es handelt sich also um Maximalwerte.

5 Die politische Praxis der Partei 329

vereinen eine große Gefolgschaft hinter sich zu scharen. So war zum Beispiel der traditionell linke Berliner Turnverein „Fichte“ (TVF) schon recht früh eine starke Hochburg der USPD, die den Kommunisten nach dem Niedergang der Unabhängigen in den Schoß fiel. Die KPD behielt diese Hochburg obwohl nach Angaben aus dem Tätigkeitsbericht der Agitprop-Abteilung der BL Berlin-Brandenburg für den Zeitraum vom 5. Januar bis zum 15. Februar 1926 auf ins-gesamt 60-70.000 Berliner Arbeitersportler nur ca. 2.000 in Sportvereinen organisierte Kommunisten trafen. Da sich der TVF als linke Bastion im ATSB verstand, kam es schon zu Anfang der 1920er Jahren zu Konflikten zwischen ihm und der Bundesführung, zu Ausschlussdrohungen und Ausschlüssen gegen missliebige Personen oder kurzfristig sogar des ganzen Vereins. Ähnlich stark war die KPD im Berliner VFF, so dass die Agitprop-Abteilung der BL am 4. April 1927 in ihrem Schreiben an das Polbüro des ZK die Eroberung dieser Organisation bei den anstehenden Wahlen zur Gauleitung in Aussicht stellte. Der Bericht der Orgabteilung des ZK für den Juli 1927 konstatiert ebenfalls einen großen Einfluss der KPD auf die Berliner Sportbewegung, da die Kom-munisten und ihre Sympathisanten dort das Arbeitersportkartell sowie die Kreis-leitungen des ATSB, AAB und des Arbeiterschachbundes beherrschen. Der Ber-liner ASB sei hingegen vollkommen SPD-beherrscht.603

Eine ähnliche Hochburg der KPD waren um die Mitte der 1920er Jahre die Freidenkerverbände im Ruhrgebiet. Was den Einfluss der KPD in den Sportver-einen des Reviers betrifft, zog die BL in ihrem ausführlichen Bericht vom 9. De-zember 1926 eine sehr durchwachsene Bilanz. Sehr zufrieden war sie mit der Si-tuation in Gelsenkirchen, wobei besonders hervorgehoben wurde, dass die Gelsenkirchener Arbeitersportler an „allen Demonstrationen der Partei sowie des RFB“ teilnehmen würden. Ähnlich positiv wurde auch die Lage im Essener Arbeitersportkartell gewertet. Weniger zufrieden war die BL mit dem Einfluss der Partei und der Arbeit der Genossen in Bochum, Duisburg, Hamm und Ham-born.604

Aus den anderen Bezirken gibt es nur sporadische Berichte über den Einfluss der KPD in den Arbeiterfreizeitvereinen. So berichtete etwa die BL Pommern am 22. Januar 1928, dass sie eine Mehrheit im Vorstand der Kolberger Freiden-ker haben, und im Stargarder VFF kurz vor einer solchen stünden. Aus West-sachsen - einer, wenn nicht der traditionellen Hochburg der Arbeiterkultur- und -sportbewegung - gibt es nur die kurze Meldung im BL-Bericht über den Ok-tober 1927, dass die Ortsleitung der proletarischen Freidenker in kommunis

603 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 90. Horst Ueberhorst: Frisch, frei, stark und treu. Die Arbeitersportbewegung in Deutschland 1893-1933, Düsseldorf 1973, S. 95-102. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 169. SAPMO-BArch RY1/I2/4/27, Bl. 192f.604 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 133.

330 5.2 Der politische Parteialltag

tischen Händen sei, während von einem Einfluss der Partei auf die anderen Vereine kaum die Rede sein könne.605

5.2.2.1.2 Fraktionsarbeit in den ArbeiterfreizeitvereinenSchon der 2. Weltkongress der KI (23.7.-7.8.1920) hatte den Zusammenschluss der Kommunisten in den Massenorganisationen zu Fraktionen gefordert. Laut Bericht der Abteilung für Bildung und Propaganda der Zentrale an den 8. Partei-tag in Leipzig (28.1.-1.2.1923) wurde aber erst im Sommer 1922 systematisch mit dieser Arbeit in der Arbeitersport- und Kulturbewegung begonnen. Doku-mente über die Fraktionsarbeit der Kommunisten in den lokalen Arbeiterver-einen liegen aus den Bezirken leider erst ab der Mitte der 1920er Jahre vor. Es hat aber den Anschein, als sei die Fraktionsbildung ähnlich wie bei den Gewerk-schaften nur sehr schleppend in Gang gekommen.606

Die Mitgliedschaft in den proletarischen Vereinen war als freizeitlicher Aus-gleich zum aufreibenden Arbeitsalltag für viele Kommunisten weitaus stärker noch als die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften Selbstzweck. Vielen Ge-nossen in den Arbeitervereinen war die politische Bedeutung des Vereinswesens für die Partei kaum zu vermitteln. Parteipolitik war etwas - und da stimmten viele Kommunisten mit ihren sozialdemokratischen Vereinskameraden durchaus überein -, das in den Vereinshäusern und auf den Sportplätzen prinzipiell nichts zu suchen hatte. Leidenschaftliche politische Debatten unter den Vereinsmitglie-dern unterschiedlicher Richtungen schloss das keineswegs aus. Diese Einstel-lung sportlich oder kulturell engagierter Genossen wurde zur größten Hürde für den Aufbau und die praktische Arbeit der Parteifraktionen. Eine weitere Hürde - wiederum in Analogie zur Arbeit der Gewerkschaftsfraktionen - waren die Maß-nahmen der Verbandsleitungen gegenüber prominenten oppositionellen Persön-lichkeiten oder sogar ganzen Vereinen, die keineswegs vor Ausschlüssen zu-rückschreckten. Dies konnte schon sehr früh etwa am Beispiel des Konflikts zwischen dem TVF und der ATSB-Leitung beobachtet werden. Im Protokoll der Konferenz der westsächsischen Sportfraktion vom 7. März 1925 wird diese Angst deutlich: „Gen. Gebhardt (Schwimmer) hat sich zwar eifrig um aberma-lige Fraktionsarbeit bemüht, brachte diese nicht zustande, weil bei dem größten Teil der Genossen Ängstlichkeit vorlag, durch die Zellenbildung aus dem Bund ausgeschlossen zu werden.“ Wieder einmal wurden die in Frage kommenden Genossen durch die Politik der Parteiführung in einen Konflikt der doppelten Loyalität getrieben und wiederum drohten sie zwischen den Sanktionsdrohungen der Vereinsleitungen und der Parteiführung aufgerieben zu werden.607

Die oben skizzierte Haltung vieler sportlich oder kulturell engagierter Ge-nossen kommt in den beiden ersten ausführlicheren Dokumenten aus den Bezir-

605 SAPMO-BArch RY1/I3/3/14, Bl. 161. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 102.606 Bericht 8. Parteitag, S. 97.607 SAPMO-BArch RY1/I2/710/8, Bl. 46.

5 Die politische Praxis der Partei 331

ken sehr klar zum Ausdruck. Auf einer Konferenz der westsächsischen Frak-tionen am 7. März 1925 wurde darüber geklagt, „daß viele Genossen in den Sportorganisationen der Auffassung sind, überhaupt jede Fraktionstätigkeit abzulehnen, weil sie noch nicht recht einsehen, daß auch der Sport nicht unpoli-tisch sein kann.“ Laut Tätigkeitsbericht der Agitprop-Abteilung der BL Berlin-Brandenburg vom Februar 1926 gliederte sich der Berliner Arbeitersport in 10 Sparten, in denen auch Parteifraktionen beständen. Diese erfassten aber nur ein Drittel der im Arbeitersport engagierten Berliner Parteimitglieder. Insgesamt gab es demnach etwa 200 Arbeitersportvereine in Berlin, von denen 180 Vereine kommunistische Mitglieder hätten. Fraktionen existierten aber nur in 60 Vereinen, von denen nur 30 richtig arbeiteten. Und im Bericht der BL Ruhrge-biet vom 20. August 1925 heißt es, dass der Einfluss der KPD-Fraktionen auf die Sportvereine recht gut sei, während sich die Genossen im ASB und bei den Naturfreunde sehr zurückhielten: „Daß derselbe bei den beiden letzten Sparten kein besonders guter ist, liegt daran, weil die Parteigenossen [die] in diesen Kor-porationen tätig sind, sich zu viel leiten lassen von politischer Neutralität in-nerhalb ihrer Organisation.“ Das Fazit der zuständigen Agitprop-Abteilung des ZK zur „Lage in den Arbeitersportorganisationen in Deutschland und die Arbeit der Fraktionen“ vom 20. November 1925 war denn auch insbesondere was die Arbeitersportvereine betraf, wenig optimistisch: es gebe kaum 50 funktionie-rende Fraktionen in Deutschland. Die Konsequenz daraus war für die Agitprop-funktionäre: „Die Fraktionsarbeit der kommunistischen Sportler war in den Parteiorganisationen bisher eine Privatarbeit. Sie muß zur Parteiarbeit werden.“608

Doch waren derartige Appelle nur von begrenzter Wirkung. Eineinhalb Jahre später wiederholte Polbüro-Mitglied Ernst Schneller in seinem Referat über die „Aufgaben der Partei in den überparteilichen proletarischen Massenorganisa-tionen“ auf dem 11. Parteitag im März 1927 die sattsam bekannte Kritik an den Einstellungen der Genossen in den Sport- und Kulturvereinen:

„Wenn Genossen in einer Massenorganisation sind, glauben sie, jetzt machen wir die Arbeit, wie sie in dieser Organisation erledigt wird. Im Arbeiter- Turn- und Sportbund könnten wir nur Sport treiben und nicht Stellung nehmen zu Maßnahmen, die von Sei-ten der Bourgeoisie gegen die Arbeiterbewegung eingeleitet werden. (...) Es gibt Fälle, daß Genossen, vor die Frage gestellt, entweder Partei oder Aufgabe der reformistischen Methode in den Massenorganisationen, gesagt haben, ich bin zuerst Sportler, dann Kommunist; ich bin zuerst Freidenker und dann Parteimitglied. (Zwischenruf: Auch bei den Sängern!)“

Der Bericht der Orgabteilung des ZK an den 13. Parteitag 1929 wies darauf hin, dass zur Zeit des 11. Parteitags fast keine Fraktionen in den proletarischen Massenorganisationen bestanden hätten. Der Versuch seitens der Parteiführung,

608 SAPMO-BArch RY1/I2/710/8, Bl. 47. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 89. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 111. SAPMO-BArch RY1/I2/710/7, Bl. 81.

332 5.2 Der politische Parteialltag

die Genossen zur politischen Fraktionsarbeit in den Freizeitvereinen anzuhalten, wurde von vielen Mitgliedern als Zumutung verstanden. In ihrem Redebeitrag zu Schnellers oben erwähnten Referat brachte die künftige Leiterin der Frauen-abteilung des ZK, Helene Overlach, die hinter den Appellen der Parteiführung stehende Zumutung unverblümt zum Ausdruck: Sie hielt es für eine Schwäche, „daß es sehr viele Parteigenossen und Funktionäre gibt, die nicht begreifen können, daß die Genossen in diesen Massenorganisationen nicht zu ihrem eigenen Vergnügen sind, sondern daß sie dort als die Beauftragten der Partei arbeiten.“ Die Abgrenzung der verschiedenen Lebenssphären - Partei, Gewerk-schaft, Verein - gelang jedoch vielen Parteimitgliedern mühelos.609

Eine generelle politische Frontstellung der Kommunisten gegenüber den Sozi-aldemokraten in den Vereinen ist daher kaum zu erkennen. Ein Genosse, der sich auf dem Sportplatz zuerst als Arbeitersportler verstand, konnte relativ pro-blemlos mit sozialdemokratischen Arbeitersportlern zusammen Fußball spielen. Diese Einstellung zeigte sich gelegentlich auch im Abstimmungsverhalten der Kommunisten in den Gremien der Vereine und Verbände. In dem oben schon erwähnten Tätigkeitsbericht der Agitprop-Abteilung der BL Berlin-Brandenburg vom Februar 1926 wird berichtet, dass die Partei im Berliner VFF - dessen kom-munistische Mitglieder etwa zu einem Drittel durch Fraktionen erfasst wären - die Hälfte der Delegierten zur Gau-Generalversammlung bekommen habe. Es habe sich aber als unmöglich herausgestellt, den nummerischen Einfluss der Partei auch in politische Erfolge umzumünzen:

„In der Gau-Generalversammlung selbst im Februar stimmten die von uns in der Frak-tionssitzung noch nicht erfaßten Genossen, etwa die Hälfte der Parteigenossen, zu-sammen mit der SPD gegen unsere Anträge für den sozialdemokratischen Wahlvor-schlag, für die alte Leitung en bloc.“

Mit ähnlicher Stoßrichtung ging der ZK-Mitarbeiter Paul Zobel auf der Sitzung der Groß-Berliner Sportfraktion, dem Koordinationsorgan für die Sparten- und Vereinsfraktionen, am 11. Oktober 1926 mit den kommunistischen Delegierten zu den jüngsten Bundestagen der Arbeitersportverbände ins Gericht: „Auf den Bundestagen waren die Kommunisten als Delegierte sehr wenig vertreten. Die Fraktionsarbeit hat ebenfalls nicht geklappt. Sie war nicht einheitlich, weil sich unsere Genossen meist zuerst als Delegierte und dann als Kommunisten fühlen.“ Wie weit diese verbreitete Einstellung der Genossen in der proletarischen Ge-mütlichkeit der Provinz führen konnte, beleuchtet der folgende Auszug aus dem Bericht der BL Westsachsen für den Zeitraum April-Mai 1928 am Beispiel der Ortsgruppe Gautzsch:

„Am Orte besteht ein Ortskartell [des Arbeitersports] über das ich schon berichtet habe. Zur [Reichstags] Wahl folgende Situation: Ein dem Ortskartell nicht angehörender Verein ,Sportverein Sachsen‘ veranstaltet mit einem dem Ortsverein angehörenden

609 Bericht 11. Parteitag, S. 241f. SAPMO-BArch RY1/I2/4/29, Bl. 4. Bericht 11. Parteitag, S. 259.

5 Die politische Praxis der Partei 333

Verein, der Turnerschaft, am Freitag vorher [vor der Reichstagswahl], ohne Wissen des Kartells einen Fackelzug mit Musik unter [der] Parole (Transparent) ,Wählt Liste 1 oder Liste 5‘ [d.h. SPD oder KPD]. Ein Teil unserer Genossen in diesem Verein beteiligten [sic!] sich daran. In derselben Woche tagte das O.K., wo ebenfalls ein Umzug am Sonntag besprochen wurde. Der Vorsitzende Genosse Seyfert propagierte die Losung: ,Wählt linke Arbeiterparteien‘ [!] ohne jegliche Parteireklame. Genosse Seyfert ist K.P.D.-Genosse, vertritt aber im Kartell die Radfahrer.“610

Zwischen den Jahren 1927 und 1929 spitzte sich die politische Ausein-andersetzung in den proletarischen Freizeitvereinen zu. Zwei parallele Entwick-lungen führten zur Abspaltung eines Teils der kommunistischen Mitglieder und mit ihnen Sympathisierender. Zum einen waren das die Ausschlüsse zahlloser kommunistischer Mitglieder, Funktionäre und kommunistisch beeinflusster Vereine durch die meist sozialdemokratisch dominierten Bundesleitungen - in einigen Fällen durch linientreue oder aufstiegsorientierte KPD-Funktionäre hin-ter dem Rücken spaltungsunwilliger Genossen bewusst provoziert. Und zum anderen war es der parallele Versuch des Aufbaus eines kommunistischen Ver-einswesens auf Anweisung der Parteiführung.

Im Jahr 1928 führten die Konflikte zwischen Kommunisten und Sozialdemo-kraten zum Beispiel zur Spaltung des Berliner Arbeitersportkartells, die durch einen Neugründungsbeschluss seitens der SPD-Führung vollendet wurde. Es scheint, als ob eine Mehrheit der Berliner Arbeitersportler, die auch schon früher eher mit der KPD sympathisiert hatte, mit in die kommunistischen Sportvereine gegangen war. Diese kamen jedenfalls 1931 auf ca. 40.000 Mitglieder, während das sozialdemokratische Kartell 1929 nur noch 134 Vereine mit 24.345 Mitglie-dern umfasste.611

Dennoch verblieben entgegen der Beschlusslage der Partei - die Parteiführung wollte wie in den Freien Gewerkschaften eine klare Trennung von Kommunis-ten und Sozialdemokraten herbeiführen - zahlreiche Genossen in den „sozialfa-schistisch“ geprägten Vereinen.

Wieder zeigt sich im Blick auf die Parteibasis, dass die bisher übliche Peri-odisierung der KPD-Geschichte anhand von Linienwechseln und dem Aus-wechseln von Führungspersonal mit der Entwicklung der Parteiorganisationen vor Ort insbesondere an der Peripherie nicht selten kaum übereinstimmte. An der Basis galt mitunter eine andere Zeitrechnung, und die großen strategischen Schwenks der Parteiführung kamen erst verspätet oder auch gar nicht an. Ein gutes Beispiel dafür ist das auf der Sitzung der erweiterten BL Westsachsen am

610 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 90. SAPMO-BArch RY1/I2/710/8, Bl. 26. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 405 (Hervorhebung im Original).611 Klaus Sühl/Rita Meyhöfer: „Von der Wiege bis zur Bahre ...“. Die Kultur-, Freizeit- und Selbsthilfeorganisationen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, in: Gert-Joachim Glaeßner/Detlef Lehnert/Klaus Sühl: Studien zur Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur in Berlin, Berlin 1989, S. 203-236, hier: S. 217f.

334 5.2 Der politische Parteialltag

19. September 1929 problematisierte Verhalten eines BL-Mitglieds, das zu-gleich Vorsitzender der Leipziger Ortsgruppe des Arbeiter-Schützen-Bundes war. Gegen ihn war eine Beschwerde von Genossen eingegangen „auf Grund von Äußerungen in einer Fraktionssitzung der Arb.Schützen, wo er sagte, daß er die Durchführung der Parteibeschlüsse in dieser Organisation ablehne und da könne selbst ein [Polleiter Jean] Winterich oder sonst jemand kommen.“ Gegen die Vorwürfe verteidigte er sich mit dem Argument: „Als Ortsgruppen-Vor-sitzender habe ich auch diese Organisation zu vertreten und kann nicht nur als Kommunist arbeiten.“ Wahrscheinlich hat die BL ihren Druck auf die kom-munistischen Arbeiterschützen in Leipzig danach so weit verstärkt, dass Instruk-teur Hans Sawadzki in seinem Bericht über Westsachsen vom 4. Oktober 1929 darauf hinweisen konnte, dass die Leipziger Ortsgruppe aus dem Arbeiter-Schützen-Bund ausgeschlossen worden sei. Im gleichen Bericht berichtet er, dass 50 Genossen aus dem Arbeiter-Radio-Bund ausgeschlossen worden seien. Die restlichen Genossen hätten daraufhin „ihre Tätigkeit als Fraktion einge-stellt.“ Der Bericht desselben Instrukteurs aus dem Ruhrgebiet vom 6. Dezember 1929 zeigt, dass die Zuspitzung der politischen Auseinandersetzung in den pro-letarischen Freizeitvereinen auch dort an vielen kommunistischen Mitglieder vorbeigegangen ist: „Ohne Zweifel ist es richtig, daß in der Mehrheit der Frak-tionsleitungen [in den „verschiedensten Massenorganisationen“] die Auffassung besteht, erst Organisationsfunktionär, dann Kommunist.“ Von den kommunis-tischen Mitgliedern des Leipziger Arbeiter-Samariter-Bundes hörte ein Genosse W. Zimmermann laut seinem Bericht über die Fraktionsarbeit im ASB vom 15. August 1930 immer noch die sattsam bekannten Gründe der Genossen, die aus ihrer Sicht gegen eine politische Arbeit im Verein sprachen: „,Erst sind wir Samariter und dann kommt die Partei‘ oder ,wir lassen uns von der Partei nicht rein reden‘, dies sind Sätze, die ich wiederholt hören muß.“ Und auch noch ein Jahr später war diese Position bei vielen Genossen unvermindert gültig. So kri-tisiert die Sportfraktion der BL Sachsen in ihrem Rundschreiben vom 21. Mai 1931: „Ein großer Teil derjenigen Sportler, die aktive Sportler sind, neigen zu opportunistischen Auffassungen. Sie sind 10 mal Vereinsmenschen und nur außerhalb des Vereins Kommunisten.“612

5.2.2.2 Der Konflikt um die Freie SchuleEin sehr anschauliches Beispiel für die Differenzen zwischen der Parteiführung und den in Milieuvereinen aktiven Genossen war der sich über Jahre hinweg zie-hende Konflikt um die Freien Schulgesellschaften. An ihm zeigt sich einmal mehr die intensive Verankerung vieler einfacher Parteimitglieder in der prole-tarischen Realität, ihre zutiefst konkret-praktische Orientierung und ihre nicht auszulöschenden präkommunistischen Persönlichkeitsstrukturen und Bedürf-612 SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 637f. SAPMO-BArch RY1/I3/10/117, Bl. 104. SAP-MO-BArch RY1/I3/18-19/14, Bl. 40. SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/156, Bl. 23. SAPMO-BArch RY1/I3/8-10/156, Bl. 3.

5 Die politische Praxis der Partei 335

nisse. Auf der anderen Seite stand eine Parteiführung, die das Ziel verfolgte, auch in den scheinbar unbedeutenden Bereichen totalitär ihre Idee von der abso-luten Politisierung des Alltagslebens der Parteimitglieder durchzusetzen.

Die bekenntnisfreien Schulen und Sammelklassen waren eine Errungenschaft der Revolution. Nachdem die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 den Weg zur Gründung dieser Schulen auf Antrag der Eltern freigemacht hatte, bildeten sich vor allem an Rhein und Ruhr und in Berlin schnell bekenntnisfreie Sammelklassen, die sich teilweise bald zu weltlichen Schulen weiterentwickeln sollten. Mitte Oktober 1920 wurde zur Koordinierung des Kampfes um die kon-fessionsfreien Sammelschulen in Elberfeld der Bund der freien Schulgesell-schaften gegründet. Laut Behrens-Cobet besuchten in Preußen 1920 1,65 Pro-zent der Volksschulkinder, insgesamt waren das 77.565 Kinder, eine der 55 Freien Schulen oder weltlichen Sammelklassen. 1925 gab es in Preußen schon 1.757 weltliche Sammelklassen und 138 weltliche Schulen.613

Während die KPD ebenso wie die USPD die Gründung freier Schulen zu-nächst engagiert unterstützt hatte, kamen bei der Führung der KPD bald Zweifel an diesem Modell auf. Laut Bericht der Abteilung Bildung bei der Zentrale an den 8. Parteitag (28.1.-1.2.1923) hatte diese schon im Vorjahr wiederholt in dieser Frage interveniert: „Es wurde auf die Gefahr hingewiesen, daß die revolu-tionär gestimmten Proletariereltern in diesen Schulen isoliert und vom Haupt-kampfe gegen die Schulreaktion als Ganzes, abgelenkt werden.“ Der innerpar-teiliche Konflikt um die Freien Schulen war also im Kern ein Konflikt zwischen den unmittelbar praktisch orientierten Genossen und der Parteiführung mit ihren eher abstrakten politischen Zielen. Er war zugleich Ausdruck des nur zu augen-fälligen Misstrauens der professionellen Avantgarde gegenüber allen An-strengungen der Genossen, sich in den Nischen des Weimarer Staates einzurich-ten.614

Anstatt sich für Freie Schulen und weltliche Sammelklassen einzusetzen, forderte die Bildungsabteilung der Zentrale, das Engagement der Genossen für die „volle Weltlichkeit der Schulen und Trennung von Kirche und Schule“. Diese noch moderate Forderung verlangte von den schulpolitisch engagierten kommunistischen Eltern sich statt für ein begrenztes und vor Ort realisierbares für ein abstraktes politisches Ziel einzusetzen, dessen Realisierung keineswegs absehbar und auch kaum durch die einzelnen Genossen beeinflussbar war. Was die Parteiführung bei ihren Bemühungen, die in den Freien Schulen tätigen Mit-glieder umzustimmen, nicht ins Kalkül zog, war die simple Tatsache, dass auch

613 Winkler: Revolution, S. 240f. Franz Walter: Der Bund der freien Schulgesellschaften, in: Siegfried Heimann/Franz Walter: Religiöse Sozialisten und Freidenker in der Weimarer Re-publik, Bonn 1993, S. 263-373, hier: S. 263f. Heidi Behrens-Cobet: Die Schulpolitik im Deut-schen Reich und in Preußen bis zur Einrichtung erster Freier Schulen, in: Frank Bajohr/Heidi-Behrens-Cobet/Ernst Schmidt: Freie Schule. Eine vergessene Bildungsalternative, Essen 1986, S. 18-98, hier: S. 34f.614 Bericht 8. Parteitag, S. 94f.

336 5.2 Der politische Parteialltag

kommunistische Väter und Mütter wussten, dass ihre Kinder nur für wenige Jah-re im Schulalter waren, und daher Abhilfe nicht auf den revolutionären St.-Nimmerleinstag verschoben werden durfte. Die Bildungsabteilung der Zentrale schlug statt dessen den kommunistischen Eltern keineswegs konsequent vor, die bereits bestehenden weltlichen Schulen zwar „zu verteidigen“, aber sich in erster Linie auf die „Befreiung der Kinder vom Religionsunterricht innerhalb der kon-fessionellen Schulen und [den] Kampf gegen den klerikalen Geist innerhalb der übrigen Unterrichtsfächer“ zu konzentrieren.

Sowohl diese Forderungen als auch die Kritik der Bildungsabteilung der Zentrale am Engagement vieler Genossen in den Freien Schulgesellschaften ver-pufften wirkungslos auf dem Weg nach unten. Sie hatten aber wohl zumindest den Effekt, dass die bezirklichen und lokalen Instanzen der Partei ihre Unter-stützung der Freien Schulen jedenfalls zum Teil einstellten und sich die Kritik der Parteiführung zu eigen machten. So schrieb zum Beispiel das Mitteilungs-blatt der BL Berlin-Brandenburg am 6. April 1923, dass das Eintreten eines nicht unbeträchtlichen Teils der Genossen in den Verwaltungsbezirken Prenz-lauer Berg, Köpenick und Reinickendorf für die weltlichen Sammelschulen eine Ablenkung vom Klassenkampf darstelle. Die BL verlegte sich angesichts dieser Lage darauf, von den Genossen zu verlangen, bei einer Neugründung von Freien Schulen irreale Bedingungen an die sozialdemokratischen Mitgründer zu stellen. Eine davon lautete, nur Lehrer zu beschäftigen, die „auf dem Boden des prole-tarischen Klassenkampfs stehen“. Dabei wurde offen zugegeben, dass die Sozi-aldemokraten sie nicht annehmen könnten, „da sie den Richtlinien der Schulauf-sichtsbehörden widersprechen“615

Der Konflikt zwischen Parteiführung und engagierten kommunistischen Eltern um die Freien Schulen köchelte in den nächsten Jahren auf niedriger Stufe weiter. Die Parteiführung erließ weitere Beschlüsse und Anweisungen, und die in Frage kommenden Genossen nahmen kaum Notiz von ihnen. Das mit dem Geheimkürzel B18 bezeichnete Mitglied der Berliner BL kritisierte auf der BL-Sitzung am 10. Juni 1926 die diesbezügliche Ignoranz nicht nur der konkret betroffenen Parteimitglieder: „Unsere Genossen sind zur weltlichen Schule ge-nau so eingestellt, wie die [der] SPD.“ Und die BL Ruhrgebiet berichtete am 9. Dezember 1926, dass die „Frage der weltlichen Schulen ... in unserem Bezirk eine besonders große Rolle“ spiele, da die meisten Genossen ihre Kinder dort angemeldet hätten: „Die Auffassung der Partei ist den Genossen nur sehr schwer begreiflich zu machen. Sie sind der Meinung, daß auch die Kommunisten ihre Kinder in die weltliche Schule schicken müssen.“ Aber die in den weltlichen Schulen engagierten Genossen ignorierten nicht nur passiv geflissentlich die Anweisungen der Parteiführung, sie setzten sich, wenn es notwendig war, aktiv gegen politische Zumutungen von oben zur Wehr. Ein beredtes Beispiel dafür

615 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 92.

5 Die politische Praxis der Partei 337

findet sich im Bericht der Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet vom 9. Febru-ar 1927:

„Wenn wir in der Zeitung einen Artikel schreiben, in der Linie der Partei zu der weltli-chen Schule, dann hagelt es gleich Zeitungsabbestellungen und unsere Genossen sagen, daß sie sich von der Partei ihre mühsam aufgebaute weltliche Schule nicht zerstören lassen. Sie sind auch z.T. nicht in den einberufenen Fraktionssitzungen den Auf-fassungen der Partei zugänglich, besonders deshalb nicht, weil ihre Auffassung z.T. von kommunistischen Lehrern an weltlichen Schulen genährt wird.“616

Da der Konflikt ein Jahr später noch nicht beigelegt war, wurde im Rahmen der Reichskontrolle von 1927 auch danach gefragt, wie viele Kinder kommunis-tischer Eltern vom Religionsunterricht abgemeldet waren. Laut Kaasch, der in seinem Beitrag dazu nur Ergebnisse aus dem Ruhrbezirk benutzte, waren nur 26 Prozent der Kinder der Genossen nicht vom Religionsunterricht abgemeldet. Wie viele Kinder in Freien Schulen unterrichtet wurden, ist leider nicht bekannt. Die aus einzelnen Unterbezirken des Ruhrgebiets überlieferten Daten bestätigen diese Quote (Tabelle 39).617

Tabelle 39: Ruhrgebiet: Kinder und Religionsunterricht (Reichskontrolle 1927)Unterbezirk Kinder befreit (%)Gelsenkirchen 675 71,41Hamborn 674 68,10Bochum 559 73,88

Quellen: SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 208ff.

Die Parteiführung blieb bei ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Freien Schulen. Und allmählich wurde der Ton von oben rauher. In ihrem Rund-schreiben an die Essener Parteileitungen vom 11. März 1927 wiederholte die Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet noch einmal die sattsam bekannte Positi-on der Parteiführung:

„Die Freien Schulgesellschaften müssen sich unsere Schultaktik und unsere Schulpolitik zu eigen machen, indem sie nicht an weltlichen Sonderschulen herumexperimentieren, sondern insbesondere auch an den überwiegend konfessionellen Schulen den Kampf gegen die kirchliche und weltliche Schulreaktion führen durch die Sammlung der prole-tarischen Eltern und Kinder.“

Eineinhalb Jahre später war in einem Rundschreiben derselben Herkunft vom 3. Dezember 1928 von Konzilianz nichts mehr zu spüren, dafür aber gab es einen 616 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/18, Bl. 172. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 203. SAP-MO-BArch RY1/I3/18-19/48, Bl. 31.617 Kaasch: Struktur, S. 1065. In den internen Unterlagen der Partei korrespondiert mit dem Anteil von 26 Prozent eine Zahl von 1.452 Kindern. Die 8.681 erfassten Genossen hatten demnach etwas mehr als 5.500 Kinder (SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29 Bl. 73f.).

338 5.2 Der politische Parteialltag

Vorgeschmack der neuen Parteilinie. Der Autor bilanziert die bisherige Arbeit der Freien Schulen äußerst negativ, sie unterschieden sich seiner Auffassung nach kaum von konfessionellen Schulen. Besonders wichtig war ihm die Be-merkung, dass auch auf den Freien Schulen kommunistische Lehrer die Schüler nur „indirekt, unterirdisch ... zum Haß gegen den bestehenden bürgerlichen [Staat] und die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft“ erziehen konnten. Daraus folgerte er: „Ein Kommunist, der glaubt, er hätte seine revolutionäre Pflicht im Schulkampf erfüllt, wenn er sein Kind vom Religionsunterricht abmeldet und auf die ,weltliche Schule‘ überschreibt, ist auf dem Holzweg.“ Statt dessen soll-ten die Genossen an den Konfessionsschulen revolutionär wirken. Was die Neu-gründung von Freien Schulen betraf, verlangte der Autor eine Obstruktions-taktik. Die Genossen sollten sich zum Schein an Schulgründungen beteiligen, diese aber letztlich dadurch hintertreiben, dass sie den anderen Gründungswil-ligen unerfüllbare Pseudobedingungen wie zum Beispiel die folgende stellten:

„Der Lehrstoff muß nach den Grundsätzen des historischen Materialismus von Marx und Engels zusammengestellt werden. (..) Jede versteckte und offene Beeinflussung des Kindes im Sinne der nationalistischen, monarchistischen [?] oder republikanischen Staatsautorität, jede bürgerlich-kapitalistische Verseuchung des kindlichen Geistes wird nicht geduldet. Die Kinder müssen zu Klassenkämpfern für den Sozialismus erzogen werden.“618

Diese Linie setzte man auch im Umgang mit dem Bund der Freien Schulgesell-schaften (BFG) in den nächsten Jahren fort. Laut Franz Walter versuchte die KPD zwischen 1929 und 1931 die Basis des BFG gegen die „sozialfaschis-tische“ Führung aufzuwiegeln, bis es 1931 gelang, die Organisation zu spalten, und eine ausreichende Zahl von Genossen zu finden, die den Bund prole-tarischer Schulkämpfer gründeten. Schon 1929 war es zur Spaltung einzelner Schulgesellschaften gekommen. In den - zu diesem Themenbereich dünn gesä-ten - Quellen aus den fünf Bezirken wird dies nicht greifbar. Die beiden letzten Dokumente stammen aus dem Jahr 1930. Laut Schreiben der Orgabteilung der BL Ruhrgebiet vom 26. Juni 1930 soll eine Bezirksparteifraktion in den Freien Schulgesellschaften gegeben haben. Und am 2. Mai 1930 hieß es im Rund-schreiben des BL-Sekretariats des Ruhrbezirks immer noch, die Genossen in den Freien Schulgesellschaften „vertreten dort meist einen ganz falschen Stand-punkt.“619

618 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/43, Bl. 21. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/43, Bl. 43ff. (Hervorhebung im Original).619 Walter: Bund, S. 355. Behrens-Cobet: Schule, S. 501. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 53. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/32, Bl. 19.

5 Die politische Praxis der Partei 339

5.2.3 Agitation und Propaganda5.2.3.1 Mitglieder- und LeserwerbungWichtigste Aufgabe der Parteimitglieder neben der inhaltlich orientierten Arbeit etwa in den Gewerkschaften und Betrieben war es, die Reihen der deutschen Re-volutionäre, die unter einer erheblichen Fluktuation litten, ständig wieder neu aufzufüllen. Desgleichen galt es die Zahl der Leser der chronisch qualitätsarmen Parteizeitungen zu erhöhen, und die von der Partei herausgegebenen Schriften zu vertreiben. Die Propaganda für die Partei war von Anfang an allgemeiner Bestandteil und Nebenziel jeder politischen Arbeit der Genossen, wurde dann aber allmählich doch zu einem fest umrissenen eigenen Bereich der politischen Arbeit. Das bedeutete, dass anlässlich jeder politischen Kampagne der Partei die Genossen durch die Straßen zogen, um Plakate zu kleben, Flugblätter zu vertei-len, ihr Material zu verkaufen und neue Genossen und Leser zu werben. Es dau-erte nicht lange, und die Mitglieder- und Leserwerbung bekam selbst Kampa-gnencharakter. In der Dürreperiode, die die Phase der relativen Stabilisierung der Weimarer Republik für den Zustrom zur Partei und ihren politischen Einfluss zur Folge hatte, wurde sie unter der Bezeichnung „Werbewoche“ zum Selbstzweck.

Das älteste von mir gefundene Dokument, das sich mit Werbemaßnahmen für die Partei befasste, war ein Rundschreiben der BL Berlin-Brandenburg vom 28. September 1921, das die Genossen aufforderte, während einer Werbewoche der USPD vom 17. bis zum 30. Oktober 1921 in den USPD-Versammlungen eigenes Material zu vertreiben und das kommunistische Programm zu propa-gieren. Schon kurze Zeit darauf, zwischen dem 4. und dem 11. November 1921, fand laut Rundschreiben der BL Berlin-Brandenburg vom 15. Oktober 1921 eine der ersten zentral von der KI angesetzte Werbewoche der KPD statt. Bei der Terminierung der Werbewochen orientierte man sich auch später an ähnlichen Maßnahmen konkurrierender Parteien. Die negative Fixierung der KPD-Funktionäre auf die SPD hatte zum Beispiel zur Folge, dass der Berliner Pollei-ter Wilhelm Pieck auf der Sitzung der engeren BL am 19. September 1926 eine Werbewoche für die Woche vom 10. bis zum 17. Oktober ankündigte, da die SPD ab dem 16. Oktober ebenfalls eine solche durchführe. Pieck erwartete denn auch selbstverständlich ein besseres Ergebnis als das der SPD: „Es ist unsere Aufgabe, die Erfolge der SPD. zu übertrumpfen.“620

Wie um die Mitte der 1920er Jahre eine perfekt gemachte Werbeaktion für die Partei aus Sicht der Parteiführung aussah, beschreibt das „Werbeplan-Muster für eine Großstadt“ der Agitprop-Abteilung der BL Ruhrgebiet für den Februar 1927. Nach der Vorbereitung der Werbekampagne durch eine Funktionärsver-sammlung sollten „zur Mobilisierung (kurzes Referat) und zur Besprechung des Planes, den die Leitung vorlegt“ Zellenmitgliederversammlungen durchgeführt

620 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 28. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/27, Bl. 38. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/18, Bl. 336.

340 5.2 Der politische Parteialltag

werden. Daraufhin waren die Werbesonntage festzulegen, und das Stadtgebiet entsprechend der Zahl der Werbesonntage aufzuteilen. Dann ging es los:

„Am 1. Sonntag wird die gesamte Mitgliedschaft der Stadt mit den Ausnahmen, die zur Vorbereitung der Werbung im eigenen Stadtteil an diesem Tage zurückbleiben sollen, auf den Stadtteil Süd konzentriert werden, d.h. die Mitgliedschaft trifft sich in bestimm-ten, vorher festgelegten Lokalen des Stadtteils Süd, wo die dort ansässigen Genossen bereits mit ihrem Material bereitstehen, um dieses zu verteilen. In den Lokalen liegen Listen der einzelnen, zu bearbeitenden Straßen mit den Namen der in Aussicht genom-menen Arbeiter, die man gewinnen will, getrennt nach geraden und ungeraden Haus-nummern, so daß die werbenden Genossen jeweils nur auf einer Straßenseite beschäftigt sind. An den Tagen vorher, vielleicht eine Woche vorher, oder Freitag, Samstag vor Sonntag haben die Genossen aus Stadtteil Süd vorgearbeitet, Werbezeitungen hinge-bracht und das Kommen der Werber in den nächsten Tagen bereits angekündigt. Die anwesenden Mitglieder werden in Gruppen von je zwei Genossen eingeteilt, wobei, wenn möglich, so verfahren [werden] kann, daß ein ansässiger und ein fremder Ge-nosse, ein guter Werber und ein noch etwas schwacher, ein älterer und ein jüngerer Ge-nosse zusammen gehen. Der Führer bekommt die Liste oder auch umgekehrt, füllt die in der Liste offen gelassenen Spalten aus, mit dem, was er erfahren hat, ob man wieder-kommen soll usw. usw. Nach einigen Stunden trifft sich die Partei wieder und stellt das Ergebnis fest.“

An den darauf folgenden Sonntagen sollten dann die anderen Stadtteile an die Reihe kommen.621

Ein Problem der Parteiwerbung während der zweiten Hälfte der 1920er Jahre bestand in der eigentümlichen Struktur der Partei. Aus der Sozialdemokratie, den vielen anderen Arbeiterorganisationen und der Frühzeit der Partei waren die Mitglieder an die Werbung im Wohnbezirk gewöhnt. Nun lag es aber in der Konsequenz des Umbaus der Partei auf Betriebszellen, dass diese ihre Werbe-maßnahmen auch auf die Betriebe konzentrieren sollten. Das Orgbüro der BL Westsachsen kritisierte in seinem Rundschreiben vom 16. April 1926, dass die Pressewerbung „noch vorwiegend im wohnbezirksmäßigen Maßstabe erledigt“ werde. Die Leitung des westsächsischen Arbeitsgebiets Wiederitzsch bean-standete in ihrem Bericht für den Oktober 1927, dass die Betriebszellen bei der Werbearbeit versagt, und nur Adressenmaterial an die Straßenzellen übergeben hätten, anstatt sich selbst zu beteiligen. Im Bericht der Betriebszelle in der Ber-liner AEG-Transformatorenfabrik von Ende 1925 wurde darauf hingewiesen, dass die Hälfte der Betriebsfraktion in der Zeit nach den Streiks in der Berliner Metallindustrie (Ende Dezember 1923) während der Aussperrung entlassen worden ist. „War auch durch diese Ereignisse die Sympathie für die Kommunis-ten wieder gewachsen, so stieß unser Werben um neue Mitglieder auf die Angst der Proleten vor der Maßregelung.“ Die ‚widerspenstige‘ Struktur der Partei konnte aber auch dazu führen, dass sich Betriebszellenmitglieder gar nicht mehr für die Arbeit auf Gemeindeebene interessierten. Auf der Sitzung der BL Oberschlesien kritisierte Polleiter Paul Schlecht genau diese Einstellung: „In den 621 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/43, Bl. 10ff. (Hervorhebung im Original).

5 Die politische Praxis der Partei 341

Orten wo Betriebszellen bestehen, glaubte man in den Orten selbst nichts mehr machen zu brauchen.“ Ein weiteres Problem bestand darin, das die Parteimit-glieder, die nicht in der Stadt oder dem Stadtbezirk arbeiteten, in dem sie wohn-ten, das Wohngebiet, in dem der Betrieb lag, deren Zelle sie angehörten, nicht kannten. Auf einer Sitzung der Agitpropleiter der Berliner Verwaltungsbezirke sagte der Teilnehmer aus Charlottenburg dazu: „Man kann nicht verlangen, daß Betriebszellenmitglieder nach Arbeitsschluß ein ihnen unbekanntes Wohngebiet bearbeiten.“622

Das generelle Problem der kommunistischen Werbearbeit aber war, dass das Klinkenputzen von Tür zu Tür bei den Mitgliedern nicht sonderlich beliebt war. Anscheinend spielten hierbei auch proletarische Ehrbarkeitsvorstellungen eine Rolle. Die Kritik an unzureichend durchgeführten Werbesonntagen in Oberschlesien, die Orgleiter Gallus auf der Sitzung der BL am 24. Mai 1928 übte, war durchaus kein oberschlesisches Spezifikum: „in einigen Orten wurden die Werbesonntage einfach nicht von den Ortsgruppen angesetzt bezw. konnten nicht durchgeführt werden, da sich die Genossen schämten, von Haus zu Haus zu gehen.“ Die Klagen seitens der Parteiführung über eine unzureichende Betei-ligung der Mitglieder an der Werbearbeit sind Legion. Folgendes berichtete etwa die Orgabteilung der BL Ruhrgebiet am 23. Januar 1922 an die Orgabtei-lung der Zentrale:

„Werte Genossen! Der Bericht über die im November stattgefundene Werbewoche ist nicht als günstig zu bezeichnen. Als Grund ist hauptsächlich anzuführen, daß die Partei erst im Aufbau begriffen war. Die Durchorganisierung (Zehnergruppen) war erst in An-griff genommen, weiter hatten wir auch mit einer großen Lauheit in den Kreisen der Ge-nossen zu rechnen.“

In dem oben schon ausführlicher behandelten Bericht des Berliner Orgbüros über die Wahlkampagne Ende 1924 heißt es dazu, dass an der ersten Flugblatt-verteilung durch die Wohnorganisationen am 8. November 1924 nur etwa 10 bis 20 Prozent der Mitglieder teilgenommen hätten. Die zweite Flugblattaktion am 23. November - bei der auf die Mobilisation der Mitglieder größtes Gewicht ge-legt worden war - konnte schon eine Beteiligung von 70 bis 85 Prozent der Mit-glieder verzeichnen. Ein ähnlich schwaches Engagement der Genossen wurde auch im Rundschreiben der Orgabteilung der BL Westsachsen vom 5. August 1925 bemängelt: „Bisher ist bei allen Werbewochen der Mangel zutage getreten, daß 1. sich nur ein kleiner Teil von Parteimitgliedern beteiligte und 2. daß die Arbeit fast ausschließlich von den Wohnorganisationen geleistet wurde.“623

622 SAPMO-BArch RY1/I3/10/124, Bl. 53. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, 143. SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 36. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/50, Bl. 42. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 14.623 SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 139. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/20, 52. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/70, Bl. 62f. SAPMO-BArch RY1/I3/10/124, Bl. 28.

342 5.2 Der politische Parteialltag

Besonders schwierig war es, die Genossen in Oberschlesien für die Presse- und Mitgliederwerbung zu gewinnen. Dabei war entscheidend, dass das Be-zirksorgan der Partei als nicht eben billiges Kopfblatt der Breslauer „Arbeiter-Zeitung“ den verhältnismäßig schlecht verdienenden oberschlesischen Arbeitern zu wenig Informationen über ihre Region brachte. Daher hielt ein BL-Mitglied namens Wilczok es schon auf der Sitzung der BL am 21. Juli 1925 für müßig, überhaupt weitere Werbewochen anzusetzen. Das Ergebnis der nächsten Werbe-woche für die „Oberschlesische Roten Fahne“ im Dezember des gleichen Jahres, überliefert durch einen Brandbrief des ZK-Sekretariats an die BL vom 23. De-zember 1925, bestätigt diese Einschätzung: „Der Verlag in Gleiwitz teilt uns mit, daß die mit der Bezirksleitung vereinbarte Bezirks-Werbe-Kampagne völlig versagt hat. Nur in drei Orten, Gleiwitz, Hindenburg und Oppeln, wurde die Werbe-Kampagne durchgeführt. Der Bezirk versagt in der Propaganda völlig.“ Da auf Grund der schlechten Kampagnen das Bezirksorgan nicht zur vollen Tageszeitung ausgebaut werden konnte, sondern vielmehr immer kurz vor der Einstellung stand, änderte sich auch wenig an der Motivation der oberschlesischen Genossen für sie zu werben. Auf einer Organisationskonferenz des Bezirks am 12. Februar 1928 war sogar vom Chaos in der Zeitungswerbung die Rede: „Z.B. bestellte die Ortsgr. Alt-Hindenburg die gesamte Mitgliedschaft nach 1 Lokal, es kamen natürlich [!] nur einige. Jetzt ging es los, jeder nach Belieben. Daß da nichts gutes herauskam, ist selbstverständlich.“624

Das Hauptargument der unwilligen Genossen gegen die Werbearbeit bestand aber in dem aus ihrer Sicht zu geringen politischen Gehalt der Werbearbeit. Außerdem störte viele der zu große Anteil, den die Werbearbeit an der Zeit in Anspruch nahm, die sie für die Parteiarbeit zu investieren bereit waren. Eine wohl eher kontraproduktive Reaktion der Parteiführung darauf war die Erhöhung der Frequenz der Werbekampagnen. Erstens untergrub das die Mo-tivation der Mitglieder weiter und zweitens führte es wohl auch zu einer ge-wissen Werbemüdigkeit bei der Zielgruppe. Am 20. Oktober 1924 berichtete der Oberpräsident der Provinz Westfalen von der Stimmung an der Basis angesichts erfolgloser Werbekampagnen der KPD:

„In Kreisen der Funktionäre und Mitglieder macht sich eine starke Unlust gegenüber den sich überstürzenden Werbekampagnen der Partei deutlich bemerkbar. Man will die Notwendigkeit und Nützlichkeit der verschiedenen Veranstaltungen nicht einsehen. [Die] Animosität ist so weit gediehen, daß ganze Ortsgruppen und sogar Arbeitsgebiete sich weigern, den Aufforderungen der Bezirksleitung zur Durchführung der Werbe-arbeit Folge zu leisten. Die Weigerung wird damit begründet, daß das Interesse der Mit-glieder an den vielen Veranstaltungen vollkommen abgestumpft sei. Die Partei werfe falscher Weise [sic!] und in völliger Verkennung der augenblicklichen Einstellung der Arbeiterschaft dauernd neue Parolen in die Massen.“

624 SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 83. SAPMO-BArch RY1/I2/5/25, Bl. 891. SAPMO-BArch RY1/I3/6/16, 3.

5 Die politische Praxis der Partei 343

Die BL Westsachsen beurteilte in ihrem Bericht vom 13. Oktober 1925 über die kürzlich durchgeführte Werbewoche die Motivation vieler Parteimitglieder ebenfalls skeptisch: „Bei unseren Genossen fehlt meist noch das notwendige Verständnis für die praktische Zeitungsagitation.“ Ähnliches berichtete die BL Pommern im November 1926: „Die Stichproben, die durchgeführt wurden, zeig-ten, daß aber die größte Anzahl der unsrigen Körperschaften [sic!] sich nicht mit der Werbearbeit intensiv beschäftigen“. Auch die von der Parteiführung verlang-te Einführung von Literaturobleuten und Agitpropabteilungen bei den Zellen änderte, sofern sie wirklich umgesetzt wurde, nur wenig an der verzwickten Si-tuation, dass die Genossen im Allgemeinen unwillig waren, und die meiste Arbeit daher wieder einmal von den ohnehin stark überlasteten ehrenamtlichen Funktionären zu leisten war. Dies führte auf der Sitzung der Agitpropleiter der Berliner Verwaltungsbezirke im Oktober 1926 zu teilweise scharfer Kritik an der Parteiführung. Der Agitpropleiter des Verwaltungsbezirks Lichtenberg war der Meinung, es gebe „Genossen, die noch nicht wissen, was Agitprop ist.“ Sein Köpenicker Kollege meinte zu der ganzen Verfahrensweise der Partei sarkas-tisch: „Ihr sprecht vom Agitpropapparat. Ich bin allein der Agitpropapparat.“625

Die Bemühungen der Parteiführung gerade in der ‚Saure-Gurken-Zeit‘ zwi-schen 1925 und 1928 konzentrierten sich demzufolge immer weniger darauf, die Genossen zu motivieren, als darauf, die regelmäßige Werbearbeit zu erzwingen. Auf der Sitzung der engeren BL Berlin-Brandenburg mit den Pol- und Orglei-tern der Verwaltungsbezirke schlug daher der Genosse A/9 folgendes vor: „In keinem Arbeitsplan sollte fehlen, daß die Werbearbeit für die Partei und Presse fortgesetzt werden muß.“ Doch so etwas wurde ebenso schnell ignoriert und überlesen wie es eingeführt wurde. Auf dem 11. Parteitag im März 1927 in Essen kritisierte Polbüro-Mitglied Philipp Dengel die „außerordentlich laxe“ Mitgliederwerbung während der Volksentscheidkampagne von 1926:

„Man organisiert sogenannte Werbewochen, man zieht einen großen Apparat auf, man verpulvert Geld, man macht außerordentliche Anstrengungen, erzielt auch einige Resultate, aber man macht diese Arbeit leicht fertig, man vergißt, diese Werbearbeit zu verankern. Ist eine Werbekampagne vorbei, so hört auch die Werbearbeit auf. Das ist furchtbar.“626

Auch die später eingeführten, zumeist völlig unrealistischen Sollzahlen für zu werbende Mitglieder und Zeitungsabonnenten, sowie die Durchführung revolu-

625 StAM RA 14564. SAPMO-BArch RY1/I3/10/136, Bl. 37. SAPMO-BArch RY1/I3/3/16, Bl. 121. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/96, Bl. 14-18. Ein Genosse aus der Straßenzelle 1715 des Berliner Unterbezirks Ost wollte laut Protokoll der Sitzung der Straßenzelle mit der Be-triebskommission der UBL am 26. Juni 1931 wegen der Methoden der Pressewerbung sogar austreten: „Er bezeichnete den Beschluß, durch den jedes Zellenmitglied zum Verkauf von Maizeitungen verpflichtet wurde, als Diktaturmaßnahme.“ (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/54, Bl. 12).626 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/18, 590. 11. Parteitag, S. 40.

344 5.2 Der politische Parteialltag

tionärer Wettbewerbe zwischen einzelnen Bezirken oder einzelnen Ortsgruppen und Zellen um Preise für die beste Mitgliederwerbung sowie die „Stoßbrigaden“ der Parteiwerbung änderten nicht viel an diesem Zustand. Bei ihnen handelt es sich um kaum mehr als einen neu errichteten ideologischen Überbau über einer unveränderten Basis: den für Werbeeinsätze wenig mobilisierbaren Mitgliedern.

Am leichtesten war es wohl, die Mitglieder bei Wahlkämpfen in Bewegung zu setzen. Nun hatte zwar die Führung, insbesondere um den ,ererbten‘ Charak-ter eines Wahlvereins endlich loszuwerden, die Partei auf Zellen umgestellt, nichtsdestotrotz behielt dieses Relikt sozialdemokratischer Tradition Wirkungs-macht. Das mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass Wahlkämpfe den Ge-nossen eine vermeintlich leichte Erfolgskontrolle ermöglichten; dass Wahl-ergebnisse leicht zugängliche und scheinbar einfach zu interpretierende Grad-messer des Erfolgs der eigenen Tätigkeit waren, und damit auch der Akzeptanz der Politik, die dabei kommuniziert wurde. Wie ich vermute, war es den meisten Genossen auch kaum plausibel zu machen, dass die ganzen Wahlkampfan-strengungen, der ganze Zeitaufwand nur zum Zweck der „Entlarvung“ des Kapi-talismus unternommen wurde. Statt dessen herrschte an der Basis - auch wenn die allermeisten Genossen sicher nicht eine Sekunde daran glaubten, die „herr-schende Klasse“ mit Wahlzetteln allein stürzen zu können - ganz wie in der SPD die simple Ideologie der reinen Stimmenmaximierung.

5.2.3.2 LandagitationEin weiterer Baustein der Propagandaarbeit der Partei war die so genannte Landagitation. Die Genossen sollten dazu regelmäßig aus der Stadt in die um-liegenden Dörfer fahren, und die ländliche Bevölkerung, die sonst wenig Berüh-rung mit kommunistischer Propaganda hatte, über Ziele und Programm der KPD aufklären und zum Parteibeitritt oder zur Parteigründung am Ort zu bewegen. Aber das Dorf blieb - trotz der Sichel auf der Parteifahne - für die kommunis-tischen Arbeiter sozialkulturell fremdes Gelände. Die Genossen versuchten da-her zumeist gar nicht erst, ihre aus den Arbeitervierteln der Großstadt gewohn-ten Agitationsmethoden der Zielgruppe anzupassen. Dies minimierte wiederum die Erfolge solcher Landeinsätze von vornherein. Wolfram Pyta hat in seiner Schrift über die Parteipolitik auf dem Dorf festgestellt, dass die KPD „eine sich gegen die Mechanismen des dörflichen Meinungsbildungsprozesses auflehnende Landagitation“ betrieben hat und damit letztlich nur „jene marginalisierten Schichten“ erreichte, „die sich aus der Einflußzone der Dorfhonoratioren gelöst hatten.“ Und dies war im agrarischen Pommern nicht anders als im hoch indus-trialisierten Ruhrgebiet oder in Westsachsen.627

Die Landagitation der Partei beschränkte sich zu Anfang der 1920er Jahre auf den engeren Kreis der Mitarbeiter der früh gegründeten Landabteilung der Zentrale. Schon auf dem 3. Parteitag im Februar 1920 hatte der spätere Leiter

627 Pyta: Dorfgemeinschaft, S. 282.

5 Die politische Praxis der Partei 345

der Landabteilung, Emil Unfried, dazu aufgerufen, in den Bezirken einzelne Ge-nossen für die Landarbeit zu bestimmen, die sonntags aufs Land heraus gehen sollten. In seinem Referat über die Landagitation auf dem 4. Parteitag im April 1920 konstatierte der in diesen Fragen ebenfalls sehr engagierte Edwin Hoernle eine „erschreckende Gleichgültigkeit unserer Partei gegenüber der Frage der Landarbeiter und Bauern“:

„Es hat sich gezeigt, daß die Bezirke und die ganzen Parteigenossen, die in der Indus-triearbeiterschaft aufgewachsen und tätig gewesen sind, die Bedeutung der Landagitati-on gar nicht in dem Maße begriffen haben, wie es notwendig ist. Und vielfach fehlt den Genossen aus Industriegebieten die Möglichkeit, sich mit Bauern auseinanderzusetzen. Sie können meistens gar nicht die Sprache reden, die die Bauern verstehen.“

Auf dem 5. Parteitag im November 1920 wies Unfried erneut auf die Notwen-digkeit der Landpropaganda hin, die angeblich jeder Genosse theoretisch er-kannt habe. Er kritisierte weiterhin, dass der Beschluss des 4. Parteitags, dass je-der Bezirk und jede Ortsgruppe Landvertrauensleute zu wählen haben, bisher of-fenbar nicht umgesetzt worden ist. Fast schon ein Verzweiflungsschritt war sein Antrag, die Genossen dadurch von ihrer rein proletarischen Orientierung abzu-bringen, dass jede Ortsgruppe gezwungen werden sollte, mindestens je 2 Exem-plare der einschlägigen Organe „Kommunistischer Landarbeiter“ und „Pflug“ zu abonnieren.628

An diesem Zustand der Landagitation der Partei änderte sich bis 1924 nur wenig. Auf dem 7. Parteitag im August 1921 kritisierte Hoernle, dass in den Be-zirken massenhaft Material zur Landpropaganda liege, das nicht in die Orts-gruppen herausgebracht werden konnte, und stellte fest, dass die Landarbeit der Partei kaum Erfolge aufzuweisen habe. Auf der Sitzung des Bezirksausschusses Westsachsen am 21. Mai 1922 berichtete die Landabteilung der BL von ihren Problemen mit der „schiefen Einstellung unserer Genossen: ,Industrieproletariat ist Träger der Bewegung‘“. Und im Bericht der Landabteilung der Zentrale an den 8. Parteitag im Januar 1923 wird angemerkt, dass ein Großteil der Bezirke es habe „an systematischer Landpropaganda fehlen lassen“, was vor allem daran läge, dass viele Genossen die Agrarfrage als eine „Frage von untergeordneter Bedeutung“ betrachteten.629

Erst mit dem Jahr 1924 kam Bewegung in die Sache, was in erster Linie an der Gründung des Roten Frontkämpferbundes lag, dessen Mitglieder sich in besonderer Weise der Landagitation annahmen. Gleichzeitig wurde der so ge-nannte „Rote Landsonntag“ eingeführt - mehr oder weniger regelmäßig durch-geführte gemeinsame Ausfahrten in die Dörfer, wo die Genossen dann aus-schwärmten und ihr Agitationsmaterial verteilten und Demonstrationen veran-stalteten. Das Material aus dieser Zeit ist wieder einmal so reichhaltig, dass ich die Entwicklung der Landagitation bezirksweise nachzeichnen kann.628 Bericht 3. Parteitag, S. 48. Bericht 4. Parteitag, S. 78 und S. 86. Bericht 5. Parteitag, S. 51f.629 Bericht 7. Parteitag, S. 298. SAPMO-BArch RY1/I3/10/111, Bl. 1. Bericht 8. Parteitag, 76.

346 5.2 Der politische Parteialltag

Berlin-BrandenburgDie Leitung des Verwaltungsbezirks Mitte stellte im ihrem Bericht über das erste Halbjahr 1926 fest, dass es Schwierigkeiten gebe, die Bearbeitung des durch die BL zugewiesenen Landkreises Templin kontinuierlich zu finanzieren: „Gewiß darf nicht verkannt werden, daß es vielen Betriebszellen nicht möglich ist, infolge der weiten Entfernung die dazu notwendigen Fahrgelder aufzu-bringen.“ Auf den gleichen Punkt wies auf der Sitzung der engeren BL am 8. Oktober 1926 auch der Orgleiter des Bezirks, Hans Pfeiffer, hin: „Unsere fi-nanziellen Mittel erlauben es uns nur, einen kleinen Kreis von Genossen zum Roten Landsonntag in die Provinz zu senden.“ In ihrem Rundschreiben vom 27. September 1926 rüffelte die BL die Verwaltungsbezirks- und Ortsgruppen-leitungen für ihre schlechte Vorbereitung des letzten Landsonntags am 12. Sep-tember 1926, der dadurch nur wenig erfolgreich war.630

Anfang 1927 gab es wieder einmal Signale des Aufbruchs seitens der BL. In ihrem Rundschreiben vom 24. Januar 1927 schrieb sie, dass die Landpropaganda jetzt zum Dauerzustand werden soll. Die Landsonntage würden wegfallen, statt dessen sollten die Mitglieder der Verwaltungsbezirke, Zellen und Ortsgruppen die ihnen zugeteilten ländlichen Gebiete einmal im Monat besuchen. Dieses an-spruchsvolle Programm ist wahrscheinlich nie in der geplanten Regelmäßigkeit durchgeführt worden. Die Finanzierung der Ausflüge lag weiterhin bei den Ge-nossen, die angesichts ihrer unverändert hyperproletarischen Einstellung nicht einsahen, ihre Beitragsgroschen für etwas aus ihrer Sicht so Überflüssiges wie die Landagitation zu verschwenden. Der kritische Beitrag eines Genossen Jensch aus Frankfurt/Oder auf dem Bezirksparteitag am 16./17. März 1929 macht deutlich, dass auch die Patenschaften, wenn sie nicht ernst genommen wurden, kein Königsweg waren. Seiner Ansicht beschränkte sich die Landarbeit der Genossen aus Berlin weiterhin auf die Roten Landsonntage. Die Umstruktu-rierung des Bezirks im Dezember 1929 - jeweils mehrere benachbarte Verwaltungsbezirke wurden mit den angrenzenden Landbezirken zusammenge-schlossen (vgl. Abschnitt 2.2.1) - sollte nicht zuletzt die Landagitation einen großen Schritt voran bringen. Über die Ergebnisse dieser Strukturreform liegen außer dem Protokoll der Sitzung der Betriebskommission des Unterbezirks mit der Straßenzelle 1715 vom 26. Juni 1931 kaum Quellen vor. Dort heißt es: „Die Landbearbeitung ist bis jetzt sehr mangelhaft organisiert. Die Zelle hat die Ge-biete Garzien, Garzan und Hasenhorst zu bearbeiten. Bis jetzt ist immer nur der Landobmann allein hinausgefahren u. hat versucht, Literatur umzusetzen.“ Dies dürfte auch die Vorgehensweise der meisten Zellen gewesen sein. Schließlich hatte sich an der proletarischen Einstellung der Genossen zum Dorf kaum etwas

630 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/30, Bl. 54. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/18, Bl. 497. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/28, Bl. 67.

5 Die politische Praxis der Partei 347

geändert, und das Finanzierungsproblem war durch die hohe Arbeitslosigkeit eher größer als kleiner geworden.631

RuhrgebietAus diesem Bezirk liegen nur sehr wenige Dokumente über die Landagitation vor. Das lag neben der Zusammensetzung der Mitgliedschaft wohl auch an der Geografie des Bezirks und der agrarischen Struktur der ländlichen Gebiete im Revier: Zwar lagen auch zwischen den Großstädten des Reviers einige Klein- und Mittelbauernhöfe, doch die wichtigsten landwirtschaftlich geprägten Ge-biete lagen am nördlichen, nordöstlichen und westlichen Rand des Ruhrgebiets, im Münsterland, in Ostwestfalen und am Niederrhein. Die Landagitation war da-her hier wie in Berlin mit hohen Fahrtkosten verbunden. Der erste Bericht der BL, der auch auf die Landagitation einging, stammt vom 13. März 1926. Diese scheint wenig erfolgreich gewesen zu sein, was der Autor auf die bekannte Tat-sache der urban-proletarischen Erfahrungen und Orientierung der Genossen zu-rückführte: „Es kommt auch vielfach daher, weil unsere Genossen aus dem In-dustriegebiet nicht die richtigen Methoden kennen, die man anwenden muß, um in den Kreisen der Bauern Boden zu gewinnen.“ Erst im Sommer 1929 konnte die BL melden, dass sie als Unterabteilung der Orgabteilung eine Landabteilung eingerichtet habe, da der Bezirk durch den Anschluss des Unterbezirks Bielefeld, der 1921 an den Bezirk Niedersachsen abgegeben worden war, nun auch größere agrarische Gebiete zu betreuen hatte. Wie es insgesamt um die Strukturen der Landagitation im Bezirk stand, zeigen die Zahlen der Reichskon-trolle von 1929 über die Funktionäre der 114 Ortsgruppen des Bezirks. Von diesen waren zwar 104 Org- und 87 Gewerkschaftsleiter, aber nur ganze sieben Landobleute.632

WestsachsenEine erste nüchterne Bilanz der Roten Landsonntage zog die BL Westsachsen in ihrem Bericht für den April 1925. In diesem Bezirk wurde nach Versuchen im Jahr 1924 die ersten regulären Landsonntage am 22. März und am 19. April 1924 durchgeführt. Dabei war es am 22. März zu Differenzen mit dem RFB ge-kommen, der parallel seine eigene Landagitation betrieben hatte. Die Zahl der Teilnehmer an den Landsonntagen bezifferte die BL auf 400 im Jahr 1924. Sie sei dann auf 600 am 22. März 1925 und 1.100 am 19. April 1925 angestiegen. Gemessen an der Zahl der abgerechneten Mitgliedschaft im Bezirk von 10.215 (November 1924) hatten sich 1924 knapp vier, am 22. März 1925 gut sechs und am 19. April 1925 knapp elf Prozent der Mitglieder beteiligt. Die Dokumente

631 SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/28, Bl. 110. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/8, Bl. 416. SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/54, Bl. 14.632 SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/11, Bl. 92. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/28, Bl. 161. SAPMO-BArch RY1/I3/18-19/29, Bl. 87.

348 5.2 Der politische Parteialltag

zur Landarbeit der Genossen aus Westsachsen sind leider genauso spärlich wie wohl auch die Beteiligung an der Landagitation selbst. Dass es schon an der Spitze des Bezirks an entsprechenden Einrichtungen fehlte, belegt der Jahresbe-richt der Gewerkschaftsabteilung der BL vom April 1929, wonach der Aufbaus einer Landabteilung der BL bislang immer wieder gescheitert sei. Was das für die Arbeit der Basis bedeutete, die ja oft genug nur auf Initiative der Leiter der BL-Abteilungen in Gang kamen, kann man sich lebhaft vorstellen. Die unzurei-chende Landagitation der westsächsischen Partei war der Grund dafür, am 21. September 1929 eine Bezirksfunktionärkonferenz zu diesem Thema einzube-rufen. Ernüchterung kam schon auf, da nur 13 der 100 eingeladenen Genossen erschienen waren. Eingeladen hatte ein Genosse Gothe, der wohl seit kurzem Landobmann der BL war. Da er in Dessau arbeitete und nur am Wochenende nach Leipzig kommen konnte, war seine Berufung kaum mehr als symbolischer Auftakt zum Aufbau einer Landabteilung. Gothe kritisierte die äußerst mangel-hafte Beachtung, die seinen Anweisungen bisher geschenkt wurde, und stellte fest: „An der Landagitation, die bisher periodisch durchgeführt wurde, beteilig-ten sich nur wenige Genossen.“ Ein Teilnehmer namens Albrecht, offenbar Lei-ter einer Leipziger Stadtteilgruppe, konnte das aus eigenen Erfahrungen nur un-terstreichen: „Auch die letzten Roten Landsonntage konnten wegen Nichtbeteili-gung der Mitglieder nicht durchgeführt werden. Gewöhnlich stand ich mit meinem Material allein am Bahnhof und die Mitglieder der Stadtteile hatten mich vollständig verlassen.“ Ein Genosse Döring aus Grimma wies auf die Folgen des Verbots des RFB vom Mai 1929 hin, der immerhin die Hauptlast der Landagitation getragen hätte, und meinte, seitdem wäre „die Partei überhaupt nicht mehr auf das Land gekommen.“ Die Parteimitglieder hatten sich während der Phase zwischen 1924 und 1929 daran gewöhnt, dass ihnen der RFB die un-angenehme Landagitation abnahm, und hatten offenbar aus dem RFB-Verbot keine Schlüsse gezogen. Das lag vielleicht daran, dass das Problem der rein pro-letarischen Identität und Orientierung der Genossen in Westsachsen noch ausge-prägter war als in anderen Bezirken.633

PommernAuch im agrarischen Bezirk Pommern war die Sozialstruktur der Partei urban und proletarisch geprägt. Die kommunistischen Industriearbeiter, wenn auch zu-meist erst in der zweiten Generation Arbeiter, brachten kaum mehr Verständnis für die Landpropaganda auf, als etwa ihre Kollegen in den Stahlwerken des Ruhrgebiets. Eine Landarbeiterbewegung in nennenswertem Maße, auf die sich die Partei vor Ort hätte stützen können, existierte ohnehin nicht. Sie war nach dem kurzen Aufschwung in der nachrevolutionären Phase 1918/19 schnell wieder eingeschlafen.

633 Bericht BL Westsachsen, S. 10. SAPMO-BArch RY1/I3/10/116, Bl. 625. SAPMO-BArch RY1/I3/10/114, Bl. 653.

5 Die politische Praxis der Partei 349

Obwohl auch die Genossen im agrarischen Bezirk Pommern die Landagitati-on lange vernachlässigt hatten, kam es, nachdem sich der RFB der Sache ange-nommen hatte, schnell zu Friktionen und Eifersüchteleien zwischen den beiden Organisationen wegen der Durchführung der Landsonntage. In ihrem Rund-schreiben vom 19. November 1926 ging die BL darauf ein, und beschrieb im Anschluss daran, welche Fehler die Genossen bei den Landsonntagen außerdem machten: „Beim R.F.B. ist die leider auch von unseren Genossen unterstützte Tendenz vorhanden, die Landsonntage als große rote Tage oder Propagandaaus-märsche für den R.F.B. zu betreiben. Das ist falsch.“ Ebenso falsch sei es, am einen Ende ins Dorf hinein und am anderen wieder heraus zu marschieren, ohne irgendeinen Bewohner persönlich agitiert zu haben. Die Effekte einer derart martialischen Öffentlichkeitsarbeit dürften begrenzt gewesen sein.634

Auf der Sitzung der erweiterten BL am 3. Juli 1927 kam es wieder einmal zu einer Diskussion über die Landarbeit der Partei im Bezirk, die bisher zu schwach gewesen sei. Bemängelt wurde weiterhin das Nichtvorhandensein von Landabteilungen bei den Unterbezirken und Ortsgruppen. Am 20. Februar 1928 erfuhren die beiden Ortsgruppen Lauenburg und Tempelburg seltenes Lob sei-tens des Agitpropleiters der BL, Hermann Jacobs, der ihnen in einem Schreiben an das ZK eine ausgezeichnete Landpropaganda bescheinigte. Dennoch fiel das Fazit, das Polleiter Strötzel angesichts der Ergebnisse der Reichstagswahlen auf der Sitzung der engeren BL am 22. Mai 1928 zog, wieder negativ aus: „Die Arbeit konnte nicht genügend auf das Land hinausgetragen werden, weil der Partei in den 28 Kreisen Pommerns Stützpunkte fehlten.“ Und Ende November 1929 musste der ZK-Instrukteur Gustl Meier feststellen, dass die Landsonntage in den letzten Monaten wohl nur in der Umgebung Stettins durchgeführt worden waren. All die Bemühungen auch seitens des ZK, seine sachgebundenen Sub-ventionen für die Landarbeit der BL und die Instruktionsbesuche von Mitarbei-tern der Landabteilung des ZK hatten nur wenig bis gar nichts am Desinteresse der proletarischen Mitglieder an der Landagitation geändert.635

OberschlesienAuch der oberschlesische Bezirk war ähnlich wie das Ruhrgebiet terra incognita in Sachen Landagitation. Und doch gab es einen wichtigen Unterschied: zwar lebten die Mitglieder in den wenigen urban-industriellen Zentren - zwei Drittel der Mitglieder von 1925 kamen aus den drei Großstädten Hindenburg, Gleiwitz und Beuthen - doch war die oberschlesische Landwirtschaft im Unterschied zu der im Ruhrgebiet vorwiegend großagrarisch geprägt, und damit waren im Prinzip ausreichend Landarbeiter zur Agitation vorhanden. Aber auch hier ge-hörte ein großer Teil der kommunistischen Arbeiter schon in der zweiten oder

634 SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 129. SAPMO-BArch RY1/I3/3/21, Bl. 178.635 SAPMO-BArch RY1/I3/3/14, Bl. 89. SAPMO-BArch RY1/I3/3/20, Bl. 130. SAPMO-BArch RY1/I3/3/14, Bl. 187. SAPMO-BArch RY1/I3/3/18, Bl. 52.

350 5.2 Der politische Parteialltag

dritten Generation zum Proletariat. Selbst im überwiegend agrarischen Unterbe-zirk Oppeln, schrieb ZK-Instrukteur Arthur Vogt am 8. Dezember 1927, sei kein einziger Landarbeiter unter den Genossen.636

Auch in Oberschlesien begannen die Probleme mit der Landagitation oben an der Spitze. Im Februar 1927 wurde wieder einmal ein Anlauf zur Einrichtung einer Landabteilung der BL gemacht. Vorherige Versuche wären laut Aussage von BL-Mitglied Tunkel auf der Sitzung der BL am 23. Februar 1927 fehlge-schlagen, da sie nicht die Bedingungen des ZK erfüllten, wonach der Leiter der Landabteilung Mitglied der BL sein und am Bezirksvorort wohnen muss. Nun verfiel man auf die Idee, den Leiter der Abteilung Kommunalpolitik, Georg Zia-ja, auch mit der Führung der Landabteilung zu beauftragen. Den formalen An-forderungen war damit Genüge getan. Tunkel wies außerdem darauf hin, dass die oberschlesischen Landarbeiter kaum organisiert und kaum zu Streiks zu mo-bilisieren seien. Ein Vierteljahr später, auf der BL-Sitzung am 29. Mai 1927 stellte Tunkel fest, dass die Landabteilung der BL teilweise nur auf dem Papier existiere, und dass außerdem die gewählten Landkommissionen in Oppeln, Neustadt, Ratibor und Cosel inaktiv seien. Daher erklärt sich auch der folgenden Passus im Bericht des ZK-Mitarbeiters Peter Maslowski über seine Anti-Zentrumsveranstaltungen in Oberschlesien, die er dort zwischen dem 10. und dem 21. August 1927 durchgeführt hatte: „Irgendwelche Verbindungen unserer Genossen mit den Landarbeitern habe ich nicht feststellen können.“637

636 SAPMO-BArch RY1/I3/6/12, Bl. 85. 637 SAPMO-BArch RY1/I3/6/8, Bl. 15. SAPMO-BArch RY1/I3/6/9, Bl. 65. SAPMO-BArch RY1/I3/6/12, Bl. 65.

5 Die politische Praxis der Partei 351

„Solange die Löwen nicht ihre eigenen Historiker haben, werden die Jagdgeschichten weiterhin den Jäger verherrlichen.“638

6. ResümeeDas Problem der Kooperation gehört seit ihrer Begründung zu den bedeu-tendsten Forschungsfeldern der Soziologie. Warum überhaupt, wird gefragt, tun sich Menschen zusammen,um bestimmte Ziele zu erreichen? Auf welche Weise tun sie dies und welche Formen wählen sie dafür? Und wie schaffen sie es, ihre zumeist begrenzten Bündnisse überhaupt am Leben zu erhalten?

In der historischen Kommunismusforschung wurden solche Fragen nicht als relevant erachtet. Die ‚Altvorderen‘ der ost- wie westdeutschen KPD-Forschung setzten in ihrer gemeinsamen Ignoranz soziologischer Forschung eine funktionierende Kooperation der Angehörigen der Kommunistischen Partei Deutschlands in der Weimarer Republik immer einfach voraus. In ihren Schrif-ten dominiert daher die autoritäre Idylle der reinen Herrschaft der Funktionäre über ein Heer von Automaten. Doch dieses Bild hat mit dem realen Leben nichts gemein.

Auch die Führung der KPD ist damals bei ihrem Versuch gescheitert, die durchschnittlich immer mehr als einhunderttausend Mitglieder mitsamt ihren Eigenschaften, Fähigkeiten, Bedürfnissen und Interessen auf eine Hand voll ideologisch kompatibler Motive und Handlungen zu reduzieren. Die KPD war eine Organisation von Menschen, die sozial und kulturell ganz fest in ihrer Gesellschaft und ihrer Zeit verankert waren, und hatte - wie jede Organisation - mit vielen, zum Teil ganz banalen Alltagsproblemen zu kämpfen, die in keinem Werk der Klassiker des Marxismus-Leninismus beschrieben worden waren.

Hinter einer bombastischen propagandistischen Fassade, an der die hauptamt-lichen Parteiredakteure sowie ein großer Teil der führenden Funktionäre un-ablässig arbeiteten, entpuppt sich die KPD, soziologisch betrachtet, als eine völ-lig normale Partei - was nicht notwendig bedeutet, dass sie auch eine demokra-tische Partei war. Ein bolschewistischer ‚Mehrwert‘ im Vergleich mit den heu-tigen Parteien lässt sich bestenfalls beim Mitgliederengagement ausmachen. Schaut man nur nahe genug hin, zeigt sich ein nur schwer zu bändigendes Durcheinander divergierender Interessen und konfliktträchtiger Beziehungen, das kaum Ähnlichkeiten mit der von Lenin in „Was tun?“ beschriebenen Partei hatte. Die KPD musste daher - auch darin zeigt sich ihre ‚Normalität‘ - erhebli-che Energie und einen erheblichen Teil ihrer Ressourcen in die nichtinhaltliche organisationsinterne Arbeit stecken.

638 Afrikanisches Sprichwort (nach Eduardo Galeano)

352 6. Resümee

Dennoch funktionierte diese Partei in vielen Bereichen zumindest befriedigend - auch das wird in dieser Untersuchung deutlich. Beschlüsse wurden umgesetzt, Betriebszellen gegründet, Mitglieder geworben, Beiträge gezahlt und Gelder ge-sammelt, Demonstrationen durchgeführt, Feiern vorbereitet und abgehalten, Parteizeitungen gelesen, Schulungsveranstaltungen besucht und Gewerkschafts-fraktionen gegründet - wenn auch all diese Aktivitäten nie in einem Maße ausge-übt wurden, welches die Ansprüche der Parteiführung hätte befriedigen können.

In manchen Bereichen funktionierte die KPD sogar außerordentlich gut. Dieter Ohr hat in seiner Untersuchung über die Wirkung nationalsozialistischer Wahlpropaganda gezeigt, dass rein von der Zahl der Veranstaltungen her die KPD in den Jahren 1931 und 1932 (im Untersuchungsgebiet Südhessen, aber si-cher nicht nur dort) knapp den zweiten Platz hinter der NSDAP hielt, weit vor allen anderen Parteien, sogar vor der dreimal größeren SPD. Und die Studie von Marie-Luise Ehls über Demonstrationen in Berlin zeigt Monat für Monat die schiere Präsenz der Berliner Kommunisten auf der Straße.639

Wie ist nun dieser (scheinbare) Widerspruch einer nahezu chaotischen Organisa-tion, die dennoch in vielen Bereichen recht gut bis beachtlich funktioniert, auf-zulösen?

Viel zur Wahrnehmung der KPD als chaotische Organisation tragen die oft völlig überzogenen Ansprüche der Parteiführung bei. So gut wie keines der je-mals aufgestellten und oft sehr ambitionierten Ziele der Parteiführung wurde an-nähernd oder gar vollständig erreicht. Hinzu kam die verzerrte Wahrnehmung der Basis durch die hauptamtlichen Funktionäre, die ja schließlich die Quellen, auf denen Untersuchungen wie diese basieren, produziert haben.

Ob sich die Weimarer KPD eher als eine „lose verkoppelte Anarchie“ oder als eine „disziplinierte Partei mit zentralisierter Befehlsgewalt“ präsentiert, liegt je-denfalls zum Teil an der Betrachtungsweise. Aus der Vogelperspektive einer po-litischen Ereignisgeschichte erhält man ein virtuelles Gebilde mit klaren Struk-turen, exakt definierten Weisungsbefugnissen und gut funktionierenden Befehls-empfängern. Von den Graswurzeln her betrachtet, zeigen sich immer wieder die gleichen widerspenstigen Strukturen und Akteure und sind Widersprüche, Hemmnisse und Rückschläge an der Tagesordnung.640

* * *

Von fundamentaler Bedeutung für die Organisationsgeschichte der Weimarer KPD war die Beziehung zwischen der Parteiführung und der Basis. Wie ich ge-

639 Dieter Ohr: Nationalsozialistische Propaganda und Weimarer Wahlen. Empirische Analy-sen zur Wirkung von NSDAP-Versammlungen, Opladen1997, S. 112. Ehls: Protest.640 Peter Lösche: „Lose verkoppelte Anarchie“. Zur aktuellen Situation von Volksparteien am Beispiel der SPD, in: APuZ B 43/1993, S. 34-45. Weber: Wandlung I, S. 8.

6. Resümee 353

zeigt habe, gehörten etwa dreißig bis vierzig Prozent der Parteimitglieder zu den mehr oder weniger regelmäßig aktiven Genossen, von denen wohl etwas mehr als die Hälfte auch zumeist gleich mehrere Funktionen innehatten. Hinzu kamen vielleicht maximal noch einmal dreißig Prozent der Mitglieder, die sich biswei-len an Demonstrationen oder anderen herausragenden Aktivitäten der KPD be-teiligten.

Ein Grundproblem im Verhältnis zwischen diesen ‚einfachen‘ Mitgliedern und den professionellen Angehörigen der Parteispitze war das geringe Bildungs-niveau der meisten Genossen. Die wenigsten von ihnen waren intellektuell dazu in der Lage, innerhalb des kommunistischen Spektrums einen eigenen poli-tischen Standpunkt einzunehmen. Die von Flechtheim, Weber und Winkler so arg strapazierten Fraktionskämpfe gingen nicht zuletzt deswegen an den meisten KPD-Mitgliedern beinahe völlig vorbei.

Es lassen sich aber gewisse Mitgliedergruppen nach ihrer Haltung zur Partei-führung unterscheiden. Einem Gutteil der Genossen war die Partei so sehr Heimat und/oder Gewähr der eigenen proletarischen Würde, dass sie jeder Parteiführung nahezu blindlings vertrauten. Ein weiterer Teil der Mitgliedschaft orientierte sich inhaltlich an lokalen oder regionalen Führungspersönlichkeiten; eine persönliche Loyalität, die, wie wir wissen, bis zum gemeinschaftlichen Parteiwechsel führen konnte. Wieder andere Mitglieder verließen sich in inner-parteilichen Konfliktsituationen auf ihren ‚proletarischen Instinkt‘, auf ihre früh verinnerlichten Werte, unter denen die Gerechtigkeit eine herausragende Stel-lung einnahm. Ein Verstoß der Parteiführung gegen diese „moral economy“ der Genossen konnte zu heftigen emotionalen Reaktionen führen, bis hin zum Zer-reißen des Parteibuchs oder zu physischen Attacken auf Funktionäre. Bleibt noch die kleine Gruppe von Mitgliedern, die sich so intensiv mit den innerpar-teilichen Diskussionsthemen auseinander setzten, dass sie sich selbst als Anhänger bestimmter Parteiflügel oder Richtungsgruppen definieren konnten. Sie waren am leichtesten zu mobilisieren, wenn die Richtungsgruppe, mit der sie sich identifizierten, in der Parteiführung einflussreich war.641

Damit die KPD im politischen Alltagsgeschäft funktionierte, musste die Parteiführung für jede einzelne Tätigkeit ein Mindestmaß an Mitgliedern mo-bilisieren, das sich nicht notwendig aus den immer gleichen Genossen rekru-tieren ließ. Einem ähnlich großen Anteil der Mitglieder musste das Vorhaben der Parteiführung zumindest legitim sein. In welchem Ausmaß jeweils dies ge-lang, habe ich versucht anhand der überhaupt erstmals näher untersuchten Mit-gliederbeteiligung zu erforschen. Sicher ist es interessant und selbstverständlich auch legitim, die Urheberschaft und Durchführung einzelner herausragender po-litischer Ereignisse genauer zu überprüfen, wie es die einem politikgeschichtli-chen Ansatz verpflichtete KPD-Forschung viele Jahre lang vorrangig getan hat, 641 Vgl. Moore: Ungerechtigkeit. Vgl. Edward P. Thompson: Die „sittliche Ökonomie“ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: Detlev Puls (Hg.): Wahrnehmungsformen und Protestverhalten, Frankfurt am Main 1979, S. 13-80.

354 6. Resümee

darüber sollten aber nicht die Bedingungen einer Umsetzung vernachlässigt werden, wie es ebenfalls lange Zeit geschehen ist.

Neben den unterschiedlichen Motivlagen unterschiedlich mobilisierbarer Gruppen von Mitgliedern spielten die jeweils aktuellen Intentionen der Ge-nossen eine große Rolle im Verhältnis zwischen Basis und Parteiführung. Das Bedürfnis erwerbstätiger Mitglieder, den eigenen Arbeitsplatz zu erhalten, oder das Bedürfnis gewerkschaftlich, sportlich oder kulturell engagierter Genossen, die eigene Gewerkschafts- oder Vereinsmitgliedschaft auch gegen die Parteifüh-rung zu behaupten, führte zu Konfliktmustern, die mitunter quer zu den oben skizzierten lagen.

Die Einstellungen der Mitglieder an der Basis gegenüber der Führung waren also keineswegs eindimensional von Bewunderung und Gehorsam geprägt; sie reichten von unkritischer Bewunderung bis hin zu tätlicher Renitenz. So sehr manche Mitglieder auch dem Ideal des Bolschewiken nachstrebten, so sehr sorg-te doch eine gänzlich ‚unbolschewistische‘ Wirklichkeit immer wieder dafür, dass sie - wenn vielleicht auch ‚nur‘ faktisch - wieder auf den Boden der Tatsa-chen zurückfanden. Die verschiedenen Parteiführungen bemühten sich zwar nach Kräften, die objektiven Bedingungen kommunistischer Parteiarbeit in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft zu ignorieren oder Konzessionen an sie gar als Erzübel Opportunismus zu denunzieren, konnten dennoch nichts an der Tatsache selbst ändern.

Der mit Ausnahme von Honoratiorenvereinigungen bei allen modernen Parteien auftretende Widerspruch zwischen Chaos und Effizienz hat eine Wurzel im Pro-blem der Partizipation. Um Menschen dazu zu motivieren, sich unaufhörlich für die Ziele einer Partei einzusetzen - und jede Partei braucht einen Grundstock von Mitgliedern, die bereit sind, sich beständig zu engagieren -, brauchen sie Freiräume, die sie im Sinne ihrer eigenen Interessen und Sichtweisen ausfüllen können.

Die Partizipation der Mitglieder ist darüber hinaus von fundamentaler Bedeu-tung für die Weiterentwicklung der Programmatik und der Politik einer Partei. Ein kleiner Zirkel wie die engere Parteiführung der KPD ist allein nicht dazu in der Lage, all die Impulse aus der sich weiterentwickelnden Gesellschaft auf-zunehmen, um die Parteilinie jeweils akkurat zu justieren - erst recht nicht, wenn ihre Angehörigen sich selbst von vornherein aus ideologischen Gründen von allen möglicherweise dissonanten Informationsmedien abgeschnitten haben.

Die Programmatik und Politik der Partei muss schließlich vor Ort in die Tat umgesetzt werden. Die manchem höheren Funktionär vorschwebenden ‚Kader-Roboter‘ wären dazu nicht in der Lage gewesen, weil der Prozess der Vermitt-lung und Umsetzung notwendig ein kreativer ist. Die Parteilinie muss nämlich lokal so übersetzt und umgeformt werden, dass sie den Menschen im Umfeld sinnvoll erscheint. Die Parteiführung kann das trotz aller Allmachtsfantasien auf Grund der fortschreitenden Spezialisierung in einer Massenpartei wie der KPD

6. Resümee 355

ebenfalls nicht selbst. Auch dazu sind Freiräume und zum selbständigen Denken und Handeln fähige Mitglieder zwingend erforderlich.

Zu ihrem eigenen Vorteil lag es nicht im Ermessen der Zentrale oder des Zentralkomitees der Weimarer KPD, den Mitgliedern der Partei diese Freiräume grundsätzlich zu verweigern. Freiräume - darauf beharren Crozier und Friedberg mit sehr guten Gründen - gibt es immer, selbst in der größten Zwangslage, und die Menschen haben ein evolutionär erworbenes Gespür dafür, sie aufzufinden und zu nutzen.642

* * *

Die ursprünglich von mir angestrebte Form eines Vergleichs von Parteibezirken, die durch die Auswahl möglichst unterschiedlich strukturierter Regionen Hin-weise auf einzelne Faktoren bestimmter Entwicklungen in der Partei hätte liefern sollen, ist leider vor allem aus zwei Gründen gescheitert. Erstens inter-essierten sich die Quellen produzierenden Funktionäre vor allem für Faktoren des Mitgliederverhaltens, die mit ihrer ideologischen Voreingenommenheit kompatibel waren. Zweitens - das haben die erstmals von mir in dieser Form aufbereiteten und ausgebreiteten Ergebnisse der ersten beiden Mitglieder-befragungen deutlich genug gezeigt - unterschieden sich die Parteimitglieder in Berlin, Essen, Stettin, Leipzig oder Gleiwitz sozialstrukturell kaum voneinander. Waren die einen durchschnittlich etwas älter, so waren die anderen in etwas grö-ßerem Maße gelernte Arbeiter; waren die einen noch etwas stärker Mitglieder von Arbeiterfreizeitvereinen, so arbeiteten die anderen in etwas kleineren Be-trieben. Der Großteil der Aktivisten - sei es im Prenzlauer Berg, in Ahlen, Riesa, Greifenhagen oder in Beuthen - bestand aus dreißig- bis vierzigjährigen gewerk-schaftlich organisierten Industriearbeitern.

Dennoch hat die Gegenüberstellung der fünf Parteibezirke Berlin-Branden-burg, Ruhrgebiet, Westsachsen, Pommern und Oberschlesien ihren Nutzen ge-habt. Der Vergleich liefert, gemessen an anderen Verfahrensweisen, immer noch einen Überschuss an Erkenntnis und hilft Übertreibungen und Einseitigkeiten zu vermeiden. In diesem Fall hat diese Methode unter anderem zu einem vertieften Verständnis der Prägung der regionalen Parteiorganisationen durch die Struktur der Region und ihre jeweilige politische Vorgeschichte geführt.

Das alles dominierende Problem des Bezirks Pommern war seine große geo-grafische Ausdehnung und seine gleichzeitig kleine Mitgliedschaft. In der durch diese Ausgangslage verschärften Form werden die Bruchstellen der innerpar-teilichen Kommunikations- und damit die Herrschaftsstrukturen besonders an-schaulich. Deutlicher auch als in jedem anderen Bezirk ist zu erkennen, welcher Aufwand getrieben werden musste, um eine halbwegs reibungslose Anwei-

642 Crozier/Friedberg: Macht, S. 16. Esser: Soziologie, S. 228.

356 6. Resümee

sungskette von ‚oben‘ nach ‚unten‘ zu gewährleisten, und wie viele scheinbar banale Alltagsdinge darauf einwirkten.

Ähnliches gilt für den abgelegenen Bezirk Oberschlesien. Hervorstechendstes Merkmal dieses Bezirks war eine in feudalindustriellen Verhältnissen groß ge-wordene Arbeiterschaft, die bis ins 20. Jahrhundert hinein kaum Berührung mit den Organisationen der Arbeiterbewegung gehabt hatte, und daher offenbar auch kaum von ihrer disziplinierenden Funktion erfasst worden war. Auch die Werte der Arbeiterbewegung waren in diesem Bezirk wesentlich schwächer verankert als in anderen Bezirken. Das Verhalten der oberschlesischen Parteimitglied-schaft war daher immer noch etwas chaotischer und immer noch etwas unbere-chenbarer als das der Genossen in anderen Bezirken. Dennoch war die KPD füh-rende Partei im oberschlesischen Arbeitermilieu, was ihr zu einer personell kaum zu bewältigenden Zahl von Mandaten und Ämtern verhalf.

Beide kleinen Bezirke spielten im Kalkül der Parteiführung kaum eine Rolle. Auch das ist jenseits aller Beteuerungen führender KPD-Funktionäre in der Öf-fentlichkeit organisationspolitische Normalität in einer Welt knapper Ressourcen, die zumindest ein Minimum an Rationalität des Ressourcenein-satzes erzwingt. Wie in allen anderen Organisationen galt auch in der KPD der Zusammenhang zwischen strategischer Bedeutung und Freiräumen. Was die rebellischen Genossen im hinterpommerschen Köslin auch immer ausheckten oder welche sozialdemokratischen Abweichungen sich die Betriebszelle im Eisenbahnausbesserungswerk im oberschlesischen Gleiwitz auch immer zu Schulden kommen ließ, interessierte im Berliner Karl-Liebknecht-Haus norma-lerweise niemanden.

Die beiden großen Bezirke Ruhrgebiet und Westsachsen unterschieden sich in nichts so sehr wie in der Geschichte des jeweiligen Arbeitermilieus. Während das Ruhrgebiet in wenigen Dekaden zur schwerindustriellen Landschaft ge-worden war, in der die Sozialdemokratie nur mühsam Wurzeln geschlagen hatte, gehörte die schon früh industrialisierte Region um Leipzig mit zu den Ge-burtsplätzen der deutschen Arbeiterbewegung. Dieser Unterschied ist in zahl-losen Bereichen der Struktur und Entwicklung der beiden Bezirke mit Händen zu greifen. Die KPD im Ruhrgebiet war nie so exzessiv auf die SPD und ihren linken Flügel fixiert, wie dies für die westsächsische Organisation galt. Ein ge-wisser ‚Ödipus-Komplex‘ der KPD gegenüber der ‚Mutter‘ SPD ist zwar generell nicht zu übersehen. Während die BL Ruhrgebiet aber schon zur Mitte der 1920er Jahre verkünden konnte, die Sozialdemokratie in zahlreichen Groß-städten ausgestochen zu haben, wurde die Fixierung der Funktionäre der west-sächsischen Bezirksleitung auf die linke Sozialdemokratie zur Obsession, was sicher auch an ihrer seit Anfang der 1920er Jahre unverrückbaren Minderheits-position lag. In der dominanten Großstadt Leipzig selbst blieb die KPD ganz un-abhängig von der jeweiligen Linie immer ein Außenseiter, der in beträchtlichem Umfang seine Ressourcen für die Abgrenzung von der dort seit 1918 führenden linken SPD verwendete.

6. Resümee 357

Und schließlich Berlin-Brandenburg. Von besonderem Interesse war hier die Nähe zur Parteiführung. Vom Bezug des Gebäudes im Jahr 1926 an saßen das Zentralkomitee, die Bezirksleitung Berlin-Brandenburg und die Leitung des Verwaltungsbezirks Mitte gemeinsam im Karl-Liebknecht-Haus. Dennoch ist der Tätigkeit der Parteibasis in der Stadt wenig von dieser Nähe der Parteifüh-rung anzumerken. Da wurde auch schon einmal fast ein Emissär des ZK aus einer Versammlung im Wedding hinausgeworfen, da weigerten sich noch 1930 altgediente kommunistische Betriebsräte bei Siemens, die anderthalb Jahre zu-vor beschlossene Linie zu vertreten, da verpuffte der Streikaufruf vom 2. Mai 1929 beinahe wirkungslos. Eine Vorbildfunktion des Bezirks für die anderen Bezirke der Partei, die viele Berliner Funktionäre beanspruchten - schließlich war Berlin ja „nach der Sowjetunion das größte revolutionäre Zentrum der Welt“ -, zeigte sich vor allem darin, dass viele Neuerungen zuerst hier auspro-biert wurden sowie im besonderen Ehrgeiz vieler führender Funktionäre, hervor-ragende Ergebnisse zu liefern. Die statistischen Daten aber etwa über die Bei-tragsleistung, die Versammlungsteilnahme, die Zahl der Gewerkschaftsfrak-tionen, den Organisationsgrad der Mitglieder, die Lektüre der Parteipresse oder - besonders entscheidend - die Zahl der Betriebszellen und der in solchen organisierten Betriebsarbeiter sind allerdings nicht geeignet, das Selbstwunsch-bild vom Musterbezirk zu bestätigen.643

* * *

Was bedeuten die Erkenntnisse aus dieser Studie nun für die Diskussion in der Forschung? Allgemein gilt der schon von Mallmann ermittelte Trend, dass die großen Änderungen der Parteilinie und der Organisationsstrukturen auf dem Weg zu den Basisorganisationen immer stärker verwässert wurden. Die Bol-schewisierung der KPD fand nur auf dem Feld der Propaganda und der Sprache ohne jede Einschränkung statt, also in dem einzigen Bereich, in dem die einfa-chen Mitglieder gar keinen Einfluss hatten. Zweifelsfrei brachten die einzelnen Statutenreformen zwischen 1920 und 1927 ganz wie beabsichtigt der Parteifüh-rung immer größere formale Macht. Das Problem bestand aber nicht in der Selbstausstattung mit immer größerer statutenmäßiger Macht, es lag in der Übertragung dieser formalen Macht in die Sphäre der Praxis, und dies funktionierte in den einzelnen Tätigkeitsbereichen sehr unterschiedlich. So ge-lang es der Parteiführung zum Beispiel allmählich zwischen 1925 und 1930 eine unabhängige Willensbildung der Basis innerhalb der Partei zu unterbinden, in-dem sie unter anderem die Referentenvermittlung vollständig an sich zog und abweichende Auffassungen auf diese Weise unterdrücken konnte.644 Dennoch

643 Genosse 62 auf der BL-Sitzung am 12.5.1929 (SAPMO-BArch RY1/I3/1-2/20, Bl. 271).644 Natürlich konnte sich jeder Genosse außerhalb der Partei weiterhin eine eigene Meinung bilden, so er denn wollte.

358 6. Resümee

gab es bis zum faktischen Parteiverbot 1933 immer genug Mitglieder, die nicht mit dem Standpunkt der Parteiführung übereinstimmten. Diese stimmten entwe-der „mit den Füßen ab“ oder gaben Lippenbekenntnisse zur offiziellen Linie ab, ohne sich in der Praxis weiter darum zu scheren.

Generell lässt sich sagen, dass die Durchsetzungsfähigkeit der Parteiführung in der Mitgliedschaft ausschlaggebend von ihrer Möglichkeit abhing, in den ein-zelnen Tätigkeitsfeldern selbst positiv agieren zu können. Diese Möglichkeit bestand uneingeschränkt in der Parteiführung selbst, etwa bei der Personalpoli-tik, außerdem in den kommunistischen Presseorganen, in der Reichstagsfraktion und wohl auch in den Landtagsfraktionen. In allen anderen entscheidenden poli-tischen Arenen - zum Beispiel den Arbeitervereinen, Gewerkschaften oder Be-trieben - war um 1930 kaum noch ein einzelner hauptamtlicher Funktionär persönlich vertreten. Daher konnte die Parteiführung dort nur indirekt positiv agieren und war dabei grundsätzlich von der Kooperation der jeweils relevanten Mitgliedergruppen abhängig. Dass diese sich ihrer diesbezüglichen Macht be-wusst waren und diese auch zu nutzen wussten, habe ich in vielen Abschnitten dieser Studie zeigen können. Negativ konnte die Parteiführung natürlich überall und jederzeit agieren, also etwa mit ‚organisationspolizeilichen‘ Maßnahmen gegen Abweichler vorgehen. Dies hatte aber immer seinen Preis bis hin zum Einflussverlust oder zu Austrittswellen und war daher vorher gut zu kalkulieren.

Zur Erklärung des Verhaltens der einfachen Mitglieder an der Basis ist der Fraktionsbegriff, der ja in der politikhistorischen Richtung der KPD-Forschung eine sehr große Rolle spielt, auch das sollte hier klar geworden sein, schlicht un-geeignet. Je höher jemand als Funktionär in der Partei aufstieg, desto relevanter waren die Auseinandersetzungen zwischen den Parteiflügeln für ihn. Wovon auch immer sich demgegenüber einfache Kommunisten in ihren Anschauungen und in ihrem Verhalten leiten ließen, die Zahl derjenigen, die eine Vorstellung davon hatten, was welche innerparteiliche Strömung nun gerade aktuell vertrat, war äußerst gering und dürfte selten die Zahl derjenigen erreicht haben, die von den jeweiligen Ausschlusswellen wirklich erfasst worden sind. An der Basis war der Fraktionszusammenhang immer in erster Linie ein Zusammenhang persönli-cher Loyalität mit bestimmten Funktionären ungeachtet auch aller ideologischen Unterschiede. Nicht selten hatten diese persönlichen Beziehungen zwischen einfachen Mitgliedern und strömungsmäßig exponierten Funktionären einen ge-radezu ‚feudalen‘ Charakter. Ein Gewerkschaftsfunktionär wie etwa Heinrich Galm hatte in den acht Jahren seiner Mitgliedschaft in der KPD vielfältige Möglichkeiten gehabt, einzelne Mitglieder persönlich zu unterstützen oder ihnen zu helfen. Dies wurde ihm, als er 1929 ausgeschlossen wurde, in der prole-tarischen Münze Solidarität zurückgegeben, was durchaus kein Einzelfall war.

Der Fraktionsbegriff war dennoch natürlich im wissenssoziologischen Sinne wirksam - „im Moment des Handelns [sind, UE] nur die subjektiven, jeweils real vorliegenden, wenngleich oft ganz und gar falschen, Vorstellungen der Ak-

6. Resümee 359

teure bedeutsam“.645 Wer als Kommunist daran glaubte, dass sich andere Ge-nossen zusammengeschlossen hatten, um die Parteiführung zu übernehmen, für den war die Fraktion eine Realität. Die machtpolitische Manipulation solcher Begriffe in der internen Kommunikation ist aber nicht erst seit den Fällen Mer-ker (1930) und Neumann (1931) überhaupt nicht mehr zu übersehen. An Begrif-fen wie diesem festzuhalten, würde also bedeuten, der verzerrten Selbstwahr-nehmung der kommunistischen Funktionäre nachträglich wissenschaftliche Geltung zuzuschreiben.

Eine Sozialgeschichte der KPD als kulturalistisch angereicherte, soziologisch in-formierte politische Alltagsgeschichte der Partei kann eine klassische ereignis-zentrierte Politikgeschichte ‚von oben‘ nicht vollständig ersetzen. Der politik-zentrierte Ansatz hat dem sozialhistorischen eines ganz klar voraus: die Ereig-nisse und Beschlüsse, die seine Vertreter für zentral halten, werden zumeist durch einschlägige Dokumente belegt, der Ansatz ist anscheinend durch die Quellen erhärtet. Der sozialhistorische Ansatz hat demgegenüber ein grund-legendes Problem: weder im Milieu noch im Prozess der Aushandlung, beides grundlegend mündliche Interaktionen, werden sonderlich viele Dokumente pro-duziert. In diesem Sinne ist der sozialhistorische Ansatz daher tendenziell nicht ‚beweisbar‘. Dies kann aber nur für denjenigen eine generelle Bevorzugung po-litikzentrierter Methoden zur Folge haben, der dem Glauben anhängt, Politik wäre nur das, was im luftleeren Raum der Ablagen und Registraturen seinen Niederschlag findet; und was dort nicht aufgehoben werde (oder werden kann!), sei grundsätzlich auch nicht entscheidungsrelevant. Das Leben fließt auf so viel-fältige Weise in die politische Entscheidungsfindung ein - und sei es nur, dass Politiker im Vorfeld Aufnahme und Umsetzung im Wählervolk und an der Parteibasis kalkulieren müssen -, aber nur ein kleiner Teil davon wird aber auch dokumentarisch festgehalten.

Eine reine Politikgeschichte, so wie sie bisher in diesem Feld betrieben wurde, bleibt aber ohne eine sozialgeschichtliche Ergänzung eine sterile Historie der Parteiführung, die zahlreiche Fragen und einen sehr großen Teil möglicher Erklärungen von vornherein ausblendet, und daher nicht zu einem umfassenden Bild des Untersuchungsobjekts vordringen kann. Reduktion von Komplexität ist eine der vordringlichen Aufgaben der Wissenschaften, aber eine KPD-For-schung die darauf verzichtet, die nun einmal äußerst komplexe und recht schwer zu ermittelnde Einwicklung an der Basis einzubeziehen, reduziert ihren Gegenstand auf eine Karikatur.

Letztlich ist dieser Konflikt über Methoden mit seiner zum Teil völlig diame-tralen Nuancierung der beinahe gleichen Teilaspekte selbstverständlich ein Kon-flikt über Werte, und damit tendenziell wissenschaftlich nicht aufzulösen. Dies wäre nicht weiter schlimm, wenn er nur die Forschung vorantreibt, und damit

645 Esser: Soziologie, S. 63.

360 6. Resümee

unser Wissen über die Weimarer KPD erweitert. Für die nachwievor aus-stehende, auf Basis des erst seit knapp 15 Jahren für eine politisch unvoreinge-nommene Forschung greifbaren Parteiarchivs der KPD und der entsprechenden Dokumente der KI aus dem Russischen Staatsarchiv für sozial-politische Ge-schichte in Moskau geschriebene Gesamtgeschichte der Weimarer KPD wäre zu wünschen, dass sie die Vorzüge beider Ansätze vereint und insbesondere die Parteibezirke stärker in die Untersuchung einbezieht.

7. Quellen- und Literaturverzeichnis 361

7. Quellen- und Literaturverzeichnis7.1 Ungedruckte Quellen

Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin

I2/2 KPD, Zentrale und ZentralkomiteeI2/3 KPD, Politisches BüroI2/4 KPD, OrganisationsabteilungI2/5 KPD, Sekretariat des ZentralkomiteesI2/701 KPD, ZK, Abteilung FrauenI2/703 KPD, ZK, Abteilung Kommunalpolitik/ParlamentI2/704 KPD, ZK, Geschäftsabteilung / Abteilung KasseI2/706 KPD, ZK, Informations-AbteilungI2/707 KPD, ZK, Abteilung Agitation und PropagandaI2/708 KPD, ZK, Abteilung GewerkschaftenI2/710 KPD, ZK, Abteilung SportI3/2 KPD, Bezirk Berlin-Brandenburg(-Lausitz-Grenzmark)I3/3 KPD, Bezirk PommernI3/6 KPD, Bezirk OberschlesienI3/8-10 KPD, Bezirk SachsenI3/10 KPD, Bezirk WestsachsenI3/18-19 KPD, Bezirk RuhrgebietI3/20-21 KPD, Bezirk Rheinland-Westfalen Nord/Süd

Hauptstaatsarchiv DüsseldorfRegierung Düsseldorf

16910 Komm. Bewegung, Generalia16922 Agitprop KPD16929 Komm. Bewegung Stadt Duisburg16934 Komm. Bewegung Essen16940 16951 KPD. Personalien16957 Herausgabe von Zeitungen durch die KPD16958 Zeitungen und Drucksachen-Beschlagnahme16960 Organisation der KPD17146-1714817164-1717517188

362 7.1 Ungedruckte Quellen

1718917190171911720730640a30642a30642b30642c3064330657a-g Kommunistische Partei3067130673b

Staatsarchiv Münster

Regierung Arnsberg

142491445414564

Regierung Münster

VII-22076

7. Quellen- und Literaturverzeichnis 363

7.2 Mehrfach zitierte Gedruckte Quellen

Bericht über den 2. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) vom 20.-24.10.1919 [in Heidelberg], o.O. o.J.Bericht über den 3. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) am 25. und 26. Februar 1920 [in Karlsruhe], o.O. o.J.Bericht über den 4. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) am 14. und 15.4.1920 [in Berlin], Berlin o.J. Bericht über den 5. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale) vom 1. bis 3. November 1920 in Berlin, Berlin 1921Bericht über die Verhandlungen des Vereinigungsparteitags der U.S.P.D. (Linke) und der K.P.D. (Spartakusbund). Abgehalten in Berlin vom 4. bis 7. Dezember 1920, Berlin 1921, nachgedruckt in: Protokolle der Parteitage der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Band 3: 1920, Glashütten im Taunus 1976Bericht über die Verhandlungen des 2. [7.] Parteitags der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Abgehalten in Jena vom 22. bis 26. August 1921, Berlin 1922Bericht über die Verhandlungen des III. (8.) Parteitags der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Abgehalten in Leipzig vom 28. Januar bis 1. Februar 1923, Berlin 1923Bericht über die Verhandlungen des IX. Parteitags der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Abgehalten in Frankfurt am Main vom 7. bis 10. April 1924, Berlin 1924Bericht über die Verhandlungen des X. Parteitags der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Berlin vom 12. bis 17. Juli 1925, Berlin 1926Bericht über die Verhandlungen des XI. Parteitags der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale). Essen vom 2. bis 7. März 1927, Berlin 1927Bericht über die Tätigkeit des Bezirkes Westsachsen der KPD vom 1. April [1924] bis 31. März 1925, Leipzig 1925

Jürgen. W. Falter / Dirk Hänisch: Wahl- und Sozialdaten der Kreise und Gemeinden des Deutschen Reiches von 1920 bis 1933, Datenbank, 1989 Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Dokumente und

364 7.2 Mehrfach zitierte Gedruckte Quellen

Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. VII, 1. Halbbd.: Februar 1919 bis Dezember 1921, Berlin (DDR) 1966Wienand Kaasch: Die soziale Struktur der KPD, in: Die Kommunistische Internationale 9/1928, S. 1050-1067Protokoll der Verhandlungen des 12. Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale), Berlin-Wedding 9. bis 16. Juni 1929, Berlin 1929 ND Frankfurt 1972Hermann Weber (Hg.): Der Gründungsparteitag der KPD. Protokoll und Materialien, Frankfurt 1969

7. Quellen- und Literaturverzeichnis 365

7.3 Mehrfach zitierte Autobiografien und Memoiren

Wolfgang Abendroth: Ein Leben in der Arbeiterbewegung, Gespräche, aufgezeichnet und herausgegeben von B. Dietrich und J. Perels, Frankfurt am Main 1976Alexander Abusch: Der Deckname. Memoiren, Berlin (DDR) 1981Reinhard Andert / Wolfgang Herzberg: Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör, Berlin 1990Hermann Axen: Ich war ein Diener der Partei. Autobiographische Gespräche mit Harald Neubert, Berlin 1996

Max Barthel: Kein Bedarf an Weltgeschichte. Geschichte eines Lebens, Wiesbaden 1950Franz Becker: Vom Berliner Hinterhof zur Storkower Komendantura, Berlin (DDR) 1985Hilde Benjamin: Georg Benjamin. Eine Biographie, Berlin (DDR) 1977Karola Bloch: Aus meinem Leben, Pfullingen 1981Willi Bohn: Einer von Vielen. Ein Leben für Frieden und Freiheit, Frankfurt am Main 1981Margarete Buber-Neumann: Von Potsdam nach Moskau. Stationen eines Irrwegs, Köln 19812

Emil Carlebach: Am Anfang stand ein Doppelmord. Kommunist in Deutschland, Köln 1988Herbert Crüger: Verschwiegene Zeiten. Vom geheimen Apparat der KPD ins Gefängnis der Staatssicherheit, Berlin 1990

Franz Dahlem: Jugendjahre. Vom katholischen Arbeiterjungen zum proletarischen Revolutionär, Berlin (DDR) 1982Helmut Damerius: Über zehn Meere zum Mittelpunkt der Welt - Erinnerungen an die „Kolonne Links“, Berlin (DDR) 1977Willi Dickhut: So war’s damals. Tatsachenbericht eines Solinger Arbeiters 1926-1948, Stuttgart 1979

366 7.3 Mehrfach zitierte Autobiografien und Memoiren

Axel Eggebrecht: Der halbe Weg. Zwischenbilanz einer Epoche, Reinbek 1981Wilhelm Eildermann: Jugend im ersten Weltkrieg. Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, Berlin (DDR) 1972Wilhelm Eildermann: Als Wanderredner der KPD unterwegs. Erinnerungen an die ersten Jahre der KPD 1919-1920, Berlin (DDR) 1977Paul Elflein: Immer noch Kommunist? Erinnerungen, hg. von Rolf Becker und Claus Bremer, Hamburg 1978Max Emendörfer: Rückkehr an die Front. Erlebnisse eines deutschen Antifaschisten, Berlin (DDR) 1972Rudolf Engel: Feinde und Freunde, Berlin (DDR) 1984

Max Faulhaber: „Aufgegeben haben wir nie ...“ Erinnerungen aus einem Leben in der Arbeiterbewegung, Marburg 1988Hans Fladung: Erfahrungen. Vom Kaiserreich zur Bundesrepulik, hg. von Josef Schleifstein, Frankfurt am Main 1986Bruno Frei: Der Papiersäbel. Autobiographie, Frankfurt am Main 1972

Wilhelm Geusendam: Herausforderungen. KJVD - UdSSR - KZ - SPD, Kiel 1985 Curt Geyer: Die Revolutionäre Illusion. Zur Geschichte des linken Flügels der USPD. Erinnerungen von Curt Geyer, hg. von W. Benz/H. Graml, Stuttgart 1976Georg K. Glaser: Geheimnis und Gewalt. Ein Bericht, Reinbek 1994Fritz Globig: ... aber verbunden sind wir mächtig. Aus der Geschichte der Arbeiterjugendbewegung, Berlin (DDR) 1958Babette Groß: Willi Münzenberg, Stuttgart 1967Gottfried Grünberg,: Kumpel, Kämpfer, Kommunist, Berlin (DDR) 1977Karl Grünberg: Episoden, Berlin (DDR) 1980Lea Grundig,: Gesichte und Geschichte, Berlin (DDR) 19603

Robert Havemann: Ein deutscher Kommunist. Rückblicke und Perspektiven aus der Isolation, Hamburg 1978Rolf Helm: Anwalt des Volkes. Erinnerungen, Berlin (DDR) 1978Heinz Hoffmann: Mannheim. Madrid. Moskau, Berlin (DDR) 1981

7. Quellen- und Literaturverzeichnis 367

Karl Jannack: Wir mit der roten Nelke, Bautzen 1959Georg Jungclas 1902-1975. Eine politische Dokumentation. Von der proletarischen Freidenkerjugend im Ersten Weltkrieg zur Linken der siebziger Jahre, Hamburg 1980

Alfred Kantorowicz: Deutsches Tagebuch, 2 Bde., München 1959/1961Arthur Koestler: Als Zeuge der Zeit, Frankfurt am Main 1986Alfred Kurella: Unterwegs zu Lenin. Erinnerungen, Berlin (DDR) 1967

Kurt Langmaack: Ich wählte mein Unglück, Hamburg 1953 Susanne Leonhard: Gestohlenes Leben. Schicksal einer politischen Emigrantin in der Sowjetunion, Stuttgart 1959Theodor Lotz: „... Einschnitte“. Sechzig Jahre mitten mang. Über das Leben des Hamburger Kommunisten Tetje Lotz. Autobiographische Aufzeichnungen, Hamburg 1986

Hede Massing: Die große Täuschung. Geschichte einer Sowjetagentin, Freiburg 1967 Paul Meuter: Lebenserinnerungen eines Solinger Kommunisten, Solingen 1992

Robert Neddermeyer: Es begann in Hamburg. Ein deutscher Kommunist erzählt aus seinem Leben, Berlin (DDR) 1980Albert Norden: Ereignisse und Erlebtes, Berlin (DDR) 1981

Johann Reiners: Erlebt und nicht vergessen. Eine politische Biographie, Fischerhude 1982Bruno Retzlaff-Kresse: Illegalität - Kerker - Exil. Erinnerungen aus dem antifaschistischen Kampf, Berlin (DDR) 1980Karl Retzlaw: Spartakus - Aufstieg und Niedergang. Erinnerungen eines Parteiarbeiters, Frankfurt am Main 1971Trude Richter: Totgesagt. Erinnerungen, Halle/Leipzig 1990

Willy Sägebrecht: Nicht Amboß, sondern Hammer sein. Erinnerungen, Berlin (DDR) 1968

368 7.3 Mehrfach zitierte Autobiografien und Memoiren

Maximilian Scheer: Ein unruhiges Leben. Autobiographie, Berlin (DDR) 1975Karl Schirdewan: Ein Jahrhundert Leben. Erinnerungen und Visionen. Autobiographie, Berlin 1998Fritz Selbmann: Alternative - Bilanz - Credo. Versuch einer Selbstdarstellung, Halle 19692

Karl Siebig: „Ich geh’ mit dem Jahrhundert mit“. Ernst Busch. Eine Dokumentation, Reinbek 1980Manès Sperber: Die Wasserträger Gottes, Frankfurt am Main 1993ders.: Die vergebliche Warnung, Frankfurt am Main 1993ders.: ... bis man mir Scherben auf die Augen legt, München 1983Steffie Spira: Trab der Schaukelpferde. Autobiographie, Freiburg 1991Alfred Spitzer: Neugersdorf - meine zweite Heimat (1925-1933). Erinnerungsbericht, Löbau 1986Rita Sprengel: Der rote Faden. Lebenserinnerungen. Ostpreußen, Weimarer Republik, Ravensbrück, DDR, Die Wende, Berlin 1994Carola Stern: In den Netzen der Erinnerung. Lebensgeschichte zweier Menschen, Reinbek 1989Lucie Suhling: Der unbekannte Widerstand. Erinnerungen, Frankfurt 1980

August Tünnermann: Mein Leben als Kommunist, Sehnde o.J.Ludwig Turek: Ein Prolet erzählt, Frankfurt am Main 1985

Änne Wagner: Gegen den Strom? 3 Bde., Solingen 1988-89Helmuth Warnke: Der verratene Traum. Langenhorn. Das kurze Leben einer Hamburger Arbeitersiedlung, Hamburg 1983 ders.: „Bloß keine Fahnen“. Auskünfte über schwierige Zeiten 1923-1954, Hamburg 1988Heinz Willmann: Steine klopft man mit dem Kopf. Lebenserinnerungen, Berlin (DDR) 1977

7. Quellen- und Literaturverzeichnis 369

7.4 Mehrfach zitierte Literatur

Thomas Adam: Arbeitermilieu und Arbeiterbewegung in Leipzig 1871-1933, Köln 1999Gabriel A. Almond: The Appeals of Communism, Princeton 1954

Frank Bajohr: Zwischen Krupp und Kommune. Sozialdemokratie, Arbeiterschaft und Stadtverwaltung in Essen vor 1914, Essen 1988Simone Barck u.a. (Hg.): Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945, Stuttgart 1994Peter L. Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1980 (zuerst: 1966)Bezirksleitung Berlin der SED (Hg.): Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 2: Von 1917 bis 1945, Berlin (DDR) 1987Richard Bodek: „We Are the Red Megaphone“. Political Music, Agitprop Theater, Everyday Life and Communist Politics in Berlin during the Weimar Republic, Diss., University of Michigan 1990 Manfred Brauneck (Hg.): Die Rote Fahne. Kritik, Theorie, Feuilleton 1918-1933, München 1973

Michel Crozier / Erhard Friedberg: Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns, Königstein 1979

Andreas Engel: Wahlen und Parteien im lokalen Kontext. Eine vergleichende Untersuchung des Basisbezugs lokaler Parteiakteure in 24 nordhessischen Kreisparteiorganisationen von CDU, FDP und SPD, Diss., Bonn 1987Hartmut Esser: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln, Frankfurt am Main 1999Ulrich Eumann: „Kameraden vom roten Tuch.“ Die Weimarer KPD aus der Sicht ehemaliger Mitglieder, in: AGWA 16/2001, S. 97-164Jürgen Falter / Thomas Lindenberger / Siegfried Schumann: Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986Ossip K. Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 19692

370 7.4 Mehrfach zitierte Literatur

H. Fliege: Zur Rezeption der Sowjetliteratur in der KPD-Presse 1919 bis 1933, in: Deutschland-Sowjetunion. Aus fünf Jahrzehnten kultureller Zusammenarbeit, Berlin (DDR) 1966, S. 305-314

Manfred Gailus: „Seid bereit zum Roten Oktober in Deutschland!“ Die Kommunisten, in: D. Lehnert und K. Megerle (Hg.), Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 61-88Winfried Gebhardt: Fest, Feier und Alltag. Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung, Frankfurt am Main 1987Stefan Goch: Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur im Ruhrgebiet 1848-1975, Düsseldorf 1990Hans Graf: Die Entwicklung der Wahlen und politischen Parteien in Groß-Dortmund, Hannover 1958Günter Griep / Alfred Förster / Heinz Siegel: Hermann Duncker - Lehrer dreier Generationen. Ein Lebensbild, Berlin (DDR) 19762

Gert Hagelweide: Das publizistische Erscheinungsbild des Menschen im kommunistischen Lied. Eine Untersuchung zur Liedpolitik der KPD (1919-1933), Bremen 1968Karen Hagemann: Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990Frank Heidenreich: Demokratie und kulturelle Befreiung. Arbeiterkulturbewegung und Sozialdemokratie in Sachsen vor 1933, Weimar 1995Christa Hempel-Küter: Die kommunistische Presse und die Arbeiterkorrespondentenbewegung in der Weimarer Republik. Das Beispiel „Hamburger Volkszeitung“, Frankfurt am Main 1989Beatrix Herlemann: Kommunalpolitik der KPD im Ruhrgebiet, Wuppertal 1977Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917 bis 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998Richard N. Hunt: German Social Democracy 1918-1933, Chicago 1970

Klaus Kinner: Marxistische deutsche Geschichtswissenschaft 1917 bis 1933, Berlin (DDR) 1982

7. Quellen- und Literaturverzeichnis 371

Sigrid Koch-Baumgarten: Aufstand der Avantgarde. Die Märzaktion der KPD, Frankfurt 1986dies.: Eine Wende in der Geschichtsschreibung zur KPD in der Weimarer Republik?, in: IWK 1/1998, S. 82-89Gottfried Korff: Rote Fahnen und Tableaux Vivants. Zum Symbolverständnis der deutschen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, in: Dülmen, Richard van/Norbert Schindler (Hg.): Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags, Frankfurt am Main 1984, S. 103-140Carsten Krinn: Die Schulungsarbeit der KPD in der Weimarer Republik. Kaderbildung zwischen emanzipativem und edukativem Ansatz, MS Tübingen 2003

Inge Lammel: Das Arbeiterlied, Leipzig 1980Annemarie Lange: Berlin in der Weimarer Republik, Berlin (DDR) 1987Vladimir I. Lenin: Werke, 40 Bde., Berlin (DDR), 1955ff.

Klaus-Michael Mallmann: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996Karl Marx / Friedrich Engels: Werke, 39 Bde., Berlin (DDR) 1956ff.Ingo Materna: Die revolutionäre Berliner Arbeiterbewegung 1914 - 1919, die Herausbildung der KPD, Diss., Berlin (DDR) 1984Barrington Moore: Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand, Frankfurt am Main 1982Josef Mooser: Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970, Frankfurt am Main 1984Werner Müller: Lohnkampf, Massenstreik, Sowjetmacht. Ziele und Grenzen der „Revolutionären Gewerkschafts-Opposition“ (RGO) in Deutschland 1928 bis 1933, Köln 1988

Oskar Niedermayer: Innerparteiliche Partizipation, Opladen 1989

Larry Dean Peterson: German communism, workers‘ protest, and labor unions. The politics of the United Front in Rhineland-Westphalia 1920-1924, Amsterdam 1993Werner Plumpe: Betriebliche Mitbestimmung in der Weimarer Republik. Fallstudien zum Ruhrbergbau und zur chemischen Industrie, München 1999

372 7.4 Mehrfach zitierte Literatur

Heinrich Potthoff: Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation, Düsseldorf 1979Wolfram Pyta: Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918-1933. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1996

Eve Rosenhaft: Beating the Fascists? The German Communists and political Violence 1929-1933, Cambridge 1983dies.: The Unemployed in the Neighborhood. Social Dislocation and Political Mobilisation in Germany 1929-33, in: Richard J. Evans und Dick Geary (Hg.), The German Unemployed 1981-1936, London 1986, S. 194-227Rudolph, Karsten: Das Scheitern des Kommunismus im deutschen Oktober 1923, in: IWK 4/1996, S. 484-519ders.: Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik 1871-1923, Weimar u.a. 1995

Leonard Schapiro: Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Frankfurt am Main 1962Ralph Schattkowsky: Zum gemeinsamen Kampf deutscher und polnischer Kommunisten in Oberschlesien im Zeitraum 1918/19 bis 1933, Diss., Rostock 1982Martin Schumacher (Hg.): M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933-1945. Eine biographische Dokumentation, Düsseldorf 1994 3

G. Uebel / J. Rieß: Zur Herausbildung örtlicher Parteiorganisationen der KPD in der ersten Hälfte des Jahres 1919, in: BGA 2/1959, S. 373-385

Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2. Bände, Frankfurt am Main 1969ders.: Hauptfeind Sozialdemokratie. Strategie und Taktik der KPD 1929-1933, Düsseldorf 1982ders. / Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2004

7. Quellen- und Literaturverzeichnis 373

Eric. D. Weitz: Creating German Communism 1890-1990. From Popular Protests to Socialist State, Princeton 1997 Thomas Welskopp: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000Robert F. Wheeler: USPD und Internationale. Sozialistischer Internationalismus in der Zeit der Revolution, Frankfurt 1975Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin 1984ders.: Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Berlin 1986ders.: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin 1987

374 7.4 Mehrfach zitierte Literatur

Abkürzungsverzeichnis 375

AbkürzungsverzeichnisAAB Arbeiter-AthletenbundADGB Allgemeiner Deutscher GewerkschaftsbundAfS Archiv für SozialgeschichteAG ArbeitsgebietAgitprop Agitation und PropagandaAGWA Archiv für die Geschichte des Widerstands und der ArbeitAIZ Arbeiter-Internationale ZeitungAPuZ Aus Politik und ZeitgeschichteARB Arbeiter-Radfahrerbundes „Solidarität“ASB Arbeiter-Samariter-BundATSB Arbeiter-Turn- und SportbundBAV Deutscher Bergarbeiter-VerbandBFG Bund der Freien SchulgesellschaftenBGA Beiträge zur Geschichte der ArbeiterbewegungBGB BaugewerksbundBL BezirksleitungBRG BetriebsrätegesetzBZ BetriebszelleDASB Deutscher Arbeiter-Sänger-BundDEV Deutscher EisenbahnerverbandDHM Deutsches Historisches MuseumDHV Deutscher Holzarbeiter-VerbandDKP Deutsche Kommunistische ParteiDLV Deutscher Landarbeiterverband DMV Deutscher MetallarbeiterverbandDTAV Deutscher TextilarbeiterverbandDTV Deutscher TransportarbeiterverbandDVB Deutscher VerkehrsbundEKKI Exekutivkomitee der Kommunistischen InternationaleEVBD Einheitsverband der Bergarbeiter DeutschlandsFAV Fabrikarbeiter-VerbandGG Geschichte und GesellschaftHStAD Hauptstaatsarchiv DüsseldorfHZ Historische ZeitschriftIAH Internationale ArbeiterhilfeIAV IndustriearbeiterverbandIB Internationaler Bund der Opfer des Krieges und der ArbeitIGB Internationaler GewerkschaftsbundIKD Internationale Kommunisten DeutschlandsInprekorr Internationale Presse-Korrespondenz

376 Abkürzungsverzeichnis

IWK Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Ge-schichte der deutschen ArbeiterbewegungJSB Jung-Spartakusbundk.A. keine AngabenKI Kommunistische InternationaleKJVD Kommunistischer Jugendverband DeutschlandsKPD Kommunistische Partei DeutschlandsKPdSU Kommunistische Partei der SowjetunionKPO/S Kommunistische Partei OberschlesiensKPRP Kommunistische Polnische ArbeiterparteiKzfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und SozialpsychologieM MarkMASCH Marxistische ArbeiterschuleMdR Mitglied des ReichstagsMSPD Mehrheitssozialdemokratische Partei DeutschlandsNDV Neuer Deutscher VerlagNSDAP Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlandso.J. ohne Jahro.O. ohne OrtO/S OberschlesienOG OrtsgruppenOrg-Abteilung OrganisationsabteilungOrgbüro OrganisationsbüroOrgleiter OrganisationsleiterPA Der ParteiarbeiterPGD Proletarischer GesundheitsdienstPolleiter Politischer LeiterPPS Polnische Sozialdemokratische ParteiRF Rote FahneRFB Roter FrontkämpferbundRFMB Roter Frauen- und Mädchen-BundRGI Rote Gewerkschafts-InternationaleRGO Revolutionäre Gewerkschafts-OppositionRGZ Reichs-GewerkschaftstzentraleRHD Rote Hilfe DeutschlandsRJ Rote JungfrontRKP(b) Russische Kommunistische Partei (Bolschewiki)RM ReichsmarkRSDAP Russische Sozialdemokratische ArbeiterparteiSA SturmabteilungSAG Sozialdemokratische ArbeitsgemeinschaftSAPMO-BArch Stiftung Parteien und Massenorganisationen der DDR im

Bundesarchiv

Abkürzungsverzeichnis 377

SED Sozialistische Einheitspartei DeutschlandsSPD Sozialdemokratische Partei DeutschlandsStAM Staatsarchiv MünsterSZ StraßenzelleTVF Turnverein „Fichte“UB UnterbezirkUBL UnterbezirksleitungUdHKA Union der Hand- und KopfarbeiterUSPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei DeutschlandsVB VerwaltungsbezirkVBL VerwaltungsbezirksleitungVFF Verein der Freidenker für FeuerbestattungVfZG Vierteljahrshefte für ZeitgeschichteVGS Verband der in Gemeinde- und Staatsbetrieben beschäftigten

Arbeiter und UnterangestelltenVIVA Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten GmbHVKPD Vereinigte Kommunistische Partei DeutschlandsZdA Zentralverband der AngestelltenZK ZentralkomiteeZPA Zentrales Parteiarchiv

378 Abkürzungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis 379

TabellenverzeichnisTabelle1............................................................................................................... 29Tabelle2............................................................................................................... 40Tabelle3............................................................................................................... 45Tabelle4............................................................................................................... 48Tabelle5............................................................................................................... 52Tabelle6............................................................................................................... 57Tabelle7............................................................................................................... 59Tabelle8............................................................................................................... 62Tabelle9............................................................................................................... 68Tabelle10............................................................................................................. 73Tabelle11............................................................................................................. 76Tabelle12............................................................................................................. 78Tabelle13............................................................................................................. 80Tabelle14........................................................................................................... 140Tabelle15........................................................................................................... 147Tabelle16........................................................................................................... 156Tabelle17........................................................................................................... 160Tabelle18........................................................................................................... 162Tabelle19........................................................................................................... 198Tabelle20........................................................................................................... 199Tabelle21........................................................................................................... 200Tabelle22........................................................................................................... 208Tabelle23........................................................................................................... 209Tabelle24........................................................................................................... 210Tabelle25........................................................................................................... 216Tabelle26........................................................................................................... 219Tabelle27........................................................................................................... 231Tabelle28........................................................................................................... 257Tabelle29........................................................................................................... 260Tabelle30........................................................................................................... 260Tabelle31........................................................................................................... 266Tabelle32........................................................................................................... 267Tabelle33........................................................................................................... 272Tabelle34........................................................................................................... 276Tabelle35........................................................................................................... 284Tabelle36........................................................................................................... 285Tabelle37........................................................................................................... 298Tabelle38........................................................................................................... 313Tabelle39........................................................................................................... 322