Ein Fall von Rückenmarkstumor im oberen Cervikalbereich

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Aus der medizinisehen Universit~tsklinik in Leipzig. (Chefarzt: Geheimrat v. Striimpell.) Ein Fall yon lliickenmarkstumor im oberen Cervikalbereich. Von Dr. Armin Miiller, Assistenzarzt. (Mit 1 Abbildung.) Im folgenden sei ein Fall von Rtickenmarkstumor, der das oberste Cervikalmar k komprimierte, wegen der Eigenttimlichkeit der klinischen Erscheinungen mitgeteilt. Seine Feststellung erfo]gte erst dutch die Obduktion. Frau S., 62iahr. Arbeitersfrau, am 21. II. 1920 in die hiesige Klinik aufgenommen, am 7. VII. 1920 daselbst verstorben. Vorgeschichte: Keinerlei Belastung. ~ie ernstlich krank gewesen, keine ginweise auf Syphilis oder Tuberkulose. -- Mitten aus vSlliger Ge- sundheit heraus ohne jede Prodromi wird Pat. im Juli 1918 plStzlich yon einer Lahmung im rechten Arm und Bein befallen. Kein Bewul~tseins- verlust, keine SpraehstSrungen. Im Laufe des folgenden halben Jahres gingen die Erseheinungen zuriick bis auf eine leiehte Schwgche im reehten ~4~rm, die abet Pat. an tier Verrict}tung ihier ttausarbeit nicht wesentlich hinderte. Im April 1919 f/illt Pat. wahrend tier Arbeit bin; wegen L/ihmung in beiden Beinen kann sie nicht wieder aufstehen. Im Yerlauf der nachsten Wochen tritt eine zunehmende Lghmung beider Arme hinzu. Auch hierbei niemals BewuStseinsver/inderungen oder SprachstSrungen. KeinerIei Schmerzen. Niemals Blasen- oder MastdarmstSrungen. Befund bei der Aufnahme am 21. II. 1920: Xltere Frau in reduziertem Ern/ihrungszustand. Blasse Hautfarbe. Leichter Dekubitus am linken Gesal~. Von seiten der Brust- und Bauchorgane kein abnormer Befund. Keine erhebliche Arteriosklerose. Nervenstatus: Psyche normal. Bewegliehkeit des Kopfes frei. Keinerlei StSrungen yon seiten der Hirnnerven, insbesondere xuch Augen o.B. Keine Bulbgrerscheinungen. -- :Es besteht vSllige Paraplegia su- perior et inferior; Muskulatur der Arme nut wenig, die tier Beine etwas starker hypertonisch. Beiderseits M. deltoideus sowie die tibrige Schulter- muskulatur stark atrophisch, ebenso erscheinen auch Thenar, Hypothenar, die Interossei sowie die Streckmuskeln des Vorderarms besonders ab-

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Aus der medizinisehen Universit~tsklinik in Leipzig. (Chefarzt: Geheimrat v. S t r i impel l . )

Ein Fall yon lliickenmarkstumor im oberen Cervikalbereich. Von

Dr. Armin Miiller, Assistenzarzt.

(Mit 1 Abbildung.)

Im folgenden sei ein Fall von Rtickenmarkstumor, der das oberste Cervikalmar k komprimierte, wegen der Eigenttimlichkeit der klinischen Erscheinungen mitgeteilt. Seine Feststellung erfo]gte erst dutch die Obduktion.

Frau S., 62iahr. Arbeitersfrau, am 21. II. 1920 in die hiesige Klinik aufgenommen, am 7. VII. 1920 daselbst verstorben.

Vorgesch ich te : Keinerlei Belastung. ~ie ernstlich krank gewesen, keine ginweise auf Syphilis oder Tuberkulose. -- Mitten aus vSlliger Ge- sundheit heraus ohne jede Prodromi wird Pat. im Juli 1918 plStzlich yon einer Lahmung im rechten Arm und Bein befallen. Kein Bewul~tseins- verlust, keine SpraehstSrungen. Im Laufe des folgenden halben Jahres gingen die Erseheinungen zuriick bis auf eine leiehte Schwgche im reehten ~4~rm, die abet Pat. an tier Verrict}tung ihier ttausarbeit nicht wesentlich hinderte. Im April 1919 f/illt Pat. wahrend tier Arbeit bin; wegen L/ihmung in beiden Beinen kann sie nicht wieder aufstehen. Im Yerlauf der nachsten Wochen trit t eine zunehmende Lghmung beider Arme hinzu. Auch hierbei niemals BewuStseinsver/inderungen oder SprachstSrungen. KeinerIei Schmerzen. Niemals Blasen- oder MastdarmstSrungen.

B e f u n d bei der Aufnahme am 21. II. 1920: Xltere Frau in reduziertem Ern/ihrungszustand. Blasse Hautfarbe. Leichter Dekubitus am linken Gesal~. Von seiten der Brust- und Bauchorgane kein abnormer Befund. Keine erhebliche Arteriosklerose.

N e r v e n s t a t u s : Psyche normal. Bewegliehkeit des Kopfes frei. Keinerlei StSrungen yon seiten der Hirnnerven, insbesondere xuch Augen o .B . Keine Bulbgrerscheinungen. -- :Es besteht vSllige Paraplegia su- perior et inferior; Muskulatur der Arme nut wenig, die tier Beine etwas starker hypertonisch. Beiderseits M. deltoideus sowie die tibrige Schulter- muskulatur stark atrophisch, ebenso erscheinen auch Thenar, Hypothenar, die Interossei sowie die Streckmuskeln des Vorderarms besonders ab-

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gemagert Die Atmung erfolgt unter Zuhilfenahme des Sternocleido-ma- stoideus; dabei fehlt iede Bewegung der seitlichen Thoraxpartien, blo8 die oberen Partien werden gehoben. Die Zwerchfellatmung ist vorhanden, \venn auch nicht ausgiebig (rSntgenologische Bests Prof. Al~mann) Alle Rumpfbewegungen dureh Baueh- und Rfiekenmuskulatur sind auf- gehoben. -- Die Periost- und Sehnenreflexe sind an den oberen und unteren Extremits erheblich gesteigert. Anhaltender Ful]klonus. Babinski beiderseits positiv. Die Bauchdeckenreflexe fehlen. Ws der ganzen Zeit der Beobaehtung sind niemals fibrill~ire Zuckungen in den atrophischen guskeln oder motorische Reizerscheinungen aufgetreten. Nirgends Ent- ~rtungsreaktion. Blase und Mastdarm intakt. Auch bei wiederholter gensibilits keinerlei Ausfallserscheinungen, niemals Schmerzen ,~der Par~sthesien.

L u m b a l p u n k t i o n :Liquor wasserhell, Druek l l0mm, Pandy ~- + + - ~ - Nonne Ph.-I ,,Triibung", Zellen 1/3 pro cram. Wassermann im Blur und Liquor negativ.

B l u t b i l d : Ans mittleren Grades. Das k l in i sche Bi ld blieb his zum Tode am 7. VII. 1920 im wesent-

lichen unvers Gegen Ende zunehmender Dekubitus, Herzsehw~che, Thrombose der Sehenkelvene.

Eine sichere Diagnose konnte intra v-itam nicht geste]lt werden. Am ehesten wurde noch an eine abnorm verlaufende amyotrophische Lateral- slderose gedacht im Hinbliek auf die erhebliche, besonders auch an der Vorderarm- und Hand muskulatur vorhandene Atrophic. Auffallend war immerhin das Fehlen jeglicher fibrill~rer Zuckungen sowie der Entartungs- ~'eaktion, so dab die Abgrenzung yon einer Inaktivitiitsatrophie infolge des langen Nichtgebrauchs nieht sieher vollzogen werden konnte. Der plStz- Hche Beginn war kein unbedingter Oegengrund: O p p e n h e i m spricht yon einer Sklerosis lateralis amyotrophiea aeuta. Schtes inger beschreibt ebenfalls einen Fa.ll mit akut ein~etzenden StSrungen, beginnend mit Bulbgrerscheinungen, dann erst auf die Extremits ~ibergehend. Aueh L e y d e n erwghnt., dab die amyotrophische Butbs plStzlich be- ginnen kann. Fernerhin kann bei schon vorhandenen Bulbs das Leiden sieh apoplektiform fortentwickeln (Charcot . Marie). Auch der zuerst halbseitige Beginn sprach nicht gegen die Diagnose: Sind doch yon F r o b s t und Spil ler Lateralsklerosen mit unilatera]em Beginn be- schrieben. Ferner sei an die ,,Unilateral spastic paralysis" yon Mills und Spille~: erinnert; wo die mikroskopische Untersuchung eine unilaterale Degeneration der Pyramidenbahnen ergab. Ein klinisch ghnlicher Fall ist yon C a s sir e r demonstriert worden. UngewShnlich war nut der erhebliche EiweiBgehalt des Liquors. Im allgemeinen kann eine geringe EiweiB- vermehrung bei der amyotrophischen Lateralsklerose vorkommen, ~ehlt aber in der Mehrzahl der Fglle vSllig.

Sek t ion (am 8. VII. 1920: l~rivatdozent Dr. 8eyfa r th ) . Aus dem Protokoll sei als wesentlich hervorgehoben: Das Gehirn wird im Zusammen- hang mit dem Riiekenmark herausgenommen. 6 em unterhalb des Beginn,~ der Medulla oblongata finder sich innerhalb des Duralsaeks des Rticken-

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marks an der Vorderfl~che des R~ickenmarlcs ein kirschgrol]er Tumor mit v611ig glatter Oberfl~che, der auf dem Durchschnitt yon homogener, wei]- licher, derber Beschaffenheit ist. Dieser ist fest in den Wirbelkanal ein- gepreSt. Er drtick~ sieh lest in das Rfiekenmark hinein, so dal] dieses ganz plattgedriickt erscheint. Quersehnitte in Brust- und Lendenmark zeigen deutlich die absteigende Degeneration. Pyramidenseiten- und Vorder- s tr~nge sind vollkommen grau durchscheinend. M i k r o s k o p i s e h e U n t e r- suehung: Mikroskopisch zeigt der Tumor l~ingliehe endotheliale Zellen, die in Ziigen und zumeist in kugeligen Haufen angeordnet sin& Das Binde- gewebe zwischen , ihnen ist nicht auffallend haufig. Das Riiekenmark zeigt ausge- dehnte sekundgre Degene- ration. Unterhalb der Quet- sehungsstelle zeigen 8ehnit~e die Degeneration der Pyra- midenseiten- und -vorder- bahnen.

Diagnose : Endothe- liom der Dura mater.

In mehrfacher Hin- sieht war der Fall merk- wfirdig. Auffallend war die Geschwulstbildung an der Vorderseite des Riicken- marks. Ganz iiberwiegend wird sonst die hintere und seitliche Peripherie be- vorzugt. Yormalgenetisch kSnnte diese Pr~idilektion vielleieht im Sinne der Fig. 1. fissuralen G esch~vulstbil- dung mit der Umbildung der Medullarrinne zum Medullarrohr in Zusammenhang gebracht werden.

In klinischer Hinsicht reiht sich der Fall den schon l~ngst be- kannten, immerhin seltenen Vorkommnissen an, dalt im ganzen Vet- lauf der Krankheit iiberhaupt keine sensiblen Reizerseheinungen beobaehtet werden, was hier ja. dutch die ungewShnliehe Lokalisation an der Vorderfl~che verst~indlieh ist. Gleichwohl beschreibt F, S e h u l t z e einen Tumor an den vorderen Teilen des Riiekenmarks, bei dem Wurzel- schmerzen als erstes Zeiehen auftraten. Erst jiingst teilten Oppen- h e l m und B o r e b a r d t einen Fall mit, in dem das neuralgisehe Vor-

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stadium als Zeichen der Wurzelreizung v511ig vermiBt wurde; wohl aber bestanden Sckme~zen in den gel~hmten GliedmaBen, die auf Reizung der sensiblen Leitungsbahnen dutch den Tumor bezogen wurden. - - Der vor]iegende Fail liefert einen weiteren Beweis daftir, dab bei Annahme eines Riickenmarktumors die Schmerzlosigkeit nicht fiir einen intramedulliiren I)rozel~ zu sprechen braucht. Ferner war ungewShnlich der plStzliche Beginn; eher noch wird nach geringfiigigen Anfangssymptomen eine pl5tzliche Verschlimmerung gesehen (F 1 at au) ; auch der fast vSllige Riickgang der anf~nglichen motorischen Halb- seitenl~ihmung ist auffallend. Im Gegensatz zur stetigen Progression finden Remissionen nut selten statt, wenn sie auch mehrfach beschriebeu wurden. In dem yon O p p e n h e i m und B o r c h a r d t ]918 mitgeteilten Fall wurde fiir einige Monate die Gehf~higkeit wiedererlangt. Einmal beobachtete O p p e n h e i m ein Zuriicktreten der Krankheitserschei- nungen fiir 7--8 Jahre. - - Auf Grund der Anamnese, die durchaus glaubhaft erscheint, hat die Patientin anfangs das seltene Bild der Hemiplegia spinalis mit wahrscheinlich spastischen Erscheinungen in Armen und Beinen geboten. -=-Das Verhalten des Liquors --vermehrter EiweiSgehalt bei fehlender Pleocytose - - war typisch im Sinne des Kompressionssyndroms, nut fehlte die Xanthochromie.

Literatur. C~ssirer: Neurol. Zentr~lbl. ]908. S. 45. Fl~tuu: Lew~ndowskys I-Iandbuch H. Malais6: Deutsches Arch. f. klin. Med. 80. Mills u. Spiller zitiert n~ch C~ssirer 1. c. ~Nonne: Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde, Bd. 47. Nr. 48. Oppenheim: Mon. f. Psych. 33. Oppenheim-Borchurdt: Deutsche Zeitsahr. f. iNervenheilkunde 60. F. Schultze: Mitt. ~. d. Grenzgeb. 12. S. 208. Sehlesinger: Obersteiners Arbeiten. Heft 7.