Ein Jahr in der WildnisDer sehr aktive Sommer, in dem wir Beeren gesammelt, Unterkünfte gebaut und...

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BEITRAG 36 Sein No. 203 - Juli 2012 D er Grund und die Motivation für die Entscheidung, ein Jahr die Zivilisati- on zu verlassen und in die ursprüngliche, erdnahe Lebensweise einzutauchen, war sehr einfach. Ich wollte die über mehrere Jahre erlernten Wildnisfertigkeiten wirk- lich leben, und es war auch klar, dass es etwas in mir gibt, was mich davon ab- hält, gesunde Beziehungen zu anderen und zu mir zu führen – und dem wollte ich auf den Grund gehen. Deshalb war ich voll angespannter Vorfreude, als ich mit dem Kanu auf dem See nach Süden fuhr, um mit einigen anderen Menschen das nächste Jahr in der Wildnis von Wis- consin zu verbringen. Unsere Guides sind Tamarack Song, seine Frau Lety und Chris Bean, unsere Lehrer die Tiere und Pflanzen, die Elemente und unser Clan. In diesem Jahr lernen wir, was es bedeu- tet, den natürlichen Rhythmen zu folgen und sich ihnen anzupassen. Wir lernen, dass ein ursprünglich lebender Jäger und Sammler seiner Umwelt sehr gewahr ist und ihrem Ruf folgt, um die Bedürfnisse seines Clans zu befriedigen. Um komfor- tabel draußen zu leben, müssen wir uns anpassen. Die alte Vorstellung von Kon- trolle über die Umwelt funktioniert nicht, doch wenn wir spontan und flexibel sind und dem Lied des Waldes lauschen, kön- nen wir bei jedem Wetter komfortabel im Wald leben. Jeden Tag sammeln wir Essen, fischen, stellen Fallen, machen Feuer ohne Streichhölzer, bauen Wig- wams, sammeln Holz, gerben Leder und vieles mehr. Die Fähigkeiten werden ein Teil von uns, und wir bauen intensive Be- ziehungen zu unserer Umgebung auf. Plötzlich wird mir bewusst, dass jede ein- zelne Fähigkeit nicht alleine existiert, sondern mit dem großen Netz der Natur verbunden ist. Gesundes Wildnisleben im Clan Schnell wird klar, dass Kommunikation und funktionierendes Zusammenleben die Basis von Survival sind. Truthspea- king, die Sprache des Herzens, hilft uns dabei, im Augenblick auf respektvolle Art zu sagen, wie es uns geht oder was wir denken. Es ist ein langer Prozess, sich von den alten ungesunden und de- struktiven Kommunikationsmustern zu lösen, und es bedarf der Unterstützung des gesamten Clans. Es ist so unge- wohnt, seine Gefühle spontan und di- rekt zu äußern, da ich eine jahrelange Konditionierung hinter mir habe, bei der ich Wut, Ärger und Trauer, aber auch Freude einfach übergangen und heruntergeschluckt habe. Eingebettet in die Tier- und Pflanzenwelt erleben wir jeden Tag ihr Vorbild. Sie drückt sich spontan und im Augenblick aus. Das Eichhörnchen, das mich beim Fallenstel- len entdeckt, beschwert sich lautstark, und auch die Vögel des Waldes drücken Ärger (Alarm) oder Freude (Gesang) di- rekt und kraftvoll aus. Ein Beispiel für die Lehren, die wir von der Natur erhal- ten können – wenn wir zuhören. Aufmerksames Zuhören wird bei dem Wort Kommunikation oft vergessen. Wirklich präsent zu sein und dem Ge- genüber vom Herzen her zuhören an- statt ihn zu bewerten, wird eine tägliche Übung im Clanleben. Immer mehr öff- nen sich meine Sinne und es ist mir möglich, die feinen Botschaften des Waldes wahrzunehmen - und auch die Ein Jahr in der Wildnis von Bastian Barucker Bastian Barucker hielt sich nach einer mehrjährigen Aus- bildung zum Überlebenstrainer und Wildnispädagogen ein Jahr lang permanent in der Wildnis der USA auf. Die Rückkehr zur ursprünglichen Lebensweise brachte ihn gleichzeitig sich selbst wie auch dem Leben näher.

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BEITRAG

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Der Grund und die Motivation für dieEntscheidung, ein Jahr die Zivilisati-

on zu verlassen und in die ursprüngliche,erdnahe Lebensweise einzutauchen, warsehr einfach. Ich wollte die über mehrereJahre erlernten Wildnisfertigkeiten wirk-lich leben, und es war auch klar, dass esetwas in mir gibt, was mich davon ab-hält, gesunde Beziehungen zu anderenund zu mir zu führen – und dem wollteich auf den Grund gehen. Deshalb warich voll angespannter Vorfreude, als ichmit dem Kanu auf dem See nach Südenfuhr, um mit einigen anderen Menschendas nächste Jahr in der Wildnis von Wis-consin zu verbringen. Unsere Guidessind Tamarack Song, seine Frau Lety undChris Bean, unsere Lehrer die Tiere undPflanzen, die Elemente und unser Clan.In diesem Jahr lernen wir, was es bedeu-tet, den natürlichen Rhythmen zu folgenund sich ihnen anzupassen. Wir lernen,dass ein ursprünglich lebender Jäger undSammler seiner Umwelt sehr gewahr istund ihrem Ruf folgt, um die Bedürfnisseseines Clans zu befriedigen. Um komfor-tabel draußen zu leben, müssen wir uns

anpassen. Die alte Vorstellung von Kon-trolle über die Umwelt funktioniert nicht,doch wenn wir spontan und flexibel sindund dem Lied des Waldes lauschen, kön-nen wir bei jedem Wetter komfortabelim Wald leben. Jeden Tag sammeln wirEssen, fischen, stellen Fallen, machenFeuer ohne Streichhölzer, bauen Wig-wams, sammeln Holz, gerben Leder undvieles mehr. Die Fähigkeiten werden einTeil von uns, und wir bauen intensive Be-ziehungen zu unserer Umgebung auf.Plötzlich wird mir bewusst, dass jede ein-zelne Fähigkeit nicht alleine existiert,sondern mit dem großen Netz der Naturverbunden ist.

Gesundes Wildnisleben im Clan

Schnell wird klar, dass Kommunikationund funktionierendes Zusammenlebendie Basis von Survival sind. Truthspea-king, die Sprache des Herzens, hilft unsdabei, im Augenblick auf respektvolleArt zu sagen, wie es uns geht oder waswir denken. Es ist ein langer Prozess,sich von den alten ungesunden und de-struktiven Kommunikationsmustern zu

lösen, und es bedarf der Unterstützungdes gesamten Clans. Es ist so unge-wohnt, seine Gefühle spontan und di-rekt zu äußern, da ich eine jahrelangeKonditionierung hinter mir habe, beider ich Wut, Ärger und Trauer, aberauch Freude einfach übergangen undheruntergeschluckt habe. Eingebettet indie Tier- und Pflanzenwelt erleben wirjeden Tag ihr Vorbild. Sie drückt sichspontan und im Augenblick aus. DasEichhörnchen, das mich beim Fallenstel-len entdeckt, beschwert sich lautstark,und auch die Vögel des Waldes drückenÄrger (Alarm) oder Freude (Gesang) di-rekt und kraftvoll aus. Ein Beispiel fürdie Lehren, die wir von der Natur erhal-ten können – wenn wir zuhören. Aufmerksames Zuhören wird bei demWort Kommunikation oft vergessen.Wirklich präsent zu sein und dem Ge-genüber vom Herzen her zuhören an-statt ihn zu bewerten, wird eine täglicheÜbung im Clanleben. Immer mehr öff-nen sich meine Sinne und es ist mirmöglich, die feinen Botschaften desWaldes wahrzunehmen - und auch die

Ein Jahr in der Wildnis

von BastianBarucker

Bastian Barucker hielt sich nach einer mehrjährigen Aus-bildung zum Überlebenstrainer und Wildnispädagogenein Jahr lang permanent in der Wildnis der USA auf.Die Rückkehr zur ursprünglichen Lebensweise brachteihn gleichzeitig sich selbst wie auch dem Leben näher.

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Herzensbotschaften meiner Clanmit-glieder. Dadurch wächst das Vertrauenin der Gruppe und Gefühle und Gedan-ken werden nicht mehr hinterm Berggehalten, sondern respektvoll ausge-sprochen. Eigene alte Verhaltensmuster werdenimmer deutlicher sichtbar, und mithilfevon Zeichen machen wir uns unterei-nander auf Opfer- und Ermöglicherver-halten aufmerksam. Dabei geht es darum, dass sich durch frühere Erfah-rungen auf der einen Seite ein Muster inder eigenen Persönlichkeit gefestigt hat,das sich machtlos, hilflos und ohnmäch-tig fühlt – das Opfer. Auf der anderenSeite gibt es die Rolle des Ermöglichers,der sich so sehr um andere und derenBelange kümmert und auch das “Op-fer” gerne aus misslichen Lagen rettet,dass er seine eigene Herzensstimme undLeidenschaft dabei vergisst. Die Des-Identifizierung mit diesen Mustern ist ei-ne große Herausforderung, da ich sie alsmeine Persönlichkeit wahrnehme. Siesind aber nur ein altes, angstbasiertes,antrainiertes Schutzverhalten, das mirjetzt nicht mehr hilft, sondern meine Be-ziehungsfähigkeit stört. Über das ganzeJahr arbeiten wir an der Wahrnehmungdieser Automatismen und der Wieder-entdeckung unseres natürlichen undspontanen Selbst.

Der Wandel der Jahreszeiten

Wir erleben den Wechsel der Jahreszei-ten, und es entsteht eine tiefe Verbin-dung zum Land und seinen Bewohnern.Wir kommen wirklich in der Wildnis anund werden zu einem Teil des großenNetzes. Wir verstehen die Schönheitund den Überfluss, die vor unseren Au-gen sind, und langsam finden tiefgrei-fende Transformationen statt. Der sehr aktive Sommer, in dem wirBeeren gesammelt, Unterkünfte gebautund Leder gegerbt haben, geht lang-sam vorbei. Wir sind nun magerer, aberauch stärker und wollen das Abenteuerwirklich durchleben. Mit dem nahendenHerbst kommen kältere Nächte und dieVorahnung des Winters. Der Übergangzur weißen Jahreszeit geht ziemlichschnell, und in Eile reparieren wir dieWinterhütte, die uns in der dunklenJahreszeit ein wohliges Zuhause seinsoll. Mit dem Winter kommt eine war-me Decke aus Schnee, und das Lebenim Wald verändert sich. Eine der großenHerausforderungen besteht darin, sich

an diese Veränderung anzupassen. Nunkann ich nicht mehr im See schwimmengehen, um mich zu waschen, oder imKanu rausfahren, um auf der anderenSeite des Sees Beeren zu sammeln. Be-sonders das Schneebaden ist am An-fang eine Überwindung. In unseremWinter-Wigwam haben wir die Mög-lichkeit, Feuer zu machen, und so kön-nen wir nackt aus der Hütte heraus-springen, uns mit Schnee abrubbelnund dann schnell wieder zurück insWarme krabbeln. Bei Temperaturen umdie Minus 30 Grad ist das echt bele-bend und erfrischend. Die Nächte werden länger, und unserFokus richtet sich auf die Innenschau.Die neuen Wahrnehmungen der Verhal-tensmuster und Gefühle können nunmithilfe der Traumarbeit vertieft wer-den. Über mehrere Monde lernen wirdie Sprache der Träume zu hören und zuverstehen. Die Träume machen uns aufUnbewusstes aufmerksam und helfenuns dabei, unsere angetretene Heilungs-reise fortzusetzen. Jeden Morgen teilenwir unsere Träume im Clan miteinander,und so können wir uns bei der Umset-zung unserer Heilungsprozesse unter-stützen. Es ist nicht nur eine Zeit der inneren, sondern auch der äußeren Spu-rensuche, da wir jeden Tag unseren Tier-verwandten folgen, um an ihren Spurenzu erkennen, wie sie sich verhalten. Be-sonders die Wolfsrudel haben unser In-teresse geweckt. Viele Tage folgen wirihren Fährten und erkennen, wie sie ineiner Linie, Pfote in Pfote in völliger Har-monie, durch den Wald gleiten.

Von der Erde versorgt

Es ist einer der längsten und kältestenWinter seit langer Zeit, und wir verlas-sen unsere Winterhütte, um zu lernen,uns ein Schneecamp zu errichten. Mitunserer Grundausstattung ziehen wirlos und bauen Schneehütten und einLean-To, eine spezielle Art von Unter-stand. Für einen weiteren Mond lebenwir an einem neuen Ort und verab-schieden uns langsam von der Wildnis.Ein weiteres Mal lernen wir, dass uns dieErde versorgt, wenn wir uns leer ma-chen, und so können wir auch imSchneecamp komfortabel leben. Es be-ginnt die Zeit des Übergangs, in der wirmithilfe unserer Guides lernen, wie wirdas Erfahrene in die Zukunft integrierenkönnen. Meine Sehnsüchte nach der Zi-vilisation werden stärker, und das so

lange Vermisste rückt immer näher. Esist ein aufregender Morgen, als wir unsauf den Weg zurück in die Zivilisationbegeben. Alle Seen sind noch zugefro-ren und wir marschieren mit Vorfreude,aber auch Trauer durch die Wildnis, dieuns versorgt und genährt hat. Ein Jahrvoller Verbundenheit und inneremWachstum geht vorbei, und als wir zu-rück in der Wildnis-Schule ankommen,realisieren wir langsam, dass es wirklichvorüber ist. Und alles ist anders. Wiesehr hat sich meine Wahrnehmung undmein Weltbild geändert. Erst jetzt imSpiegel des Bekannten erkenne ich mei-ne Veränderung, und langsam wird ei-nes klar: Das Jahr ist vorbei, aber dasneue Leben fängt gerade erst an.

Verbunden mit dem Moment

Das Jahr in der Wildnis war eine Reise ineine Welt, die mir unbekannt war. MeinBild von der Natur und von mir selbsthat sich gewandelt, und es brauchte dasvolle Eintauchen in das Clanleben derursprünglichen Lebensweise, damit dasgeschehen konnte. Die ständige, sehrdirekte und sinnliche Verbindung zumsich immerfort verändernden Fluss derNatur haben mir sehr dabei geholfen,meine nicht-menschlichen Verwandtenund auch mich selber wahrzunehmen.So begann ich wieder zu erwachen undmerkte, dass es noch viel über mich zuentdecken gibt. Ein enormer Aufwandan Heilungsarbeit war notwendig, ummeine alten angstbasierten Gewohnhei-ten zu ändern. Diese Herausforderungbrachte mich an und manchmal übermeine Grenzen hinaus. Jedoch erhieltich eines der größten Geschenke meinesLebens: Ich begannzu verstehen, dassich für mein Leben(Gefühle, Bezie-hungen, etc...) dieVerantwortung tra-ge und dass ich alldie Veränderungengestalten kann, dieich brauche, umein gesundes underfülltes Leben zuführen, in dem ichmich verbundenfühle und mehr imMoment. Ich fühlemich dankbar undbeschenkt. g

Bastian Baruckerdurchlief eine Ausbil-dung zum Überle-benstrainer bei derTeaching Drum Outdoor School(www.teaching-drum.org). Er beglei-tet seit zehn JahrenJugendliche, Kinderund Erwachsene beiWachstums-Prozes-sen in Verbindung mit Natur- undSelbsterfahrung undleitet u.a. einmonati-ge Intensiv-Wildnis-Aufenthalte(www.wildmoon.eu).Er ist Lehrbeauftrag-ter an der Alice-Salo-mon-Hochschule undGründer der Wildnis-schule Waldkauz.(www.wildnisschule-waldkauz.de)Mehr Infos unter Tel.: 030-99 54 33 07oder [email protected] barucker.de w

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