EIN KALTER ORT GABOR HIRSCH B-14781 - von … · schliesst die Augen, und man fragt sich, ob er...
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Auschwitz. Vor 70 Jahren wurde das Vernichtungslager der Nazis befreit. Der damals 15-jährige Jude GABOR HIRSCH überlebte. Heute wohnt er in der Schweiz. Ohne Hass, mit vielen Erinnerungen, Fragen – und seiner KZ-Tätowierung.
B-14781EIN KALTER ORT26.1.15. Am Tag vor der Gedenkfeier besichtigt Gabor Hirsch das Ausch-witz-Areal, wo er vor 70 Jahren als Jugendlicher inhaftiert war.
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TEXT MARCEL HUWYLER
A uschwitz. Wie soll man
ver stehen, wo der Ver
stand aussetzt, begrei
fen, wofür es keine Be
griffe gibt, und nieder
schreiben, was unbeschreiblich ist?
Gabor Hirsch sitzt da und erzählt, in
gebrochenem Deutsch mit ungarischer
Färbung, ruhig, sachlich, unerwartet
emo tionslos. Manchmal verstummt er
mitten im Satz, faltet die Hände,
schliesst die Augen, und man fragt
sich, ob er sich an Details zu erinnern
versucht oder ihm ob all der Erinne
rungen Stimme und Sinne versagen.
Gabor Hirsch, 85, Ungar, Jude, ist seit
1956 in der Schweiz, pensionierter
ETHIngenieur, Ehemann, Vater, Gross
vater. Und Überlebender von Auschwitz.
Am Abend zuvor ist er aus Polen
zurückgekehrt, wo er an der Gedenk
feier zum 70. Jahrestag der Befreiung
von Auschwitz teilgenommen hat.
1,1 Millionen Menschen wurden hier
ermordet, im grössten deutschen Ver
nichtungslager während der Zeit des
Nationalsozialismus. Hirsch hat alte
Bekannte getroffen, Mithäftlinge aus
aller Welt, hat alte Geschichten gehört
und alte Geschichten erzählt. Erstmals
haben ihn beide Söhne, Mathias und
Michael, begleitet. Gestern Abend dann,
kurz vor dem Heimflug, sprach ihn
auf dem Flughafen in Krakau ein «Mäd
chen» an, kaum 25 Jahre alt. Er sei doch
einer der AuschwitzÜberlebenden, sag
te die junge Frau, sie sei Deutsche, sie
entschuldige sich für all das Grauen,
sie entschuldige sich im Namen ihres
Volkes. Das müsse sie nicht, antwortete
ihr Gabor Hirsch: «Es ist doch nicht
Ihre Schuld, meine Dame, es ist nicht
Ihre Generation, es ist so lange her.»
Gabor Hirsch wird am 9. Dezember
1929 geboren. In der ungarischen Stadt
Békéscsaba betreiben seine Eltern ein
ElektroRadioFahrradgeschäft mit fünf
zehn Angestellten. Im März 1944 mar
schieren die Deutschen in Ungarn ein,
der Rassenwahn der Nazis beginnt, die
SS startet sofort mit der «Endlösung»:
Die ungarischen Juden werden stigma
tisiert, entrechtet, beraubt, separiert und
vernichtet. Vater Hirsch leistet im Land
Zwangsarbeit, während man Gabor, 15,
seine Mutter Ella, 48, die Gross mutter,
81, zwei Tanten und drei Cousins (15 und
10 Jahre sowie 3 Monate alt) deportiert.
Drei Tage dauert die Reise, eingepfercht
mit 90 anderen Ungaren in einem Bahn
wagen, der sonst Vieh transportiert; zwei
Eimer stehen im Waggon, einer ist mit
Trinkwasser gefüllt, der andere dient als
Toilette. Am 29. Juni 1944 erreicht der Zug
das südpolnische Städtchen Oswiecim,
zu Deutsch Auschwitz. Hier steht das
grösste Vernichtungslager der Nazis, eine
büro kratisch effizient durchdachte, in
dustriell organisierte Massenmord fabrik;
hier geschieht das Schlimmste, was Men
schen anderen Menschen antun können.
Von der Familie Hirsch sollten nur Gabor
und sein Cousin Tibor überleben.
Nach dem Verlassen des Vieh
waggons werden die Deportierten se lek
tioniert. Wer jung, kräftig und gesund
ist, kann Zwangsarbeit leisten, Kinder,
Schwangere, Kranke und Alte werden
meist sofort umgebracht, in den Gas
kammern. Bis zu 2000 Menschen aufs
Mal werden «zur Desinfektion und
Dusche» in 210 Quadratmeter enge
Kammern getrieben (etwas kleiner als
ein Tennisplatz) und mit dem Schäd
lingsbekämpfungsmittel Zyklon B ver
gast. Haare und Zahngold der Leichen
werden eingesammelt, die Toten ver
Acht Mitglieder der Familie
Hirsch kamen nach Auschwitz.
Nur ich und mein Cousin Tibor
überlebten GABOR HIRSCH
Links: In einer Museumsbaracke auf dem Auschwitz-Areal schaut sich Gabor Hirsch ein riesiges Foto an, auf dem angeblich er, leider halb verdeckt, mit anderen Lager-kindern zu sehen ist.
Rechts: Ein Russe fotografiert die Lagerkin-der ein paar Wochen nach der Befreiung. Es ist das gleiche Sujet wie das Foto links, doch diesmal ist Gabor gut erkennbar. Er hat bereits wieder an Gewicht zugelegt.
DIE KINDER VON AUSCHWITZ
«WARUM ICH ÜBERLEBTE? LIST, ZUFALL UND VIEL, VIEL GLÜCK»Gabor Hirsch in seinem Haus in Esslingen ZH. In Ordnern sammelt er Dokumente aus seiner Auschwitz-Zeit. Er ist weltweit mit anderen Holocaust-Überlebenden vernetzt.u
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brannt. Die Asche wird verstreut oder
für den Strassenbau verwendet.
Gabor und seine Mutter überleben
die erste Selektion. Man rasiert ihnen
alle Körperhaare ab, sie werden desin
fiziert und mit der blauweiss gestreif
ten Sträflingskluft eingekleidet. Ihre
Unterkunft: Holzbaracken, 40,7 mal
9,5 Meter, ursprünglich als Pferdeställe
konzipiert, hier pferchen die Nazis bis
zu 1200 Personen zusammen.
Zweimal noch sieht Gabor seine
Mama, dann ist sie verschwunden. Erst
54 Jahre später wird ihr Sohn heraus
finden, dass sie weiterdeportiert wurde,
ins KZ Stutthof bei Danzig in Nord
polen. Dort stirbt Ella Hirsch am 18. De
zember 1944. Todesursache ist – im zy
nischen KZJargon notiert – unbekannt.
Der Alltag in Auschwitz besteht
aus stundenlangen Appellen, Straf
übungen und Zwangsarbeit. Geschrei,
Befehle, Misshandlungen, Angst, Hun
ger und Krankheit takten den Alltag.
Gabor sieht die grossen Kamine, aus
denen es unaufhörlich raucht und
flockt, er sieht die vor Hitze glühenden
Blitz ableiter, «man sagte uns, die Anla
ge gehöre zur Bäckerei», erzählt Hirsch;
dass es die Schlote von Krematorien
sind, dass da Menschenasche gen Him
mel stiebt, realisiert er erst später.
Die schlimmsten Momente sind,
wenn «Selektion!» befohlen wird. Wei
terleben oder sterben? Oft entscheidet
Dr. Josef Mengele. Der Lagerarzt, be
rüchtigt wegen seiner medizinischen
Experimente mit Zwillingen, tritt fröh
lich auf, pfeift gar, während er über
Menschen richtet. Mehrmals lässt er
eine Holzlatte in 1,5 Meter Höhe mon
tieren und heisst die Jugendlichen pas
sieren. Wer mit dem Kopf an die Latte
stösst, also grösser ist und als Arbeiter
von Nutzen, darf weiterleben, die Klei
nen werden vergast. Es gibt Jugendli
che, die sich Kieselsteine in die Schuhe
schütten, um die Latte zu berühren.
Dann trifft es auch Gabor Hirsch. Er
und weitere 639 Jugendliche werden
zum Krematorium Nummer 5 getrieben.
Alle müssen sich ausziehen, die Kleider
gefaltet hinlegen, sich aufreihen vor der
Tür, die in die Gaskammer führt. Plötz
lich stiefeln Offiziere herbei, bellen, sie
bräuchten ausser Plan noch schnell ein
paar Arbeiter. 51 Jugendliche werden
aussortiert – auch Gabor.
Nach fünf Monaten in Auschwitz
erkrankt der Bub schwer. Er hat Ge
schwüre am ganzen Körper, auch im
Mund. Er kann nicht mehr schlucken,
magert ab und wird ins Krankenrevier
verlegt, was normalerweise die baldige
Tötung bedeutet. Doch erneut hat Ga
bor Glück: In der Ferne hört man Kano
nendonner, die Front rückt näher, die
Russen kommen. Am 18. Januar 1945
teilt die Lagerleitung überstürzt mit,
das Lager werde aufgelöst, die Häft
linge würden zu Fuss «umquartiert»
gen Westen, in Richtung Reichsmitte.
Später wird man von den «Todesmär
schen» sprechen, gegen 60 000 Ausch
witzHäftlinge ziehen los, bei Schnee
und Eiseskälte, ein Viertel der Men
schen stirbt unterwegs an Erschöp
fung; wer zu langsam marschiert, wird
von eskortierenden SSWachposten er
schossen.
In Auschwitz selber bleiben 7500
schwer kranke Häftlinge zurück, auch
Gabor Hirsch. Quasi über Nacht ist
sämtliches Wachpersonal verschwun
den, die Häftlinge glauben sich frei,
doch ein deutsches «Aufräumkomman
do» kehrt zurück, hat den Auftrag, die
Spuren des Genozids zu verwischen:
Krematorien werden gesprengt, Bara
cken angezündet – und alle Juden sol
len ein letztes Mal zum Appell antreten.
Ein letztes Mal … Gabor begreift und
versteckt sich in einer Baracke unter
einem Strohsack; eine letzte List – dann
ist endlich alles vorbei. Am 27. Januar
1945 befreit die Rote Armee Auschwitz.
Sie findet Menschen, wie Skelette nur
noch von Haut und Sehnen zusammen
gehalten, Berge von Leichen, aber auch
Schuhberge, Nickelbrillenberge, Koffer
berge, Prothesenberge, Rasierpinselber
ge; die Befreier zählen 348 820 Herren
anzüge, 836 255 Damenkleider und sie
ben Tonnen Frauenhaar.
Gabor Hirsch ist am Ende seiner
Kräfte; unfähig zu gehen, kriecht er auf
allen vieren. Er erinnert sich an einen
russischen Kameramann, der ihn filmt,
der Holocaust soll dokumentiert wer
den. Gabor wird desinfiziert, gebadet,
gefüttert, versorgt. Sieben Monate war
er in Auschwitz interniert, er ist jetzt
16 Jahre alt und wiegt noch 27 Kilo.
Draussen wird es langsam dun-
kel. Gabor Hirsch legt seine «Ausch
witz»Akten beiseite. Er und seine Frau
bewohnen ein Haus im zürcherischen
Esslingen. In vielen bunten Ordnern
sammelt der 85Jährige Fotos, Doku
mente und Listen von Auschwitz. Stän
dig kommen neue Fakten hinzu. Vor
gestern, bei der Gedenkfeier in Ausch
witz, hat Hirsch erstmals das «Baby»
getroffen. Eine schwangere Ungarin
hatte doch tatsächlich damals im KZ
ihr Kind heimlich zur Welt gebracht,
einen Monat vor der Befreiung. Neues
Leben, ein Engel inmitten der Hölle –
«vielleicht wurde das Kind darum An
gela getauft», sinniert Hirsch.
Nach seiner Befreiung 1945 kehrt
Gabor nach Ungarn zurück. Nur sein
Ich stand bereits nackt vor
der Tür zur Gaskammer, als
plötzlich ein Offizier Arbeiter
suchte GABOR HIRSCH
Oben links: Gabor als Bub mit seiner Mama (l.) und Kindermädchen Hilde.Unten links: Die KZ-Häftlinge lebten in Baracken. Solche Holzschuppen mit löchrigen Steinbänken dienten als Latrine.
Oben rechts: Ankunft von ungarischen Juden in Auschwitz. Nun wird selektio-niert: Wer lebt weiter, wer wird vergast?Unten rechts: Ein russischer Soldat filmt Gabor (mit Decke) am Tag der Befreiung.
VON DER UNBESCHWERTEN KINDHEIT ZUR TODESSELEKTION
ZYNISCHE SPRACHE DER NAZIS Gabor Hirsch, begleitet von seinen Söhnen Mathias und Michael (r.), bei der berüchtigten Eingangstor-Parole im KZ.
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Vater ist noch da. Über das Erlebte
wird nicht gross gesprochen. «Ich kam
heim in ein kriegsversehrtes Land, alle
hatten Angehörige verloren, alle litten,
psychologische Hilfe kannte man nicht.
Ich weinte viel, machte aber einfach
weiter», beschreibt Hirsch jene Zeit.
Er besucht wieder die Schule, macht
die Matura. Als 1956 die Russen Ungarn
besetzen («ausgerechnet meine Ausch
witzBefreier vertrieben mich»), flieht
er in die Schweiz. Er studiert an der
ETH Zürich Elektroingenieur, lernt
Margrit Reimann aus St. Gallen kennen,
heiratet 1968, wird Schweizer.
Auschwitz prägt – noch heute. Seine
Frau sage, er könne nur schwer Gefühle
zeigen, erzählt Hirsch; seine Söhne mei
nen, er verfüge über viel schwarzen Hu
mor. Hirsch zuckt mit den Schultern.
Anfangs, ja, da habe er alles Deutsche
gehasst, abgelehnt: die Sprache, das
Essen, Bücher, «ich kaufte früher auch
nie ein deutsches Auto», sagt Hirsch
(draussen steht ein Mazda) und lacht
zum ersten Mal an diesem Nachmittag
laut und herzhaft. Aber heute, 70 Jahre
danach … nein, da sei kein Hass, kein
Groll mehr da, «nach so langer Zeit sind
selbst die schlimmsten Wunden ver
heilt». Etwas anderes stimmt ihn aber
nachdenklich: Nach dem Krieg hätten
alle «nie wieder!» geschworen, sehe er
aber heute, was in Syrien passiere, in
der Ukraine, «dann bezweifle ich, dass
die Menschheit je dazulernen wird».
Herr Hirsch, ist das Leben schön?«Ich bin mehr oder weniger zufrieden.
Ich habe eine Frau, zwei Kinder, zwei
Enkelkinder, das ist gut und schön so.»
Ihre stärkste Erinnerung an Auschwitz?«Wie ich meine Mutter das letzte Mal
sah. Ich weine um sechs Millionen
getötete Juden – aber die Ermordung
der eigenen Mutter, das ist furchtbar.»
Welche Fakten aus Ihrer KZ-Zeit möch-ten Sie noch in Erfahrung bringen?«Wer die anderen 50 Jugendlichen wa
ren, die mit mir in letzter Sekunde vor
der Vergasung bewahrt wurden. Ich
möchte wissen, wie sie dies erlebten,
denn meine Erinnerungen verblassen
langsam – so wie meine KZNummer.»
Gabor Hirsch krempelt den linken
Hemdsärmel hoch, zeigt seinen Unter
arm. Sein Arzt habe ihm angeboten, die
Tätowierung zu entfernen. «Aber das
will ich nicht, sie gehört zu mir, ich
schäme mich nicht, es ist nicht meine
Sünde, an die sie erinnert.»
Blassblau, verblichen, kaum mehr
lesbar, Gabor Hirschs Häftlingsnummer
aus Auschwitz.
B14781.
Nach dem Krieg hiess es: Nie wieder! Schaue ich heute nach Syrien
oder in die Ukraine, zweifle ich
GABOR HIRSCH
GEZEICHNETHirschs Häftlings-nummer: B-14781. Zahlenstempel aus Metallnadeln wurden ins Fleisch gedrückt und blaue Tinte in die Wunde geschmiert.
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