Ein Licht strahlt auf
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Ein Licht strahlt auf
Den Menschen, die im Dunkeln leben, ist ein helles Licht geschenkt. Denen, die im Reich der Finsternis, der Einsamkeit und der Verzweiflung wohnen, strahlt ein helles Licht auf.
In unseren Tagen erließ ein Politiker den Befehl, alle Menschen des Landes in
Listen eintragen zu lassen. Es wurde unterschieden in „erfolgreiche“ und
„gescheiterte“ Menschen. Da ging jeder zum nächsten Bezirksamt, um sich
eintragen zu lassen. Niemand hinterfragte diesen Befehl.
So zog auch Josef an diesem kalten Wintertag durch die Straßen. Langsam
setzte er einen Schritt vor den anderen. Er war alleine unterwegs und hatte
es nicht eilig, denn er war mit seinem Leben gescheitert. Seine Frau hatte ihn
schon lange verlassen und seine Kinder hatten ihn vergessen. Seit Jahren
war er arbeitslos, jahrelang hatte er hier draußen, auf der kalten Straße
gelebt. Ein Leben zum Vergessen: Gescheitert.
Etwa zwei Straßenecken vor dem Amt bog er ganz unerwartet ab. Er
steuerte auf die kleine, alte Kirche zu, die dort zwischen den Wohnbauten
lag. Ober wohl beten wollte? Oder beichten für die vielen Fehler, die er im
Leben gemacht hatte? Josef trat ein, bekreuzigte sich nicht und achtete auch
gar nicht auf die Altäre, Bilder und Statuen. Zielstrebig ging er weiter, bis er
an der hinteren Ecke der Kirche angekommen war. Dort, wo es durch eine
Tür direkt weiter zur Notschlafstelle ging, stand ein alter Opferstock, in dem
Spenden für Obdachlose gesammelt wurden.
Josef griff in seine löchrige Tasche. Kurz durchfuhr ihn die Angst, sein
Geschenk verloren zu haben, doch dann fand er es wieder. Er zog einen 50-
Euro-Schein heraus und drückte ihn andächtig durch die schmale Öffnung
des Opferstocks. Josef hatte heute Geburtstag. Auf Geschenke hatte er
verzichtet, die wenigen Freunde, die er noch hatte, hätten wohl ohnehin
darauf vergessen. Er lächelte tief, man konnte seine Freude spüren. Noch vor
einem Jahr war er auf solche Spenden angewiesen gewesen. Sein größtes
Geschenk war es, zum ersten mal selbst etwas geben zu können.
Auf seinem Weg zum Ausgang kam er bei der Weihnachtskrippe vorbei und
blieb kurz stehen. Zufrieden und glücklich bedankte er sich, dass Hoffnung,
Freude und Glück nicht an Erfolg, Reichtum und Ansehen gebunden sind,
sondern als kleine, aber starke Lichter oft bei den Armen, Ausgegrenzten
und Fremden – bei den Gescheiterten – am hellsten strahlen.