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Ein Mathematikstudium in den F¨ unfzigerjahren Christian Blatter ,,Moribus et litteris sacrum“, zu Deutsch: der Charakterbildung und der Gelehr- samkeit geweiht, stand auf einem schwarzen Medaillon ¨ uber dem Tor zu meinem Gymnasium am Basler M¨ unsterplatz. Mein Namensvetter Thomas Platter war hier 1541–1578 Rektor der st¨ adtischen Lateinschule gewesen, und 1589 wurde daraus das ,,Humanistische Gymnasium“. Dieses Gymnasium gibt es so nicht mehr; das Medaillon hat aber ¨ uberlebt und ¨ ubt weiterhin seine geheimnisvolle Wirkung auf meinen Lebensgang aus. Das HG war ein rein altsprachliches Knabengymnasium, mit sieben Lektionen Latein pro Woche und Altgriechisch w¨ ahrend f¨ unf der acht Schuljahre. Das war alles sehr philologisch, mit Konstruktionen von unerh¨ orter Pr¨ azision, nat¨ urlich auch inhaltsbezogen; aber die ¨ Okonomie und Lebensweise der alten Griechen und R¨ omer kamen nicht zur Sprache. In diese ehrw¨ urdige Institution bin ich 1946 nach vier Jahren Primarschule eingetreten. Anders als heutzutage, wo auch Zehnj¨ ahrige schon ¨ uberall waren oder zumindest alles schon am Fernsehen gesehen haben, hat mir das HG von Anfang an eine vollst¨ andig neue Welt aufgetan, radikal verschieden von den t¨ aglichen Sorgen, die am Familientisch zur Sprache kamen, und vom spielbezogenen Umgang mit den Gleichaltrigen aus dem Quartier. Unsere Klasse war untypisch: Meine Kameraden kamen nicht aus dem Basler ,,Daig“; es waren die S¨ ohne eines Kleinbasler Polizisten, eines Glasermeisters, eines Friedhofg¨ artners, und mehrere Knaben aus dem Milieu der Basler Afrika-Mission. Das Fach ,,Rechnen“ der Primarschule hiess nun ,,Mathematik“. Von der Unter- stufe ist mir noch der intensive Drill im Kopfrechnen und ein ,,schriftliches“ Ver- fahren zum Wurzelziehen in Erinnerung. Im Zeichen des Taschenrechners sind das tempi passati; ich bin aber immer noch froh, dass ich alle Quadratzahlen bis 729 jederzeit vorr¨ atig habe. Vom f¨ unften Schuljahr an durften wir die Oberstufen-Bibliothek benutzen, und da hatte es richtige Mathematikb¨ ucher. Zum einen die damals weit verbreiteten Werke von Egmont Colerus, ,,Vom Ein- maleins zum Integral“ [6] und ,,Vom Punkt zur vierten Dimension“ [7]; ferner waren da zwei B¨ ucher von Louis Locher-Ernst, dem Begr¨ under der ,,Elemente der Mathematik“, ¨ uber projektive Geometrie. Besonders beeindruckt hat mich deren zweispaltiger Umbruch, bei dem alle projektiven S¨ atze parallel zueinan- der in ihrer eigentlichen und der dazu dualen Form erschienen. Weit ¨ uber den Schulstoff hinaus wiesen jedoch zwei B¨ ande von Heinrich Tietze [24] ¨ uber 1

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Ein Mathematikstudium in den Funfzigerjahren

Christian Blatter

,,Moribus et litteris sacrum“, zu Deutsch: der Charakterbildung und der Gelehr-samkeit geweiht, stand auf einem schwarzen Medaillon uber dem Tor zu meinemGymnasium am Basler Munsterplatz. Mein Namensvetter Thomas Platter warhier 1541–1578 Rektor der stadtischen Lateinschule gewesen, und 1589 wurdedaraus das ,,Humanistische Gymnasium“. Dieses Gymnasium gibt es so nichtmehr; das Medaillon hat aber uberlebt und ubt weiterhin seine geheimnisvolleWirkung auf meinen Lebensgang aus.

Das HG war ein rein altsprachliches Knabengymnasium, mit sieben LektionenLatein pro Woche und Altgriechisch wahrend funf der acht Schuljahre. Das waralles sehr philologisch, mit Konstruktionen von unerhorter Prazision, naturlichauch inhaltsbezogen; aber die Okonomie und Lebensweise der alten Griechenund Romer kamen nicht zur Sprache. In diese ehrwurdige Institution bin ich1946 nach vier Jahren Primarschule eingetreten. Anders als heutzutage, woauch Zehnjahrige schon uberall waren oder zumindest alles schon am Fernsehengesehen haben, hat mir das HG von Anfang an eine vollstandig neue Weltaufgetan, radikal verschieden von den taglichen Sorgen, die am Familientischzur Sprache kamen, und vom spielbezogenen Umgang mit den Gleichaltrigenaus dem Quartier. Unsere Klasse war untypisch: Meine Kameraden kamennicht aus dem Basler ,,Daig“; es waren die Sohne eines Kleinbasler Polizisten,eines Glasermeisters, eines Friedhofgartners, und mehrere Knaben aus demMilieu der Basler Afrika-Mission.

Das Fach ,,Rechnen“ der Primarschule hiess nun ,,Mathematik“. Von der Unter-stufe ist mir noch der intensive Drill im Kopfrechnen und ein ,,schriftliches“ Ver-fahren zum Wurzelziehen in Erinnerung. Im Zeichen des Taschenrechners sinddas tempi passati; ich bin aber immer noch froh, dass ich alle Quadratzahlenbis 729 jederzeit vorratig habe. Vom funften Schuljahr an durften wir dieOberstufen-Bibliothek benutzen, und da hatte es richtige Mathematikbucher.Zum einen die damals weit verbreiteten Werke von Egmont Colerus, ,,Vom Ein-maleins zum Integral“ [6] und ,,Vom Punkt zur vierten Dimension“ [7]; fernerwaren da zwei Bucher von Louis Locher-Ernst, dem Begrunder der ,,Elementeder Mathematik“, uber projektive Geometrie. Besonders beeindruckt hat michderen zweispaltiger Umbruch, bei dem alle projektiven Satze parallel zueinan-der in ihrer eigentlichen und der dazu dualen Form erschienen. Weit uberden Schulstoff hinaus wiesen jedoch zwei Bande von Heinrich Tietze [24] uber

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beruhmte mathematische Probleme. Die waren im Nachkriegsdeutschland un-ter schwierigen Bedingungen erschienen; ich hatte irgendwie davon erfahren,und meine Eltern haben sie mir 1950 zu Weihnachten geschenkt. Hier erfuhrich zum ersten Mal Genaueres uber das Vierfarbenproblem, und im kleinge-druckten Anmerkungsteil wurde unter anderem die Fermatsche Vermutung furdie Exponenten 3 und 4 bewiesen.

In der Klasse lief derweil das normale Maturitatsprogramm ab. Fur ein alt-sprachliches Gymnasium ging es erstaunlich weit und umfasste auch die Grund-zuge der Differential- und Integralrechnung. Der Physiklehrer bestand darauf,dass wir auch den Begriff der Beschleunigung verstunden; in Madchenklassenhore es allerdings bei der Geschwindigkeit auf, erklarte er. Fur prospektiveETH-Studenten fuhrte Fritz Blumer, der Mathematik-Doyen unserer Schule,einen freiwilligen Kurs in Darstellender Geometrie durch, an dem ich ebenfallsteilnahm, obwohl ich nicht vorhatte, ein Studium an der ETH aufzunehmen.An der mundlichen Maturitatsprufung wurde mir unter anderem der Ausdruckii vorgelegt; mit Blumers Hilfe habe ich schliesslich auch herausgebracht, dasse−π/2

.= 0.2079 nicht der einzige denkbare Wert dieses Ausdrucks ist. Experte

bei meiner Prufung war ubrigens Markus Fierz, damals noch Ordinarius inBasel, den ich Jahre spater als Lehrer in Theoretischer Physik und noch vielspater als Kollegen an der ETH erlebt habe.

Eines schonen Tages erschien in unserer Klasse der ,,Akademische Berufsbe-rater“ des Kantons Basel-Stadt. In seinem allgemeinen Pladoyer klarte er unsuber die Stellenchancen in verschiedenen Sparten auf; geblieben ist mir der Hin-weis, dass es keinen Sinn habe, die Berufswahl im Hinblick auf den Posten desVorstehers einer Universitatsbibliothek zu treffen. Item, er stunde auch fur an-schliessende personliche Gesprache zur Verfugung. Ich habe mich dann fur einderartiges Gesprach angemeldet, wohl wissend, dass damals Mathematiker inerster Linie als Gymnasiallehrer oder allenfalls als Versicherungsmathematikergebraucht wurden. Ob ich als Lehrer taugen wurde, war ich mir nicht sosicher. Der Berufsberater (Willi Wenk, spater wie sein Vater Gustav Standeratdes Kantons Basel-Stadt) war zufalliger Weise im Hauptberuf selbst Mathema-tiklehrer am Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasium und hat mirkurzer Hand offeriert, nachste Woche in einer seiner Klassen eine Probelektionzu erteilen. Ich sollte mit Hilfe des Satzes von Pythagoras und einiger Rech-nung begreiflich machen, wie man aus einem Quadrat durch Abschneiden derEcken ein regulares Achteck herstellen kann (Abb. 1). Das habe ich wohl ganzanstandig hingekriegt; aber ein Blick auf die Figur liefert ohne irgendwelcheRechnungen α = 3π

8 , woraus die Korrektheit der intendierten Konstruktionunmittelbar folgt.

An dieser Stelle mussen wir vielleicht kurz von Geld sprechen. Das Gehaltmeines Vaters, er war Primarlehrer, reichte zum Notigsten und gerade noch soweit, dass wir vier Geschwister neben der Schule ein Musikinstrument erlernenkonnten. Mein Grossvater Alfred Schenker war Chefbeamter bei der Bahnpost,

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Abb. 1

und als ich sechzehn geworden war, schleuste er mich in eine Kohorte von an-deren Gymnasiasten und Sohnen von Postbeamten ein, die wahrend hektischenAbendstunden als Hilfskrafte bei der Paketumwalzung am Bahnhof Basel tatigwaren. So kam ich relativ fruh zu einem ,,festen Gehalt“ und gewohnte michdaran, finanziell mein eigener Herr und Meister zu sein. Als Student bin ichbei verschiedenen Anlassen als ,,Securitasmann“ tatig gewesen, dann wahrendJahren als Korrektor, als Assistent, als Hilfslehrer und als mathematischer Be-rater, wovon spater noch die Rede sein wird. Bei meinen Eltern genoss ichKost und Logis; ich habe sie aber nie um Geld bitten mussen. Im Gegenteil,ich konnte noch Geld auf die Seite legen, und als ich mich 1958 verheiratete,war genug gespart, um schuldenfrei die ,,Erstausrustung“ zu erwerben.

Ein Mathematikstudium also, beginnend mit dem Sommersemester 1954, undzwar an der Universitat Basel, unter anderem darum, weil ein Studium an derETH in Zurich nicht zu finanzieren gewesen ware. Ein universitares Studiumbeinhaltete auch drei Nebenfacher und wurde mit dem Doktorat enden; Diplomoder Lizenziat gab es damals nicht. Als Nebenfacher waren Experimental- undtheoretische Physik gesetzt; als drittes Fach wahlte ich Philosophie. MeineKollegen bei der Post hielten das fur eine brotlose Wissenschaft und meinten,ich wurde noch fruh genug auf Chemie umstellen. Da es mit der theoretischenPhysik noch lange hin sein wurde, habe ich deswegen in den ersten Semesternauch noch die Grundvorlesungen in Chemie besucht, was mir spater in derTat zustatten kam. Abb. 2 zeigt die erste Doppelseite meines ,,Testatbuchs“.Dieses blaue Heft wird mir als Ariadnefaden fur die weitere Niederschrift meinerStudienerinnerungen dienen.

Nur Speisers ,,Analytische Geometrie“ war enttauschend; alle anderen Vor-lesungen haben mich begeistert. In Paul Hubers grosser Physikvorlesung sassennicht nur die Physik-, die Mathematik- und die Chemiestudenten, sondern auchdie samtlichen Mediziner meines Jahrgangs, darunter sechs meiner ehemaligenKlassenkameraden. Huber musste daher mathematisch behutsam vorgehen,mit Integralrechnung ohne Integralzeichen. Abgesehen von den phantastischen

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Abb. 2

Experimenten bleibt mir die erstmalige Begegnung mit charakteristischen Glei-chungen von linearen Systemen in Erinnerung und der Zorn daruber, dass ander Schule nie von diesem machtigen Zauber die Rede gewesen war.

Alexander Ostrowski (1893–1986), seit 1927 in Basel, gab eine Infinitesimal-rechnung, die sich nicht wesentlich von den heutigen Analysisvorlesungen unter-schied. Die Studenten, etwa dreissig an der Zahl, haben nicht nur zu Beginn undzum Schluss jeder Vorlesungsstunde getrampelt, sondern auch zum glucklichenBeweis von schwierigen Sachen wie der Existenz des Riemannschen Integralsfur stetige Funktionen. Ostrowski hatte aber auch seine Verbohrtheiten. Soerklarte er uns, es gabe da in Frankreich eine Gruppe von Mathematikern, dieein ganz normales U in alle moglichen Richtungen stellten, also so: ∪, ⊂, ∩,⊃, und auch noch das von Weierstrass geheiligte Epsilon fur neuartige Zweckebenutzten. Er wurde nur das eine Zeichen ≺ sowohl fur ,,Element von“ wie fur,,Teilmenge von“ verwenden. Ostrowski legte auch viel Wert auf die korrekteZuschreibung von mathematischen Resultaten. Der allgemein nach Picard be-nannte Fixpunktsatz hiess bei ihm ,,Satz von Cacciopoli-Tychonoff“.

Andreas Speiser (1885–1970), Autor einer seinerzeit viel zitierten Theorie derendlichen Gruppen [23], war in fortgeschrittenem Alter von Zurich nach seinerVaterstadt Basel berufen worden und stand kurz vor der Emeritierung. ZumSemesterschluss lud er jeweils die verbliebenen Studenten ins Cafe Spillmann

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am Fusse des Rheinsprungs, unweit des mathematischen Instituts, ein und gabdort bei Tee und Rahmbaisers politisch nicht immer korrekte mathematischeund andere Weisheiten zum Besten. So hielt er nicht viel von ,,diesen Godel-Sachen“ und empfahl uns stattdessen die Grundlagenphilosophie seines ehema-ligen Zurcher Kollegen Paul Finsler. Bei Speiser habe ich nicht viel lineareAlgebra, aber eine von Herzen kommende elementare Zahlentheorie gelernt.

In den grossen Semesterferien 1954 absolvierte ich in Liestal die Rekruten-schule. Ich habe sie in erster Linie als einen finanziellen Kraftakt erlebt. DiePostangestellten und Primarlehrer unter meinen Kameraden bezogen dank der,,Erwerbsersatzordnung“ mehr oder weniger ihren vollen Lohn, wahrend ich alsStudent mit dem mageren Rekrutensold von Fr. 1.25 pro Tag, mit Abzugen furMaterialverluste, uber die Runden kommen musste. Ein Privileg der Studentenwar hingegen, dass sie in einer der letzten RS-Wochen einen Tag Urlaub nehmendurften, um sich an der Universitat furs nachste Semester einzuschreiben (wozuim Grunde genommen keine Notwendigkeit bestand). Ich habe diesen Tag be-nutzt, um bei der damaligen Basler National-Zeitung vorzusprechen; denn ichhatte erfahren, dass dort zahlreiche Studenten stundenweise als Korrektorenbeschaftigt waren. Ich wurde akzeptiert und habe dort wahrend mehrerer Jahrewochentlich etwa zehn Stunden Nachrichten und Leitartikel, aber auch Tele-phonbucher, die im Hause gedruckt wurden, auf Druckfehler abgeklopft. DerDienst furs Abendblatt dauerte von 06 bis 10 Uhr; lukrativer war der Ein-satz fur die letzten Seiten des Morgenblatts, der um 02.30 Uhr in der Fruhbegann. Mit der Zeit wurde ich auch als Lokalreporter eingesetzt und habe furein bescheidenes Zeilenhonorar uber unzahlige Vereinsanlasse, Konzertlein undVortrage jeweils noch am gleichen Abend in einem Cafe einen Bericht verfasstund den auf dem Heimweg an der Porte der National-Zeitung abgegeben. Icherinnere mich an einen offentlichen Vortrag von van der Waerden uber Spielthe-orie. Da mir die Sache nicht ganz unvertraut war, bin ich naturlich uberzeugtgewesen, dass mein Bericht daruber noch besser ausgefallen war als der Vortragselbst . . .

Im Herbst 1955 ging am Mathematischen Institut ein neuer Stern auf: AlsNachfolger von Speiser war der junge Heinz Huber (1926–2000) auf den zweitenLehrstuhl fur Mathematik berufen worden. Aus einfachen Verhaltnissen stam-mend hatte er bei der damaligen Brown-Boveri in Baden ein Praktikum ab-solviert und war dort ,,entdeckt“ worden. Unterstutzt von Th. Boveri konnteer sich auf die Aufnahmeprufung an die ETH vorbereiten, hatte sie aber we-gen einer ungenugenden Note in Schweizer Geschichte fast verpatzt. Item,er durchlief dann das Mathematikstudium an der ETH und doktorierte 1953bei Saxer und Hopf uber ein Thema der geometrischen Funktionentheorie[15]. Es ging um ein vertieftes topologisches und metrisches Verstandnis des,,Grossen Picardschen Satzes“, verbunden naturlich mit einer grossartigen Ver-allgemeinerung desselben. Huber begann seine Lehrtatigkeit in Basel mit einerVorlesung uber Reelle Funktionen (im wesentlichen Mass und Integral). So

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etwas war fur uns Basler Studenten grundlegend neu. Ostrowskis Vorlesun-gen waren ja prima, vielleicht etwas altmodisch; aber hier dozierte einer frei,mit phantastischem Tafelbild, und fuhrte uns in lockerer Manier in die Bour-bakische Denkweise und Terminologie ein. Naturlich belegte ich im folgen-den Semster gleich zwei Vorlesungen bei Huber, ,,Differentialgeometrie“ und,,Integralgleichungen“.

Das Mathematische Institut hatte ausser den beiden Ordinarien (und ein paarPrivatdozenten) als einziges Personal einen Assistenten, der jeweils fur ein Jahrdiesen Posten einnahm (langer ware das nicht auszuhalten gewesen). In meinemsechsten Semester war ich der nachstliegende Kandidat und auch bereit, dasAmt zu ubernehmen. Hierzu gehorten die Mitarbeit bei den Analysisubungen,die Betreuung der Bibliothek und allerlei administrativer Kleinkram. Vor allemaber war der Assistent fur ein Jahr Ostrowskis Forschungsknecht. Ostrowskidachte nicht vor einem leeren Blatt Papier uber neue Sachen nach, sondern aneiner grossen Wandtafel, die die ganze Stirnwand seines Buros einnahm. Diesfand taglich von 15 bis gegen 18 Uhr statt, wobei der Meister jeden Gedanken inEchtzeit dem anwesenden Assistenten vordozierte. Wahrend meines Assisten-tenjahrs beschaftigte sich Ostrowski mit einer Neuausgabe seines Lehrbuchs [18]und mit numerischer linearer Algebra, so dass ich seinen Ausfuhrungen ohnegrossere Schwierigkeiten folgen konnte. Naturlich verhedderte er sich bei seinemmathematischen Bramarbasieren bisweilen. Wenn mich die Sache faszinierte,machte ich ihn gleich darauf aufmerksam, wenn nicht, so liess ich es laufen, biser selbst darauf kam. Zum Abschluss des Nachmittags diktierte er mir jeweils,was er in den letzten Stunden herausgebracht hatte, und ich musste den so ent-standenen Text am nachsten Tag in drei schreibmaschinengeschriebenen undfarbig annotierten Exemplaren mitbringen. Der einzige bleibende Niederschlagmeines Jahres als Forschungsknecht ist eine Fussnote in der Arbeit [19]: Es warmeine Idee gewesen, einen gewissen Algorithmus zur Bestimmung von Eigen-werten so zu modifizieren, dass er ohne Mehraufwand ,,kubisch“ konvergiertestatt nur ,,quadratisch“.

Zu den wissenschaftlichen Aktivitaten des Instituts gehorten ein mathema-tisches Kolloquium, das zwei- bis dreimal pro Semester stattfand, sowie diejahrliche Oberrheinische Mathematikertagung. Ich erinnere mich an einen Vor-trag von Ludwig Bieberbach uber ,,Dreikreise“ [4], das sind Kreisbogendreiecke,bei denen die drei Bogen in den Ecken Winkel 0 oder π einschliessen (Abb.3).Es geht da um die Existenz von Dreikreisen mit gegebenen Seitenlangen, umeinen ,,Satz von Pythagoras“ fur ,,rechtwinklige“ Dreikreise und Ahnliches. DaDreikreise ganz verschiedene Gestalten annehmen konnen, kommen auch glo-bale Betrachtungen ins Spiel. Chandrasekharan sprach uber Ramanujans τ -Funktion, die durch

q∏n≥1

(1− qn)24 = q − 24q2 + 252q3 − . . . =∑n≥1

τ(n) qn(|q| < 1

)6

Abb. 3

definiert ist. Die rechter Hand erscheinenden Koeffizienten τ(n) genugen wun-derbarer Weise der Funktionalgleichung

τ(mn) = τ(m) τ(n)(ggT(m,n) = 1

).

Auch Erdos war einmal da, ferner Mark Kac, der uber Walsh-Funktionensprach. Sein entwaffnendes Auftreten hat uns Studenten dermassen imponiert,dass wir entgegen allgemeinem Usus auch zum anschliessenden Abendschoppenins Zunfthaus zum Schlussel mitgegangen sind. Am 17. November 1960 hieltein junger belgischer Mathematiker namens Jacques Tits einen Vortrag uber,,Les groupes algebriques simples et leur interpretation geometrique“. DieserVortrag stand in Zusammenhang mit der Schaffung eines dritten Lehrstuhls.Huber: ,,Wir brachten die Kuratel herum mit dem Argument, nur zwei mathe-matische Lehrstuhle seien etwa dasselbe, wie wenn die Mediziner nur einenChirurgen und einen Gynakologen hatten.“ Auf diesen Lehrstuhl wurde dannder Schaffhauser Walter Habicht (1915–1998) berufen.

Die Oberrheinischen Mathematikertagungen waren um 1950 eingefuhrt wor-den und fanden reihum an den Universitaten Freiburg i.B., Strassburg undBasel statt, spater kam auch noch Nancy hinzu. Ein wesentlicher Zweck dieserVeranstaltung war bestimmt, die Institute von Freiburg und Strassburg nachdem Krieg wieder miteinander zu versohnen. Als junger Student habe ichnaturlich von den genauen Zusammenhangen nichts gewusst, und so habe ichnicht mitbekommen, dass die Elsasser Kollegen dem Freiburger Suß nicht un-voreingenommen gegenubertreten konnten. Insgesamt habe ich viermal andiesen Tagungen teilgenommen, sie zweimal als Assistent mitorganisiert undbeim letzten Mal auch uber meine Dissertation vorgetragen. Die Tagungenfanden ubers Wochenende statt, wobei auch fur ein Damenprogramm gesorgtwar. Fur ein Mittagessen wurden die anreisenden Teilnehmer den Familien dergastgebenden Kollegen zugewiesen; fur einen Umtrunk, einen kleinen Ausflug

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und ein grosses Abendessen (im ,,Adler“ in Hinterzarten, zum Beispiel) kamdas veranstaltende Institut auf. In Basel hatten wir naturlich kein Budgetfur Derartiges, und so musste Ostrowski den Vorsteher des Erziehungsdeparte-ments um Hilfe bitten, wobei er ,,einerseits den Aufwand fur diese Tagungennicht jedes Jahr weiter emporschrauben, anderseits aber auch nicht hinter denSchwesteruniversitaten zuruckstehen“ wolle.

1958 wurde Ostrowski emeritiert und zog nach Montagnola bei Lugano, wo erseit Jahren ein Haus besass. Er war aber auch spater noch in Basel anzutref-fen und beschaftigte da noch weitere Jahre einen Privatassistenten. Zu seinemNachfolger wurde Martin Eichler (1912–1992) berufen. Nach dem Mathematik-studium hatte Eichler zunachst in Peenemunde als angewandter Mathematikergearbeitet, sich aber nach dem Krieg rasch als Algebraiker mit sehr weitemHorizont einen Namen gemacht und war zuletzt Professor in Marburg gewe-sen. Ich denke, Eichler war der bedeutendste Mathematiker, der nach 1900 inBasel gewirkt hat. Als Mensch war er warm und besonnen, aber leider nichtmitreissend, und seine Vorlesungen machten vielen Studenten Muhe. Im Win-ter 1958/59 habe ich versucht, seiner ,,Darstellung der Gruppen“ zu folgen,aber nach der Halfte des Semesters aufgegeben.

Nach Ostrowskis Weggang ubernahm Huber das Heft am Institut und botmir neuerdings das Amt des Institutsassistenten an, das nun auch besser re-muneriert sein wurde. Ich gab daher das kleine Mathematikpensum, das icham HG ubernommen hatte, auf. Als Faktotum des Instituts uberwachte ichunter anderem dessen Umzug (samt Bibliothek) in ein Provisorium wie auchdie Ruckkehr ins unterdessen entkernte und wunderbar wieder hergerichteteGebaude am Rheinsprung. Meine letzte Tatigkeit als Institutsassistent, nachder Promotion und vor der Abreise in die verheissungsvolle mathematische Weltder ETH (Huber: ,,Da herrscht eine prickelnde Atmosphare“), war die hundert-prozentige Neuaufnahme der Instituts-Bibliothek, zwei Monate konzentriertesTippen von Katalogzetteln im damals gangigen Format 75 mm × 125 mm,mit Spiessloch. Zuhanden von meinen Nachfolgern habe ich dazu ein kleinesRegel-Handbuch verfasst, das viele Jahre spater auch noch in der Mathema-tikbibliothek der ETH gute Dienste geleistet hat.

Wie stand es bei alledem mit meinem Studentenleben? In den unteren Semes-tern hatte ich kaum personlichen Kontakt mit meinen Kommilitonen, und wirhaben uns weitherum gesiezt. Es gab da aber eine Runde von Mathematikstu-denten hoheren Semesters, in die ich mit der Zeit aufgenommen wurde. Unbe-strittenes Alphatier dieses Kreises war Bernhard Marzetta, ein HG-Absolventauch er und gesegnet mit einem umwerfenden Sarkasmus. Er war einige ZeitDoktorand bei Ostrowski gewesen, mit dem Dissertieren aber nicht zu Endegekommen. Marzetta wurde spater Blumers Nachfolger am HumanistischenGymnasium und dann sogar dort Rektor. Dass er als Mathematiker und ohneDoktorhut vom Kollegium dahin befordert wurde, hat naturlich mit seinerPersonlichkeit zu tun, bestatigt aber auch die allgemeine Erfahrung, dass man

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Mathematiker fur alles Mogliche brauchen kann. Sie sind es gewohnt, imPrinzip irgend eine Sache unvoreingenommen zu betrachten und ehrlich zuEnde zu denken.

Bei unseren Zusammenkunften in wechselnden Gasthausern wurden in ersterLinie die Professoren und weiteren Dozenten am Platz durchgehechelt; wirhaben aber auch uber mathematische Grundfragen diskutiert, zum Beispieluber den Begriff der ,,Dimension“ in der Physik. Einmal waren wir bei unseremMitglied S.C. zu einem Glas Wein eingeladen und machten es uns in dessenStudierzimmer bequem. Dass er die Kreutzer-Sonate in vier LP-Versionenvorratig hatte, war fur einen Studenten damaliger Zeit schon sehr speziell.Aber da stand auch eine vollstandige Gelbe Sammlung ! Schon ein einzigesdieser Bucher kostete fur einen Normalstudenten ein halbes Vermogen, und C.,der sich sonst eher im Hintergrund gehalten hatte, besass sie alle — ich wartotal uberwaltigt.

Eine gemeinsame Aktion unserer Gruppe soll hier nicht unerwahnt bleiben:1957 war ein Euler-Jahr, und zum 250. Geburtstag des grossen Mathematikerswaren in Basel verschiedene Anlasse vorgesehen. Wir funf waren der Meinung,Euler hatte auch eine Sondermarke verdient, und schrieben daher rechtzeitigeinen entsprechenden Brief an die schweizerische PTT. Darin sprachen wirvon der wissenschaftlichen Bedeutung Eulers, behaupteten weiter, dass nochnie ein Basler auf einer Briefmarke erschienen sei (was nicht ganz stimmte),und schlossen mit dem damals besonders wirksamen Argument, dass man denSchweizer Euler nicht ganz den Sowjets uberlassen durfe. Von der PTT erhiel-ten wir nur eine Standardantwort; Tatsache ist aber, dass 1957 eine 5-Rappen-Marke mit dem Bildnis Eulers erschien (Abb. 4). Naturlich haben wir unseingebildet, das sei nur unseretwegen geschehen.

Abb. 4

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An der Euler-Feier hielt die damalige Nummer Eins der Zunft, der mathemati-sche Physiker, Wissenschaftshistoriker, Universalgelehrte (und enfant terrible)Clifford Truesdell, die Festrede. Von seinem Vortrag uber Eulers Leistungenin der Mechanik [25] sind mir die einleitenden Satze durch die Jahrzehnte un-vergesslich geblieben: ,,Das grosse Buch der Natur liegt vor uns offen, es istaber von Gott in einer Sprache geschrieben, die wir nicht sofort verstehen, son-dern durch eigenen Fleiss, durch Liebe und Leid lesen lernen mussen. DieseSprache ist die Mathematik. Das Buch der Natur ist [ . . . ] ein grosses Lehrbuch,das nicht nur die [ . . . ] Hauptgesetze, sondern auch gewisse von Gott gestellteAufgaben enthalt. Der erste Schritt [ . . . ] ist das Lesen. [ . . . ] Dann folgt derschwierigere Teil der Wissenschaft, diese mathematisch formulierten Aufgabenzu losen.“

Dank einer Empfehlung Marzettas tauchte eines Tages der Chemiker FranzGrun (1914–2006) in meinem Elternhaus auf und liess fragen, ob ich fur ihnmathematisch arbeiten wolle. Grun war nach einem ,,summa cum laude“ Titu-larprofessor geworden, hatte dann aber irgendwie den Faden zur big science,die am Physikalisch-Chemischen Institut betrieben wurde, verloren. Nach demTod seines Forderers und Schutzpatrons Werner Kuhn musste Grun eine neueBleibe suchen und fand sie bei einem ehemaligen Dienstkameraden am BaslerAugenspital. Bei alledem war Grun wirklich gut im Einwerben von Drittmit-teln. Dies ermoglichte ihm, wahrend vielen Jahren Mathematikstudenten als,,Berater“ beizuziehen und mit Nationalfonds-Geld bescheiden zu entlohnen.Zu meiner Zeit galt sein Interesse der Diffusion, also der partiellen Differential-gleichung

∂u

∂t= D

∂2u

∂x2bzw.

∂u

∂t= D∆u ,

wobei u die Konzentration eines bestimmten Stoffes und D eine Materialkon-stante darstellen. Fur Grun ging es darum, mit Hilfe von Zeit- und Konzen-trationsmessungen den Wert dieser Diffusionskonstanten in konkreten Fallenzu bestimmen. Hierzu benotigt man ,,analytische Losungen“ der Diffusions-gleichung in geometrisch einfachen Situationen — ein klassisches Thema dermathematischen Physik. Ich vertiefte mich also in den ,,Hilbert/Courant“ [8]und zog auch die etwas moderneren Bande von Morse und Feshbach [17] zuRate. Aus unserer Zusammenarbeit sind mehrere gemeinsame Arbeiten ent-standen, so zum Beispiel [12]. Von uns zweien habe naturlich ich dabei vielmehr profitiert, nicht nur wegen der mathematischen Physik, die ich dabeigelernt habe, sondern auch in den stundenlangen Diskussionen mit Grun, derdie Angewohnheit hatte, auch das Selbstverstandlichste noch auf verquere Artzu betrachten und mich damit herauszufordern. Von ihm habe ich auch denBegriff ,,Daseinsrest“.

1958 hatte ich noch nicht mit dem vertieften Studium einer bestimmten mathe-matischen Teildisziplin begonnen, aber immerhin schon einige Nebenfacher hin-ter mich gebracht. Davon soll hier als Nachstes die Rede sein.

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An Paul Hubers Grundvorlesung in Experimentalphysik schloss sich ein zwei-semestriges Anfangerpraktikum an. Da waren in einem grossen Saal gut funk-tionierende Experimente aus allen Teilgebieten der Physik (ausser Kernphysik,naturlich) vorbereitet, und ein Mittwochnachmittag reichte gerade, um einderartiges Experiment fertig aufzubauen, die Instrumente zu eichen, einigeMessreihen durchzufuhren und am Schluss im Protokoll festzuhalten, die dyna-mische Viskositat η von Rizinusol habe bei Zimmertemperatur einen Wert zwi-schen 0.876 und 0.924 Pascalsekunden, je nach angewandter ,,Korrektur“. DieOberaufsicht uber dieses Praktikum hatte Professor Otto Miescher inne. Mie-scher, ein ur-Basler Junggeselle und bedeutender Physiker, ging still zwischenden Experimentiertischen umher und forderte ab und an Studenten, die em-sig die aufliegenden Checklisten abhakten, mit listigen Fragen heraus. MeineAntworten haben ihm offenbar gefallen; jedenfalls schloss er mich gleich insHerz und hat mir viel beigebracht, was nicht im ,,Kohlrausch“ [16] stand. Vorallem habe ich von ihm gelernt, dass ein Student in erster Linie keine Angsthaben darf, sich mit einer dummen Frage zu blamieren.

In diesem Physikpraktikum hatte ich auch verschiedene Schaltungen zusam-mengesteckt und dabei mitbekommen, dass hier eine linear-algebraische undeine geometrische Struktur auf geheimnisvolle Art zusammenwirken. Das wollteich nun besser verstehen, und die Vorlesung ,,Lineare Schaltungen“ von ErnstBaldinger, Professor fur angewandte Physik, schien mir das dazu geeigneteVehikel. Baldinger sprach von Zwei- und Vierpolen, black boxes mit zweioder vier Anschlussklemmen und einer konstituierenden Gleichung. Hierunterfallen einfache Sachen wie Batterien oder Widerstande, aber auch Verstarkermit vorgegebenen Kennlinien. Baldinger hat das ganz abstrakt aufgezogenund dann auch einfache Schaltkreise analysiert. Auf eine allgemeine Theorieder Netzwerke, insbesondere die Behandlung der Frage, wieviele Freiheitsgradenach Anwendung der Kirchhoffschen Gesetze noch ubrig bleiben, wartete ichallerdings vergebens. Diese Dinge sind mir erst Jahre spater, beim Studiumeiner Arbeit von Eckmann [9], klarer geworden.

Meine erste Vorlesung in theoretischer Physik waren “Ausgewahlte Kapitelaus der Optik“ von Markus Fierz — im dritten Semester naturlich way overmy head; aber ich war von der Sache absolut fasziniert und kann sagen, dassmir keine andere Physikvorlesung in solch vielfaltiger Weise das Tor zu neuenmathematischen Welten (Fourier-Transformation, PDE’s, Wellenfronten, spe-zielle Funktionen, what have you) aufgestossen hat. Noch heute habe ich Fierz’Satz im Ohr, ,,was wir in der vergangenen Stunde unternommen haben, ist nichteine Fourier-Analyse der Lichtschwingungen, sondern eine Fourier-Analyse desGitters.“ Damals habe ich das bestimmt nicht verstanden, und heute kannich es nicht mehr nachvollziehen, da ich in einer Aufraum-Orgie anlasslichmeiner Pensionierung die samtlichen Vorlesungsnotizen aus meiner Studenten-zeit weggeworfen habe.

Zum theoretisch-physikalischen Curriculum gehort auch die Warmelehre — ein

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ganz trauriges Kapitel. Ich habe mich wirklich angestrengt, in extremis sogarPlancks ,,Vorlesungen uber Thermodynamik“ [20] angeschafft, bin aber imDschungel der Axiome, experimentellen Tatsachen, Herleitungen und Haupt-satze steckengeblieben. Ein Hauptgrund hierfur war naturlich, dass damalsdie Begriffswelt der Mannigfaltigkeiten und Differentialformen noch nicht zumAllgemeingut der Physiker gehorte. Seither habe ich hie und da nachgeschaut,ob es ein definitives Paradigma der ,,phanomenologischen“ Thermodynamik,vulgo: Warmelehre, gibt, bin aber nicht fundig geworden. Der italienischetheoretische Physiker Mario Verde, der ein Jahr fur Fierz eingesprungen istund mich in dem Fach gepruft hat, ging auf Nummer Sicher und hat sich aufstatistische Thermodynamik und Quantenmechanik beschrankt; das war mirnoch so recht. (Hier noch ein typischer Franz-Grun-Witz: Grun beschreibt,wie er bei einem akademischen oder einem geselligen Anlass die Bekanntschaftdes Gastprofessors Verde macht. Verde wurde sich vorstellen, Grun dann wiesich’s gehort: ,,Freut mich sehr, Grun“, und erhielte zur Antwort: ,,Stimmt.“)

Als drittes Nebenfach war, wie gesagt, Philosophie vorgesehen. Ich habe tat-sachlich einige Vorlesungen bei Karl Jaspers besucht, darunter eine ,,Philo-sophie in Dichtung und Lebenspraxis“, flott mitgeschrieben, meine Notizenaber nie mehr wiedergelesen. Auch Jaspers’ Seminar war eine Vorlesung —es ware undenkbar gewesen, dass jemand anderer in Jaspers’ grossem Horsaalvorgetragen oder auch nur das Wort ergriffen hatte. Das war ja alles sehrschon und in einer wunderbaren Sprache formuliert; aber es ist irgendwie anmir abgetropft. Die einzige philosophische Veranstaltung, bei der ich inten-siv mitgegangen bin, war ein Philosophisches Proseminar bei dem Existenz-philosophen Heinrich Barth, Bruder des Theologen Karl Barth. Wir warenein knappes Dutzend Studenten und haben Mark Aurels (121–180) Selbstbe-trachtungen [2] Sentenz fur Sentenz durchgeharkt, als mussten wir sie geradewieder neu aus dem Griechischen ins zwanzigste Jahrhundert heraufholen. DieAuseinandersetzung mit diesem Geist, in dem ich mich selber wieder erkannte,hat dazu gefuhrt, dass unser erster Sohn Thomas (1960–2006) den Beinamen,,Aurel“ erhielt.

Der konkrete Anlass, die Philosophie aus meinem Facherkanon zu streichen,war allerdings mehr formaler Natur. Im Hinblick auf den Lehrerberuf mussteich auch eine ,,fachwissenschaftliche Prufung fur die mittlere Schulstufe“ able-gen. Die umfasste drei handfeste Schulfacher (wozu Philosopie damals nichtgehorte), zum Beispiel Mathematik, Physik und als drittes Fach Chemie. Vonder Chemie fehlten mir nur noch die Praktika, die ich nun in meinem achtenSemester nachholte.

Das anorganische Praktikum bestand aus einem halben Dutzend Analysen,die alle nach dem gleichen Schema abliefen. Man bezog beim Assistenteneine kleine Menge eines unbekannten Salzgemisches und musste sich experi-mentell durch einen komplizierten Entscheidungsbaum hindurcharbeiten, umfestzustellen, welche Ionen (Cl−, Fe++, NH+

4 , usw.) in dem Gemisch vorhanden

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waren. Diese gaben sich, je nachdem, durch Farbumschlage von Indikatorsub-stanzen, charakteristische Niederschlage oder spezielle Emailfarben zu erken-nen. Das Wort ,,Algorithmus“ war damals noch nicht in jedermanns Mund;aber ich kann heute sagen, dass ich in diesem Praktikum zum ersten Mal dieBekanntschaft mit einem solchen gemacht habe. Das handwerkliche Vergnugenwurde getrubt durch den Umstand, dass das alles sauteuer war, denn Klein-material, Hilfssubstanzen, Losungsmittel usw. musste der Praktikant selbst be-rappen. Vor allem aber haben die zustandigen Assistenten durch ihre Feld-webelalluren ein Klima, ich sage es jetzt einmal: des Terrors erzeugt. Sie hiel-ten durch nichts legitimierte Zwischenprufungen ab und sagten nicht: ,,Soso,Sie haben Chrom gefunden“, oder: ,,Es fehlt noch ein Halogen“, sondern nur:,,1 Fehler“, worauf nichts anderes ubrig blieb, als die Analyse noch einmalvon vorn zu beginnen. Eine weitere Chance zur Nachbesserung wurde nichtgewahrt. Es war mir schleierhaft, wie Hans Erlenmeyer, den ich in der anor-ganischen Grundvorlesung als imponierenden Charakter erlebt hatte, ein derar-tiges Regime in seinem Institut dulden konnte. Im organischen Praktikum habeich mit akzeptabler Ausbeute (ohne Zugabe von Siedesteinen!) Methylvioletthergestellt und bin nun stolzer Besitzer eines Schlusstestats von dem Nobel-preistrager Tadeus Reichstein.

Um diese beiden Praktika in einem einzigen Semester hinter mich bringenzu konnen, habe ich die Erwerbstatigkeit so lange eingeschrankt. Dies unddie geplante Grundung einer Familie machten es notig, andere Geldquellenanzuzapfen. Hier kam mir nun wieder Grun zu Hilfe. Er wies mich aufdie Theodor-Engelmann-Stiftung hin, die Studenten, die ,,Burger der KantoneBern oder Basel-Stadt sind und der protestantischen Konfession angehoren“,mit Stipendien unterstutzte. Ich habe mich dort beworben, und es ist mirinnert weniger Tage ein Betrag von 2400 Franken zugesprochen worden. ZweiJahre spater durfte ich ,,ausnahmsweise“ noch einmal eine ahnliche Summe ent-gegennehmen. Im Lebenslauf zu meiner Dissertation habe ich mich dafur be-dankt mit den Worten, ,,dieser Schritt [gemeint ist die Heirat] wurde ermoglichtdurch ein Stipendium der Theodor-Engelmann-Stiftung.“ Die Herren habenmich dann etwas ungnadig wissen lassen, sie hatten mir das Stipendium zumStudieren verliehen, nicht zum Heiraten.

Damit komme ich endlich zu meinem Doktoratsstudium, das ich mit dem Win-tersemester 1957/58 beginnen lassen kann. Nachdem Huber mit Vorlesungenuber ,,Funktionentheorie“ und ,,Hohere Funktionentheorie“ das Terrain vor-bereitet hatte, richtete er namlich im Herbst 1957 ein Seminar uber ,,ModerneProbleme der Funktionentheorie“ ein, das sich uber mehrere Semester hinzog.Unser Thema waren Extremallangen, ein Begriff der 1950 von Ahlfors undBeurling [1] eingefuhrt worden war und inzwischen zu mehreren Arbeiten imGrenzbereich zwischen komplexer Analysis und Differentialgeometrie gefuhrthatte. Da dieser Begriff auch dem Hauptresultat meiner spateren Dissertation[5] zu Grunde liegt, werde ich ihn hier kurz beschreiben.

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x

y

R

a b

Abb. 5

Gegeben sind eine Riemannsche Flache R und auf R eine Kurvenschar Γ. AlsBeispiel diene ein Kreisring R :=

{z ∈ C

∣∣ a < |z| < b}

in der z-Ebene, z =x+iy, und Γ sei die Gesamtheit aller geschlossenen Kurven γ, die einmal um dasLoch herumlaufen (Abb. 5). Zur Messung von Langen und Flacheninhalten aufR benutzen wir nicht die normale euklidische Metrik in der z-Ebene, sondernfrei wahlbare konforme Metriken ρ(z) > 0. Eine derartige Metrik ρ definiert aufR ein Linienelement ds = ρ(z)|dz| sowie ein Flachenelement dA = ρ2(z) d(x, y),wobei d(x, y) das euklidische Flachenelement bezeichnet. Damit erhalt jedeKurve γ ∈ Γ eine von dem gewahlten ρ abhangige Lange lρ(γ) =

∫γρ(z) |dz|,

und der gesamte Flacheninhalt von R betragt Aρ =∫Rρ2(z) d(x, y). Mit Lρ(Γ)

bezeichnen wir die Lange der kurzesten von allen Scharkurven und bilden dannden dimensionslosen Quotienten L2

ρ(Γ)/Aρ , der immer noch von der gewahltenMetrik ρ abhangt. Der maximal mogliche Wert dieses Quotienten, also dieGrosse

λ := supρ

L2ρ(Γ)

Aρ,

hangt nur von der Flache R und der betrachteten Kurvenschar Γ ab und heisstExtremallange dieser Schar, und die Metrik ρ0, die diesen Maximalwert λ pro-duziert, heisst Extremalmetrik fur die betrachtete Situation.

In unserem Beispiel des Kreisrings ist die Extremalmetrik aus Symmetrie-grunden leicht zu erraten: Es ist die Metrik ρ0(z) := 1/|z|, die jedem um-laufenden Kreis die Lange 2π erteilt. (Man muss naturlich beweisen, dass jedesandere ρ tatsachlich ungunstiger ist.) Damit ist auch Lρ0(Γ) = 2π, und manfindet

λ =4π2

Aρ0=

log(b/a).

So what? Der entscheidende Punkt ist der, dass die Extremallange von ihrer

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Konstruktion her automatisch eine konforme Invariante ist. In unserem Beispielfolgt daraus unmittelbar, dass sich R nur dann auf einen anderen Kreisring R′

konform abbilden lasst, wenn die Radienverhaltnisse b/a und b′/a′ uberein-stimmen.

Abb. 6

In dieser Weise haben wir in dem Seminar Extremallangen von interessantenKurvenscharen auf der projektiven Ebene, dem Mobiusband, dem Torus undder Kleinschen Flasche (Abb. 6) berechnet und uns dabei auch eine gewisseVertrautheit mit Riemannschen Flachen ganz allgemein erworben. Fur einenTorus T zum Beispiel und die Schar Γ aller geschlossenen Kurven auf T , die sichnicht zusammenziehen lassen, sondern den Torus irgendwie umrunden, erhaltman λ = 2/

√3. Dieses Resultat stammt von Lowner [21] und wird heutzutage

folgendermassen interpretiert: Fur jede Riemannsche Mannigfaltigkeit T vomTyp des Torus gilt

A ≥√

3

2

(sys(T )

)2,

wobei sys(T ), die sogenannte Systole von T , die Lange der kurzesten nichtzusammenziehbaren geschlossenen Kurve auf T , darstellt. (Systolische Unglei-chungen gehen gerade andersherum als isoperimetrische!)

Meine Dissertation sollte nun von Extremallangen auf geschlossenen Flachen Fhoheren Geschlechts, etwa der Oberflache eines Brezels (Abb. 7), handeln. ImGegensatz zu den obigen Beispielen besitzen solche Flachen keine kontinuier-liche Gruppe von konformen Automorphismen, so dass die bisher erfolgreicheBeweismethode nicht mehr funktioniert. Ohne nun auf Details einzugehen,mochte ich immerhin das Folgende berichten, weil mir das Heureka noch heuteabsolut prasent ist: Ich war gerade mit dem Velo am Basler Blumenrainunterwegs, als mir unversehens klar wurde, dass die Feldlinien des zu einerHomologieklasse Z0 dualen harmonischen Differentials auf F geschlossen seinmussen. Ich wusste gleich: Das ist der Durchbruch. Bis zum glucklichen Ab-schluss meiner Dissertation [5] ging es naturlich trotzdem noch einige Zeit. Ihr

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Hauptergebnis lautet in moderner Schreibweise: Es gibt absolute Konstantenσg, so dass fur jede geschlossene Flache vom Geschlecht g die UngleichungA ≥ σg(sys(T ))2 zutrifft.

Abb. 7

Nach Lowner ist σ1 =√

3/2. In [5] habe ich naturlich auch Uberlegungen zumWert von σg (g > 1) angestellt und die Ungleichung

σg >π

2g√

(g + 1)!∼ πe

2g(g →∞)

bewiesen; mehr gab meine Methode nicht her. Funfzig Jahre spater sind Ex-tremallangen nicht mehr en vogue, Systolen aber sehr. In seinem 2008 er-schienenen Essay ,,What is a systole?“ [3] kommentiert Marcel Berger meinErgebnis wie folgt: ,,In 1960 Accola and Blatter got an inequality, but with aconstant, that was getting smaller and smaller as the number of holes becamelarger and larger. Their papers launched the search in this subject. [ . . . ] For usit is the only case where complex analysis on surfaces gives a result that is deadwrong. One had to wait for Gromov in order to have a constant that growswith the genus.“ Starke Worte; aber ich hatte gewarnt sein mussen: Nachdemich im Zurcher Mathematischen Kolloquium uber meine Dissertation vorgetra-gen hatte, bemerkte Ernst Specker in der anschliessenden Diskussion, seinemGefuhl nach mussten die σg mit g eher wachsen als fallen.

Am 27. Mai 1960 fand mein Doktorexamen statt; die Universitat Basel war dagenau 500 Jahre und 53 Tage alt und stand mitten im Trubel der Jahrhun-dertfeiern. Huber begann seine Prufung mit der folgenden Frage: Gegebensind zwei Punkte z0, w0 im Einheitskreis D. Gibt es eine analytische Funktionf :D → D mit f(z0) = w0? Naturlich gibt es das. Und weiter: Kann manauch verlangen, dass zwei gegebene Punkte z0, z1 ∈ D in gegebene Punkte w0,w1 ∈ D ubergehen? Ich hatte Hubers Dissertation genau studiert und wusstedie Antwort: Das geht genau dann, wenn d(w0, w1) ≤ d(z0, z1) ist, wobei d(·, ·)den hyperbolischen Abstand in D bezeichnet.

(Zum Beweis muss man zunachst

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den Spezialflall z0 = w0 = 0 betrachten. Nach dem Schwarzschen Lemma giltdann |w1| =

∣∣f(z1)∣∣ ≤ |z1|.) Fur die Prufung bei Eichler hatte ich das Algebra-

Lehrbuch von Redei [22] durchgearbeitet. Die Prufung selbst erstreckte sichin erster Linie uber verschiedene Auspragungen der Galois-Theorie. Als amSchluss noch etwas Zeit blieb, fragte mich Eichler noch zum Scherz, was einNormalteiler sei. Eine Woche zuvor hatte namlich ein anderer Doktorand diesenBegriff nicht erklaren konnen, was am Institut nicht lange geheim gebliebenwar.

Nach Abschluss der Prufung schritten wir gleich zur zeremoniellen Verleihungdes Doktortitels. Hierzu kamen jetzt durch eine Seitentur der Dekan und derUniversitatsweibel, Herr Thomann, herein. Vor Jahren hatte sich Thomann imStudentensport vergeblich angestrengt, mir das Kraulen beizubringen. Heutenun hatte er seinen schwarz-weissen Weibelmantel uber den Burokittel gestulptund auch ein Schwert mitgebracht. Dieses musste ich anfassen und feierlichschworen, dass ich auch furderhin ehrlich auf dem Pfad der Wissenschaft wan-deln wolle. Damit war ich nun ein frischgebackener Doktor der Philosophie derUniversitat Basel. Gemessen an den Weltstandards der Zeit war ich allerdingsein ziemlicher Ignorant, was mir allerdings erst zwei Jahre spater, nach meinerAnkunft in Stanford, richtig klar wurde.

Die Schweizerische Mathematische Gesellschaft feierte ihr 50jahriges Bestehenin erster Linie (und, wie sich zeigen sollte: ,,nachhaltig“) mit einem ,,Interna-tionalen Kolloquium uber Differentialgeometrie und Topologie“ [14], das vom20. bis zum 25. Juni 1960 an der ETH Zurich stattfand. Beno Eckmann undHeinz Hopf, die beiden Organisatoren, hatten hierfur nicht nur die notigenGeldmittel zusammengebracht, sondern dank ihrer Verbindungen zur IMU aucherreicht, dass in der damaligen Periode des Tauwetters unter Chruschtschoweinige russische Kollegen, unter ihnen die beiden Alexandroffs, an dem An-lass teilnehmen konnten. Die Abb. 8 zeigt Hopf mit Paul Alexandroff. AufEmpfehlung meines Doktorvaters erhielt ich ebenfalls eine Einladung zu diesemKolloquium und durfte sogar uber meine Dissertation vortragen.

Am Eroffnungstag erschien auf der Frontseite der NZZ ein sehr schoner Artikelvon Eckmann [10], der einen weiten Bogen vom Thema dieses Kolloquiums uberdie Tatigkeit des Mathematikers im allgemeinen bis hin zum Wesen der ange-wandten Mathematik schlagt. Es war fur Jahre das erste und das letzte Mal,dass die Mathematik in der NZZ so prominent zur Sprache kam — aber dasist eine andere Geschichte. Ein Kolloquium, so Eckmann, ,,gibt dem Forscherdie erwunschte Gelegenheit, seine Gedankengange und Ergebnisse einem beson-ders kompetenten Kreise vorzulegen. Wenn er hier das Wort ergreift, erfahrt erdie Reaktion der wissenschaftlichen Welt in unmittelbarer Weise, und er siehtmit Spannung dem Augenblick entgegen, da das Gremium mitgeht, mitdenktund das Neue aufnimmt, das er ihm vorlegt. [ . . . ] So bedeuten die mathemati-schen Kolloquien weit mehr als nur die Reihe der Vortrage [ . . . ]; sie schaffen

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Abb. 8

wahrend eines kurzen Zeitraums eine Atmosphare intensivster geistiger Zusam-menarbeit, die nicht nur fachlich, sondern auch menschlich ein unvergesslichesErlebnis ist.“ Wenn man das wiederliest, muss man sich naturlich vor Augenhalten, dass die phantastischen Kommunikationsmittel, uber die wir heutzu-tage verfugen, damals auch nicht im Traum zur Verfugung standen.

Zum Thema der Veranstaltung schreibt Eckmann, und das markiert nun wirk-lich eine mathematische Zeitenwende: ,,Im gegenwartigen Zurcher Kolloquiumwird globalen Gesichtspunkten vor den lokalen der Vorzug gegeben; dies be-deutet, dass das Verhalten einer Flache, geometrischen Figur, einer hoherdi-mensionalen Mannigfaltigkeit nicht nur in der unmittelbaren Nahe eines Punk-tes, sondern als Ganzes untersucht wird. Die Betrachtungsweise ,im Kleinen‘ istverhaltnismassig alt, diejenige ,im Grossen‘ gehort dagegen zu den besonderenZugen der neueren mathematischen Begriffsbildung.“ Gerade in der Topologiefuhren die globalen Aspekte ,,zu interessanteren Fragen und Ergebnissen, diein ihrer Art ziemlich anders aussehen als das, was man sich ublicher Weiseunter mathematischer Formulierung vorstellt. Denkt man etwa an Zusam-menhangsverhaltnisse eines komplizierten Netzwerkes, an Verschlingungseigen-schaften von Knoten, an die Moglichkeiten der Deformation einer geschlossenenFlache [ . . . ], so fallt der stark qualitative Charakter dieses Problemkreises auf.“

Zu dem hier angedeuteten Ubergang gehoren auch, naturlich unter dem Ein-fluss jener ,,Gruppe von franzosischen Mathematikern“, eine konzeptionelleVerdichtung der Begriffe und sie begleitend der mathematischen Notation.Gantmachers Matrizenrechnung [11] wurde abgelost durch Halmos’ ,,Finite-dimensional vector spaces“ [13], und in den differentialgeometrischen Arbeitenverschwanden die Gerollhalden von Indizes, die stumpfsinnig hinauf- und hi-nuntergeschoben wurden. Hans Samelson, ein Schuler Hopfs und ebenfallsTeilnehmer an dem Kolloquium, hat mir aus dem Herzen gesprochen, als ergestand, ,,it has cost me years to understand what was going on here.“

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Als Beleg fur die vorangehenden Ausfuhrungen liste ich hier einige der Kol-loquiumsvortrage auf. Bott sprach uber ,,Vector fields on spheres and al-lied problems“, Chern uber ,,Mappings of complex manifolds“, dann Hirze-bruch uber ,,Charakteristische Klassen und ihre Anwendungen“. Milnor gab,,A survey of cobordism theory“, Thom sprach uber ,,Stabilite topologiquedes applications differentiables“, und Kervaire prasentierte sein Beispiel einerMannigfaltigkeit, die keine differenzierbare Struktur zulasst. Ferner seien hiernoch Smale erwahnt, der uber ,,Topological methods in differential equations“vortrug, und Ossermann mit einem Vortrag uber ,,Minimal surfaces in thelarge“. Man sieht, dass dieses Kolloquium in der Tat alle Protagonisten der,,Nachkriegsgeometrie“ zusammengefuhrt hat.

Vortragssprachen waren Deutsch, Franzosisch und Englisch. Es war mir abernicht entgangen, dass Hirzebruch seinen Vortrag auf Deutsch angekundigt undniedergeschrieben, aber auf Englisch gehalten hat. Da habe ich mir naturlichGedanken gemacht, ob ich nun auch mein eigenes kleines Referat besser in eng-lischer Sprache halten sollte. Zur Sicherheit bin ich wahrend der vorgangigenMittagspause auf den Zurichberg gestapft und habe unterwegs versucht, imKopf meinen Text ins Schulbuben-Englisch zu ubersetzen, das mir damals zurVerfugung stand. Naturlich hat dann niemand begehrt, dass ich auf Englischvortrage; aber Derartiges gehort eben zu den Problemen, die den Anfanger inder wissenschaftlichen Arena umtreiben.

Mit der Teilnahme an diesem wissenschaftlichen Anlass hat der formale Teilmeines Studiums seinen kronenden Abschluss gefunden. Mein Abgangszeugnis,versehen mit dem Rektoratssiegel der Universitat Basel, datiert vom 5. Septem-ber 1960 und schliesst mit dem Satz: ,,Uber sein Betragen ist nichts Nachteiligesbei uns zur Anzeige gekommen.“ Am 1. Oktober 1960 trat ich eine Assisten-tenstelle bei Professor Saxer an der ETH an und konnte nun zum ersten Malmeine Familie mit dem erworbenen Beruf ernahren.

Wer diesem Bericht bis hierher gefolgt ist, wird zum Schluss eine gewisse Bilanzerwarten. Man wird gespurt haben, dass meine Studienzeit, alles in allem,eine freie und gluckliche Zeit war. Zum personlichen Aufbruch gesellte sichdamals die Offnung der westlichen Welt insgesamt. Meine Kommilitonen undich waren uberzeugt, mit dem hier erworbenen Rustzeug diese immer freiere,schonere und interessantere Welt gestaltend in Besitz nehmen zu konnen. Allewurden wir eine rechte Stelle und ein Auto haben. Fur unsere Generation istes dann auch so herausgekommen. Meine Enkel werden vielleicht in funf oderzehn Jahren ein Studium beginnen; fur sie wird alles radikal anders sein.

Bibliographie

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