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DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 06.09.2011 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 – 20.00 Uhr Der Fall Lynne Stewart Eine amerikanische Geschichte Von Martina Groß Co-Produktion DLF/NDR URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript -

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DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 06.09.2011 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 – 20.00 Uhr

Der Fall Lynne Stewart

Eine amerikanische Geschichte

Von Martina Groß

Co-Produktion DLF/NDR

URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. � Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript -

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Musik Doors: Unknown soldier

Einspielung 1: George W. Bush:

But we won‘t allow this enemy to win the war by changing our way of live or

restricting our freedoms. Justice will be done. Either you are with us or you are with

the terrorists.

Musik Bill Frisell - Struggle

O-Ton 1: Lynne Stewart:

I am Lynne Stewart, I am an attorney in New York City. I’ve practiced Criminal

Defense Law for over 30 years. In April of 2002 the US government arrested me for

aiding materially a terrorist organization based solely upon my representation of

Sheik Omar Abdel Rahman who was a convicted terrorist from Egypt.

1. Übersetzerin:

Ich bin Lynne Stewart. Über 30 Jahre war ich Strafverteidigerin in New York City. Im

April 2002 hat mich die Regierung wegen Unterstützung einer terroristischen Gruppe

verhaftet, nur weil ich Scheich Omar Abdel Rahman vertreten habe, einen

verurteilten Terroristen aus Ägypten.

Musik: Bill Frisell - Struggle

Einspielung 3: John Ashcroft:

Today's indictment charges four individuals, including Rahman's lawyer, a United

States citizen, with aiding Sheik Abdel-Rahman in continuing to direct terrorist

activities of the Islamic Group from his prison cell in the United States.

3. Übersetzer:

Vier Personen werden heute angeklagt, - auch Rahmans Anwältin, eine US-Bürgerin,

Scheich Abdel Rahman geholfen zu haben, aus seiner Gefängniszelle in den USA

heraus terroristische Aktivitäten der Islamischen Gruppe zu leiten.

Musik: Bill Frisell - Struggle -

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O-Ton 2: Lynne Stewart:

Ahm, the background of this was that the Sheik was charged shortly after World

Trade Center I with a plot to blow up New York City landmarks. He was ultimately in

1995 convicted of that plot, of the conspiracy.

1. Übersetzerin:

Kurz nach dem ersten Anschlag auf das World Trade Center wurde der Scheich

angeklagt. Wegen einer Verschwörung, Bauwerke in New York, in die Luft zu

sprengen. Dafür wurde er 1995 verurteilt.

Musik: 1 Bill Frisell: Struggle

Haussprecher:

Der Fall Lynne Stewart

Eine amerikanische Geschichte

Ein Feature von Martina Groß

Erzählerin:

Am 9. April 2002 war US-Justizminister John Ashcroft höchstpersönlich nach New

York gekommen. Er hatte zu einer Pressekonferenz geladen. Ort: Ground Zero. Fast

alle Trümmer waren abgeräumt. Von den Türmen des World Trade Center war nur

noch ein riesiger Krater übrig. Im Schutt fand sich ein Teil einer Metallplakette. Bis

zum 11. September erinnerte sie an die sechs Opfer des ersten Anschlags auf das

World Trade Center 1993. Anders als damals, stand jetzt die ganze Nation unter

Schock. Angst beherrschte das Land. Angst vor neuen Anschlägen. Irgendwann.

Irgendwo. George W. Bushs War on Terror richtete sich nicht nur gegen den

äußeren, sondern auch gegen den inneren Feind. Der Patriot Act, ein fast 400

seitenlanges Gesetzesbündel, vereinfachte die Überwachung aller Bürger. Jeder war

jetzt verdächtig. Auch Anwälte. Erst recht Bürgerrechtsanwälte, die wie Lynne

Stewart politisch motivierte Mandanten vertraten.

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Einspielung 4: John Ashcroft.

To those who scare peace loving people of phantoms of lost liberty my message is

this: Your tactic only aids terrorists. 0’09“

3. Übersetzer:

An jene, die friedensliebende Menschen mit dem Phantom verlorener Freiheit

ängstigen, lautet meine Nachricht: Eure Taktik hilft nur Terroristen.

Regie: Atmo

Erzählerin:

New York im April 2011. Ralph Poynter, Lynne Stewarts Ehemann, ist auf dem Weg

zu dem Haus, in dem er mit seiner Frau zehn Jahre lang gewohnt hat.

O-Ton 5: Ralph Poynter:

… but one of the things she says, the American legal system and the whole its

woods, racism, sexism, classism, she says, it‘s the best system. And she says, I am

going to participate in it and I‘m trying to keep it even.

1. Übersetzter:

… sie sagte, trotz des ganzes Krempels, des Rassismus, Sexismus und der

Klassenjustiz, das amerikanische Rechtssystem ist immer noch das Beste. Ich will

daran beteiligt sein, dass es so bleibt.

O-Ton 6: Ralph Poynter:

I never met a person with greater empathy than Lynne Stewart. And when anybody

asks me, I say she has so much empathy, she even empathizes with white people

and I am saying, man, can you imagine that? (lachen) Schlüssel. Auto aus.

1. Übersetzer:

Ich kenne niemanden mit mehr Mitgefühl als Lynne Stewart. Sie hat sogar Mitgefühl

mit Weißen. Kannst Du Dir das vorstellen?.

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Erzählerin:

Poynter parkt das Auto gegenüber einem kleinen, schmalen zweistöckigen Haus.

Neun Jahren ist es her, als FBI-Beamte morgens vor der Tür standen, um Lynne

Stewart zu verhaften. Eine Mutter von drei Kindern und mehrfache Großmutter.

Damals war sie 63. Eine kleine stämmige Frau, mit grauem Bubikopf, Brille und

ausgestattet mit der typischen New Yorker Schlagfertigkeit. In einem Interview

erinnerte sie sich 2003 an den 9. April des Vorjahres. Ein Dienstag.

O-Ton 3: Lynne Stewart:

Ah, I was arrested at my home. I had the cuffs put on me, I was taken by the FBI in a

waiting car to a FBI headquarters. I was fingerprinted, photographed. None of the

niceties that one would assume with a quote „prominent“ lawyer. And I was pretty

prominent, but may be that was the problem.

1. Übersetzerin:

Sie haben mir Handschellen angelegt. Draußen wartete ein Auto. Das brachte mich

zum FBI-Hauptquartier. Meine Fingerabdrücke wurden abgenommen. Ein Foto

gemacht. Keine Nettigkeiten, die man einer prominenten Anwältin zugestehen

könnte. Ich war ziemlich bekannt, aber das war vielleicht das Problem.

Erzählerin:

Noch am selben Abend kam Lynne Stewart gegen Kaution frei. Ebenso der

Mitangeklagte und Übersetzer Mohammed Yousry. Der dritte Angeklagte, der

Postbote, Anwaltsgehilfe und enge Vertraute des Scheichs Ahmed Sattar blieb in

Haft. Entgegen dem Ratschlag vieler Kollegen und Freunde tat Stewart, was sie in

politischen Prozessen immer tat: Öffentlichkeit herstellen. Sie lud zu einer

Pressekonferenz:

O Ton Steward

I do think that this will become hopefully a touchstone case as many of my other

cases have become. Something that points out the limits that the government can go

to in prosecuting people they don‘t like. And we hope that it will stand for that. They

have now arrested the lawyer and the interpreter, I mean how much further. Are they

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gonna arrest the lady that cleans the sheikhs cell? I mean it goes too far. And I think

we all have a sense of that.

1. Übersetzerin:

Das wird hoffentlich wie viele meiner Fälle ein Prüfstein werden und zeigen, wo die

Grenzen der Regierung liegen, Leute anzuklagen, die ihnen nicht gefallen. Wir hoffen

auf einen Präzedenzfall. Bis jetzt haben sie die Anwältin und den Übersetzer

verhaftet. Ist als nächstes die Frau dran, die in der Zelle des Scheichs putzt? Das

geht zu weit. Das wissen wir alle.

Musik: Bill Frisell: Struggle

Erzählerin:

Als Lynne Stewart im April 2002 verhaftet wurde, lag ihr Vergehen zwei Jahre zurück.

Im Sommer 2000 hatte sie eine Presseerklärung für ihren Mandanten veröffentlicht,

in der Scheich Omar Abdel Rahman die Aufkündigung des Waffenstillstandes der

Islamischen Gruppe mit der ägyptischen Regierung forderte. Der blinde Kleriker war

das geistige Oberhaupt der fundamentalistischen Islamisten. Mit der Veröffentlichung

habe die Anwältin, so die Regierung, gegen spezielle Haftregeln verstoßen. Seit

1997 sollten sogenannte „Special Administrative Measures“ - kurz SAMs - die

Kommunikation des Scheichs mit der Außenwelt unterbinden. Lynne Stewart wurde

der Kontakt zu ihrem Mandanten untersagt.

Musik Bill Frisell: Struggle

Ein Jahr später durfte sie ihn wieder besuchen. Was sie nicht wusste, gedeckt durch

ein seit 1978 gültiges Gesetz, das die Regierung ermächtigte, Agenten ausländischer

Mächte abzuhören, wurden ihre Besuche auf Video aufgezeichnet. Mit diesem

Gesetz wurde das Grundrecht auf Vertraulichkeit zwischen Anwalt und Mandant

außer Kraft gesetzt. Im Januar 2001 löste George Bush Bill Clinton als Präsident der

USA ab. Es folgte der 11. September 2001. Ein halbes Jahr später wurde Lynne

Stewart verhaftet. Ihre Anwaltskollegin Martha Rayner:

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O-Ton 8: Martha Rayner:

The crime she was charged with wasn‘t that she had violated Special Administrated

Measures that she had actually materially aided terrorism. A very, very serious

charge crime in the United States. … I think it sent a message to lawyers who

represent people charged with terrorism: Look out! We are watching you. We will

watching every move and if there is any miss-step on your part, we are gonna go

after you too. And that has a chilling effect on lawyers.

2. Übersetzerin:

Das Verbrechen, dessen sie angeklagt wurde, war nicht der Verstoß gegen die

speziellen Haftregeln, sondern Beihilfe zum Terrorismus. Eine sehr ernsthafte

Anschuldigung in den USA. Das war eine Botschaft an Anwälte, die Leute vertreten,

die wegen Terrorismus angeklagt waren. Passt auf! Wir beobachten euch genau.

Jeden Schritt und wenn ihr daneben tretet, dann werden wir euch auch verfolgen.

Das wirkt und schüchtert Anwälte ein.

Erzählerin:

Obwohl die Staatsanwaltschaft Lynne Stewart wegen Beihilfe zum Terrorismus

anklagte, wurde sie erst zwei Jahre nach ihrem Vergehen verhaftet. Ihr drohten 35

Jahre Gefängnis. Für die konservativen Medien stand fest: Stewart ist eine radikale

Linke. Eine Verräterin, die mit Terroristen gemeinsame Sache macht. Eine Feindin

der USA. Die Terror-Großmutter aus Brooklyn. Ihre Privatadresse und -

Telefonnummer wurden veröffentlicht. Sie erhielt Drohanrufe und -briefe. Auf

Youtube kursierte ein Hassvideo. In dem Klima nach dem 11. September kam

Unterstützung nur noch von liberalen und Bürgerrechts- Anwälten. Einige sahen in

ihr die wahre Patriotin. Eine radikale Verteidigerin der amerikanischen Grundrechte,

der Bill of Rights. Der Teil der Verfassung, in dem die Macht der Regierung begrenzt

wird.

O-Ton 9: Michael Tigar:

That idea that according rights to your fiercest enemy is enshrined in the two

provisions of the American constitution that are the basis of Lynne Stewart‘s case. So

there is the first Amendment which deals with Freedom of Expression. There is the

Sixth Amendment which deals with the Right to Counsel. And both of those

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Amendments are involved here, because Lynne‘s freedom to express herself and her

freedom to help the sheikh to express political views are at stake as a matter of the

First Amendment, Freedom of expression and the Right to Counsel which includes

the right to the effective and confidential assistance of counsel.

2. Übersetzer:

Die Idee, selbst seinem größten Feind, Rechte zu gewähren, ist in zwei

Bestimmungen der amerikanischen Verfassung garantiert, die Lynne Stewarts Fall

zugrunde liegen. Hier geht es um beide, um Lynnes eigene Redefreiheit und ihre

Freiheit, dem Scheich dabei zu helfen, seine politischen Ansichten zu äußern. Das

sind selbstverständliche Grundsätze des ersten Amendments, Redefreiheit, und das

Recht auf Rechtsbeistand, das heißt auf einen wirkungsvollen und vertraulichen

Rechtsbeistand.

Erzählerin:

Gemeinsam, mit einem Team von Anwälten, vertrat Michael Tigar Lynne Stewart in

ihrem Prozess. In den USA gilt er als einer der besten Strafrechtler. Er hat unter

anderem die schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davis vertreten, er verteidigte den KZ

Aufseher John Demjanjuk und bewahrte den rechtsradikalen Oklahoma-Attentäter

Terry Nichols vor der Todesstrafe. Nach dem Ende des Apartheidregimes in

Südafrika beriet er den Nationalkongress bei dem Entwurf einer neuen Verfassung.

O-Ton 10: Michael Tigar:

Yes, those were the constitutional issues. That‘s the legal part. At bottom there is this

human being called Lynne Stewart, who‘s journey is the journey of a young woman,

born in Staten Island, who meets and marries an African American, who is a teacher.

Who sees, what the system, that calls itself education is doing, particularly in the

African American communities in New York, who decides that if she wants to make

more of a difference that she could become a lawyer.

2. Übersetzer:

Das waren die verfassungsrechtlichen Fragen. Das ist nur der rechtliche Teil. Im

Grunde geht es um dieses menschliche Wesen, das Lynne Stewart heißt. Das ist die

Reise einer jungen Frau, geboren in Staten Island, sie trifft einen afro-

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amerikanischen Lehrer und heiratet. Sie sieht, die Auswirkungen, dieses Systems,

das sich Bildungssystem nennt, vor allem in der afro-amerikanischen Gemeinschaft

von New York. Sie beschließt, wenn sie wirklich etwas bewirken will, dann sollte sie

Anwältin werden.

O-Ton 12: Lynne Stewart:

I have for many years defended people that are probably disliked, this is a mild form

of the word by the government. Back in the 80s I represented members of the

Weather Underground. I represented members of the Black Panther Party, the Black

Liberation Army, the United Freedom Front.

1. Übersetzerin:

Jahrelang habe ich Leute verteidigt, die von der Regierung wahrscheinlich nicht gern

gesehen waren. Gelinde gesagt. In den 80ern vertrat ich Mitglieder der Weather

Underground. Mitglieder der Black Panther, der Black Liberation Army, der United

Freedom Front.

Einspielung 8: Anschlag auf das WTC 1

This afternoon at 12.18 pm a car bomb exploded in the underground garage of the

Twin towers of the World Trade Center in New York City. Six people were killed and

more then 1000 are injured by what is been reported a 15.000 pound explosive

device. It‘s unclear to what damage it had done to the structure of the Twin Towers of

the World Trade Center the tallest buildings in New York City. 0’22“

Haussprecher:

26. Februar 1993. Um 12.18 Uhr erschüttert eine Detonation die Tiefgarage des

World Trade Center. Sechs Menschen werden getötet. Mehr als 1.000 verletzt. Die

meisten durch Rauchvergiftungen.

Erzählerin:

Die Täter wurden kurz nach dem Anschlag gefasst. Eine kleine isolierte Gruppe

junger, militanter Islamisten. So schien es. Tatsächlich entkam der Hauptattentäter

Ramzi Yousef. Die jungen Männer hatte er alle aus dem Umkreis des blinden

Klerikers Omar Abdel Rahman angeworben. Der wird vier Monate später als

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Mastermind einer weiteren, geplanten Anschlagsserie verhaftet. Von Anfang bis

Ende begleitet von einem FBI-Informanten.

Einspielung 9:

The FBI claims that the mastermind behind the attack is a blind Egyptians cleric

sheikh Abdul Rahman. The plot is said to include the UN and the Lincoln and the

Holland Tunnels. Rahman faces charges in Egypt of plotting to assassinate President

Hosni Mubarak. 0‘17“

Haussprecher:

Das Komplott zielte auf das UN-Gebäude, den Lincoln und den Holland Tunnel. In

Ägypten droht Rahman eine Anklage wegen eines Mordkomplotts gegen Präsident

Hosni Mubarak.

O-Ton 15: Peter Waldman:

There was no question that Omar Abdel Rahman believed in violence as a means to

accomplishing certain goals for his people. His violence, his advocacy of violence

generally related to Egypt, where he had been a victim of torture and other

repression by the regime of Hosni Mubarak.

5. Übersetzer:

Ohne Frage sah Omar Abdel Rahman Gewalt als Mittel zum Zweck, um bestimmte

Ziele für sein Volk zu erreichen. Sein Eintreten für Gewalt bezog sich auf Ägypten,

wo er gefoltert wurde und anderen Repressionen des Regimes von Hosni Mubarak

ausgesetzt war..

Musik

Erzählerin:

Peter Waldman arbeitete damals im Nahen Osten als Korrespondent für das Wall

Street Journal. In Ägypten hatte er von dem dort verehrten Religions- und

Rechtsgelehrten, Scheich Omar Abdel Rahman gehört. Dem Mentor der „Al-Gama‘

al-Islamiyya“, der Islamischen Gruppe. Sie war für Anschläge mit Hunderten von

Toten in Ägypten verantwortlich. Abdel Rahman war ihr gewählter Führer, der die

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Fatwah unterzeichnet hatte, die den Mord an Anwar Al-Sadat sanktionierte. Im

Namen Allahs kämpfte die Gruppe für einen islamischen Gottesstaat und

gleichermaßen gegen die Unterdrückung in Ägypten wie gegen liberale Freigeister.

Vor Gericht berief Abdel Rahman sich darauf, er würde nur religiöse Empfehlungen

geben und sei nicht verantwortlich für die Taten seiner Anhänger. Als der blinde

Prediger 1990 in die USA einreiste, stand die Gruppe bereits auf der Terrorliste der

USA. Trotzdem bekam er ein Visum. Sehr wahrscheinlich mit Hilfe seiner CIA-

Kontakte. Als „Freiheitskämpfer“ gegen die Sowjetunion hatte er sehr erfolgreich

junge Männer für den „Jihad“ in Afghanistan rekrutiert. Ausgerüstet mit Waffen im

Wert von drei Milliarden Dollar. Gespendet vom amerikanische Geheimdienst.

Atmo: 1: Demonstration am 9. April

Erzählerin:

Der 9. April 2011 ist ein strahlender Frühlingstag. Der arabische Frühling ist in New

York angekommen. Zumindest liegt die Hoffnung in der Luft. Mehr als 10.000

Menschen drängen sich auf dem Union Square. Es ist die größte Anti-

Kriegsdemonstration seit Jahren. Ein breites Bündnis aus Bürgerrechts- und

muslimischen Gruppen hat gegen die Kriege in Übersee und die sozialen

Verwerfungen in den USA aufgerufen. Dicht gedrängt steht die bunte Mischung aus

Linken, Kriegsveteranen, Bürgerrechtlern und arabisch sprechenden Menschen auf

dem Platz. Viele muslimische Väter haben ihre Söhne oder ihre ganze Familie

mitgebracht. „Kein Krieg. Kein Terrorismus. Keine Islamophobie“ - steht auf einem

der ungezählten Plakate. Einige Demonstranten sind in den orangefarbenen

Anzügen der Guantanamo-Häftlinge gekommen. Es wird viel über die Agents

Provokateur des FBI gesprochen, die in den muslimischen Communities unterwegs

sein sollen. Und es wahrscheinlich sind. Auf dem Podium wechseln sich die Redner

alle drei Minuten ab. Mehr Zeit bleibt nicht. Es sind zu viele, die reden wollen.

Erzählerin:

Zu den Rednern gehört auch Ramsey Clark. Unter Präsident Lyndon B. Johnson war

er von 1967 bis 69 Justizminister. Er ist eine schillernde Figur der radikalen Linken.

Aktiver Vietnamkriegs-Gegner. Unterstützer der Anklagen gegen George W. Bush,

Dick Cheney, John Ashcroft wegen Kriegsverbrechen und Verstößen gegen die

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amerikanische Verfassung. Als juristischer Berater hat er sich für Saddam Hussein,

Slobodan Milosevicz und den liberianischen Rebellenführer Charles Taylor engagiert.

Atmo

Ramsey Clark is a former US Attorney General. He‘s been a long time human rights

lawyer and he is the winner of the UN Peace Award. Give it up to Ramsey Clark.

Applaus.

Erzählerin:

George Bushs „Krieg gegen den Terror“ bezeichnet er als „Krieg gegen den Islam“.

Kerzengerade steht der alte Mann auf dem Podium vor dem Mikrophon.

Atmo 2 0‘34“

What a great crowd. Our country make war, the way of life, the way of dominating

other peoples and exploiting their resources. You and I have to end that. … Just

take the Arab countries in recent years. How long has Palestine suffered because of

our military support for Israel? How long is Iran been threaten by us? How long

dominated - 25 years under the Shah because we wanted their oil...

7. Übersetzer:

Unser Land, unsere Lebensweise, wie wir andere Völker und ihre Ressourcen

ausbeuten. Ihr und ich müssen dem ein Ende setzen. Schaut auf die arabischen

Länder. Wie lange leidet Palästina, wegen unserer militärischen Unterstützung

Israels? Wie lange wird der Iran von uns bedroht? Wie lange dominiert? 25 Jahre

unter dem Schah, weil wir ihr Öl wollten …

Erzählerin:

Ramsey Clark ist eine der Schlüsselfiguren im Fall Lynne Stewart. Von Ron Kuby

hatte er das Mandat für Abdel Rahman übernommen, als der im Herbst 1994 auf der

Suche nach einem Prozessanwalt war:

O-Ton 19: Michael Tigar:

And the second part of the story is: One fine day she gets a phone call from Ramsey

Clark, the former Attorney General of United States who asks her to take up the

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representation of Sheikh Abdel Rahman who is charged in this conspiracy in New

York. She didn‘t really know a lot about Middle Eastern politics. She had never done

a case of that length and complexity. She certainly was able to deal with all of the

issues in it. But it was all of the issues that you could possibly imagine having that

she ever worked with all in one case.

2. Übersetzer:

Eines schönen Tages bekommt sie einen Anruf von Ramsey Clark. Er bittet sie, die

Verteidigung von Scheich Abdel Rahman zu übernehmen. Sie kannte sich kaum in

der Politik des Nahen Ostens aus. Sie hat noch nie einen so langen und komplexen

Fall gehabt. Zwar konnte sie mit allen Aspekten umgehen, aber es waren alle, mit

denen sie jemals zu tun hatte; alle in diesem einen Fall.

Erzählerin:

Im November 1994 besuchte Lynne Stewart Omar Abdel Rahman in der

Untersuchungshaft. Erstaunlich, dass der islamische Fundamentalist eine Frau als

Verteidigerin nehmen wollte. Und umgekehrt? Warum verteidigte eine Anwältin, die

aus der Bürgerrechtsbewegung kam, die für eine liberalere amerikanische

Gesellschaft stand, einen radikalen Islamisten?

O-Ton 20: Lynne Stewart:

We hit it off as a very easily said of course it’s ironic because I am of course a

woman which one would say, how could you hit it off with this fundamentalist Muslim

cleric? And although I guess I am a, I probably would describe myself as a left wing

atheist. Where as he is certainly not left wing and far from an atheist. But we, on a

certain intellectual level, we liked each other. And he said, what do you think is the

worst thing in my case? What do you think is the best thing from what you‘ve read,

and I was able to answer that. And he communicated with his people and Ramsey

that he would like me to be his lawyer.

1. Übersetzerin:

Wir kamen gleich miteinander klar. Natürlich ist es paradox, ich bin eine Frau, und

man könnte fragen, wie kannst du mit diesem fundamentalistischen muslimischen

Geistlichen klarkommen? Wahrscheinlich würde ich mich als linke Atheistin

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bezeichnen. Wobei er bestimmt nicht Links ist und alles andere als ein Atheist. Aber

wir mochten uns auf einer intellektuellen Ebene. Er fragte, was glauben Sie ist das

Schlimmste in meinem Fall? Was ist das Beste für mich? Das konnte ich

beantworten. Er hat seinen Leuten und Ramsey mitgeteilt, dass er mich als Anwältin

wollte.

Erzählerin:

Im Februar 1995 begann einer der größten Terrorprozesse der USA: Die Vereinigten

Staaten gegen Abdel Rahman und neun Mitangeklagte wegen staatsgefährdender

Verschwörung. Die Staatsanwaltschaft bezog sich auf ein Gesetz aus dem

amerikanischen Bürgerkrieg, das selbst dann eine Verurteilung ermöglichte, wenn es

bei der Planung eines Attentats geblieben sein sollte. Lynne Stewart war von der

Unschuld ihres Mandanten überzeugt.

O-Ton 22: Lynne Stewart:

I made, what I have to say, in my own mind was a truly wonderful opening statement

in which I expressed to the jury who this man was to his own people, and why they

might mistake acts as criminal but actually they were in the great tradition of

Americans speaking out and etc and so we tried that case for ten month and

ultimately lost it.

1. Übersetzerin:

Meiner Ansicht nach hielt ich ein wundervolles Eröffnungsplädoyer. Ich erklärte den

Geschworenen, was dieser Mann seinem eigenen Volk bedeutet, und warum sie

vielleicht Aktionen als kriminell missverstehen könnten, die in der großartigen

Tradition der amerikanischen Redefreiheit stehen. Der Prozess dauerte zehn

Monate, und am Ende haben wir verloren.

Musik

Erzählerin:

Der Hauptbelastungszeuge der Anklage war Emad Salem, ein Informant, dem das

FBI eine Million Dollar gezahlt hatte, um die Gruppe um den Scheich zu infiltrieren.

Er wurde zu dessen engsten Vertrauten. Von Anfang bis zum Ende hatte er für das

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FBI die gesamte Anschlagsplanung aufgezeichnet. Diese Aufzeichnungen bildeten

das Hauptbeweismaterial im Prozess.

Musik John Coltrane: A Love Supreme

5. Übersetzer Zitat: Peter Waldman:

„Emad Salem war im Zeugenstand ein Desaster für die Anklage. Er gesteht in einem

vorhergehenden Fall unter Eid gelogen und als Doppelagent für die US- und für die

ägyptische Regierung gearbeitet zu haben. Er gab zu, gegen FBI-Regeln verstoßen

zu haben, in dem er verbotenerweise, und im Geheimen fast alle internen

Konversationen aufgenommen hat. In einem der sogenannten Bootleg-Aufnahmen,

die er aufgenommen hat und die als Beweismittel benutzt wurden, hört man Mr.

Salem seinen Geheimdienst-Betreuer in Ägypten fragen, ob die Ägypter ihn hier oder

dort im Käfig haben wollen?“

Erzählerin:

Die Beweislage gegen die neun Mitangeklagten Abdel Rahmans war eindeutig.

Während sie gegen den Scheich vor allem auf seinen religiösen Anweisungen

beruhte.

O-Ton 25: Peter Waldman:

Did he inspire them with his religious instructions to commit war against America?

And in that case it was pretty ambiguous as to what he actually said and to the extent

to which he supported war against America.

5. Übersetzer:

Hat er sie mit seinen religiösen Anweisungen zu einem Krieg gegen Amerika

inspiriert? Es war sehr unklar, was er wirklich gesagt hat und inwiefern er einen Krieg

gegen die USA unterstützte.

O-Ton 26: Lynne Stewart:

None the less ... he was sentenced then, the Sheik, to life plus 64 years in US

prisons.

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1. Übersetzerin:

Der Scheich kriegte lebenslänglich und noch 64 Jahre in US-Gefängnissen.

Musik

Erzählerin:

Einen anderen Blick auf den Prozess und die Beweggründe Lynne Stewarts hat der

Autor und Journalist George Packer:

O-Ton 28: George Packer:

I think she was stuck in a view of America that was easier to subscribe to in the

Sixties than it is now. Which is extremely race conscious and revolutionary, I mean

convinced that we are nothing but a revolution can cleans our society of its ills and its

evils and that thinking let her to take on the defense of a client who seemed to stand

for nothing that she stood for. She imagined that the enemy of her enemy was her

friend and so Sheik Abdel Rahman became her friend and to me that was a political

catastrophe for her. It was also a personal catastrophe because of what had

happened.

4. Übersetzer:

Sie war steckengeblieben in einer Vorstellung von Amerika, der man eher in den

60ern folgen konnte als heutzutage. Ihr galt Amerika als extrem rassistisch und sie

war überzeugt davon, dass nichts anderes als eine Revolution unsere Gesellschaft

von ihren Krankheiten und Übeln reinigen kann. Dieses Denken führte dazu, die

Verteidigung des Scheichs zu übernehmen, der nichts vertrat, wofür sie kämpfte. Sie

bildete sich ein, der Feind ihres Feindes sei ihr Freund. Also wurde Scheich Abdel

Rahman ihr Freund. Meiner Meinung nach war das eine politische und eine

persönliche Katastrophe.

Erzählerin:

George Packer zeichnet das Bild einer warmherzigen, mütterlichen Frau, die den

militanten Islamismus auch als Folge der Zustände in den Heimatländern verstehen

wollte. Damit war sie nach dem 11. September isoliert von der Mehrheitsmeinung der

Amerikaner. Sie sah die Anschläge nicht als einen Anfang, sondern als „Blow back“,

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als Folge der Außenpolitik der USA. Sie war überzeugt, die Aufgabe von

Grundrechten sei die verkehrte Antwort.

O-Ton 29: Lynne Stewart:

I think that the greatest protection is the constitution is having full debate and robust

debate and I am disheartened by the fact that we never had that debate in this

country. We have not ever talked about why? Why did this happen? What can we do

to prevent it ever happening again? Not by checking everybody’s shoes at the

airport, but by really understanding what the fundamental problem is, why twenty

young men will kill themselves to do this. What was there and why don’t we

understand, and it’s not because they hate democracy, which our government wants

us to believe.

1.Übersetzerin:

Der größte Schutz ist die Verfassung und eine offene und robuste Diskussion. Ich bin

entmutigt, weil es diese Diskussion in diesem Land nie gegeben hat. Wir haben nie

gefragt: Warum? Was können wir tun, damit das niemals wieder geschieht? Nicht,

indem wir jedermanns Schuhe am Flughafen kontrollieren, aber indem wir das

grundsätzliche Problem verstehen, warum zwanzig junge Männer bereit waren, sich

selbst zu töten. Es ist nicht so, wie unsere Regierung uns glauben machen möchte,

weil sie die Demokratie hassen.

Atmo 3: Anti-Kriegs-Demonstration

Erzählerin:

Die Demonstranten auf der Antikriegs-Demonstration haben sich in Richtung Süden

in Bewegung gesetzt. Ralph Poynter ist jetzt mit dabei. Immer wieder kommen Leute

und fragen, wie es seiner Frau geht. Gemeinsam mit einer Freundin trägt er ein

gelbes Banner: „We support People‘s Attorney Lynne Stewart“. „Wir unterstützen

Volks-Anwältin Lynne Stewart“. Der Weg bis um Platz vor der City Hall, wo die

Abschlusskundgebung stattfindet, ist lang.

Nur ein paar Blocks von City Hall entfernt liegt Foley Square mit seinen neo-

klassizistischen Bauten und dem Strafgericht. Hier hat Lynne Stewart 30 Jahre lang,

ihre Mandanten vertreten. Sie kennt die Richter und die Staatsanwälte; die Leute in

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der Kantine. Hier hatte sie 1995 Abdel Rahman verteidigt. Neun Jahre später, im Juni

2004, musste die Anwältin selbst auf der Anklagebank Platz nehmen.

Musik

Erzählerin:

Mehr als 88.000 Abhörbänder- und Protokolle mussten die Anwälte durchsehen. Die

meisten waren auf Arabisch und betrafen zu 99,9% Stewarts Mitangeklagte, den

Übersetzer Mohammed Yousry und vor allem Ahmed Sattar, den Anwaltsgehilfen,

Postboten und engen Vertrauten des Scheichs. Seit 1997 hatte er keine

Besuchserlaubnis mehr, schon vorher wurde er abgehört. Im selben Jahr wurden

spezielle Haftregeln, die erwähnten SAMs, für den Scheich eingeführt. Trotzdem

wurde im Sommer eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der Abdel Rahman einem

Waffenstillstand der Islamischen Gruppe mit der ägyptischen Regierung zustimmt.

Sehr wahrscheinlich von Ramsey Clark. Trotzdem kam es im November zu einem

letzten Anschlag der Islamischen Gruppe. In Luxor wurden 62 Touristen

niedergemetzelt. In einem Bekennerschreiben forderte die „Al-Gama‘ al-Islamiyya“

die Freilassung ihres geistigen Führers. Die ägyptische Regierung griff mit aller Härte

durch. Viele Gruppenmitglieder wurden getötet oder verschwanden in Gefängnissen.

Es kursierten Gerüchte über Abdel Rahmans schlechten Gesundheitszustand. Es

gab Befürchtungen, sollte er im Gefängnis sterben, könnte das zu weiteren

Anschlägen führen. Ramsey Clark sorgte dafür, dass sein Mandant in ein Gefängnis

mit besserer medizinischer Versorgung verlegt wurde. Die speziellen Haftregeln

blieben bestehen.

O-Ton 30: Lynne Stewart:

He was not allowed to meet with the media. He was not allowed to have visitors. He

was not allowed to meet with other clergy Muslim or otherwise. He had … one phone

call a week to his lawyers, which I was one and Ramsey Clark was another and

Abdeen Jabarra was the third. He had one phone call a month to his wife. But he was

not permitted to speak to anyone else during these phone calls; his children, no one

else was allowed to get on the phone. … So in a fact he was held what we would call

“incommunicado”.

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1. Übersetzerin:

Er durfte nicht mit den Medien sprechen. Er durfte keine Besucher haben. Er durfte

keinen anderen muslimischen Kleriker oder irgendwen sehen. Einmal in der Woche

konnte er mit seinen Anwälten telefonieren, davon war ich eine, Ramsey Clark, der

andere und Abdeen Jabarra der dritte. Einmal im Monat konnte er mit seiner Frau

telefonieren. Während dieser Telefonate durfte er mit niemand anderem sprechen,

nicht mit seinen Kindern, mit niemand. Faktisch wurde er in Isolationshaft gehalten.

O-Ton 31: Michael Tigar:

Under those conditions in a world in which nobody else speaks Arabic, he is all alone

and he is blind. So human contact becomes very important. And a kind of human

contact that is important includes people who visit him and keep him apprise about

the things that are going on in the country from which he came and so on. Now, at

the same time Ramsey Clark was working, would meet sometimes with the Egyptian

authorities to see if may be there could be an exchange of prisoners and he could get

out or what ever. But it was Lynne believe that it was important that the people

engaged with him. Now, that‘s a part of the trouble. She doesn‘t speak Arabic.

2. Übersetzer:

Unter diesen Bedingungen, in einer Welt, in der niemand Arabisch sprach, ist er

allein und blind. Also wird menschlicher Kontakt sehr wichtig. Zu diesem wichtigen,

menschlichen Kontakt gehören Leute, die ihm über die Dinge berichten, die in

seinem Land vor sich gehen. Ramsey Clark traf sich zu dieser Zeit ab und zu mit

dem ägyptischen Militär und versuchte herauszufinden, ob es einen

Gefangenenaustausch geben könnte, oder was auch immer. Aber Lynne glaubte, es

wäre wichtig, dass sich die Leute für ihn engagierten. Das ist Teil des Ärgers. Sie

spricht kein Arabisch.

O-Ton 32: Lynne Stewart:

I remember one of the things he said to me, extremely touching, he said: Lynne, you

must become a Muslim and he said, because, he said, because it is unthinkable for

me to be in heaven without you.

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1. Übersetzerin:

Einmal sagte er mir etwas sehr Berührendes. Lynne, sagte er, du musst Muslimin

werden. Im Himmel, ohne dich zu sein, kann ich mir nicht vorstellen.

Erzählerin:

Innerhalb von drei Jahren besuchte Lynne Stewart ihren Mandanten dreimal. Ihre

Kollegen hatten weitaus mehr Kontakt. Bei ihrem Besuch am 19. und 20. Mai 2000

im Gefängnis von Rochester, Minnesota hatte sie einen Brief dabei, den der

Übersetzer Mohammed Yousry Omar Abdel Rahman vorlas. Der Hintergrund: Die

Islamische Gruppe war zerstritten darüber, ob sie den Waffenstillstand mit der

ägyptischen Regierung beibehalten oder aufkündigen sollte. Einer ihrer Führer, der

zur Gewalt zurückkehren wollte, bat Omar Abdel Rahman in dem Brief um seine

Unterstützung.

O-Ton 33: Lynne Stewart:

During this visit he asked … if I was making a press release on his behalf. He felt that

it was very important to make sort of opinion, merely an opinion about the ceasefire

that had been in fact in Egypt for about three years at that point. …

1. Übersetzerin:

Während des Besuchs fragte er, ob ich eine Pressemeldung in seinem Namen

herausgeben könnte. Er hatte das Gefühl, es sei wichtig, seine Meinung - nicht mehr

- zum Waffenstillstand in Ägypten zu äußern, der seit drei Jahren in kraft war.

Erzählerin:

Erst einen Monat nach ihrem Besuch - am 14. Juni 2000 - rief Stewart einen

Korrespondenten von Reuters in Kairo an.

O-Ton 34: Lynne Stewart:

This was not Abdul the parrot sings at midnight, it was a straight forward out, I have

done a hundred press releases for political prisoners. You know, people wanting to

put their opinion out there, people wanting to speak to the world as large. It was no

different from any of those.

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1. Übersetzerin:

Das war nicht „Abdul: der Papagei singt um Mitternacht.“ Es war ganz offen. Ich habe

hundert Presseveröffentlichungen für politische Gefangene herausgegeben. Leute,

die ihre Meinung rausbringen wollen, die der Welt etwas sagen wollen. Da gab es

keinen Unterschied.

Erzählerin:

Im Prozessprotokoll steht:

3. Übersetzer Zitat: Ankläger:

An diesem Tag gab Stewart die Nachricht an die Presse, in welcher sie erklärte:

„Abdel Rahman zieht seine Unterstützung für den existierenden Waffenstillstand

zurück.“ Mit anderen Worten, Stewart verkündete der Welt, dass Abdel Rahman die

Rückkehr zur Gewalt unterstützte. Nun, in ihrer Verlautbarung sagte Stewart nicht

ausdrücklich, „Abdel Rahman ordnet das Töten von Menschen an“. Das ist nicht

notwendig. Seine Worte waren deutlich.

Erzählerin:

Tatsächlich kündigte die Islamische Gruppe den Waffenstillstand nicht auf. Unter

dem Druck der Repression der ägyptischen Regierung und dem Hass der

Bevölkerung schwor die Gruppe der Gewalt ab. Bis heute. Auch die Staatsanwälte

konnten keine Beweise für unmittelbare Folgen aus der Mitteilung vorlegen. Aber sie

haben ein Video, auf dem der Briefschreiber zusammen mit Bin Laden zu sehen war

und den USA droht. Ron Kuby war der erste Verteidiger des Scheichs nach dessen

Verhaftung.

O-Ton 36: Ron Kuby:

The historically mistake that Lynne made, which there is no way she could have

known, she engaged in conduct that was fairly common among lawyers. Particularly

with respect to communications and transmission of communications. And in the area

in which Lynne committed the acts that she committed these were not considered to

be particularly serious. The consequences would be, may be you would be

suspended, your visits would be stopped. You are thrown out of this facility...

Unfortunately for Lynne, she was not judged by the policies and standards and

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morals that existed in the area where she committed the act. She was judged in the

post 9/11 area and that was obviously something profoundly different. And that had

the deepest consequences in terms of the government’s response.

6. Übersetzer:

Den historischen Fehler, den Lynne beging, konnte sie unmöglich vorhersehen. Sie

verfuhr so, wie es ziemlich normal für Anwälte war. Besonders in Hinsicht auf

Kommunikation und Übermittlung von Nachrichten. In dem Bereich, in dem Lynne die

Sachen beging, wurden sie nicht als besonders schwerwiegend betrachtet. Die

Konsequenzen wären wahrscheinlich die Aufhebung des Besuchsrechts. Der

Rauswurf aus einem Gefängnis. Unglücklicherweise wurde Lynne nicht nach den

Regeln, dem Standard und den Gepflogenheiten beurteilt, die bei vergleichbaren

Übertretungen üblich waren. Sie wurde in der Zeit nach 9/11 beurteilt. Das war

offensichtlich etwas vollkommen anderes. Auf die Reaktion der Regierung hatte es

eine folgenschwere Auswirkung.

Musik

Erzählerin:

Der Fall lässt trotzdem viele Fragen offen. Wurde Lynne Stewart ausgewählt? War

sie „the weakest link“? Diejenige, die am leichtesten angreifbar war? Am

berechenbarsten? Alle drei Anwälte hatten die SAMs unterschrieben und keine

rechtlichen Schritte dagegen eingelegt. Ramsey Clark sagte nach dem Prozess in

einem Interview: „Ich weiß von nichts, was Lynne getan hat, was ich nicht getan

habe.“ Bis zur Presseveröffentlichung im Juni 2000 wurde nie dagegen

eingeschritten. Keiner ihrer Kollegen wurde angeklagt. Nur Lynne Stewart.

Ausschnitte der Videoaufnahmen ihrer Gefängnisbesuche im Juli 2001 wurden noch

vor Prozessbeginn der Presse zugespielt. Zu hören waren Kommentare Lynne

Stewarts, die offensichtlich die Gefängniswärter davon ablenken sollten, was Abdel

Rahman auf Arabisch vorgelesen wurde. Eine Sprache, die weder sie noch die

Wärter verstanden. Die Aufnahmen wurden im Prozess gegen sie verwendet.

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O-Ton 37: Kim Lane Scheppele:

You know I think the US government was trying to make a point that lawyers were

not above their version of what the law the was. And their view was that legal

defense was a kind of privilege that somebody earned by virtue of being loyal to the

United States almost. And so for these clients who were very interested in attacking

the United States, the US government was functionally saying, they deserve no legal

representation. And the Lynne Stewart case was that the model case that they were

using to make the point.

2. Übersetzerin:

Die Regierung machte deutlich, dass es nicht die Anwälte waren, die die Gesetze

auslegten. Ihrer Ansicht nach war, die Rechtsverteidigung fast eine Art Privileg, das

man durch seine Loyalität zu den USA erwarb. Für diejenigen Mandanten, deren

großes Interesse es war, die USA zu attackieren, sagte die US-Regierung

sinngemäß, sie verdienen keine Rechtsverteidigung. Und der Fall Lynne Stewart war

der Modellfall, mit dem sie das klar machen wollten.

Erzählerin:

Kim Lane Scheppele unterrichtet Recht in Princeton. Sie hat sich mit den

Auswirkungen des 11. September und dem Krieg gegen den Terror, auf das

Rechtssystem und die Arbeit von Anwälten beschäftigt. Rückblickend erkennt auch

George Packer, welch seismographisches Gespür Lynne Stewart für die kommenden

rechtlichen Verwerfungen in den USA hatte.

O-Ton 38: George Packer:

It was a fundraiser for her legal defense. And she began to talk with me about

Guantanamo, it was may be in the middle of 2002, very few Americans knew much

about it. She knew about it, because she, I think she knew some lawyers who were

representing some of the inmates in Guantanamo and she was telling me about the

conditions there and how people were losing their minds and how they were

humiliated and I admit that at the time I thought, come on! Is that the worsted thing

that is going on in the world right now? When we just have had this massive attack

on the country and these guys who were caught in Afghanistan probably in training

camps or were part of the Taliban, was that really where our sympathy should go?

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But you know, Lynne was right about that. She was right to see that as a blight that

indicated that things were moving in a bad direction as far as the US system of

justice and we haven‘t resolved it to this day.

4. Übersetzer:

Auf einer Spendenveranstaltung für ihre Prozesskosten, erzählte sie mir Mitte 2002

von Guantanamo. Sehr wenige Amerikaner wussten etwas darüber. Sie wusste

davon. Sie kannte einige Anwälte, die Guantanamo-Häftlinge vertraten. Sie erzählte

mir von den Zuständen dort. Wie Menschen ihren Verstand verloren, wie sie

erniedrigt wurden. Ich muss zugeben, damals dachte ich: Also wirklich! Ist das das

Schlimmste, was auf der Welt passiert? Nachdem wir gerade diesen massiven

Angriff auf unser Land hatten, und diese Typen wurden wahrscheinlich in

afghanischen Trainingscamps gefangen, oder waren Mitglieder der Taliban. Denen

sollte unser Anteilnahme gelten? Aber darin hatte Lynne recht. Sie sah es als

Schandfleck an, der anzeigte, in welche schlimme Richtung, sich das amerikanische

Justizsystem entwickelte. Das haben wir bis heute nicht gelöst.

Musik: Raging Grannies: Song for Lynne Stewart

O-Ton 41: Michael Tigar:

This is Lynne Stewart. This is what you get. And if you members of the jury were

charged with a crime. If the government ever focuses its attention on you, in the way

that is has focused it on this man, you would want a lawyer who was as

compassionate and courageous and careful as Lynne Stewart. But that, you know,

we didn't succeed. Because the sheikh was the other.

2. Übersetzer:

Das ist Lynne Stewart. Das ist, was Sie bekommen, und wenn Sie, die

Geschworenen, eines Verbrechens angeklagt werden, sollte Ihnen die Regierung

jemals die Aufmerksamkeit zukommen lassen, wie diesem Mann, dann würden Sie

sich eine Anwältin wünschen, die so leidenschaftlich und mutig und besorgt ist wie

Lynne Stewart.“ Aber wir haben verloren weil der Scheich der Andere war.

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Erzählerin:

Am 10. Februar 2005 wurden Lynne Stewart und ihre Mitangeklagten nach

zweiwöchiger Beratung von den Geschworenen in allen Punkten schuldig

gesprochen. Der Beihilfe zum Terrorismus und der Irreführung der Regierung. Ihr

drohten 35 Jahre Gefängnis. Mit sofortiger Wirkung verlor sie ihre Zulassung als

Anwältin. Für Lynne Stewart und ihre Unterstützer war das Urteil ein Schock. Damit

hatte niemand wirklich gerechnet. Trotzdem gab sie sich weiter kämpferisch und

ungebrochen. Sie verweigerte sich dem amerikanischen Ritual der öffentlichen

Reuebekundung. Das ist konsequent, aber es ist nicht klug. Nach dem Schuldspruch

erklärte sie auf der Pressekonferenz:

Einspielung 12:

I was asked that on the witness stand wether I „would do it again“? And I had a

moment because of course and the tears on my face are not for myself but for my

colleagues and the movement and my wonderful family and my almost 13

grandchildren and that I‘ll may be separated from them for the rest of my life and that

I feel so much that I have brought grief to people who didn't deserve to have grief.

(Seufzen) But I like to think, I would do it again. Because it was the right thing to do.

It‘s the way a lawyer is supposed to behave.

1. Übersetzerin:

Im Zeugenstand wurde ich gefragt, ob ich es wieder tun würde? Natürlich gab es den

Moment, und meine Tränen gelten nicht mir, sondern meinen Kollegen und der

Bewegung und meiner wundervollen Familie und meinen fast 13 Enkeln, dafür dass

ich vielleicht bis an mein Lebensende von ihnen getrennt sein werde. Dass ich auf

diese Weise so vielen Menschen Kummer bereite, die es nicht verdienen. Aber ich

gehe davon aus, ich würde es wieder tun. Denn es war richtig. Anwälte sollten sich

so verhalten.

Musik: Bill Frisell

Erzählerin:

Für die Regierung und John Ashcroft bedeutete das Urteil einen Sieg. Es machte

deutlich, wie weit das Gesetz zur Beihilfe zum Terrorismus ausgelegt werden konnte.

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Nachträglich legitimierte das Urteil die Ausweitung der SAMs und das Abhören der

vertraulichen Gespräche von Anwälten und ihren Mandanten, die von der Regierung

des Terrorismus verdächtigt wurden. Nach 9/11 dürfen nicht nur bereits Verurteilte,

sondern auch die Gespräche zwischen Angeklagten und deren Anwälten vor

Prozessbeginn abgehört werden. „Never Again“ - „Nie wieder“ ist der Titel von John

Ashcrofts Memoiren über seine Zeit als Justizminister. Dem Fall Lynne Stewart

widmete er darin ein ganzes Kapitel.

3. Übersetzer Zitat: John Ashcroft:

In der Verurteilung Lynne Stewarts haben die Geschworenen sich die Definition des

Präsidenten von einem ‚Terroristen’ zu Herzen genommen. Jemand der Terroristen

hilft, ist genau so ein Terrorist.“

Erzählerin:

Dass Richter John Koeltl das etwas anders sah, ließ sich am Strafmaß absehen, das

er am 16. Oktober 2006 verkündete. Dabei wog er die Schwere der Anklagepunkte

gegen Stewarts Arbeit als Strafverteidigerin ab.

Haussprecher (Zitat-Richter):

„Eine hingebungsvolle Dienerin der Öffentlichkeit, die während ihrer gesamten

Karriere, die Armen, die Benachteiligten und die Unpopulären verteidigt hat. Es ist

keine Übertreibung, wenn man sagt, Lynne Stewart hat nicht nur ihren Mandanten

geholfen, sondern auch der Nation einen Dienst geleistet.“

Erzählerin:

28 Monate Haft lautet das Strafmaß. Skandalös niedrig, fanden die

Staatsanwaltschaft und Stewarts Kritiker. Draußen vor dem Gericht wartete bereits

die Presse. Lynne Stewart wird sagen:

O-Ton 40: Ron Kuby:

Oh, I can do this standing on my head. Now, I know Lynne, I understand that she

went in there thinking she was going to die and never see the outside again. And she

got out and she was so giddy with, I‘ve been literally born again. I have my life back,

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that her enthusiasm and her happiness overflowed but the way she gave voice to it,

unfortunately was profoundly damaging to her in terms of what happened next.

6. Übersetzer:

„Das sitze ich mit links ab“. Ich kenne Lynne, ich verstehe, sie ging da rein und

dachte sie würde sterben und nie wieder frei sein. Sie kam raus und war so

leichtfertig. „Ich bin buchstäblich neu geboren. Ich habe mein Leben wieder.“ Sie

floss über vor Enthusiasmus und Glück. Unglücklicherweise hat ihr die Art und

Weise, wie sie sich ausdrückte, für das Folgende zutiefst geschadet.

Erzählerin:

Die Verteidigung ging in Berufung und für die USA sehr ungewöhnlich, auch die

Staatsanwaltschaft. Sie machte Fehler geltend, die zu einem zu milden Strafmaß

geführt hätten. Bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts reiste Lynne Stewart auf

Vortragsreisen durch die USA und sprach über ihren Fall. Sie erkrankte an

Brustkrebs. Als das Gericht im November 2009 ihre Berufung ablehnte, musste sie

ihre Haftstrafe umgehend antreten. Die Staatsanwaltschaft hatte hingegen Erfolg. Mit

einer deutlichen Empfehlung, das Strafmaß zu erhöhen, gab das Berufungsgericht

das Verfahren zurück an Richter John Koeltl. Am 15. Juli 2010 stand Lynne Stewart

erneut vor Gericht. In seiner Begründung für die Revision des Urteils argumentiert

der Richter auch, Lynne Stewart habe keine Reue gezeigt. Dabei verwies er auf ihre

Äußerung nach dem Urteil. „Das sitze ich mit links ab“. Der Richter beugte sich dem

Berufungsgericht und erhöhte die Haftstrafe von 28 auf 120 Monate. Von knapp

zweieinhalb Jahre auf 10 Jahre. Lynne Stewart wurde in ein Staatsgefängnis in

Carswell, Texas, gebracht. Sollte sie ihre Haftstrafe überleben, wird sie 80 Jahre alt

sein, wenn sie 2019 entlassen wird.

Musik 1: Bill Frisell - Struggle 2

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Absage (Haussprecher):

Der Fall Lynne Stewart

Eine amerikanische Geschichte

Ein Feature von Martina Groß

Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Norddeutschen Rundfunk

2011.

Es sprachen: Hüseyin Michael Cirpici, Walter Gontermann, Therese Hämer,

Anja Herden, Volker Niederfahrenhorst, Marianne Rogee, Hans

Schulze, Hendrik Stickan, Karlheinz Tafel, Michael Weber und

Christoph Wittelsbürger

Ton und Technik: Michael Morawietz und Anna Dhein

Regie und Redaktion: Hermann Theißen