Eine Welt 2/2015 - Federal Council · er eine Pollada oder Chicken Party: Die geladenen Gäste...

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Eine Welt NR. 2 / JUNI 2015 DAS DEZA-MAGAZIN FÜR ENTWICKLUNG UND ZUSAMMENARBEIT www.deza.admin.ch Gesund und ausgewogen Neuer Anlauf gegen Hunger und Fehlernährung Nicaraguakanal Ein Projekt sorgt für Aufruhr Wasser und Holz Mangelware im Flüchtlingslager

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Eine WeltNR. 2 / JUNI 2015DAS DEZA-MAGAZINFÜR ENTWICKLUNG UND ZUSAMMENARBEITwww.deza.admin.ch

Gesund und ausgewogen

Neuer Anlauf gegen Hunger und Fehlernährung

Nicaraguakanal Ein Projekt sorgt für Aufruhr

Wasser und Holz Mangelware im Flüchtlingslager

Eine Welt Nr.2 / Juni 20152

Inhalt

D E Z A

F O R U M

ERNÄHRUNG6 Neue Strategien für bessere Ernährung

Regierungen in Entwicklungsländern investieren wieder in die Landwirtschaft

11 «Gemeinsam sind wir stärker»Gerda Verburg, Präsidentin des Komitees für Ernährungssicherheit, über jüngste Erfolge und weitere Herausforderungen

13 Kein Rattenfutter!Sichere Lagerung von Getreide und Mais in Silos: Das erfolgreiche DEZA-Projekt aus Zentralamerika nun auch in Afrika

15 Bauern schützen BödenDie Datenbank Wocat informiert Landwirte über Methoden und Techniken zur schonenden Bodenbearbeitung

17 Facts & Figures

18 Enttäuschtes Volk gegen JahrhundertprojektIn Nicaragua wächst der Widerstand gegen den geplanten Bau eines Kanals für Schiffe bis 250000 Tonnen

21 Aus dem Alltag von ...Andreas Gerrits, stellvertretender DEZA-Regionaldirektor für Zentralamerika in Managua

22 Schmelztiegel der KulturenEine Ode an Nicaragua – verfasst von der Sängerin und Politaktivistin Katia Cardenal

23 Sauberes Wasser in ZentralasienIn Usbekistan und Tadschikistan unterstützt die DEZA Trinkwasser- und Hygieneprojekte auf dem Land

24 Leben mitten im FlussM4C – ein vielseitiges Projekt zur Verbesserung der Lebensbedingungen auf den Flussinseln in Bangladesch

27 Flüchtlingscamps: Mangelware WasserIn Flüchtlingslagern müssen Tausende von Menschen mit Wasser und Holz versorgt werden – eine Herausforderung

30 Grab Nummer 83115Carte blanche: Eine Begegnung auf dem Friedhof Sihlfeld. Von Marius Ivaškevicius

31 Fotografin im Dienst der NaturEntdeckungsreise mit der peruanischen Fotografin Luana Letts

3 Editorial4 Periskop26 Einblick DEZA34 Service35 Fernsucht mit Nadja Räss35 Impressum

H O R I Z O N T E

Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), dieAgentur der internationalen Zusammenarbeit im EidgenössischenDepartement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), ist Heraus-geberin von « Eine Welt ». Die Zeitschrift ist aber keine offiziellePublikation im engeren Sinn ; in ihr sollen auch andere Meinungen zu Wort kommen ; deshalb geben nicht alle Beiträge unbedingt den Standpunkt der DEZA und der Bundesbehörden wieder.

D O S S I E R

K U L T U R

3Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Viele Herausforderungen der Internationalen Zusam-menarbeit sind für uns als Bürgerinnen und Bürgereines reichen Landes intellektuell nachvollziehbarund haben uns vielleicht auch schon auf Reisen inandere Regionen der Welt betroffen gemacht: ex-treme Armut, medizinische Unterversorgung, die ver-heerenden Folgen von Naturkatastrophen oder be-waffneten Konflikten. Wir verstehen, dass Menschenin solchen Situationen unsere Hilfe brauchen. Wirk-lich nachempfinden können wir deren Erfahrungenaber nur schwer, weil die meisten von uns – glück-licherweise – sie nie selber haben machen müssen.

Anders ist es beim Hunger – bilden wir uns wenigs-tens ein: «Ich hatte heute bloss Zeit für einen Müesli-riegel», sagen wir hin und wieder mit einer Mischungaus Stolz und Selbstmitleid, wenn wir am Ende eineshektischen Tages das Büro mit knurrendem Magenverlassen. Ja, Hunger glauben wir alle zu kennen.Nicht wie in Afrika, aber immerhin.

Dass wir uns zum Lunch nur einen Müesliriegelgönnen, beruht auf freiem Willen und sagt mehr überunseren Lebensstil aus, als über die Verfügbarkeitvon Nahrung. Im Gegensatz dazu wird den 800Millionen chronisch unterernährten Menschen dieserWelt die Sorge um die nächste Mahlzeit immer wie-der als erste Priorität aufgezwungen. Sie verdrängtdamit konstant alle längerfristigen Bedürfnisse wiedie Behandlung von Krankheit, die Investition inBildung oder eine stabilere Unterkunft. Den ärmstenMenschen zu helfen, dieser Hungerfalle zu entrinnen,bleibt denn auch über die Millenniumsentwicklungs-ziele hinaus eine wichtige Aufgabe der Internationa-len Zusammenarbeit.

Ernährungssicherheit hat auch mit Nahrungsmittel-beschaffung zu tun. Dies wurde mir Anfang Jahr an-lässlich eines Besuchs in einem syrischen Flücht-lingslager in Jordanien bewusst. In den ersten Mo-naten nach dessen Errichtung hatten viele Flücht-

linge, vor allem Frauen, das Lager schnell wieder ver-lassen, weil der tägliche Verteilkampf um Wasser undNahrung oft mit gewalttätigen Auseinandersetzun-gen verbunden war. Mit der seither erfolgten Verbes-serung der Infrastruktur, zu der Wasserfachleute derDEZA beigetragen haben, ist das Leben im Lager vielsicherer geworden.

Es ist unmöglich, über das Thema Ernährungs-sicherheit zu sprechen, ohne unsere gigantischeVerschwendung von Nahrungsmitteln zu erwähnen.Gemäss einer Studie der FAO werden weltweit über30 Prozent aller Nahrungsmittel weggeworfen, odersie gehen infolge unzureichender Kühl- und Trans-portmöglichkeiten verloren, bevor sie überhaupt beiden Konsumentinnen und Konsumenten ankommen.Verschwendet werden dadurch nicht nur die Nah-rungsmittel selber, sondern auch Energie für dieProduktion, Wasser, Arbeitskraft, Land und Kapital.

Während es gegen die Verschwendung von Ess-waren in unserer Überflussgesellschaft (noch) keinewirksame Kampagne zu geben scheint, ist die Ver-besserung der ländlichen Infrastruktur in unserenPartnerländern ein wichtiger Bestandteil unseresEngagements zur Förderung des lokalen Privatsek-tors und der Ernährungssicherheit. – Dazu, und zuvielen weiteren Aktivitäten der DEZA im BereichErnährungssicherheit, finden Sie in diesem Heftzahlreiche Beispiele.

Manuel SagerDirektor der DEZA

Auswege aus der Hungerfalle

Editorial

DEZA

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Ricardo

Azoury/Red

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Mehdi Chebil/P

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Jaco

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rg/Panos

Hüter des Waldes(gn) Oft schützt die lokale Bevölkerung die Natur besserals der Staat. In Guatemala z.B. geht der Wald in Regio-nen, die unter Regierungsschutz stehen, 20-mal schnellerzurück als dort, wo er von lokalen Gemeinschaften be-wirtschaftet wird. «Die Stärkung der kommunalen Wald-rechte ist entscheidend im Kampf gegen den Klimawan-del», sagt Jennifer Morgan vom World Resources Institute.Eine Studie des Instituts zeigt, dass von Dorfgemein-schaften bewirtschafteter Regenwald in den Tropen rund37 Milliarden Tonnen CO2 bindet. Die Bewohner dieserWälder besitzen legale Titel für das Land ihrer Ahnen.Indem sie die Ressourcen, von denen sie abhängig sind,sorgfältig nutzen, leisten sie einen wichtigen Beitrag zumKlimaschutz. «Man könnte die Menge des gebundenenKohlenstoffs erhöhen, indem vermehrt Eigentumsrechtevom Staat an die lokalen Gemeinschaften transferiert werden», sagt Ashiwini Chhatre. Bereits 2009 hat derGeograf in zehn Ländern nachgewiesen, dass Gemeinden,die ihre Gesetze autonom gestalten können, dem Waldmehr Sorge tragen und damit zu erhöhter Kohlenstoff-bindung beitragen.www.wri.org (forests)

desch einen Stromanschluss.Dezentrale Solaranlagen sinddeshalb sehr gefragt: Das 2007gegründete Solar-Home-SystemProjekt (SHS) hat bereits dreiMillionen Haushalten zu Stromund Licht verholfen – bis Ende2015 sollen es vier Millionensein. Initiiert wurde die SHS-Initiative von der staatlichenInfrastructure DevelopmentCompany und rund 40 NGOs.Obschon die Installation derprivaten Solaranlagen für diearme ländliche Bevölkerung mithohen Kosten verbunden ist,werden monatlich mehr als65000 neue Systeme verkauft. Je nach Modell gehören nebstden Solarpanels zwei bis sechsLampen sowie ein TV-Anschlussund Ladegeräte für Batterienzum Package. Das System liefertgenügend Strom für eine Be-triebsdauer von vier Stundenpro Tag. Gründe für denSolarboom in Bangladesch sindsteigende Einkommen, dieUnterstützung bei der Finanzie-rung durch Mikrofinanzierungs-projekte sowie die Verbesserungder Lebens- und Produktions-bedingungen dank dem Solar-strom.www.sun-connect-news.org (SHS)

Wunderbäume der Tropen(gn) Der afrikanische Iroko-Baum und der Brotnussbaum in Lateinamerika haben im Laufder Evolution eine besondereFähigkeit entwickelt: Sie trans-formieren CO2, das sie mittelsFotosynthese der Atmosphäreentziehen zu Kalk, den sie zwi-

Grillparties statt Bankkonto(gn) Wenn jemand in Peru drin-gend Geld benötigt, veranstalteter eine Pollada oder ChickenParty: Die geladenen Gäste zah-len einen guten Preis für Speisund Trank – so kommt das not-wendige Geld zusammen, ohnedass der Bedürftige jemandenanbetteln muss. Selbstverständ-lich wird er bei einer nächstenPollada als zahlender Gast sei-nerseits dem Freund in Not hel-fen. Solch kreative Methoden,um an Geld zu kommen, fandenForscher der Weltbank überall

dort, wo Menschen keinen odereinen schlechten Zugang zuBanken haben. In Peru verfügennur 20 Prozent der Erwachsenenüber ein Bankkonto, beim ärmsten Drittel der Bevölke-rung sind es gerade 9 Prozent.Laut Statistik sind weltweit

2,5 Milliarden Menschen nichtin ein formelles Finanzsystemintegriert – die meisten leben inEntwicklungsländern. Doch dieMenschen wissen sich zu helfen:Im südlichen Afrika z.B. gibt esunzählige Formen von infor-mellen Spargruppen, die zumZiel haben, den Beteiligten imBedarfsfall Geld zur Verfügungzu stellen. www.cgap.org

Hotline für Kleinbauern(gn) In Äthiopien soll eineHotline für Bauern den geplan-ten Aufschwung im Agrarsektorunterstützen. Die Gratis-Dienst-leistung wurde im Sommer2014 von der AgriculturalTransformation Agency (ATA)lanciert – und war von Anfangan ein Hit: Täglich wird dieTelefonnummer 8028 über35000 Mal gewählt. 70 Prozentder Anrufenden sind Kleinbau-ern. Registrierte Benutzerinnenund Benutzer können rund umdie Uhr Auskünfte zu landwirt-schaftlichen Fragen einholen.Diese werden ihnen per Sprach-dialogsystem oder SMS auf dasMobiltelefon übermittelt. ZumErfolg der neuen Dienstleistungtrage bei, so ATA-Direktor AtoKhalid Bomba, dass es ein Zwei-weg-System sei: «Wer dieNummer 8028 wählt, erhält sofort und in seiner SpracheAntworten auf spezifischeFragen. Der Administrator derHotline kann aber auch von sich aus kundenspezifischeInformationen verschicken.» Alsz.B. in verschiedenen Regionendes Landes eine Getreiderost-Epidemie drohte, konnten diebetroffenen Bauern dank derHotline rechtzeitig überSchutzmassnahmen informiertwerden. www.ata.gov.et/8028-2

Solarboom in Bangladesch(gn) Aktuell haben nur 42 Pro-zent der Haushalte in Bangla-

Periskop

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International Institute of Tropical A

griculture

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Sanofi P

asteur

schen ihren Wurzeln lagern.Forscher der UniversitätLausanne haben nachgewiesen,dass z.B. ein Iroko auf diese Artund Weise jährlich bis zu 20 Ki-logramm CO2 in Form vonKalk dauerhaft im Boden bin-det. Diese Eigenschaft will mannun gezielt nutzen. In Haiti z.B.hat die Organisation BiomimicryEuropa 80000 Setzlinge desBrotnussbaums an Bauern abge-geben. Das Projekt soll nicht nur

dem Klima nützen: Weil dieKalkproduktion dem BodenSäure entzieht, werden dieBöden fruchtbarer und dieBauern erzielen bessere Ge-müse- und Getreideernten. Aus den nahrhaften Nüssen des Baums lassen sich zudemschmackhafte Gerichte zube-reiten. «Ganze Gruppen vonBauern holen Setzlinge undkümmern sich dann selber umalles», freut sich ProjektleiterDaniel Rodary. «Das Programmbeginnt uns zu entgleiten – dasist wunderbar!»www.biomimicry.eu (Arbres sauveurs)

Dengue-Impfung und App(lb) Jahr für Jahr sterben über 10000 Personen infolge einerDenguefieber-Infektion. DieKrankheit wird durch den Stich

einer Mückenart übertragen, diein tropischen und subtropischenGegenden vorkommt. DieWeltgesundheitsorganisationgeht davon aus, dass 2,5 Milliar-den Menschen in Dengue-Risikogebieten leben. Jährlichkommt es bis zu 100 MillionenErkrankungen. Bisher gibt eskeine Impfung gegen Dengue.Um eine Infektion zu verhin-dern, empfehlen Fachleute dasTragen langer Kleider, Insekten-schutzsprays und Mückennetze.Seit Jahren wird nach einemImpfstoff gegen die vier Varian-ten des Virus geforscht. NeusteErgebnisse mit dem ImpfstoffCYD-TDV zeigen eine Wirk-samkeit von knapp 60 Prozent.Zentral für die Bekämpfung desDengue-Fiebers ist aber auchdie Elimination von stehendem

Zeichnung von Jean Aug

agneur

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Wasser in der Nähe bewohnterGebiete. Dort sind nämlich diebevorzugten Brutstätten derMücken. In Costa Rica kanndie Bevölkerung neuerdings mit der Gratis-App «ReporteCriaderos Dengue» denGesundheitsbehörden solcheWasserstellen melden.www.who.int (dengue)

6 Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Rund 805 Millionen Menschen leiden unter chro-nischer Unterernährung. Die landwirtschaftlicheProduktion würde eigentlich längst ausreichen, umdie Weltbevölkerung zu sättigen, deshalb bleibt dieAnzahl hungernder Menschen unannehmbar, auchwenn sie seit 1990 deutlich zurückgegangen ist: Da-mals legten sich noch über eine Milliarde Menschen

Neue Strategien für bessereErnährungDie internationale Gemeinschaft ist fest entschlossen, alle For-men von Fehlernährung auszumerzen – inklusive Mangelernäh-rung und Fettleibigkeit. Bereits haben sich mehr als fünfzig Län-der dazu verpflichtet, ihre Ernährungssysteme umzugestalten,und die Geldgeber investieren wieder in die Landwirtschaft. VonJane-Lise Schneeberger.

DOSSIER

hungrig schlafen. Die positive Veränderung erklärtsich vor allem aus der besseren Verfügbarkeit vonGrundnahrungsmitteln. Während Jahren haben dieBehörden zur Ernährungssicherung auf Produkti-onssteigerungen gesetzt. Dies führte bei Reis, Wei-zen und Mais zu Preissenkungen. Viele Arme konn-ten sich so tägliche Mahlzeiten leisten.

Traditionelles Abendessen einer Bauernfamilie im indischen Ladakh: Fladenbrot ist hier ein wichtiges Grundnahrungs-mittel und wird zu jeder Mahlzeit gereicht. Dazu gibt es selbstgebrautes Gerstenbier oder Tee.

Boisvieux/hem

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Sven Torfinn/laif

David Bacon

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EA/laif

The New

York Times/Red

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Ernährung

Die Menge aufgenommener Kalorien war bislangdas wichtigste Kriterium, um das Ausmass des Hun-gers zu messen. «Nun stellt man fest, dass dieserquantitative Ansatz allein nicht genügt. Die Nah-rungsmittel müssen von guter Qualität und ausge-wogen sein», sagt Peter Bieler, Leiter des Global-programms Ernährungssicherheit der DEZA. «Mankann schlecht ernährt sein, ohne zu hungern, wennman bloss ‹leere› Kalorien schluckt.» Weltweit istdies bei zwei Milliarden Menschen der Fall. IhreMahlzeiten bestehen hauptsächlich aus einer oderzwei Getreidesorten mit ausreichendem Kalorien-

gehalt, aber bescheidenem Nährwert. Solch mo-notone Kost führt zu Vitamin- und Mineralstoff-mangel. Dieses Ernährungsdefizit ist schwer nach-zuweisen, man spricht deshalb von verborgenemHunger.Eine andere Form von Fehlernährung ist die Fett-leibigkeit. War sie früher hauptsächlich in reichen

Ländern anzutreffen, nimmt sie seit zwanzig Jahrenauch in Entwicklungsländern rasch zu. Mit demAnstieg des Lebensstandards ändern sich dieErnährungsgewohnheiten, und die körperlichenAktivitäten nehmen ab. Die Menschen essen mehrFleisch sowie fett-, salz- und zuckerreiche Lebens-mittel aus industrieller Herstellung. Diese Kost begünstigt nebst dem Übergewicht auch Krank-heiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Immer mehr Schwellenländer sind in SachenErnährung mit drei Problemen konfrontiert: Un-

terernährung, Mikronährstoffmangel und Über-ernährung. Seit einigen Jahren nehmen es die Staaten und Entwicklungsorganisationen mit die-ser dreifachen Herausforderung auf. Eine beispiel-lose Mobilisierung für gesunde Ernährung ist imGang. Zwei Ereignisse haben die internationaleGemeinschaft aufgeweckt: Das erste war die Er-

Fehlernährung hat viele Gesichter: Eine äthiopische Familie bei ihrem mageren Frühstück – übergewichtige Migrantinnenin den USA – arme Stadtbewohnerinnen auf der Suche nach essbarem Abfall in Manila.

Vier Dimensionen«Ernährungssicherheit istgegeben, wenn alleMenschen jederzeit physi-schen, sozialen und wirt-schaftlichen Zugang zugenügend, sicherer undwertvoller Nahrung erhal-ten, um ihre Ernährungs-bedürfnisse und Ernäh-rungspräferenzen für einaktives und gesundesLeben befriedigen zu kön-nen.» Diese seit 1996 ver-wendete Definition decktvier Dimensionen ab: dieErhältlichkeit von Nah-rungsmitteln in genügendgrossen Mengen und vonguter Qualität; den Zugangdazu, so dass alle diebenötigten Nahrungsmittelbeschaffen können; dielangfristige Stabilität derbeiden ersten Dimensio-nen; die adäquate Verwen-dung der Nahrungsmittelim Rahmen einer ab-wechslungsreichen Ernäh-rung. Seit kurzem fügendie Fachleute der Ernäh-rungssicherheit noch dasKonzept der ausreichen-den Nährstoffversorgunghinzu.

Yang

wenbin/Imag

inechina/laif

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In China kommen täglich 26 Millionen Schulkinder in den Genuss einer vom Staat finanzierten Mahlzeit. SolcheErnährungsprogramme sind heute in vielen Ländern wichtiger Bestandteil des Schulalltags.

nährungskrise 2007-2008, die in rund dreissig Ländern Hungerrevolten ausgelöst und die Män-gel des globalen Ernährungssystems ans Licht ge-bracht hat. Man wurde sich bewusst, dass die Si-tuation langfristig unhaltbar ist: 2050 werden neunMilliarden Menschen auf der Erde leben. Machtman weiter wie bisher, muss die landwirtschaftli-che Produktion weltweit um 70 Prozent steigen,

um die Bedürfnisse zu befriedigen. Zu den zahl-reichen Bedrohungen für die Ernährungssiche-rung gehören auch die gigantischeVerschwendung von Esswaren und die zunehmende Nutzung vonAgrarland für die Produktion von Agrotreibstoffenoder Futtergetreide.

Politik in der VerantwortungDer zweite Auslöser für die aktuelle Mobilisierungwar die Publikation einer vielbeachteten Studie inder medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet».Diese wies auf die extreme Verwundbarkeit vonKindern während der ersten tausend Tage ihres Lebens hin:Von der Empfängnis bis zum zweitenGeburtstag schadet chronischer Nährstoffmangelder körperlichen und geistigen Entwicklung dau-erhaft; die betroffenen Kinder erreichen keine normale Körpergrösse, sie werden schneller krankund ihre Lernfähigkeit bleibt beschränkt. In diesem Kontext wurde 2010 die SUN-Bewe-

gung (Scaling-up Nutrition) zur Bekämpfung derMangelernährung lanciert. Innert kürzester Zeitsind ihr 54 Entwicklungsländer beigetreten. Mit ei-nem vom Staats- oder Regierungspräsidenten un-terzeichneten Brief haben sie das Ausmass der Fehl-ernährung, vor allem unter den Kindern, in ihremLand anerkannt. Und sie haben sich dazu ver-pflichtet, mit Hilfe geeigneter politischer Massnah-

men den Zugang zu gesunder und preiswerterNahrung zu verbessern. Eine Internetplattformwurde geschaffen, um einen effizienten Informati-onsaustausch unter den Ländern zu ermöglichen.«Niemand hat ein Patentrezept, wie Fehlernährungausgemerzt werden kann. Die Massnahmen sind jenach Kontext unterschiedlich», sagt Florence Las-bennes vom Sekretariat der SUN-Bewegung inGenf. Eine Bedingung allerdings sei unerlässlich,wolle man nachhaltige Resultate erzielen: «Vonhöchster Staatsebene muss ein politischer Impulsausgehen, sonst haben die Projekte über den loka-len Rahmen hinaus keine Ausstrahlung.»

Neue grüne RevolutionIm Zentrum des Engagements steht die Landwirt-schaft. Sie muss Lebensmittel in guter Qualität undausreichender Menge liefern. Allerdings ist ihreProduktivität in den Entwicklungsländern mangelsInvestitionen stark eingeschränkt: In den 1980er

Erfolgreiches BrasilienBrasilien ist mit derBekämpfung der Fehl-ernährung am weitesten.Seine 2003 lancierte Null-Hunger-Strategie (FomeZero) hat bemerkenswerteResultate erzielt. Dazugehörten rund dreissigProgramme in verschiede-nen Bereichen. Eine derHauptachsen war dieStärkung der Familienbe-triebe. Eine andere hattezum Ziel, den Zugang zuNahrungsmitteln zu ver-bessern: Arme Familien erhielten Zulagen für denKauf von Nahrungsmitteln.Man hat Schulmensen undVolksküchen geschaffen,die von Kleinbauern derRegion beliefert werden.Fome Zero initiierte auchErnährungsbildungspro-gramme. Zudem wurdenArbeitsplätze geschaffenund die Einkommen er-höht. Heute dient Brasilienals Vorzeige-Beispiel fürdie Länder der SUN-Bewegung.

HarvestPlus

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Ernährung

Süsskartoffeln mit einem speziell hohen Gehalt an Betakarotin sollen dazu beitragen, den weit verbreiteten Vitamin-A-Mangel zu bekämpfen. In Mosambik und Uganda sind sie bereits weit verbreitet.

Geschätzte Kosten derFehlernährungAbgesehen von denFolgen für die Gesundheitjedes Einzelnen, bürdetFehlernährung derGesellschaft beträchtlicheKosten auf. Gemäss einemFAO-Bericht dürften dieProduktionseinbussen derbetroffenen Personen unddie Gesundheitskosten bis zu fünf Prozent desBruttoweltprodukts aus-machen, also 3500 Mil-liarden USD pro Jahr. DieKosten von Unter- undMangelernährung bewe-gen sich zwischen 1400und 2100 Milliarden. DieKosten von Übergewichtund Fettleibigkeit wurdenbisher nicht weltweit erho-ben. Die FAO schätzt aller-dings die Gesamtkostenfür alle Krankheiten, beidenen Übergewicht derHauptrisikofaktor ist, aufrund 1400 Milliarden USD.

Jahren hatten sich die meisten Geber wie auch dieRegierungen der betroffenen Länder nach und nachaus dem Agrarsektor zurückgezogen. Mit der Krisevon 2008 hat sich das Blatt jedoch gewendet. Heu-te erhält die Landwirtschaft wieder Unterstützung. «Die zur Verfügung gestellten Mittel sollten unbe-dingt in Kleinbetriebe investiert werden», empfiehltMichel Mordasini, Vizepräsident des Internationa-

len Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung. «Sie produzieren über 80 Prozent der in den Ent-wicklungsländern konsumierten Nahrungsmittel.Man kann sie nicht länger übergehen und glauben,die Lösung komme allein von den Grossgrundbe-sitzern.» Die Aufgabe der Kleinbauern ist nicht ganzeinfach: Sie sollen ihre Kulturen diversifizieren, denErtrag steigern und gleichzeitig mit den negativenAuswirkungen des Klimawandels und der Res-sourcenverknappung klarkommen. Damit dies ge-lingt, brauchen sie namentlich Zugang zu techni-schen Innovationen, zu Krediten und zu Mikro-versicherungssystemen. «Wir müssen die grüneRevolution neu erfinden und innovative Mecha-nismen kreieren, damit Familienbetriebe produk-tiver, nachhaltiger, aber auch rentabler werden», istMichel Mordasini überzeugt. Zudem sollten dieBehörden ihre landwirtschaftlichen Beratungs-dienste ausbauen, damit die Forschungsresultate dieBauern erreichen.

Technische LösungenEine von der Forschung vorgeschlagene Methodezur Eindämmung des verborgenen Hungers ist dieBiofortifikation; darunter versteht man die Erhö-hung des Vitamin- oder Mineralstoffgehalts von Lebensmitteln. «Mit diesem Verfahren kann maneine Bevölkerung, deren Kost nicht ausgewogen ist, mit Mikronährstoffen versorgen», erklärt Marie

Ruel vom Internationalen Forschungsinstitut fürErnährungspolitik (IFPRI). Seit fünfzehn Jahren arbeitet das vom IFPRI geleitete HarvestPlus-Pro-gramm an der Anreicherung von Pflanzen wieBohnen, Hirse, Reis und Maniok mit Vitamin A,Zink und Eisen. Sein bislang grösster Erfolg ist eineSüsskartoffel mit orangefarbenem Fleisch, die vielBetakarotin enthält und in Uganda und Mosambikbereits von zahlreichen Bauern angebaut wird.«Unsere Forscher verwenden einzig konventionel-le Selektionsmethoden, keine Gentechnologie»,präzisiert Marie Ruel. In der Entwicklungszusammenarbeit ist Biofortifi-kation allerdings umstritten. Während ein Teil derGeber die HarvestPlus-Forschung unterstützt, sindandere zurückhaltender, so auch die DEZA. «WieNahrungsergänzungsmittel, sind auch bioangerei-cherte Lebensmittel in Notsituationen oder zur Behandlung schwerer Fehlernährung durchausnützlich. Sie können eine ausgewogene und ab-

Jaco

b Silberbe

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Ehrgeizige Ziele Eines der Millenniumsent-wicklungsziele (MDG) war,den Anteil der Hungerndenan der Gesamtbevölke-rung bis 2015 zu halbie-ren. Im Weltdurchschnittwird dieses Ziel voraus-sichtlich 2017 erreicht. Inden Entwicklungsländernist die Quote der Unterer-nährten von 23,6 Prozent(1990) auf 14,3 Prozent(2013) gesunken. DieFortschritte sind allerdingsin Subsahara-Afrika undSüdasien nicht ausrei-chend. Laut den Vorschlä-gen einer UN-Arbeits-gruppe soll die Post-2015-Agenda in diesem Bereichambitionierter sein als dieMDGs. Die künftigen Zielenachhaltiger Entwicklungpeilen nicht bloss dieEliminierung des Hungers,sondern aller Formen vonFehlernährung an: Bis2030 soll jedes Individuumdas ganze Jahr über Zu-gang zu einer gesunden,nährstoffreichen und aus-reichenden Ernährung ha-ben.

wechslungsreiche Ernährung aber nie ersetzen», hältPeter Bieler fest. Die DEZA setzt auf eine nachhaltige und ökolo-gische Landwirtschaft mit grosser Produktevielfalt,um den Konsum von Lebensmitteln mit einem ho-hen Anteil an Mikronährstoffen zu fördern. «DieDiversifikation von Pflanzenkulturen erhöht über-dies die Widerstandskraft gegenüber Klimarisiken.

Auch bei Trockenheit oder Überschwemmungdürfte die eine oder andere Sorte noch einen Er-trag bringen», erklärt Bieler. Gleichzeitig brauchtes die Verbreitung von verbesserten Techniken zurKonservierung von Lebensmitteln. «Ideal wäre,wenn ländliche Haushalte verderbliche Waren verarbeiten, trocknen oder einfrieren könnten. Sohätten sie Früchte- und Gemüsereserven bis zurnächsten Ernte.»

Armut verhindert gute Ernährung Mit dem Ausbau der Landwirtschaft allein ist dieFehlernährung mit ihren vielschichtigen Ursachenjedoch nicht auszumerzen. Armut bleibt das wich-tigste Hindernis für eine gute Ernährung. Gesun-des und abwechslungsreiches Essen ist teurer als dreiSchalen Reis pro Tag. Um allen eine ausreichendeErnährung zu ermöglichen, können die Staaten beiden Lebensmittelpreisen ansetzen oder die Armutbekämpfen.Auch humanitäre Organisationen kön-nen kurzfristig den Zugang zu Nahrungsmitteln

Caldo de Gallina – eine traditionelle Hühnersuppe – zubereitet von einer mobilen Köchin in den Strassen Limas: DerVerkauf von Lebensmitteln und Mahlzeiten bringt vielen Menschen ein Einkommen.

erleichtern, indem sie den am stärksten Benachtei-ligten Einkaufs- oder Mahlzeitengutscheine abgeben.Zusätzliche Massnahmen braucht es im Gesund-heits- und Bildungsbereich. Der Zugang zu ein-wandfreiem Trinkwasser und zu Gesundheitsein-richtungen muss erleichtert und das Abwasserprob-lem angegangen werden. «Qualitätsnahrungs-mittel nützen nichts, wenn die Menschen verun-

reinigtesWasser trinken oder in einem ungesundenUmfeld mit ständigem Ansteckungsrisiko leben»,unterstreicht Lina Mahy vom Ständigen Ausschussfür Ernährung der UNO.Auch fehlende Informa-tionen sind ein Problem: «Frauen wählen oft un-passende Lebensmittel, bereiten sie nicht richtig zuund kennen die Bedürfnisse der Kinder kaum. Siewissen zum Beispiel nicht, dass ein Neugeboreneswährend der ersten sechs Monate ausschliesslichMuttermilch bekommen sollte.» In mehreren Län-dern gibt es Bildungsprogramme, die Müttern be-währte Ernährungs- und Pflegetipps weitergeben.Allerdings haben Frauen nicht immer genügendZeit, um sich um ihre Familie zu kümmern, be-dauert Lina Mahy: «Eine Mutter, die ganztags aufdem Feld arbeitet, kann ihrem Kleinkind nicht dienötigen fünf Mahlzeiten pro Tag geben.» ■

(Aus dem Französischen)

Luke Dug

gleb

y/Red

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FAO

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Ernährung

«Eine Welt»: Warum können Ernährungssi-cherheit und ausreichende Nährstoffversor-gung nicht weltweit garantiert werden?Gerda Verburg: Eines der hauptsächlichen Hin-dernisse hat damit zu tun, dass wir das Problem zusehr in seinen Teilaspekten angehen. Ernährungssi-cherheit und Nährstoffversorgung betreffen fastalle Bereiche des Alltags. Sie hängen von vielerleiBeschlüssen und Ereignissen ab, die Bereiche wieWasser, Energie, Klimawandel, Gesundheit, Tech-nologie, Transportwesen usw. betreffen. Wir brau-chen einen ganzheitlichen Ansatz, der alle Dimen-sionen integriert und die betroffenen Akteureeinschliesst.

In den Entwicklungsländern müsste die Le-bensmittelproduktion bis 2050 praktisch ver-doppelt werden, um den Hunger zu stillen.Können die Kleinbauern ihre Erträge ent-sprechend steigern?Die Kleinlandwirte im CFS sagen mir oft, dass esmachbar ist. Sie sind zwar klein, aber stark und zahl-reich. Sie sind es, die am meisten in ihre Betriebeinvestieren, weil sie ihre Produktivität erhöhen undihre Familie ernähren wollen. Trotzdem brauchensie unsere Unterstützung, nicht bloss zur Steige-

Getreideernte in den peruanischen Anden: Damit der Bauernberuf attraktiv bleibt, braucht es Investitionen in dieEntwicklung von effizienten und umweltfreundlichen Maschinen und Techniken.

rung der Erträge. Wir müssen auch ihre Bedürfnis-se in Sachen Marktzugang evaluieren und genera-tionenübergreifende Aspekte in Betracht ziehen.Wenn die Bauern kein anständiges Einkommen er-wirtschaften können, ist die Wahrscheinlichkeitgross, dass ihre Kinder und Enkel in die Städte abwandern. Deshalb müssen wir heute in die Land-wirtschaft investieren.

2009 wurde das CFS umgekrempelt. Welchessind heute seine Stärken?Zwei Änderungen sind entscheidend: die Integra-tion einer breiten Palette von Nichtregierungsak-teuren in das CFS sowie die Schaffung einer hoch-karätigen Expertengruppe. Das CFS baut heutestärker auf Partizipation und ist effizienter. Es kannsich auf die wissenschaftlichen Analysen seiner Ex-pertengruppe abstützen, Beschlüsse werden von al-len Akteuren kollektiv gefasst, inklusive Zivilge-sellschaft und Privatsektor. Die Stärke des CFS liegtin dieser Kombination von wissenschaftlichem Be-obachten und unterschiedlichen Meinungen derLeute, die vor Ort arbeiten.

Findet sich immer ein Konsens?Die Empfehlungen des CFS sind das Ergebnis hart

Gerda Verburg wurde 1957 im holländischenZwammerdam geborenund ist auf einem Milchbe-trieb aufgewachsen. Von1980 bis 1997 war sie inverschiedenen leitendenStellen in einer christlichenJungbauernorganisationaktiv, danach im niederlän-dischen Verband derchristlichen Gewerkschaf-ten. Während neun Jahrenvertrat sie die christlich-demokratische Partei imniederländischen Parla-ment. Von 2007 bis 2010war Gerda Verburgholländische Landwirt-schaftsministerin. In dieserZeit leitete sie auch wäh-rend zwei Jahren die UN-Kommission für nachhal-tige Entwicklung. Seit2011 vertritt sie dieNiederlande bei den inRom ansässigen UN-Organisationen (FAO, WFPund IFAD). Parallel dazuwurde Verburg im Oktober2013 zur Präsidentin desKomitees für Ernährungs-sicherheit (CFS) gewählt.

«Gemeinsam sind wir stärker»Das Komitee für Ernährungssicherheit (CFS) ist eine interna-tionale Plattform für die Überwindung von Hunger und Fehl-ernährung. Laut deren Präsidentin Gerda Verburg wurden inden vergangenen Jahren auf politischer Ebene gewaltige Fort-schritte erzielt. Interview von Jane-Lise Schneeberger.

Carl W

alsh/Aurora/laif

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verhandelter Kompromisse. Genau dies verleiht ih-nen aber Gewicht und Legitimität. Zu einem Kon-sens kommen wir immer wieder deshalb, weil alledie Spielregeln akzeptieren und Vertrauen in denProzess haben. Alle Interessengruppen sind sich be-wusst, dass wir gemeinsam stärker sind. Seit der Er-neuerung hat das CFS zu zahlreichen aktuellen undkontroversen Themen wie zum Beispiel Grundbe-sitz, Agrotreibstoffe oder Klimawandel Stellung bezogen. Dieses Jahr wird es langdauernde Krisen,Wassermanagement und Marktzugang der Klein-bauern analysieren.

Hat sich das Komitee auch schon zum An-bau von biofortifizierten oder gentechnischveränderten Lebensmitteln geäussert?Nein, das CFS hat sich diesen Fragen noch nichtgewidmet. Ich persönlich bin der Meinung, dass wiralle technischen Möglichkeiten erforschen müssen,die uns helfen können, die Herausforderung vonHunger und Fehlernährung anzugehen und gleich-zeitig die Umwelt zu schützen. Die Diskussion umBiofortifikation und Gentechnologie ist extrempolarisiert. Ich bedaure, dass man nicht gelassen überRisiken und Chancen dieser Methoden diskutie-ren kann, indem man auf objektive Tatsachen ab-stellt. Generell müssen wir aufpassen, dass wir neueWerkzeuge, welche die Arbeitsbedingungen derLandwirte beträchtlich verbessern könnten, nichtzu schnell verwerfen.

An welche Werkzeuge denken Sie konkret?Die Mechanisierung zum Beispiel ist unumgäng-

lich, um die Landwirtschaft von morgen attrakti-ver zu machen. Man muss aber umweltfreundli-chere und dem Kontext angepasste Maschinen undTechniken finden. Ich denke dabei auch an die In-formationstechnologie. Schon heute hilft sie denBauern, sich den Klimaschwankungen anzupassenund Ernteverluste zu beschränken. Satellitenbilderwerden herbeigezogen, um Grundbesitzfragen zuklären. Denkbar ist, dass schon bald Drohnen ein-gesetzt werden, um Heuschrecken und andereSchädlinge unter Kontrolle zu halten. Im techni-schen Fortschritt liegt noch grosses Potenzial.

Wie wirkt sich das gegenwärtige Engagementder internationalen Gemeinschaft zur Über-windung von Fehlernährung in den betrof-fenen Regionen aus?Seit der Ernährungskrise von 2008 wurden riesigeFortschritte erzielt. Auf globaler Ebene haben dieMitglieder des CFS «Freiwillige Leitlinien für dieverantwortungsvolle Verwaltung von Boden- undLandnutzungsrechten» eingeführt, sowie «Prinzipi-en für verantwortungsvolle Investitionen in Land-wirtschaft und Ernährungssysteme». Vor Ort siehtman erste Resultate: Mehrere Staaten haben ihreGesetzgebung bereits überarbeitet; auch Unter-nehmen haben beschlossen, sich den neuen Nor-men anzupassen; NGOs haben Initiativen lanciert,um Kleinbauern bei der Umstellung auf bessereMethoden zu unterstützen. Dies zeigt, dass wir aufdem richtigen Weg sind. ■

(Aus dem Englischen)

Der Laptop wird auch auf dem Feld zu einem beliebten und unentbehrlichen Arbeitsinstrument: Zum Beispiel imRahmen eines Cassava-Anbauprojekts in Westkenia.

Reform nach KriseDas Komitee für Ernäh-rungssicherheit (CFS)wurde 1974 von der UNOgeschaffen, um die politi-schen Bestrebungen zurweltweiten Ernährungssi-cherung zu begleiten undzu beobachten. Nach derKrise von 2007-2008 be-schlossen die 127 Mit-gliedstaaten eine grundle-gende Reform, um kurz-fristig auf Krisen und lang-fristig auf strukturelleProbleme effizienter rea-gieren zu können. Sie ha-ben das CFS für weitereInteressenkreise geöffnet(Zivilgesellschaft, NGOs,Forschungsinstitute,Privatsektor, Finanzinsti-tute, Stiftungen, andereUN-Agenturen usw.) undseine Rolle neu definiert.Zu den Aufgaben des CFSgehören insbesondere dieKoordination der weltwei-ten Bemühungen imBereich Ernährungssicher-heit und Nährstoffversor-gung, verbesserte Konver-genz bei politischen Mass-nahmen sowie die Unter-stützung der Länder undRegionen. www.fao.org/cfs

13Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Ernährung

Kein Rattenfutter!Viele Bauern im Süden verlieren einen grossen Teil ihrer Ernte,weil sie keine geeigneten Lagermöglichkeiten haben. Um ihreErnährungssicherheit zu verbessern, unterstützt die DEZA dieVerbreitung innovativer Speicher. Die besten Resultate wurdenbisher mit Blechsilos erzielt – diese erfordern aber eine be-trächtliche Anfangsinvestition.

( jls) Getreide ist lange haltbar, wenn es vor Rat-ten, Insekten, Vögeln und Feuchtigkeit geschütztaufbewahrt wird. Es sollte Familien auf dem Landbis zur nächsten Ernte ernähren. Die meisten Bau-ern in den Entwicklungsländern verfügen jedochbloss über rudimentäre Speichermöglichkeiten. Soverlieren sie einen grossen Teil der Lebensmittel,was ihre Ernährungssicherheit gefährdet. Das Feh-len zweckmässiger Anlagen bringt sie ausserdemum beträchtliche Einnahmen: Aus Angst vor Ver-lusten durch Nagetiere verkaufen viele Landwirteihre Produkte gleich nach der Ernte. Dies ist derschlechteste Moment, weil die Preise dann infol-ge eines Überangebots besonders niedrig sind. Seit über dreissig Jahren unterstützt die DEZAKleinbauern bei der Verbesserung ihrer Speicher-systeme für Getreide und Leguminosen. Das ersteProgramm lief von 1983 bis 2003 in Zentralame-rika unter dem Namen Postcosecha (spanisch für Nachernte). Resultat war die Einführung vonBlechsilos zur Aufbewahrung von Mais und Boh-nen, den zwei Hauptnahrungsmitteln der Region.In Honduras, Nicaragua, Guatemala und El Salva-dor wurden Handwerker ausgebildet, um die Be-

hälter aus verzinktem Blech herzustellen. Land-wirtschaftliche Berater zeigten den Bauern, wie siediese richtig verwenden und unterhalten.

Ermutigende ErfolgeIm Rahmen des Postcosecha-Programms wurdenmindestens 670000 Silos in Betrieb genommen.Deren Zahl nimmt weiter zu, weil die Strukturenzur Produktion und Verbreitung der Silos auchnach dem Rückzug der DEZA weiter funktionie-ren. «Die beliebtesten Silos haben ein Fassungsver-mögen von rund 800 Kilo. Dies genügt, um denJahresbedarf an Bohnen und Mais für eine sechs-köpfige Familie zu lagern», führt Max Streit aus,der das Thema bei der DEZA betreut. Die Silola-gerung erhöht zudem die Einnahmen der Bauern:Diese können nun warten, bis die Preise wiedersteigen, bevor sie einen Teil ihrer Ernte verkaufen. Allerdings wollten oder konnten sich nicht alleProduzenten gleich zum Kauf eines Silos ent-schliessen. Um ihnen den Einstieg mit bescheide-neren Neuerungen zu ermöglichen, bot Postcose-cha auch Verbesserungen für bestehende Lage-rungen an. So wurden traditionelle Holzschuppenerhöht und die Pfosten, auf denen sie stehen, mitRattenschutzvorrichtungen ausgerüstet. Aufgrund der Erfolge in Zentralamerika hat dieDEZA beschlossen, die von ihr entwickelte Me-thode für den Vertrieb von Speicher-Lösungen inandere Weltregionen zu transferieren: Seit vergan-

In traditionellen Speichern aus Lehm oder Holz, wie hier in Benin, können Getreide und Mais weder sicher nochlange gelagert werden.

DEZA

(2)

Hohe NachernteverlusteFür die Mehrheit der Bevöl-kerung in Subsahara-Afrikaist Getreide die Ernährungs-grundlage. Es sichert auch70 Prozent des Einkom-mens ländlicher Haushalte.Geschätzte 10 bis 20 Pro-zent der geernteten Kör-ner gehen jedoch noch vor dem Verarbeitungs-prozess verloren. Sie wer-den von Parasiten, Pilzenoder Mikroben befallenund verrotten. Gemäss ei-nem 2011 von der Welt-bank und der FAO publi-zierten Bericht, dürftensich die Nachernteverlustejährlich auf vier MilliardenUS-Dollar belaufen. Diesentspricht in etwa demGesamtwert der Getreide-importe Subsahara-Afri-kas. Die Menge der durchNachernteverluste verlore-nen Lebensmittel könnteden Bedarf von mindes-tens 48 Millionen Men-schen decken.

A. W

amalwa/Cimmyt

D. B

aributsa/Purdu

e University

14 Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

genem Jahr finanziert sie ähnliche Interventionenin elf Staaten südlich der Sahara sowie in weiterenLändern Lateinamerikas. Die Projekte werden vorOrt von verschiedenen Partnern umgesetzt.

Hürden in AfrikaDie Bauern in Afrika verfügen normalerweise überein geringeres Einkommen als jene in Zentral-amerika. Für sie ist es schwieriger, die leistungs-fähigste Technologie zu erwerben. In Tansania zumBeispiel kostet ein Metallbehälter mit einem Fas-sungsvermögen von 1800 Kilo Getreide rund 150US-Dollar. «Langfristig ist das Silo die rentabelsteInvestition, weil es vollständigen Schutz bietet undwährend 15 bis 20 Jahren im Einsatz bleibt. Aberes erfordert ein beträchtliches Startkapital», erklärtMax Streit. Die DEZA-Partner sind deshalb be-müht, den Bauern die Beschaffung von Metall-Si-los zu erleichtern: Sie führen den örtlichen Mi-krofinanzinstituten deren Rentabilität vor Augen,um sie davon zu überzeugen, den KleinbauernKredit zu gewähren. Ausserdem ermuntern sie dieBehörden, die preistreibenden Steuern auf Metallzu senken.Im Rahmen der Projekte werden auch Lagerme-thoden angeboten, die eine bescheidenere An-fangsinvestition erfordern. Zu den angebotenenOptionen gehören eine verbesserte Version destraditionellen Lehmsilos, Jute- oder Sisalsäcke,

Plastikkanister, Blechfässer sowie zwei Arten von Plastiksäcken, die eine hermetische Lagerung er-lauben. Letztere werden für ein paar US-Dollar pro Stück verkauft. Allerdings fassen sie bloss 100Kilo Getreide und gehen nach zwei oder drei Jah-ren kaputt. Ausserdem schützen Plastiksäcke we-der vor Nagern noch vor Insekten wie etwa demGrossen Kornbohrer – einem Käfer, der in Afrikagrosse Schäden anrichtet.

Grosser BedarfDie letzte Welternährungskrise hat gezeigt, wiedringend es ist, die Nachernteverluste zu reduzie-ren, damit alle genug zu essen bekommen. Zahl-reiche Geber sind bereit, in diesen bisher ver-nachlässigten Bereich zu investieren. Im Rahmenihres Netzwerks für Landwirtschaft und Ernäh-rungssicherheit organisiert die DEZA Austausch-gelegenheiten unter den am Nachernte-Manage-ment interessierten Akteuren. «Wenn mehrereGeldgeber und die betroffenen Länder ihre Be-mühungen koordinieren, können wir in einem vielgrösseren Massstab aktiv werden», hofft Max Streit.«In Afrika südlich der Sahara leben hunderte Mil-lionen von Kleinbauern. Die meisten von ihnenbrauchen sichere Lagerlösungen.» ■

(Aus dem Französischen)

Im Rahmen eines Workshops erlernen afrikanische Handwerker die Herstellung von Metallsilos. Auch robuste Plastiksäckeeignen sich für die Lagerung der Ernte, schützen aber nicht vor Insekten und Nagern.

Verluste undVerschwendungEin Drittel der weltweit pro-duzierten Nahrungsmittel –1,3 Milliarden Tonnen pro Jahr – geht lautSchätzungen der FAO entlang der Ernährungs-kette verloren oder wirdverschwendet: In Europaund Nordamerika werdenpro Konsument im Durch-schnitt jährlich zwischen95 und 115 KilogrammEssen in den Abfall gewor-fen. In den Entwicklungs-ländern wird wesentlichweniger verschwendet.Dort gehen grosseMengen während der land-wirtschaftlichen Produktionund in den Nacherntepro-zessen verloren – beimTrocknen, Schälen, Verar-beiten, Transportieren undvor allem beim Lagern.Gründe für die Verlustesind ungeeignete Infra-strukturen, veralteteTechnologien und zu ge-ringe Investitionen in dieLebensmittelversorgung.

Hanspeter Liniger

15Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Ernährung

( jls) Die Anbauflächen auf unserem Planetenschwinden. Gründe dafür sind ungeeignete An-baumethoden, Überweidung, Erosion, Verstädte-rung oder der Klimawandel. Das Zentrum fürnachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) derUniversität Bern erfasst seit 1992 die Bemühun-gen von Bauern, der Verschlechterung ihrer Bö-den Einhalt zu gebieten oder ihr vorzubeugen. Eshat mit Unterstützung der DEZA die Organisati-on Wocat (World Overview of Conservation Ap-proaches and Technologies) aufgebaut, ein inter-nationales Netzwerk von Experten für nachhalti-ge Bodennutzung. «Statt bloss das Ausmass derSchäden zu messen, wollten wir zeigen, dass es Mit-tel gibt, um vorzubeugen und den Bauern helfen,die richtigen Entscheide zu treffen», sagt Wocat-Leiter Hanspeter Liniger. Eine per Internet frei zugängliche Datenbank enthält bereits über 750Technologien und Ansätze aus rund 50 Ländern,die sich bewährt haben. Einer der eindrücklichsten Einträge stammt ausdemVarzob-Tal in Tadschikistan. Dort ist es einemBauern gelungen, eine verödete Weide in einenObstgarten und eine Futterfläche zu verwandeln:Er hat Terrassen angelegt und seine Obstbäume inGräben gepflanzt, die das Abflusswasser zurück-halten. Zudem hat er den Boden mit Mist gedüngt.Seine Parzelle, mitten in einem steilen Hang,gleicht einer grünen Insel in einer öden Landschaft.Rundherum ist die Pflanzendecke infolge Über-weidung verschwunden.

Traditionelle MethodenTerrassenanbau ist eine jahrtausendealte Technik,die es erlaubt, steile Grundstücke zu bebauen,Was-ser zurückzuhalten und die Erosion zu bremsen.Wocat hat zahlreiche Varianten erfasst: MancheTerrassen werden bewässert, zum Beispiel für denReisanbau auf Bali (Indonesien). Andere sind aus-schliesslich vom Regen abhängig.Auch die Stufenwerden unterschiedlich angelegt: Im Colca-Tal inden peruanischen Anden hat man Terrassen saniert,die auf das Jahr 600 n.Chr. zurückgehen und vonSteinmäuerchen gestützt werden. In Kenia sind esErdwälle, welche die Fanya Juu-Terrassen festigen.Dabei handelt es sich um eine traditionelle Me-

Wocat-PublikationenGestützt auf Informationenaus der Datenbank hatWocat, zusammen mit ver-schiedenen Partnern, mehrals zwanzig Publikationenveröffentlicht. So werdenz.B. im 2007 erschienenenBuch «Where the land isgreener» 42 Wasserspei-cher- und Bodenerhaltungs-massnahmen rund um denGlobus analysiert und poli-tische Empfehlungen fürEntscheidungsträger undEntwicklungsorganisationenformuliert. 2011 hat Wocat «Sustainable LandManagement in Practice»mit Leitlinien und bewähr-ten Methoden für nachhal-tige Bodenbewirtschaftungin Subsahara-Afrika he-rausgegeben. «WaterHarvesting» wurde 2013publiziert und präsentiertgute Praxisbeispiele fürden Umgang mit Wasser inariden Zonen und beimRegenfeldbau. Ausserdemhaben neun Länder desSüdens Berichte über ihreErfahrungen mit nachhalti-gem Bodenmanagementveröffentlicht. www.wocat.net

Bauern schützen BödenÜberall auf der Welt kämpfen Bauern gegen die Verschlechte-rung der Böden. Sie setzen eine Vielzahl von Techniken und Me-thoden ein, um Agrarflächen zu erhalten und ihre Fruchtbarkeitzu erhöhen. Eine einzigartige, von der Universität Bern einge-richtete, Datenbank erfasst bewährte Praktiken und stellt derenVerbreitung sicher.

Eine grüne Insel, mitten in einem erodierenden Hang: ImVarzob-Tal in Tadschikistan hat ein Bauer sein Land terras-siert, Obstbäume gepflanzt und Futter angebaut.

thode, bei der man den Höhenkurven entlangGräben anlegt und mit der ausgehobenen Erdegleichzeitig einen Wall bildet. In Nordchina, aufdem Lössplateau, erreichen die Terrassen mit einerAusdehnung von 73000 km2 einen völlig anderenMassstab. Sie wurden zwischen 1964 und 1978 an-gelegt und erlaubten die Wiederbegrünung starkerodierter Hänge. Auch für Methoden der Agroforstwirtschaft, woÄcker oder Weiden mit Bäumen kombiniert wer-den, gibt es zahlreiche Beispiele – etwa in Kolum-bien, auf den Philippinen oder in Niger. In Ost-afrika werden immer öfter Silbereichen (Grevillearobusta) in Mais-, Bohnen- und Teefeldern ange-pflanzt. Der ursprünglich in Australien beheima-tete Baum ist in vielerlei Hinsicht nützlich: Er bietetWindschutz, gibt viel Schatten, verbessert die

Fikreyesus Ghilay

16 Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Bodenfruchtbarkeit und liefert gleichzeitig Holzund Futter.

Raffinierte WasserspeicherIn Trockenzonen war seit jeher das Speichern vonWasser die grösste Herausforderung für die Bau-ern. Die Wocat-Datenbank beschreibt einige derMethoden, die sie entwickelt haben, um das Re-gen- oder Abflusswasser zu sammeln und auf ihreFelder zu leiten. Die Speichermethoden reichenvon unter dem Boden liegenden Zisternen überErd- oder Sanddämme bis zum Teich auf dem Bau-ernhof oder Eisenbetonbecken. Manche Innova-tionen sind besonders vielversprechend. So hatzum Beispiel ein Baumwollproduzent im indi-schen Bundesstaat Madhya Pradesh ein Mikrobe-wässerungssystem entwickelt, das bei wesentlichgeringeren Kosten alle Vorzüge konventionellerMethoden aufweist. Von den landwirtschaftlich genutzten Böden amschlimmsten verödet sind heute die Weiden, weilsie infolge einer weltweiten Erhöhung des Vieh-bestands übernutzt werden. Ausgerechnet in die-sem Bereich konnte Wocat bisher am wenigstenBeispiele guter Praxis sammeln. Ein steter Weide-wechsel, der dem Boden zwischendurch Zeit zurErholung gibt, bleibt die beste Methode, um diePflanzendecke zu erhalten. Alle diese Techniken präsentiert die Datenbank von

Wocat in standardisierter Form, was Analyse undVergleich erleichtert. Gepflegt wird sie von land-wirtschaftlichen Beratern, Agronomen und loka-len Experten. «Wir haben die Methode entwickeltund unsere Partner darin ausgebildet. Sie sind es,welche die bestehenden Kenntnisse in ihren Län-dern zusammentragen», erklärt Hanspeter Liniger.Die aktuell von rund 50 Ländern genutzte Platt-form wird bald über eine globale Reichweite verfügen: Im April 2014 wurde sie zur offiziellenDatenbank der UN-Konvention zur Bekämpfungder Wüstenbildung (UNCCD) erklärt.Wocat hatden Auftrag, die 196 Mitgliedländer bei der Erfas-sung der besten Methoden zur nachhaltigen Bo-denbewirtschaftung zu unterstützen. «Eine grösse-re internationale Anerkennung hätten wir unsnicht erträumen können», freut sich Liniger. DieAktionen der UNCCD erstrecken sich auf degra-dierte Böden in allen ariden Zonen der Erde, was40 Prozent der gesamten Landmasse entspricht. ■

(Aus dem Französischen)

Im Rahmen eines Aufforstungsprogramms der eritreischen Regierung terrassiert die lokale Bevölkerung einen Hang.Anschliessend werden auf den Terrassen Bäume gepflanzt, jeweils in einem Abstand von zwei Metern.

UNO-Jahr des BodensDie Böden sind akut ge-fährdet. Ein Drittel ist be-reits mässig oder starkdegradiert. Geht dieBodendegradation im ge-genwärtigen Rhythmusweiter, können künftigeGenerationen ihrenNahrungs-, Futter-, Holz-,Wasser- und Rohstoff-bedarf nicht mehr decken.Deshalb hat die UNO2015 zum InternationalenJahr des Bodens erklärt.Hauptziel ist, die Öffent-lichkeit dafür zu sensibili-sieren, dass man Acker-land erhalten und nach-haltig nutzen muss. «Bö-den haben keine Stimme,und nur wenige setzensich für sie ein. Bei derLebensmittelproduktionsind sie unsere stillenVerbündeten», hat FAO-Generaldirektor JoséGraziano da Silva erklärt.Die DEZA organisiert zu-sammen mit dem Zent-rum für nachhaltige Ent-wicklung und Umwelt der Universität Bern am 17. Juni eine Veranstal-tung zum InternationalenJahr des Bodens.www.sols2015.ch

Clemens Emmler/laif

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LinksZweite Internationale Ernährungskonferenz (ICN2)www.fao.org/about/meetings/icn2

Ständiger UN-Ausschuss für Ernährung (UNSCN) www.unscn.org

Internationales Forschungsinstitut für Ernährungspolitik (IFPRI), Washingtonwww.ifpri.org

DEZA-Netzwerk für Landwirtschaft und Ernährungssicherheit(A+FS Network) www.shareweb.ch/site/Agriculture-and-Food-Security

Zitate«Man kann sich kaum eine grössere Ungerechtigkeit vorstellen, als einem Kind im Mutterleib und von klein auf die Fähigkeit zurauben, seine Begabungen voll zu entwickeln.» Anthony Lake, Exekutivdirektor Unicef

«Ein Teil unserer aus dem Gleichgewicht geratenen Welt stirbtnoch immer an Hunger. Und ein anderer Teil mästet sich bis zurFettleibigkeit, so dass die Lebenserwartung heute wiederum sinkt.» Margaret Chan, Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation

Schlüsselzahlen• Rund 805 Millionen Menschen sind unterernährt, über 2 Milliar-

den leiden an Mangelernährung und über 1,9 Milliarden Er-wachsene sind übergewichtig – davon 600 Millionen fettleibig.

• Jährlich sterben 3,1 Millionen Kinder unter fünf Jahren infolge Hunger und Mangelernährung. Dies entspricht 45 Prozent aller Todesfälle bei Kindern.

• Rund 162 Millionen Kinder unter fünf Jahren leiden infolge chronischer Fehlernährung an einer Wachstumsstörung, die ihre Gesundheit und ihre Entwicklung gefährdet.

• Übergewicht und Fettleibigkeit sind für den Tod von schätz-ungsweise 3,4 Millionen Menschen pro Jahr verantwortlich. Bei einem Body Mass Index (BMI) ab 25 spricht man von Übergewicht, bei einem BMI ab 30 von Fettleibigkeit.

Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Ernährung

Facts & Figures

Gravierend ≥30,0 Sehr ernst 20,0–29,9Ernst 10,0–19,9Mässig 5,0–9,9Wenig ≤4,9Keine AngabenIndustrieländer

Welthunger-Index 2014Der Welthunger-Index(WHI) setzt sich aus folgen-den Indikatoren zusammen:Anteil der verstorbenenKinder unter fünf Jahren,Anteil der untergewichtigenKinder unter fünf Jahren,Anteil der Unterernährtenan der Gesamtbevölke-rung. Die Länder werdennach einer Skala von 0 bis 100 Punkten klassiert.Gravierend ist der WHI inBurundi (35,6) und Eritrea(33,8); sehr ernst ist er invierzehn weiteren Ländern,zehn davon in Afrika süd-lich der Sahara. Für man-che Länder wie Afghanis-tan, DR Kongo, Burma undSomalia lässt sich mangelsDaten kein WHI-Wert be-rechnen.

Quelle: von Grebmer et al./IFPRI

Tanja Land

er

18 Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Es nieselt den ganzen Tag. Der schwere Viehtrans-porter, der auf der rutschigen Naturstrasse als Pas-sagierbus dient, kämpft sich eine Steigung hoch.Aufeiner schmalen Holzbank sitzt Sebastián Gutiérrez.In der einen Hand hält er sein Mobiltelefon, dasMusik aus den 1980er Jahren spielt, in der anderenein Bündel Papier. Konzentriert studiert er jedeseinzelne Blatt, obwohl er den Inhalt längst aus-wendig kennt. Es ist das Gesetz 840. Der Aktivistund angehende Jurist ist unterwegs nach La Uniónan eine Versammlung, wo er als Vertreter der na-tionalen Menschenrechtsorganisation CENIDH(Centro Nicaragüense de Derechos Humanos) eineGruppe Bauern des «Komitees zur Verteidigung des Privateigentums» trifft.Die Fahrt vom Städtchen Nueva Guinea in der Au-tonomen Region Südatlantik nach La Unión dau-ert zwei Stunden. Das Dorf liegt rund 330 Kilo-meter von der Hauptstadt Managua entfernt. Die

Bauern aus Nueva Guinea protestieren am 10. Dezember 2014 in der Hauptstadt Managua gegen den Kanalbau.

entlegene Gegend ist grün, mit tropischen Pflan-zen bewachsen und von Flüssen umgeben. Bevorim 20. Jahrhundert im grossen Stil abgeholzt wur-de, gab es hier nur wenige Siedlungen. Die meistenBewohner kamen erst in den 1970er Jahren: Nachdem schweren Erdbeben von 1972 und dem Aus-bruch des Vulkans Cerro Negro wurden 1600 Fa-milien hierher umgesiedelt. Nueva Guinea ist mitMais- und Bohnenanbau zwar eine der landwirt-schaftlich produktivsten Regionen Nicaraguas, weilaber der Boden vielerorts degradiert ist, werden im-mer mehr Äcker als Weideland genutzt. Gemässdem nationalen Zensus von 2011 gibt es nirgendssonst im Land so viele Viehzüchter.

Im Schnellgang beschlossenIn La Unión herrscht Unruhe: «Das hier wirdschlimm werden», sagt Gutiérrez, als er aus dem Bussteigt und das Haus von Amparo Jaime betritt, wo

HORIZONTE

Enttäuschtes Volk gegen Jahrhundertprojekt

Mit dem geplanten Nicaraguakanal verspricht Präsident DanielOrtega, sein Land von der Armut zu befreien – das Kapital dazuholt er aus China. Doch immer mehr Menschen schliessen sichden Protesten gegen den «Grossen Graben» an. Dahinter stecktein Kampf um Grundrechte und Demokratie. Eine Reportage vonAndrea Müller und Tanja Lander.*

Tanja Land

er (3

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19Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Nicaragua

die Versammlung stattfindet. Allmählich treffen dieBauern und Bäuerinnen ein. Zuerst zehn, dannzwanzig, am Schluss sind rund vierzig Personen inder Garage versammelt. Die meisten Männer tra-gen Gummistiefel, Jeans, Hemd und Cowboyhut.Alle wollen gleichzeitig reden. Celestino Suárez, derKoordinator des Komitees zur Verteidigung desPrivateigentums, erhält als erster das Wort: «Unse-re Organisation wurde geboren, weil die Chinesenhierher kamen und Zugang zu unseren Grund-stücken verlangten. Sie wollten unser Land aus-

messen, ohne Bewilligung. Da fingen wir an, unsernsthaft Gedanken zu machen über den Kanal.»Wenn Suárez vom «Kanal» spricht, meint er die 280Kilometer lange und bis zu 500 Meter breite Was-serstrasse, die dereinst den Pazifik mit dem Atlan-tik verbinden soll. Geht es nach dem Willen vonStaatspräsident Daniel Ortega, werden Container-schiffe ab 2020 nicht mehr nur durch Panama, son-dern auch durch Nicaragua fahren. Für die Reali-sierung der jahrhundertealten Vision des «GrossenKanals» braucht der Präsident die Unterstützung desInvestors Wang Jing aus Hongkong. Dessen eigensdafür gegründete Firma HKND (Hong Kong Ni-caragua Canal Development) erhielt eine Konzes-sion für fünfzig Jahre, mit der Option auf eine Ver-doppelung der Laufzeit. Darin enthalten sind auch

Nicaragua in Kürze

Hauptstadt Managua

Fläche130373 km²

Einwohner6,17 Millionen

Lebenserwartung74,5 Jahre

SprachenSpanisch (Amtssprache),Miskito, Rama, Sumu

EthnienMestizen 70%Europäer 18%Afroamerikaner 8% Indigene 4%

ReligionKatholiken 59%Protestanten 23% Andere 18%

ExportprodukteKaffee, Rindfleisch,Garnelen, Erdnüsse,Zucker, Gold, Textilpro-dukte, Palmöl, Rum, Tabak

WirtschaftRund 25% der Gesamt-wirtschaftskraft kommenaus der Landwirtschaft,weitere 25% Verarbeitunglandwirtschaftlicher Pro-dukte, gefolgt von Erträgenaus Goldminen, Textil-industrie und Tourismus.

ArmutPlatz 132 auf dem HumanDevelopment Index derVereinten Nationen. 42,5%der Bevölkerung leben inArmut (2 Dollar oder weni-ger pro Tag)

Nicaragua

Panama

Managua

Honduras

Celestino Suárez, Amparo Jaime und Francisca Ramírezkämpfen gegen die drohende Enteignung.

Kanal-Projekt

Nebenprojekte: Tourismusresorts, ein Flughafen,zwei Hochseehäfen und eine Freihandelszone. 2012schuf Ortega dafür das Gesetz mit der Nummer 840– das sogenannte Kanalgesetz. Innerhalb wenigerTage wurde es beschlossen. Das von der Regie-rungspartei FSLN (Sandinistische Befreiungsfront)dominierte Parlament hat es durchgewinkt. Dochseit Wang Jing und die Regierung an Weihnach-ten 2014 angekündigt haben, mit dem Bau zu be-ginnen und im ersten Drittel des Jahres 2015 dieLandfragen zu klären, gehen Nicaraguas Bauern

Pazifik

Costa Rica

KaribischesMeer

auf die Strasse. Ihre Forderung: Das Kanalgesetzmuss aufgehoben werden.

Drohende EnteignungenWeil La Unión auf der Route der Wasserstrasseliegt, müssen die Bauern ihr Land verkaufen, sonstwerden sie enteignet. Celestino Suárez fragt: «Wasmachen wir dann? Wohin sollen wir? Wir könnennichts anderes, als unsere Felder bestellen.» Zudemsei die Bezahlung für das Land nicht gerecht, er-gänzt er. Laut Gesetz erhalten die Bauern den Ka-tasterpreis, der einer Einschätzung durch die Be-hörden entspricht. Dazu sagt Angel Urbina ausdem Nachbardorf La Fonseca: «Was soll ich mit ei-nem Katasterpreis? Nichts ersetzt meine Finca. Ichmöchte noch weitere 50 Jahre leben und träumedavon, auf meinem Land zu sterben.» Der Sprecherder Kommission des Kanalprojekts,TelémacoTala-vera, versichert zwar gegenüber den Medien im-

Panamakanal

Tanja Land

er

20 Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

UmstrittenesGrossprojektAm 22. Dezember 2014gaben Präsident DanielOrtega und der chinesi-sche Investor Wang Jingden Startschuss zum Baudes Nicaraguakanals.Seither nehmen dieProteste und Unruhen zu. Die Polizei beendeteDemonstrationen gewalt-sam und inhaftierte Teilneh-mer bis zu einer Wocheohne richterlichen Be-schluss. Neben Bauern,die ihr Land verteidigen,sind vor allem Umwelt-schützer aktiv. Sie be-fürchten die Zerstörungdes Nicaraguasees, dergrössten Süsswasser-reserve Zentralamerikas.Laut der NGO «CentroAlexander von Humboldt»leben über 100000 Per-sonen im zehn Kilometerbreiten Korridor des ge-planten Kanals; laut offizi-ellen Angaben von Seitender Investoren müssen ungefähr 5000 Familienumgesiedelt werden.

mer wieder, man werde die Landeigentümer ange-messen bezahlen, doch die Bauern von La Uniónglauben dem Regierungsvertreter kein Wort. Umsoweniger, seit er zwei Termine für Informationsver-anstaltungen mit Betroffenen kurzfristig abgesagthat.Suárez sagt, er wolle mit 70 nicht noch einmal einneues Leben anfangen. Er spricht vom Krieg in den1980er Jahren. Nachdem die Sandinistische Revo-lution 1979 den Diktator Anastasio Somoza gestürzthatte, brach 1981 mit US-amerikanischer Einmi-schung der Contra-Krieg aus. Im Gebiet NuevaGuinea und im Norden des Landes waren dieKämpfe zwischen den Contra-Guerrilleros undden sandinistischen Volkstruppen heftig. Suárez sagt: «Kurz vor dem Krieg habe ich mit fast nichtsbegonnen. Ich baute Maniok, Kartoffeln undChili an. Nach dem Krieg musste ich noch einmalvon vorne anfangen.» Jetzt sei es Zeit auszuruhen.Doch der Nicaraguakanal lässt ihn nicht.

Aufstand gegen die HerrschendenDie Bauern organisieren sich landesweit. Das Ko-mitee spricht von über 15000 Personen, die sichalleine in der Region Nueva Guinea dem Protestgegen den Kanal anschliessen. Bestätigen lässt sichdiese Zahl nicht. Obwohl das Grossprojekt im Zen-trum des Widerstands steht, geht es um mehr: Umdie Art und Weise, wie Präsident Ortega, der eins-tige linke Hoffnungsträger, sein Land regiert; um die Verteidigung von Rechten und um die Sou-veränität des Volkes. «Wir leben in Angst, hier in Nicaragua. Aber wir sterben lieber, als dass wirunser Land hergeben», sagt die wütende FranciscaRamírez und kämpft mit den Tränen. Die Bäuerinaus La Fonseca ist eine wichtige Koordinatorin des

Protests. Seit sie demonstriert, wollte die Polizei sieschon mehrfach festnehmen – sie lässt sich jedochnicht einschüchtern: «Unsere Rechte werden seitJahren ignoriert, doch jetzt wacht Nicaragua auf.Wir müssen uns gegen diese Regierung auflehnen,auch wenn es hart wird.»Die junge Anwältin Grisel Martínez hilft bei derMobilisierung: «Jenen, die glauben, der Kanal brin-ge Fortschritt, drücke ich das Gesetz in die Hand.Ich sage ihnen, dass wir wieder reden können,wenn sie es gelesen haben.» Martínez bezweifelt,dass der Konflikt mit der Regierung friedlich gelöstwerden kann. An der Versammlung steht sie ent-schlossen auf: «Ich sage euch: Wir können mit un-seren friedlichen Demonstrationen weitermachen.Aber Daniel (Ortega) wird seine Kräfte schicken,um das Volk zu töten.» Es gebe ja nicht einmal ei-nen Dialog mit der Regierung, so Martínez. Wieandere Kritiker glaubt sie, dass der Kanal nie ge-baut wird: «Doch das spielt keine Rolle. Unser Prä-sident hat die Souveränität bereits verkauft. Mit die-sem Gesetz wird Nicaragua bald von den Chine-sen regiert.» Sie erhält Applaus.

Angst vor BlutvergiessenDer Kanal ist längst zum Ventil jener Nicaraguane-rinnen und Nicaraguaner geworden, die ihre Wutüber die autoritäre Herrscherfamilie loswerdenwollen. Die Kanalgegner kommen aus verschiede-nen politischen Lagern und Schichten der Gesell-schaft: Enttäuschte Bauern, Umweltschützer, Femi-nistinnen. Ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlenkommt der vereinte Protest der liberalen und rech-ten Opposition gelegen. Aber auch ehemaligeWeg-gefährten von Daniel Ortega sind enttäuscht undwütend. Einer von ihnen ist der nicaraguanischePoet Ernesto Cardenal. Er griff anlässlich seines 90. Geburtstags zu deutlichen Worten: «Jetzt habenwir eine Diktatur der Familie Ortega. Das ist nicht,wofür wir gekämpft haben.»Wie die meisten Versammlungsteilnehmer in LaUnión, befürchtet der Aktivist Sebastián Gutiérreznach nur 24 Jahren Frieden erneut blutige Ausei-nandersetzungen. Gleichzeitig hofft er aber auf einefriedliche Lösung des Konflikts. – Erst als das Ko-mitee das Haus von Amparo Jaime langsam wiederverlässt, spricht der Gastgeber: «Wir sind hier viel-leicht nicht die Leute mit der besten Schulbildung,aber wir sind auch nicht mehr so dumm wie früherund glauben alles. Der Kanal macht uns alle zu Verlierern.» ■

*Andrea Müller (Text) und Tanja Lander (Bilder) ar-beiteten von November 2014 bis Februar 2015 als Aus-lands-Stagiaires der Schweizer Journalistenschule MAZbei der Zeitung El Nuevo Diario in Managua.

Geht es nach den Plänen der Regierung, werden hier baldkeine Kühe mehr weiden, sondern Schiffe passieren.

21Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Mein Partner und ich leben seit zwei Jahren in Ni-caragua. Von Anfang an begegnete man unsererBeziehung mit Toleranz und Akzeptanz. Dies istnicht selbstverständlich in einer Gesellschaft, diekonservativ, katholisch und vom Machismo ge-prägt ist.

Als Ausländer sind wir natürlich privilegiert. Vie-le junge einheimische Homosexuelle wagen bisheute nicht, sich zu outen. Besonders schwierigist die Situation auf dem Land. Deshalb hoffen wir,einen kleinen Beitrag zur Stärkung der Schwu-len-, Lesben- und Transsexuellenbewegung hier-zulande leisten zu können, indem wir unsere ein-getragene Partnerschaft offen leben und in unse-rem Umfeld immer wieder thematisieren.

Überrascht hat mich die reiche Kulturszene inManagua. Die Palette reicht von Mainstream-Kul-tur über Hollywood- und Independentfilme, Fol-klore, Theater bis zu modernem Tanz. Das Ange-bot ist gut, zum Teil sehr gut. Die DEZA leistetmit einem verhältnismässig grossen Budget imKulturbereich viel Unterstützung. Auch regional,über Nicaragua hinaus. So wurde zum Beispiel dasTeatro Memorias aus Honduras bereits mehrmalsans Festival Teatro Francófono in Managua einge-laden. Das Kleintheater der Künstlergruppe, diesich auf gesellschaftskritische Stücke der Weltlite-ratur spezialisiert hat, liegt in der Altstadt von Te-gucigalpa und wurde, ebenfalls mit Mitteln derDEZA, renoviert.

Aktuell arbeiten wir, zusammen mit weiteren Ge-bern, an der Einrichtung eines Gemeinschafts-

Aus dem Alltag von ... Andreas Gerrits, stellvertretender DEZA-Regionaldirektor für Zentralamerika in Managua

fonds zur Unterstützung der nicaraguanischen Zi-vilgesellschaft. Unser Ziel ist, 36 Jahre nach dersandinistischen Revolution, die junge Bevölke-rung des Landes erneut für politische Themen zusensibilisieren und ihr Interesse an der Entwick-lung des Landes und an politischer Partizipationzu wecken. Wir machen dies gemeinsam mit derEU, der Deutschen Gesellschaft für Internationa-le Zusammenarbeit sowie der Entwicklungsagen-

Drei SäulenDie Schweiz engagiertsich seit dreissig Jahren inZentralamerika – seit 1993ist der Hauptsitz für die re-gionale Zusammenarbeitin Managua. In Nicaraguafokussiert die DEZA aufdrei Bereiche: Mit derStärkung von Kleinunter-nehmen soll die Wirtschaftangekurbelt werden, dazugehört u.a. die Förderungdes Kakaosektors. In denProgrammen für Dezentra-lisierung und lokaleGouvernanz arbeitet dieDEZA direkt mit denGemeinden zusammen.Dabei unterstützt sie auchInfrastrukturprojekte. Mit Projekten im BereichManagement von Wasser-ressourcen sowie innovati-ven landwirtschaftlichenMethoden will man – diesdie dritte Säule – die Aus-wirkungen des Klimawan-dels abfedern. Zusätzlichist ein Team der Humanitä-ren Hilfe vor Ort, für raschePräsenz im Katastrophen-fall sowie zur Erarbeitungvon Programmen imBereich Disaster RiskReduction.www.eda.admin.ch/deza(Länder)www.cooperacion-suiza.admin.ch/nicaragua

Nicaragua

tur von Luxemburg. Durch den Gemeinschafts-fonds erhoffen wir uns mehr politisches Gewichtbei diesem heiklen Thema.

Um Partizipation geht es auch bei den anderenProgrammen, die ich betreue: Weil Nicaragua inden letzten zehn Jahren, nicht zuletzt dank poli-tischer Stabilität, ein moderates Wirtschaftswachs-tum verzeichnete, verfügen die Gemeinden heu-te über Mittel, die sie für Bau- und Infrastruktur-projekte einsetzen können. Oft fehlt es aber anKnow-how und den notwendigen Strukturen.Deshalb engagieren wir uns direkt in den Ge-meinden, damit Entscheide über öffentliche Bau-vorhaben gemeinsam mit den Betroffenen, trans-parent und ohne Korruption zustande kommen.Vielerorts steht der Bau von Strassen zuoberst aufder Wunschliste der örtlichen Bevölkerung. InNicaragua gibt es noch immer viele abgelegeneGebiete, die nicht ganzjährig befahrbar sind.Handlungsbedarf besteht zudem bei der Abwas-serinfrastruktur sowie bei der Trinkwasserversor-gung.

Trotz des Aufschwungs der letzten Jahre ist undbleibt Armut ein zentrales Thema. Der Spagatzwischen der Situation der Bevölkerungsmehrheitund meiner eigenen, privilegierten Stellung alsExpat, fällt mir manchmal schwer. Möglichst oftbesuche ich unsere Projekte auf dem Land, wo dieVerhältnisse besonders schwierig sind. Letztes Jahrzum Beispiel fiel infolge Trockenheit eine Ernteaus. Dies führte für viele der Betroffenen zu ei-nem Rückfall in extreme Armut. ■

(Aufgezeichnet von Gabriela Neuhaus)

«Vielerorts steht der Bauvon Strassen zuoberstauf der Wunschliste derörtlichen Bevölkerung.»

DEZA

Tanja Land

er

Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Nicaragua ist ein kleines Land in Zentralamerika,auf der Landkarte nicht leicht zu finden. Aber wiealle Völker dieser Erde, hat auch es seine eigene Stimme.

Dieses fragile Stück Erde wird von einer Vulkan-kette durchzogen, auf seinen unzähligen Seen undLagunen bewegen sich Hunderte von kleinen undgrossen Wellen mit dem Wind, die Luft ist erfüllt von Marimbaklängen, Trommelschlägenund dem Gesang des Guardabarranco(nicaraguanischer Nationalvogel).

In präkolumbischer Zeit lebten auf ni-caraguanischem Boden Händler. Men-schen, die wissenshungrig und lernbe-dürftig waren, die gaben und nahmen,kamen und gingen. Seit jeher habensich hier Kulturen und Rassen ver-mischt. Nicaragua ist das ZentrumAmerikas, Brücke und Hort von Dich-tern, Musikern, Malern, Schriftstellernund Sängern. Bekannt für sein Volks-theater und seine farbenfrohen Tänze.

In Nicaragua steht Kultur für Fusion.Erinnerungen an die prähispanischeKultur vermischen sich mit Einflüssender Kolonialisierung und der Globali-sierung. Durch die Wanderbewegungenwährend des letzten Jahrhunderts ent-stand ein einzigartiger Schmelztiegelkultureller Ausdrucksformen, ähnlicheinem Gericht, dessen Mischung ausreichhaltigen und würzigen Zutatenlange geköchelt wird.

Die Entwicklung Nicaraguas unter-scheidet sich nicht von der Entwicklungin anderen kolonialisierten Ländern. Siegeht langsam voran und hängt vom politischen Ge-schehen und vom globalen Tempo ab. Neue Impulseerfuhr das künstlerische Schaffen jedoch in den1980er Jahren, während der Revolution.

Schmelztiegel der Kulturen

Stimme aus ... Nicaragua

Trotz aller Schicksalsschläge erwacht in jener Zeitdie Kreativität.Theater und Tanz erleben eine Blü-tezeit, es wird gemalt und gemeisselt, auf den Töp-ferscheiben entsteht eine neue Keramik, es wird ge-sungen und geschrieben, Dörfer von Norden nachSüden werden bereist, quer durchs Land entstehenWandgemälde. All dies ist möglich dank einer ein-zigartigen Kulturpolitik, die die sozioökonomischenVerhältnisse widerspiegelt. Das sozialistische Modell

linker Prägung wird zu einer Plattformund einem Katalysator. Es öffnet uns dieAugen und das Bewusstsein dafür, dassin uns allen ein künstlerisches Potenzi-al verborgen ist.

Nicaragua ist die Speerspitze Zentral-amerikas. Obschon das Land wegenseiner politischen Konflikte und Na-turkatastrophen weltweit Schlagzeilenmacht, sind es seine Musik und seinePoesie, die jene verführen, die mit ihmin Berührung kommen. Nicaragua –ein Land von Denkern, Kämpfern undTräumern.

Obwohl es in diesem kleinen Landheute weder eine Kultur- noch eineBildungspolitik gibt, die sich an denBedürfnissen der Bevölkerung orien-tiert, wird musiziert, getanzt, gemalt, geschrieben. Das nicaraguanische Volkist stolz, eines der grössten Poesiefesti-vals Lateinamerikas zu haben, das «Fest-ival Internacional de Poesía de Grana-da». Hier ist Kultur ein natürlicher Ausdruck menschlicher Spontanität,sie spriesst in allen sozialen Klassen undethnischen Gruppen.

Als Liedermacherin habe ich meinganzes Leben der Kunst gewidmet und kann aus ei-gener Erfahrung erzählen. Ich schaue auf eine 37-jährige Karriere zurück. Ich habe eigene Platten produziert, mein eigenes Label kreiert, das ersteLiedermacherinnen-Festival in Lateinamerika insLeben gerufen, und jährliche Festivals für ökolo-gisch engagierte Lieder. Ich habe sogar eine eigeneStiftung gegründet, um die Freude am künstleri-schen Schaffen, am Austausch und am Lernen bes-ser zu kanalisieren. Aber ich bin nur eine Künstle-rin von vielen, die engagiert und hartnäckig das kulturelle Leben bereichern wollen. In unseremLand gibt es Hunderte von Kollegen, die das Glei-che tun. ■

(Aus dem Spanischen)

Die Lieder von Katia

Cardenal gehörten in den

1980er Jahren zum

Repertoire der sandinisti-

schen Revolution. Damals

trat sie zusammen mit

ihrem Bruder als Duo

Guardabarranco auf. Heute

wird sie oft von ihrer

Tochter Nina auf der Gitarre

begleitet. Ihre Texte befas-

sen sich mit gesellschaftli-

chen Themen. Die interna-

tional bekannte Sängerin

gründete u.a. das Musik-

label Moka Discos sowie

das seit 2007 jährlich statt-

findende Frauen-Musik-

festival «Encuentro Interna-

cional de Cantautoras».

www.katiacardenal.com

Olivier Normand (2)

23Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Dicht bevölkertes TalDie fruchtbare Ebene, indie sich die drei LänderUsbekistan, Kirgistan undTadschikistan teilen, gilt alsKornkammer Zentralasiens.Auf einer Fläche, die halb so gross ist wie dieSchweiz, leben über 10 Millionen Menschen,Tendenz steigend. Nachdem Zusammenbruch derSowjetunion führten dieneu gezogenen Grenzenimmer wieder zu Konflik-ten: Weil Kirgistan undTadschikistan Wasser fürdie Stromproduktion in denStauseen zurückhielten,konnten die Bauern in denunteren Regionen des Talsihre Felder nicht bewäs-sern. Die DEZA engagiertsich seit 2001 auf ver-schiedenen Ebenen für die Entschärfung dieserKonflikte: Unter Einbezugder betroffenen Bevölke-rung werden Lösungen füreine gerechte Verteilungdes Wassers erarbeitet.

(mw) In den ländlichen Gebieten von Usbekistanund Tadschikistan haben rund 40 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu sauberem Trink-wasser. Im Fergana-Tal, das sich über beide Ländererstreckt, unterstützt die DEZA deshalb den Baulokaler Wasserversorgungen. Seit 2004 sind in 32 Dörfern neue Anlagen entstanden. Die Bevöl-kerung bezahlt für das Wasser Gebühren, die ne-ben den Betriebs- auch die Investitionskostendecken. Dies ermöglicht den Trinkwassergesell-schaften, die Anlagen nach rund 20 Jahren aus ei-genen Mitteln zu erneuern. Olivier Normand vom Internationalen Sekretari-at für Wasser setzt das Projekt vor Ort um. Die Gebühren würden von den Leuten gut akzeptiert,sagt er. Der Grund: «Bisher hatten sie die Wahl, Wasser aus Bewässerungskanälen zu holen odervon Lastwagen anliefern zu lassen.» Das Grund-wasser aus den neuen Brunnen sei qualitativ besser und koste nur 40 Cents pro Kubikmeter,Wasser aus dem Tanklaster hingegen 11 bis 15 US-Dollar. Zudem bräuchten Frauen und Kinder nun weniger Zeit, um Wasser zu holen.«Immer mehr Dörfer interessieren sich für unserSystem», erzählt Normand. Auch Entwicklungs-banken – etwa die Weltbank – hätten dessen Po-

tenzial erkannt. «Dies wird das Interesse der Pri-vatbanken wecken, die mit Krediten für solche Anlagen durchaus ein lohnendes Geschäftsfeld starten könnten», erklärt er.

Weniger Krankheiten Neben dem Aufbau von Wasserversorgungen ver-folgt das DEZA-Projekt weitere Ziele, so auch dieallgemeine Verbesserung der Hygiene. 4000 Leh-rer haben zu diesem Thema eine Weiterbildung er-halten. In 24 Schulen werden Ecosan-Toiletten(abgeleitet von «ecological sanitation») installiert.Diese benötigen, im Gegensatz zu herkömmli-chen Toilettensystemen, kaum Wasser und keineKanalisation. Urin und Fäkalien werden getrenntund die darin enthaltenen Nährstoffe als Dünge-mittel genutzt. «Öffentliche Toiletten sind oft sehrdreckig und besonders für Mädchen eine Zumu-tung», begründet Normand die Installierung vonEcosan-Toiletten im öffentlichen Bereich. «Für diePrivathaushalte hingegen genügen einfache Latri-nen derzeit vollauf.» Gemäss Olivier Normand zahlen sich die neuenBrunnen und sanitären Anlagen in den Dörfernaus: «Die Grippe- und Durchfallerkrankungen gehen zurück.» ■

DEZA

Sauberes Wasser in ZentralasienDie Schweiz engagiert sich im zentralasiatischen Fergana-Talfür eine bessere Wasserbewirtschaftung. Mit Unterstützungder DEZA konnte in 32 Dörfern die Trinkwasserversorgung besser organisiert und langfristig gesichert werden.

Die alten Bewässerungskanäle führen schmutziges Wasser – aus den neuen Brunnen sprudelt sauberes Trinkwasser.

Peter Essick/Aurora/laif

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UnbeständigeFlussinselnDie Geografie Bangla-deschs ist stark vonFlüssen geprägt, insbeson-dere von den Haupt-strömen Padma (Ganges),Meghna und Jamuna(Brahmaputra). Monsun-regen und Schmelzwasseraus dem Himalaya verur-sachen jedes Jahr starkeÜberflutungen. Dadurchverändern die Flüsse stän-dig ihren Lauf. Erosion undSchlickablagerungen for-men das Gelände immerwieder neu – Flussinselnentstehen und verschwin-den. Für die wachsendeAnzahl Menschen, die aufden Chars leben, ist dieseine permanente Bedro-hung, die mit dem Klima-wandel weiter zunehmendürfte. Satellitenbilder zei-gen, dass im Jamuna zwi-schen 1973 und 2000 nurgerade 10 Prozent derChars länger als 18 JahreBestand hatten. 75 Pro-zent hielten ein bis sechsJahre.

Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

(mw) Chars heissen die Inseln in den stark ver-ästelten Flüssen Bangladeschs. Einige sind währendder Trockenzeit mit dem Festland verbunden, an-dere erreicht man erst nach zwei Stunden Boots-fahrt. Manche stehen während der Regenzeit unter Wasser oder werden gar weggespült, die stabileren Chars sind seit Jahrzehnten ganzjährig besiedelt. «In einer idealen Welt müsste man die Bewohnerinnen und Bewohner der Chars aufsFestland bringen, aber das ist eine Illusion», sagtFouzia Nasreen. Die Mitarbeiterin von Swiss-contact leitet im Norden Bangladeschs das Pro-jekt «Making Markets Work for the Jamuna, Pad-ma and Teesta Chars» – kurz M4C.«Wo sollte man für die über eine Million Men-schen in unserem Projektgebiet Platz finden, in einer Region, die mit fast 1100 Einwohnern pro km2 eine der grössten Bevölkerungsdichten der Welt aufweist?», fragt Nasreen rhetorisch.Mit einem Haushalteinkommen von weniger als100 US-Dollar pro Monat könnten sich die Be-

wohner der Chars zudem kaum leisten, anderswoLand zu kaufen. Also gelte es, aus der Situation das Beste zu machen.

Verbesserungen dank KollektivBisher gelang es den Inselbewohnern kaum, ihreWaren auf dem Festland zu verkaufen und so einEinkommen zu generieren. Das 2012 gestarteteund von der DEZA finanzierte Projekt M4C willdaher die landwirtschaftliche Produktion und dieTransportmöglichkeiten verbessern. Ausserdemsollen Banken und Versicherungen dazu bewegtwerden, auf den Inseln Agenturen zu eröffnen.«Zu unseren wichtigsten Erfolgen zählt, dass wirgute Lieferanten von Saatgut und Düngemittelndazu gebracht haben, auch auf die Inseln zu lie-fern», sagt Nasreen. Deren Interesse konnte ge-weckt werden, weil die Bauern neu als Kollektivagieren. Dadurch wurde das Handelsvolumen ver-grössert. Bereits haben sich 11500 Bauern in 419Gruppen zusammengeschlossen. Zur Motivation

Leben mitten im FlussIn Bangladesch zwingt die Armut schätzungsweise zehn Mil-lionen Menschen, auf instabilen Flussinseln zu leben. Viele dersogenannten Chars sind weit vom Festland entfernt und wer-den regelmässig überschwemmt. Das EntwicklungsprojektM4C soll helfen, die Lebensbedingungen zu verbessern.

Die Chars in Bangladesch sind ständiger Erosion und Überschwemmungen ausgesetzt. Eine weitere Herausforderungfür deren Bewohnerinnen und Bewohner ist die Distanz zum Festland.

Jana Asenb

rennerova/Red

ux/laif (2)

25Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

der Lieferanten beigetragen hat auch, dass M4C in der Anfangsphase ihre Investitionen mitträgt.Dank dem vom Festland gelieferten Saatgut kannauf den Chars nun eine Maissorte angebaut wer-den, die den Bauern eine doppelt so grosse Erntebeschert wie die herkömmlichen Sorten. «IhreHalme sind kürzer, deshalb werden bei Wind undRegen weniger Pflanzen zu Boden gedrückt», er-klärt Nasreen den Mehrertrag. Aber die klimati-

schen Verhältnisse seien schwierig. Wenn die Saatzu spät erfolge, könne die Regenzeit ganze Ern-ten vernichten. Deshalb sei es neben der Wahl pas-sender Sorten wichtig, nicht nur auf ein einzigesProdukt zu setzen und so für jede Jahreszeit etwasim Köcher zu haben. «Im Moment konzentrierenwir uns auf sieben Nutzpflanzen, die sich gut alsHandelsware eignen», sagt die Projektleiterin:«Mais, Zwiebeln, Chili, Erdnüsse, Senf und etwasReis.» Hinzu kommt die Naturfaser Jute, die imSchwemmland besonders gut gedeiht. Versuchsfelder und Weiterbildungen durch dieLieferanten sollen zu besseren Anbaumethodenbeitragen. Eine Schlüsselfunktion für die Verbes-serung der Einkommenssituation auf den Charshaben zudem die Weiterverarbeitung von Agrar-produkten sowie die Entwicklung landwirtschafts-naher Betriebe. M4C unterstützte zum Beispiel dieBevölkerung bei der Evaluation neuer Trock-nungsverfahren für Mais und Chili, um bessereQualität und damit höhere Erlöse zu erzielen.

Besondere Beachtung schenkt M4C der Frauen-förderung. «Meist haben in der Landwirtschaft dieMänner das Sagen, obwohl die Frauen stark mit-arbeiten», sagt Nasreen. «Daher legen wir Wert darauf, dass auch die Frauen an den landwirt-schaftlichen Schulungen teilnehmen.» Besondersstolz ist sie darauf, dass rund zwölf Prozent der 3000 neuen Contract Farmer weiblich sind. DieVertragsbauern kaufen von den Agrofirmen nicht

nur Saatgut, sondern handeln mit diesen jeweilsauch eine Abnahmegarantie für die Ernte aus, wasdie Einkommenssicherheit erhöht. «Last but notleast ist es uns auch gelungen, drei Spielzeugher-steller zu animieren, 1200 Frauen als Produzen-tinnen zu engagieren und entsprechend auszubil-den», freut sich Nasreen.

Anbindung ans FestlandOhne effiziente Transportmöglichkeiten wird dieBevölkerung der Chars mit der Konkurrenz aufdem Festland jedoch nicht mithalten können. LautNasreen gibt es auch in diesem Bereich erste Er-folge zu verzeichnen: Auf verschiedenen Inseln haben sich die Bewohnerinnen und Bewohner zu-sammengeschlossen, um die Betreiber der Boots-anlegestellen dazu zu bringen, diese besser aus-zurüsten. Traditionelle Dreiradfahrzeuge, die fürden Transport auf den Inseln wichtig sind, wurdenmechanisch verstärkt, damit sie weniger im Sandversinken. Zudem hat die Regierung für Verbes-serungen der Transportinfrastruktur 1,1 MillionenSchweizer Franken budgetiert.Nasreen ist zuversichtlich, dass auch das Ziel, Ban-ken und Versicherungen auf die Inseln zu brin-gen, bald erreicht wird. «Ohne Bankverbindungenist es sehr schwer, Handel zu betreiben», sagt sie.«Die Verhandlungen mit einigen Anbietern sindzum Glück schon recht weit fortgeschritten.»«Alles in allem ist M4C sehr gut angelaufen», lau-tet denn auch das Fazit von Derek George, der beider DEZA für das Programm verantwortlich ist.«So gut, dass die DEZA bereits erwägt, die Akti-vitäten weiter nach Süden auszudehnen.» ■

Die Bauern müssen immer wieder umziehen und neueFelder anlegen, weil die alten im Fluss verschwinden.

Faser mit PotenzialJute ist mengenmässig –nach der Baumwolle – diezweitwichtigste Naturfaserder Welt. Verwendet wirdsie vorwiegend für Ver-packungen oder Verbund-stoffe. Die Jahresproduk-tion liegt bei rund 2,5Millionen Tonnen, Haupt-produzenten sind Indienund Bangladesch. DiePflanze stammt ursprüng-lich aus dem Mittelmeer-raum und mag ein feucht-warmes Klima. Für denAnbau am besten geeignetist Schwemmland, demdurch Überschwemmun-gen Salz zugeführt wird.Das Verfahren zur Gewin-nung der Fasern heisstRösten, wobei die gebün-delten Stängel bis zu 30Tage in Wasser gelegt werden. – Auf den Charsbauen 85 Prozent derBauern Jute an. IhreErträge fallen jedoch in-folge veralteter Anbau-methoden vergleichsweisemager aus. Zudem liessesich die Faserqualität mitmodifizierten Röstverfahrenverbessern.

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Casares/NYT/Red

ux/laif

Einblick DEZA

Schulen im Libanon(ung) Seit 2012 saniert dieDEZA zusammen mit den libanesischen Behörden imNorden des Landes Schulen,damit diese syrische Schüle-rinnen und Schüler aufnehmenkönnen, die mit den Eltern ihrLand wegen des Konflikts verlassen haben. In dreizehnSchulen sind die Arbeitenschon abgeschlossen. Dabeiwurden die Wasser- undAbwasserversorgung saniert,die Gebäude abgedichtet undgestrichen, Türen und Fenstererneuert sowie die elektrischenund sanitären Installationen repariert. Wegen des nicht enden wollenden Flüchtlings-stroms hat die DEZA be-

schlossen, die Sanierungs-arbeiten auf weitere fünfzehnSchulzentren derselben Regionauszudehnen.Projektdauer: 15.7.2014-15.10.2015Volumen: 1,35 Millionen CHF

Schutz für Minderjährige(byl) Weil Ungarn die Grenz-kontrollen verstärkt und sichdie Lage in Syrien verschlech-tert hat, ist Serbien mit immermehr Asylbewerbern konfron-tiert. Sie kommen vor allemaus Syrien, Eritrea, demSudan, Afghanistan undSomalia. Von 541 asylsuchen-den Kindern waren 2014 deren324 ohne Begleitung. Um dervom organisierten Verbrechenkontrollierten irregulärenMigration zuvorzukommen,unterstützen die DEZA unddas Staatssekretariat fürMigration in Serbien Fachleuteaus dem Sozialbereich sowieverschiedene Partner, die sichim Migrationsbereich engagie-ren. Projektziel ist, unbeglei-tete minderjährige Migrantennach den international gültigenStandards zu schützen, unterbesonderer Beachtung derMädchen. Zudem soll die Öf-fentlichkeit auf die Problematikaufmerksam gemacht werden. Projektdauer: 2014-2016Volumen: 880000 CHF

Versicherungen für Bauern(bm) In Haiti stammen 80 Pro-zent der einheimischen Agrar-güter aus kleinen Familienbe-trieben. Diese sind für dieLandbevölkerung eine wich-tige Einnahmequelle. Aller-dings verfügen die Betriebenicht über genügend Mittelund erleiden aus klimatischenGründen immer wieder grosseVerluste. Mit dem Ausbau vonFinanzdienstleistungen und

Gesundheit in Albanien(byl) Der Gesundheitssektor in Albanien leidet unter lücken-hafter Infrastruktur undPersonalmangel. Besondersbetroffen ist die Grundversor-gung. Deshalb engagiert sichdie DEZA, zusammen mit demSchweizerischen Tropen- undPublic-Health-Institut, auf ver-schiedenen Ebenen: Einerseitsgeht es darum, die Infrastruk-turen zu verbessern und denZugang zu medizinischenDienstleistungen zu vereinfa-chen. Wichtige Aspekte sindaber auch die Finanzierung,die Gouvernanz und dasManagement des Gesund-heitsbereichs sowie die Aus-und Weiterbildung des Perso-nals. Ein besonderes Augen-merk gilt dem Zugang sozialbenachteiligter und marginali-sierter Bevölkerungsschichtenzu medizinischen Dienstleis-tungen von guter Qualität.Projektdauer: 2014-2018Volumen: 20 Millionen CHF

Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

landwirtschaftlichen Versiche-rungen will ein DEZA-Projektdiesem Wirtschaftszweig mithohem Entwicklungspotenzialnun Schub verleihen. Dabeisollen auch der Anbau vonKakao und Yams (Gemüse-sorte mit hohem Nährwert) ge-fördert und die Landfrauen alsschwächste Glieder der Kettein Einkommens generierendelandwirtschaftliche Aktivitäteneingebunden werden. Projektdauer: 2014-2018Volumen: 9,7 Millionen CHF

Klimastrategie für China(hsf) China steht vor der gros-sen Herausforderung, Armuts-minderung und Wirtschafts-wachstum mit einer umwelt-schonenden Entwicklung untereinen Hut zu bringen. Hinzukommen die Auswirkungendes Klimawandels, welche die Ernährungs- und Wasser-sicherheit der Volksrepublikgefährden. – Die DEZA unter-stützt China bei der Umsetzungseiner nationalen Strategie zurAnpassung an die Folgen desKlimawandels und bei derenKonkretisierung auf Ebene derProvinzen. Durch die Zusam-menarbeit von Politik und na-tionalen sowie internationalenForschungsinstitutionen wer-den Lösungen erarbeitet undsektorübergreifende Anpas-sungspläne formuliert. DasProjekt fördert zudem denErfahrungsaustausch Chinasmit anderen Staaten.Projektdauer: 2014-2017Volumen: 6,75 Millionen CHF

Thomas Greminger – neu stell-vertretender DEZA-Direktor(gn) Nach fünf Jahren alsBotschafter bei der OSZE inWien, wo er u.a. das bewegteSchweizer OSZE-Präsidialjahr2014 massgeblich mitgestaltete,

wurde Thomas Greminger wieder nach Bern berufen: Der54jährige Historiker kehrt zur DEZA zurück, neu als stellvertre-tender Direktor (mit Botschaftertitel) und Leiter des Direktions-bereichs Regionale Zusammenarbeit. Nach seinem Studium inZürich und Paris absolvierte Greminger bereits seine Diploma-tenstages in der Sektion Politik und Forschung der damaligenDirektion für Entwicklungshilfe. Ab 1992 war er diplomatischerMitarbeiter bei der DEZA-Sektion Politik und Forschung; zwi-schen 1996 und 1998 deren Chef. Von 1999 bis 2001 vertrat erdie Schweiz in Mosambik als Leiter des Koordinationsbüros undGeschäftsträger a.i. der Botschaft. In Bern leitete er von 2004bis 2010 die Abteilung für Menschliche Sicherheit. Am 1. Augusttritt Thomas Greminger sein neues Amt als Nachfolger von MayaTissafi an, die Botschafterin in den Vereinigten ArabischenEmiraten wird.

EDA

DEZA

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Sven Torfinn/laif

Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Flüchtlingscamps: Mangelware WasserImmer mehr Menschen, die durch Krieg, Hunger oder Natur-katastrophen vertrieben wurden, suchen Schutz in Flücht-lingslagern. Damit die zusätzliche Versorgung von Tausendenvon Menschen in einer Region überhaupt möglich ist, brauchtes gute Planung und eine sorgfältige Nutzung der vorhande-nen Reserven. Von Mirella Wepf.

Wenn Andrea Cippà ein neues Flüchtlingslageraufbaut, muss es in der Regel schnell gehen. Sehrschnell: «Bei meinem letzten Einsatz in Äthiopi-en erhielten wir von den Behörden am Freitag-abend grünes Licht, um ein Lager für 15 000Flüchtlinge aus dem Südsudan zu errichten.» Zudiesem Zeitpunkt wusste er bereits, dass am Mon-tag die ersten 500 Personen eintreffen würden.«Am Dienstag folgten die nächsten 500, am Mitt-woch wieder 500...», erzählt er. «Gemeinsam mitlokalen Helfern mussten wir das Gelände räumen,Zelte aufstellen, Notlatrinen und eine provisori-sche Wasserversorgung einrichten.»Der Tessiner gehört zum Schweizerischen Korpsfür Humanitäre Hilfe (SKH). Im Auftrag des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hat der Kul-turingenieur in den letzten zwei Jahren in Äthio-pien vier Lager für jeweils rund 40000 Menschengeplant. «Auch wenn die Zeit drängt, habe ich beider Planung immer das Providurium im Hinter-

kopf», erklärt er. Dies mit gutem Grund: Eine La-gerdauer von fünf bis zehn Jahren gilt heute alsnormal. Das grösste Camp der Welt – Dadaab inKenia – besteht gar seit 1991 und hatte phasen-weise mehr als 450000 Bewohnerinnen und Be-wohner.

Knappe RessourcenMenschen in Flüchtlingslagern leben auf engstemRaum, oftmals in Zelten, die kaum Intimsphärebieten und nur wenig vor Kälte oder Hitze schüt-zen. Viele haben traumatische Erlebnisse hintersich, Familienangehörige verloren oder sind kör-perlich versehrt. Die Tatsache, dass sie womöglichjahrelang in der Notunterkunft bleiben müssen,ist eine zusätzliche Belastung. Lager mit mehre-ren 10000 Einwohnern belasten aber auch dieUmwelt: Eine nachhaltige Bewirtschaftung derWasservorräte und der Vegetation ist in dieser Situation eine absolute Notwendigkeit.

Flüchtlingslager im Tschad: Die Wasserversorgung für Tausende von Menschen ist eine grosse Herausforderung.

FORUM

Standards fürHumanitäre HilfeDie Wartezeit an einerWasserquelle dauert höchstens 30 Minuten;alle betroffenen Menschenverfügen anfänglich übereine überdachte Grund-fläche von mindestens 3,5 m2. Mit solchenSchlüsselindikatoren bietet das Handbuch «The Sphere Project» denHelfern in Katastrophen-situationen konkreteLeitlinien, auch für denAufbau von Flüchtlings-lagern. Das 450 Seitendicke Werk legt Mindest-standards für die huma-nitäre Hilfe fest. Diese wurden von mehrerenHilfsorganisationen erar-beitet und geniessen breiteAnerkennung. «SolcheStandards sind bei derPlanung sehr nützlich»,sagt Marc-André Bünzlivom SKH. Er warnt jedochvor einer sturen Fixierungauf diese Normen: «Leiderwird es oft sehr schwer,von den Gebern mehrMittel zu bekommen, sobald das Minimum er-reicht ist.»www.sphereproject.org

Sven Torfinn/laif

28 Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Dafür steht heute eine Reihe technischer Mittelzur Verfügung: Mit Karten, Satellitenbildern undGPS-Daten können Spezialisten wie Cippà be-reits im Vorfeld abschätzen, ob auf einem Ge-lände die Gefahr von Erdrutschen oder Über-schwemmungen besteht, wieviel Brennholz zurVerfügung steht und ob es Grundwasser gibt. De-finitive Klarheit verschafft jedoch erst die Lage-beurteilung vor Ort. «Leider wird nicht immer derideale Platz gewählt», sagt Cippà. «Letztlich be-stimmen die lokalen Autoritäten, wo die Zeltehinkommen.» Er könne lediglich versuchen, dieEntscheide in die richtige Richtung zu lenken.Denn: Je geschickter ein Standort gewählt ist, desto eher lässt sich ein Lager langfristig versor-gen, und die Umweltschäden sind geringer.«Die Verfügbarkeit von Wasser ist zentral», sagtCippà. Das Lager sollte gut zu erreichen sein unddie Bodenqualität müsse stimmen: «Auf hartemGrund wird es schwer, funktionierende Latrinenzu errichten, doch für die Gesundheit der Men-schen ist eine gute Hygiene essentiell.» Guter Bo-den bedeute auch, dass die Flüchtlinge etwas an-pflanzen oder ihr Vieh versorgen können.

Wissenschaftliche Begleitung«Man muss jedes Lager individuell anschauen», sagtMarc-André Bünzli, Fachgruppenchef Wasser undSiedlungshygiene beim SKH. Sehr oft befändensich die Camps in Regionen mit fragilen Wasser-

systemen, wo die Sicherung der Trinkwasser-vorräte auch nach Jahren noch eine Herausforde-rung darstelle. Die Hydrogeologin Ellen Milnes von der Uni-versität Neuenburg evaluiert die Trinkwassersi-tuation in Flüchtlingslagern: Sie überprüft dieWasserqualität, untersucht, ob Abwasser die Trink-wasservorräte kontaminieren könnte und analy-siert, wie sich das Grundwasser in der Regenzeitregeneriert. Dies erlaubt eine Prognose über dielangfristige Verfügbarkeit von Wasser. So konnte in einer von der DEZA finanzierten Studie ge-zeigt werden, dass die Grundwasservorräte desLagers Dadaab in Kenia langfristig nicht gefähr-det sind, wenn sie weiterhin genutzt werden wiebisher. «An einzelnen Orten gibt es durchaus ei-nige Probleme, grossräumig sieht es weniger dra-matisch aus», fasst Milnes zusammen. Dank den Untersuchungen der Forscher lassensich zuweilen neue Quellen erschliessen. Mit Hil-fe wissenschaftlicher Daten gelinge es auch, dieverschiedenen Akteure an einen Tisch zu bringen,sagt Milnes: «Je besser man ein Wassersystem kennt,desto leichter wird es, Konflikte zwischen Ein-heimischen und Flüchtlingen zu vermeiden undein nachhaltigesWassermanagement aufzubauen.»Ein Knackpunkt sei dabei, an langfristige Daten-reihen zu kommen: «In den Camps wird meist sehrkurzfristig gearbeitet; das Anlegen von Archivensteht zuunterst auf der Prioritätenliste.»

Wo Brennholz rar ist, kommt es immer wieder zu Streit zwischen Flüchtlingen und der lokalen Bevölkerung.

Schwierige VersorgungDer Flüchtlingsstrom ausSyrien bringt die Nach-barstaaten unter Druck.Der technische IngenieurThierry Broglie, der 2014für das UNHCR in Beirutim Einsatz war, erzählt: «ImLibanon leben jetzt übereine Million syrischeFlüchtlinge. Dies entsprichteinem Viertel der libanesi-schen Bevölkerung. Siewohnen in alten Industrie-gebäuden, verlassenenFeriensiedlungen, Miet-wohnungen oder beiGastfamilien.» Der enormeBevölkerungszuwachsbringe unter anderem dieTrink- und Abwassersys-teme an ihre Grenzen. Einweiteres grosses Problemsei die Abfallentsorgung.Zudem komme es auchimmer wieder zu Span-nungen mit der einheimi-schen Bevölkerung.

Tim Dirven/Panos

29Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Abholzung und ErosionNeben Wasser gehört auch Energie zu den le-bensnotwendigen Ressourcen – meist in Formvon Holz, um Wasser und Essen zu kochen. Ar-nold Egli, der über 12 Jahre unter anderem für das UNHCR in Afrika im Einsatz war, sagt dazu:«Wenn neben einem Dorf mit 700 Einwohnernplötzlich noch 20000 Flüchtlinge Holz suchen, istdies ein enormer Eingriff.» Im Osten des Tschadetwa, wo laut UNHCR 350000 Flüchtlinge ausdem Sudan in Lagern leben, droht das Ökosystemaus dem Gleichgewicht zu geraten: Teilweise ist das Klima derart trocken, dass sich die Vegetationbei starker Abholzung kaum mehr erholt und derBoden erodiert. Brennmaterial von aussen her-beizuschaffen ist jedoch teuer und eine logistischeHerausforderung. Egli war in mehreren tschadi-schen Lagern im Einsatz und hat angeregt, dendortigen Holzverbrauch zu untersuchen und inRelation zum Nachwachsen des begehrten Roh-stoffs zu setzen. Eine erste von der DEZA mitfinanzierte Studieist mittlerweile abgeschlossen. Sie zeigt, dass dieFlüchtlingshaushalte sehr sparsam mit Holz um-gehen; mit durchschnittlich 690 Gramm pro Per-son und Tag verbrauchen sie rund einen Viertelweniger als die Dorfbewohner der Region. DieEinsparungen könnten aber noch höher sein: DieStudie weist darauf hin, dass effiziente Ofensyste-me und Solarkocher, die im Lager verteilt wur-

Wasser kochen mit Sonnenenergie: Eine gute Idee für Flüchtlingslager, deren Potenzial noch nicht ausgeschöpft wird.

den, einen geringeren Spareffekt erzielten, als er-hofft. Teils wurden sie falsch oder gar nicht ge-nutzt. Dennoch ist Egli ein klarer Befürworter die-ser Techniken: «Besonders die Solarkocher habenein riesiges Potenzial!» Wie dieses besser genutzt werden könnte, weissUrs Bloesch. Der Leiter der Fachgruppe Umweltund Katastrophenvorsorge des SKH weist daraufhin, dass ressourcenschonende Kochtechniken nurfunktionieren, wenn sie den Bedürfnissen ihrerNutzerinnen und Nutzer entsprechen: «An ersterStelle steht die fachgerechte Einführung der Sys-teme, zudem müssen die Frauen, die für das Ko-chen zuständig sind, über längere Zeit begleitetwerden.» Häufig mangle es in den Lagern auch anpassenden Pfannen, damit die Systeme effizientfunktionierten, und kostengünstige Solarkocheraus Karton müssten periodisch ersetzt werden. Umall dies zu gewährleisten, fehle es den NGOs oftan Fachkräften und finanziellen Mitteln, sagtBloesch: «Die kompetente Unterstützung derNGOs durch das UNHCR ist ebenfalls zentral,und es braucht ein professionelles gemeinsamesMonitoring.» ■

Millionen auf der FluchtEnde 2013 waren, lautStatistiken des UNHCR,über 51 Millionen Men-schen auf der Flucht. Alleinaus Syrien wurden mehrals 3 Mio. Menschen, dieSchutz im Ausland such-ten, registriert. Damit bil-den Syrer heute die gröss-te Flüchtlingsgruppe derWelt. Während 30 Jahrenwaren dies Menschen ausAfghanistan, das nun mit2,7 Mio Flüchtlingen anzweiter Stelle steht. Andritter und vierter Stelle fol-gen Somalia (1,1 Mio.) undSudan (670000). Pakistannimmt mit aktuell 1,6 Mio.am meisten Flüchtlingeauf. Betrachtet man dieAnzahl Flüchtlinge pro1000 Einwohner, steht derLibanon an erster Stelle(257), gefolgt von Jorda-nien (114) und Tschad (39).Mit 12 Flüchtlingen auf1000 Einwohner figuriertSchweden als einzigesIndustrieland unter den 15Ländern mit der höchstenAufnahmequote. Dieneuen Zahlen des UNHCRfür 2014 werden im Juni2015 publiziert.www.unhcr.org (mid-year)

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Christian Beutler/Keyston

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Als ich vom Zentrum Zürichsin Richtung Friedhof Sihlfeldaufbrach, blieben mir noch zweiStunden bis zur Zugsabfahrt.Ich kannte die Nummer desGrabes: 83115. Ich zeigte demFriedhofsgärtner die Zahl. Derzuckte nur mit den Schulternund verwies mich ans Fried-hofsbüro. Ich aber hatte keineZeit und beschloss, die ver-zwickte Logik der Grabnum-merierung aus eigener Kraft zuüberwinden.

Vom Menschen, der in jenemGrab ruhte, hatte ich in meinerKindheit, in finsteren Sowjet-zeiten, gehört: Andrzej Towianski,Gutsherr. Geboren und langewohnhaft unweit meiner litau-ischen Geburtsstadt. Vielleichtwäre er auch dort gestorben,doch eine Vision suchte ihnheim und offenbarte ihm, er sei Christus. Mit diesem Wissenzog er im Winter 1840 nachParis, wo er den Kreis der SacheGottes gründete – eine radikalechristliche Sekte.

Zu seiner rechten Hand, einerArt Apostel Petrus, wurde AdamMickiewicz, der wohl berühm-

Grab Nummer 83115

Marius Ivaškevicius gehört zur jüngsten Schriftstel-lergeneration Litauens und isteiner der bedeutendstenGegenwartsautoren seinesLandes. Von seinen acht bishererschienen Büchern wurden einige in verschiedene Spra-chen übersetzt, darunter derRoman «Die Grünen» (AthenaVerlag, Oberhausen 2012). Der 42-Jährige hat sich alsJournalist, Dramatiker, Prosa-und Drehbuchautor, Doku-mentarfilmer und Regisseur einen Namen gemacht. Seinneuster Film «Santa», bei demer das Drehbuch schrieb undRegie führte, gelangte 2014 indie Kinos. Wenn er geradenicht auf Reisen ist, lebt und arbeitet Marius Ivaškevicius inVilnius.

Carte blanche

teste Dichter Polens undLitauens, der Byron unsererRegion. Tausende weiterer politischer Emigranten, Flücht-linge aus den damals vomZarenreich besetzten GebietePolens, Litauens und derUkraine, schlossen sich derSekte an. Towianski versprachihnen nicht nur das ReichGottes unter den Menschen,sondern auch die Befreiung ihrer Heimatländer. Er glichNapoleon Bonaparte – und er benahm sich auch wieNapoleon. Bis schliesslich dieObrigkeit auf ihn aufmerksamwurde und man ihn des Landesverwies. So kam er in dieSchweiz.

Vor einiger Zeit, schon alsSchriftsteller, richtete sich meinAugenmerk erneut auf ihn. Ichbeschloss, ein Theaterstück zuschreiben. Als ich mich in dieMaterie vertiefte, stiess ich auf unglaubliche Einzelheiten. Und dann spielten sich seltsameDinge ab.

Betrat ich einen Raum, brann-ten plötzlich Glühbirnen durch.Das passierte immer häufiger –

jede Woche «verbrannte» ich so drei oder vier. Einmal zogich im Bad gerade meine zweijährige Tochter um, als dieBirne über uns explodierte. Esregnete Glasscherben. Aber daswar noch keineswegs das Ende.Die Kulmination erreichte dasGanze in meiner Geburtsstadt,unweit derer auch mein Heldzur Welt kam. An jenem Abendhatte ich den Hund Gassi ge-führt und eilte in die Küche,um den eben ersonnenenDialog niederzuschreiben. DerHund sass vor seinem Napf undwartete auf sein Abendessen.

Das Gespräch führten Towianskiund Chopin, ein weitererberühmter Pariser Pole, den dieSekte anzuwerben versuchte...Da explodierte die Glühbirneüber mir. Keine wie die im Badsondern eine Hundertwattbirne,mit einem grossen Glaskolben,dessen massive Scherben bren-nend auf mich niederfielen. DieExplosion war so laut, dass ichauf einem Ohr halb taub wurdeund das Gehör nur mit Hilfevon Medikamenten wiederher-stellen konnte. Der Hund bliebsein ganzes restliches Hunde-leben taub. – Das Theaterstückschrieb ich zu Ende, obwohl ichspürte, dass es jemanden gab, derdas nicht wünschte.

Ich wollte Frieden schliessen.Und so suchte ich nach jenemGrab in Zürich. Im letztenAugenblick, eine halbe Stundevor Abfahrt meines Zuges, fandich es. Fast in der Mitte desFriedhofs, an einer mit Rankenbewachsenen Mauer.

Ich zog eine aus Litauen mitge-brachte Kerze hervor und zün-dete sie an. Weit und breit keinelebende Seele. Ich bedeckte dieKerze mit dem Metalldeckelund stellte sie vorsichtig, damitder Wind sie nicht ausblies, auf

das Grab. Doch kaum zog ichdie Hand von der Kerze zurück,war ein lautes Knacken zuhören.

Ich weiss, es war nur der vonder Flamme erhitzte Deckel –keinerlei Mystik. Ich aber er-schrak, zuckte zusammen wieein Kind und rannte zumBahnhof, um meinen Zug nochzu erreichen. Was seltsam war:Ich verspürte Erleichterung.Falls jenes Knacken ein weiteresmystisches Zeichen war, er-schien es mir nicht boshaft.Mehr eine Art Witz, ein freund-licher Stüber, zur Erinnerung an unsere alten Fehden.

Aus irgendeinem Grund schienmir, dass wir auf dem FriedhofSihlfeld endlich Frieden schlos-sen. ■

(Aus dem Litauischen)

Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

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KULTUR

Fotografin im Dienst der NaturKultur kann den Dialog fördern und für Umweltprobleme in den Bergregionensensibilisieren. Die peruanische Fotografin Luana Letts verbrachte auf Einladungdes Kulturprojekts SMArt einige Wochen im Wallis und richtete ihr Objektiv aufdas Zusammentreffen von Mensch und Natur. Von Luca Beti.

Luana Letts ist mit Blick aufsMeer aufgewachsen. Auf denFelsen vor den Toren Limas sit-zend, beobachtete sie, wie esbraust und schäumt. Manchmalstürzte sie sich mit dem Surf-brett in die Wellen. Luana Letts ist mit Blick auf dieBerge aufgewachsen. HinterLima erheben sich die Anden.Dort verlor sich ihr Blick manch-mal zwischen den Gipfeln.Die 37-jährige Fotografin istvom Meer und von Bergen umgeben aufgewachsen. Diese

Lebensräume haben sie geprägt.Deshalb traf es sie wie einDolchstoss mitten ins Herz, alsdie peruanische Regierung vorJahren beschloss, die Bucht vonLima derart zu verunstalten, dassdiese ihre Seele verlor. Luana Letts Kunst entsteht ausdem Leiden an den Wunden, dieder Mensch der Natur zufügt. In bequemen Schuhen, denRucksack geschultert, dieDigitalkamera um den Hals, begibt sie sich auf Spurensuche.Dabei lässt sie sich nicht vom

Verstand leiten, sondern von ihrer Intuition. Sie folgt denGefühlen, welche die Land-schaft, die sie durchwandert, inihr auslöst. So auch während ihres letztjährigen Aufenthaltsim Wallis.

Alpine Entdeckungsreise In der kurzen Zeit von MitteOktober bis Mitte Dezembererkundete Luana Letts die alpi-nen Wanderwege von Verbier,Zinal und Crans-Montana bis inden Berner Jura. Dabei richtete

sie ihr Objektiv auf drei The-menbereiche: Wasser, Naturge-fahren und Immobilienspekula-tion. «Die vielen verriegeltenChalets, die ich auf meinenWanderungen gesehen habe,machten mich sprachlos», erzähltdie Fotografin. «Ich bin in ei-nem Land aufgewachsen, woman Häuser baut, um darin zuwohnen und nicht, um sie dengrössten Teil des Jahres leer ste-hen zu lassen. Niemand würdein Peru so viele Millionen bezahlen, um ein Haus voller

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Staub und abgestandener Luftzu besitzen.»Die Künstlerin widmete dennauch einen Teil ihrer Ausstellung«Constant Transformation», dieim November und Dezember2014 in Siders gezeigt wurde,der Immobilienspekulation: EinMosaik von Bildern, eine ArtInventar aller Chalets, die siewährend ihrer Spaziergänge inden Tourismusorten des Wallisgesehen hat. «Ich habe die Fotosauf normale Blätter gedruckt,um das Vergängliche dieserBauten als Gegenstück zurBeständigkeit der Berge zu zei-

gen. Wenn die Fotos am Endeder Ausstellung von denWänden genommen werden,sind sie nur noch Altpapier», er-klärt Luana Letts. «Inspiriert zudiesem Werk haben mich dieSchaufenster der Immobilien-agenturen. Zwischen die Bilderhabe ich auch leere Felder pla-ziert – sie sind eine Art Fensterin die Zukunft. Ich will errei-chen, dass der Besucher darübernachdenkt und hinterfrägt, wiedie Berge und ganz allgemeindie Natur durch den Menschenund den Klimawandel verändertwerden.»

Wunden sichtbar machenFür die Künstlerin aus Lima istdie Fotografie nicht Selbst-zweck, sondern Dienst an derUmwelt: «Ich verfolge einenkonzeptionellen Ansatz. MeineBilder zeigen, wie die Land-schaft verändert wurde. Auchich greife ein, auf den Fotos:Indem ich Elemente einfügeoder wegnehme, verwandelt sich ein zweidimensionalesBlatt Papier quasi in ein plasti-sches Werk», sagt Luana Letts.In ihrer Kunst spiegeln sich dasUmfeld, in dem sie aufge-wachsen ist – die Kunstgalerie

der Mutter – und ihr beruflicherWerdegang: Sie studierte inLima Kunst, bevor sie sich ganzder Fotografie verschrieb. «Bloss die Konsequenzen desKlimawandels zeigen, reicht mirnicht. Ich will sie überzeichnen,um das Publikum zu überra-schen und zu sensibilisieren», erklärt Letts. «Bei den Fotos desMoirygletschers zum Beispiel,habe ich die Gletscherzungeherausgeschnitten und sie nach hinten versetzt, um dasSchmelzen der Gletscher auchräumlich darzustellen.»

Parallelen und Unterschiede An den Küsten des PazifischenOzeans und am Fusse der An-den aufgewachsen, entdeckteLuana Letts im Wallis eineUmgebung, die ihr vertraut war. «Nur etwas mehr als eineStunde von Lima entfernt gibtes ähnliche Berge und Täler wiejene, die ich in diesen Wochendurchwandert habe. Auch dieUmweltprobleme gleichen sich:die Gletscherschmelze, dieWasserwirtschaft, die wachsen-den Überbauungen», erzählt die Künstlerin. «Allerdings stellteich auch riesige Unterschiedezwischen den beiden Ländernfest: In der Schweiz hat manPräventionsprogramme undlangfristige Schutzprojekte erar-beitet. In Peru existiert nichtsdergleichen.»Ende 2014 ist Luana Letts inihre Heimatstadt Lima zurück-gekehrt. Die Zeit in der Schweizwar äusserst intensiv: «Währendmeines Aufenthalts prasselte eineFlut von Informationen, Bildernund Erfahrungen auf mich nie-der, die ich in ein plastischesWerk umsetzen musste. Dieserkreative Prozess ist noch nichtabgeschlossen. Daran erinnerndie ungerahmten Bilder.» ■

(Aus dem Italienischen)

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SMArt – ein Projekt zum Schutz der Berge

SMArt steht für «Sustainable Mountain Art»

und ist ein Kulturprojekt. Lanciert wurde es

von der Schweizer Stiftung für die nachhaltige

Entwicklung der Bergregionen; die DEZA leistet

finanzielle Unterstützung. Ziel ist, mit Hilfe von

Kultur über die Probleme und Herausforde-

rungen der Bergregionen weltweit zu informieren und ein breites Publi-

kum dafür zu sensibilisieren. Um den Kulturaustausch zwischen den

Bergregionen zu fördern, will man regelmässig Künstlerinnen und

Künstler aus dem Süden und Osten in die Schweiz einladen.

Luana Letts war die erste von drei Kunstschaffenden, die im Rahmen

der Pilotphase zwischen Herbst 2014 und Sommer 2015 ins Wallis ein-

geladen wurden. Die Werke, die im Rahmen von SMArt entstehen, wer-

den sowohl in der Schweiz wie im Herkunftsland der Künstlerinnen und

Künstler ausgestellt. – Luana Letts zeigte ihre Bilder u.a. letzten Dezem-

ber im Rahmen der internationalen Klimakonferenz im Jockey Club

del Perú in Lima.

www.sustainablemountainart.ch

Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

1. Mirror2. Blanks3. Data Melting 4. Transformations :

Montagne de Chanrion / Barrage de Mauvoisin / Creux-du-Van

© Luana Letts/FDDM/DEZA

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für den Erhalt der Natur bei, dasden madagassischen Klangkos-mos feinfühlig mit westlichemSongwriting verbindet.Razia Said: «Akory» (Cumban-cha/Disques Office)

Der kubanische Caruso(er) Nach wechselvollenKarrierehöhen und -tiefen fei-erte Abelardo Barroso, «der ku-banische Caruso», 1954 ein ful-minantes Comeback mit demOrquesta Sensación. In denleichtfüssigen Rhythmen derexzellenten Perkussionisten die-ses Charanga-Ensembles, imCha Cha Cha mit seinen quirli-gen Flötentönen, perlendenPianoläufen und sacht-querenStreicherklängen kam Barrosos

unnachahmlich weiche, gefühl-volle Stimme voll zur Geltung.Dabei entfalteten sich Sehnsuchtund Lebensfreude der wildenCasino- und Cabaret-Ära inHavanna aufs Schönste. Dies dokumentieren 14 klassischeAufnahmen aus den 50er-Jah-ren, die der World Circuit-LeiterNick Gold 40 Jahre nach demTod des Sängers in einer wun-derbar produzierten Retro-spektive zusammenstellte. Diecharismatische Stimme vonBarroso und der mitreissendeCha Cha Cha begeistern nichtnur Fans. Die glanzvollen Hör-erlebnisse fahren in die Beine!Dazu tragen die auf der CD-Hülle aufgeführte Grundtanz-Schrittfolge und ein liebevollgestaltetes Booklet bei.Abelardo Barroso with OrquestaSensación: «Cha Cha Cha» (World Circuit/Musikvertrieb)

Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

Sehnsucht nach Schönheit(dg) Warum fühlen sich afrikani-sche Frauen in ihrer dunklenHaut oft «ein wenig unwohl»?Diese Frage steht im Zentrumdes Kurzfilms, der sich kritischmit fremdbestimmten Schön-heitsidealen auseinandersetzt:Die Vorstellung, was schön ist,unterliegt mittlerweile globali-sierten Bildern und Werbebot-schaften. Dies hat zur Folge, dassBestrebungen, einem einheitli-

chen Ideal zu genügen, dasSelbstbild der Menschen verzer-ren. In einigen afrikanischenLändern geht dies so weit, dassFrauen versuchen, mit aufhel-lenden Cremes ihre Haut zu

bleichen, um dem vermeintlichuniversellen Bild von Schönheitnäher zu kommen. Die Filme-macherin Ng'endo Mukii inte-ressiert sich für Fragen rund umHautfarbe und Rasse – und für die damit verbundenenSpannungsfelder. In ihrem enga-gierten Diplomfilm «YellowFever» (Gelbfieber) inszeniertdie Kenianerin die Befindlich-keit des Nicht-Genügens in einem spannenden Mix vonCollage, Animation und Tanz. In packenden Bildern, die buch-stäblich unter die Haut gehen,thematisiert sie geschickt dierassistischen Ursachen desMinderwertigkeitsgefühls und dessen Verfestigung durchMedien und Werbung.«Yellow Fever» von Ng’endoMukii, Grossbritannien 2012 www.filmeeinewelt.ch

Manifest für den Regenwald(er) Melodische Saitenklängeder Boxzither Marovany, derRöhrenzither Valiha, der Spiess-laute Lukanga und der Gitarrefinden sich mit den raffiniertenRhythmen des Schlagzeugs undBasses zu einem luftigen Mix.Akzente setzen Akkordeon- undViolinen-Harmonien. Dazukommen feine Chorstimmenund eine geschmeidig-warmeFrauenstimme. So präsentiert diemadagassische Sängerin RaziaSaid ihr zweites Album «Akory»,was in Malagasy so viel wie «wasnun?» heisst. Die zehn Songssollen Politiker in ihrer Heimatund ihre Fans zum Nachdenkenüber die Abholzung desRegenwaldes bringen. Die 56-Jährige kämpft schon seit 10 Jahren gegen die Zerstörung der Wälder. Ihr Album wurdeauf vier Kontinenten und in den drei Sprachen Malagasy,Französisch und Englisch einge-spielt. Prominente Gäste wie der weltbekannte AkkordeonistRégis Gizavo tragen zum gelun-genen musikalischen Manifest

ServiceFilme

Musik

Sri Lanka – 10 Jahre nach dem Tsunami(lb) Jeder von uns erinnert sich an die Bilder der Riesen-wellen, die am 26. Dezember 2004 die Küsten am Golfvon Bengalen überfluteten und Tod und Zerstörung hin-terliessen. Das unermessliche Drama löste weltweitBestürzung aus, verbunden mit einer Rekord-Spenden-welle. Wie hat sich – zehn Jahre nach der Katastrophe –die Situation der Überlebenden verändert? Von dieserFragestellung geleitet haben Gabriela Neuhaus undAngelo Scudeletti mit Filmkamera und Mikrofon vomTsunami heimgesuchte Dörfer in Sri Lanka besucht unddie Aussagen von überlebenden Opfern aufgezeichnet,wie auch von Verantwortlichen der Wiederaufbaupro-jekte. Ihr Dokumentarfilm «Buffer Zone» zeigt ein ernüch-terndes Bild: In vielen der neu errichteten Umsiedlungs-dörfer im Landesinnern sind Armut und Hunger offen-kundig – trotz der Hilfsgelder, die aus aller Welt nach Sri Lanka flossen. Vor allem die Fischer, die vom Meer ins Hinterland umgesiedelt worden sind, wurden ihrerErwerbsgrundlage beraubt. An der Küste, wo die Regie-rung eine Wohnverbotszone erlassen hat, entstehen in-des luxuriöse Tourismusresorts. – Fazit zehn Jahre nachdem Tsunami: Die Ärmsten sind einmal mehr die Verlierer.«Buffer Zone» von Gabriela Neuhaus und Angelo Scudeletti,Offroad Reports 2014. Dokumentarfilm, 90 Minuten.Informationen sowie Bestellungen von DVD/Bluray:www.bufferzonefilm.ch

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Fernsucht

Jodeln ohne Grenzen

Nadja Räss jodelt mal traditionell,mal modern. Als Intendantin derKlangwelt Toggenburg holt sieSängerinnen und Sänger aus allerWelt in die Schweiz.

Der Gebrauch von Kopf- undBruststimme verleiht dem Jodelseinen speziellen Klang. DieseGesangstechnik – eine Art rufen-des Singen – findet man auch imKongo, auf Madagaskar, bei denPygmäen oder in Georgien. Rechtbekannt ist das schwedischeDiddling. Im Moment hoffe ich,auch in Simbabwe Sänger zu finden, und nächste Woche treffe ich Mariana Sadovska. DieUkrainerin geht im November mit uns auf Tournee und wird 2016 an unserem Klangfestival im Toggenburg auftreten. – DasAufspüren archaischer Musik istmeine Leidenschaft. Die Begeg-nung mit Künstlern aus aller Weltist bereichernd, berührend und oftauch lustig: In anderen Ländernwird beim Singen viel mehr ge-tanzt als bei uns. Es gab wohlnoch nie ein Klangfestival, an demnicht irgendwann ein ausländi-scher Gast seine Hände in dieHosentaschen gesteckt und etwassteif einen Schweizer Jodler pa-rodiert hat. Diese tragen solcheScherze jedoch mit Fassung undlassen sich bei gemeinsamenAuftritten durchaus auch zu einemTänzchen animieren.

(Aufgezeichnet von Mirella Wepf)

Eine Welt Nr.2 / Juni 2015

E-Mail: [email protected]. 058 462 44 12Fax 058 464 90 47Internet : www.deza.admin.ch

860215346

Der Umwelt zuliebe gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier

Gesamtauflage: 54200

Umschlag: Bauernmarkt in Peru; Tom Hopkins/Aurora/laif

ISSN 1661-1667

Impressum«Eine Welt» erscheint viermal jährlich in deutscher, französischer und italienischerSprache.

HerausgeberinDirektion für Entwicklung und Zusammen-arbeit (DEZA) des Eidgenössischen Departe-mentes für auswärtige Angelegenheiten (EDA)

RedaktionskomiteeManuel Sager (verantwortlich)Catherine Vuffray (Gesamtkoordination)Marie-Noëlle Bossel, Maja Holenstein, Pierre Maurer, Gabriela Neuhaus, ChristinaStucky, Özgür Ünal

RedaktionGabriela Neuhaus (gn – Produktion),

Luca Beti (lb), Jane-Lise Schneeberger (jls),Mirella Wepf (mw), Ernst Rieben (er)

GestaltungLaurent Cocchi, Lausanne

Lithografie und Druck Vogt-Schild Druck AG, Derendingen

WiedergabeDer Nachdruck von Artikeln ist, nach Bewilli-gung durch die Redaktion, unter Quellenan-gabe gestattet. Belegexemplare erwünscht

Abonnemente und Adressänderungen«Eine Welt» ist gratis (nur in der Schweiz)erhältlich bei: EDA, Informationsdienst,Bundeshaus West, 3003 Bern

Die Mitte der Welt(gn) Die Banda-Inseln im OstenIndonesiens sind die Heimat derMuskatnuss und waren einst einZentrum des globalen Gewürz-handels. Davon erzählen Mythenund architektonische Zeugenkolonialer Vergangenheit. Injüngster Zeit ist der Archipel erneut in «Die Mitte der Welt»gerückt: Trotz der geografischenIsolation, sind die Bewohnerin-nen und Bewohner der InselnTeil des globalen Dorfs. AmBeispiel von Banda veranschau-licht das Kollektiv Lang+Breitdie Auswirkungen der Globali-sierung auf eindrückliche Artund Weise. Konkret und unge-schönt. Mit ihren Reportagen,Essays und Bildern entführen

Hanspeter Schiess

Buch

die vier Autoren den Leser, dieLeserin in eine auf den erstenBlick exotische Welt, die sichheute von der unsrigen jedochnicht mehr so stark unterschei-det wie damals, als der Gewürz-handel blühte. Erfrischend, anschaulich, ungewohnt.«Die Mitte der Welt» von AnjaMeyerrose, Stephan Truninger(Text), Johanna Leistner, SvenHeine (Bilder), Rotpunktverlag,2015

Ausstellung

EXPO Milano 2015(gn) Die EXPO 2015 in Mailandsteht unter dem Motto «DenPlaneten ernähren, Energie für das Leben». Im SchweizerPavillon sowie in Rahmenver-anstaltungen vermittelt auch dieDEZA vielfältige Einblicke inihr Engagement zur Verbesserungder Ernährungssicherheit. Sokönnen Besucherinnen undBesucher z.B. mit einer interak-tiven App ihr Wissen über Nutz-pflanzen testen. Die HumanitäreHilfe ist mit dem Thema «Ernäh-rungssicherung in humanitärenKrisen» präsent und veranstaltetdazu am 19. August eine Panel-diskussion. Der Kurzfilm überein von der DEZA unterstütztesWeideprojekt in der Mongoleiwurde von der EXPO-Leitungals eines von 18 Beispielen für«Best Practices» ausgewählt. Die Expo öffnete ihre Tore am1. Mai und lädt bis zum 31.Oktober zum Geniessen undNachdenken über traditionelleVielfalt,Verantwortung, Soli-darität und Nachhaltigkeit inBezug auf das Thema Ernäh-rung ein.«EXPO Milano 2015» bis 31. Oktober Informationen und Tickets:www.padiglionesvizzero.ch

Festung Europa(gn) Europa macht dicht. Anden EU-Aussengrenzen sterbentäglich Flüchtlinge, innerhalbEuropas leben Tausende

Migrantinnen und Migranten illegal und von Abschiebung bedroht. Das Belluard Festivalnimmt die polarisierte Flücht-lingsdebatte als Anlass für einedifferenzierte Auseinander-setzung. In sieben künstlerischenProjekten werden Flucht undMigration aus unterschiedlichenPerspektiven thematisiert. So erzählt zum Beispiel der sene-galesische Choreograph MomarNdiaye von der verzweifeltenEuropasehnsucht der afrikani-schen Jugend. Und der iranischeAutor und Regisseur KamalHashemi holt die Stimmungvon Flüchtlingen, die in derNacht die Grenze überqueren,auf die Bühne. Nebst Auffüh-rungen, Performances undAusstellungen laden Spezialistenin Salons zur Diskussion in klei-nen Gruppen. Direkt betroffeneSchülerinnen und Schüler derOrientierungsschule Belluardsind als «Experten für Migra-tion» eingeladen und kreierenim Verlauf des Festivals ein viel-sprachiges Magazin zum Thema.Festival Belluard Bollwerk Interna-tional, Freiburg, 25. Juni bis 4. Juli www.belluard.ch

Johanna Leistner / Sven Heine

Festival

«Böden haben keine Stimme, und nurwenige setzen sich für sie ein. Bei derLebensmittelproduktion sind sie unserestillen Verbündeten.»José Graziano da Silva, Seite 16

«Unsere Rechte werden seit Jahren ignoriert, doch jetzt wacht Nicaraguaauf.» Francisca Ramírez, Seite 20

«Ich bin in einem Land aufgewachsen,wo man Häuser baut, um darin zu wohnen und nicht, um sie dengrössten Teil des Jahres leer stehen zu lassen.»Luana Letts, Seite 31