Einführung in die Europäische Ethnologie WS 2010/11 Prof. Dr. Johannes Moser.

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Einführung in die Europäische Ethnologie

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• Organisatorisches:– Prüfungen: BA-Studierende: 7.2.2011 14.15 im

Audimax (Klausur)– EWS-Studierende: 7.2.2011 14.15 im Audimax

(Klausur)– Magisterstudierende (Zwischenprüfung und

Hauptseminaraufnahmeprüfung): 14.2.2011, Zeit und Ort rechtzeitig auf der Institutshome-page (http://www.volkskunde.uni-muenchen. de/index.html) oder im Sekretariat erfragen.

• Seminarkarte!• Achtung: 31.1. und 7.2. Vorlesung und

Klausur im Audimax

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• Volkskunde/Europäische Ethnologie ist eine Disziplin, die sich im weitesten Sinn mit der Alltagskultur bzw. mit kulturellen Phänomenen in Europäischen Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart beschäftigt.

• In ihrer Tradition als Volkskunde lange Zeit mehr auf die eigene nationale Gesellschaft fokussiert, hat sich der Blickwinkel in den letzten Jahrzehnten verstärkt auf kulturelle Phänomene in ganz Europa erweitert.

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• Im Gegensatz zu manchen anderen Kulturwis-senschaften richtet die Volkskunde/Europäische Ethnologie ihr Augenmerk weniger auf die Hoch-kultur oder Lebenswelten der höheren Schich-ten, sondern auf das Denken, Handeln und Füh-len von Gruppen aus der breiten Bevölkerung.

• Vor allem die symbolischen Ordnungen des All-tagslebens in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem Wandel stehen im Zentrum des Interes-ses, wobei die Beziehungen von Kultur, Macht und Ungleichheit eine zentrale Rolle spielen.

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• Forschungsbeispiel Blatten – ein Dorf an der slowenisch-steirischen Grenze

Kultur• Mit Kultur versuchen wir zu erklären, erstens wie

Menschen Bedeutungen schaffen und ihrerseits wieder von diesen Bedeutungen beeinflusst wer-den und zweitens wie sie diese Bedeutungen in ihrem täglichen Lebensvollzug – also in der Pra-xis – bestätigen oder transformieren. Es handelt sich also um ein Orientierungs- und Handlungs-system, dass nicht in Modi von Einheit und Ab-geschlossenheit gedacht werden kann.

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• Generell spielen in diesem Beispiel wir für unser Fach insgesamt die Kategorien Zeit, Raum und Soziales eine wichtige Rolle.

Distinktionen, soziale Unterschiede• Wir leben in einer stratifizierten Gesellschaft, wo

– je nach Zugang – zwischen Klassen, Schichten und/oder Milieus unterschieden wird. Bei den damit einhergehenden Zuschreibungen und den Abgrenzungsversuchen (Distinktionen) handelt es sich um zutiefst kulturelle Phänomene, die in verschiedenen Forschungen in der Volkskunde/ Europäischen Ethnologie eine Rolle spielen.

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Identität• Wie den meisten oder allen kultur- und sozialwis-

senschaftlichen Begriffen wohnt auch dem der Identität eine gewisse Unschärfe inne, trotzdem gibt es zumindest ein konstitutives Merkmal, das eine inhaltliche Bestimmung ermöglicht. Dabei handelt es sich um die soziale Dimension von Identität, die Anselm Strauss in folgendem Satz so wunderbar gefasst hat: Identität ist immer ver-bunden mit der schicksalhaften Einschätzung seiner selbst – durch sich selbst und durch ande-re.“

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Ethnizität• Ethnizität bezeichnet ein kollektives Identitäts-

konzept, das mit der Fachgeschichte beider Eth-nologien – also der Volks- wie der Völkerkunde –verbunden ist. Die Vorstellung von ethnischer Identität setzt ein Bewusstsein kultureller Zuge-hörigkeit voraus, „das sich“, so Wolfgang Ka-schuba, „aus der Wahrnehmung der ‚Andersar-tigkeit’ aller anderen speist“. So konkret die sozi-alen Praktiken sind, die sich mit ethnischer Iden-tität verbinden, so gefährlich sind jene Ideologien und Vorstellungswelten, die damit verknüpft sind.

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Community Studies• Bei den Community Studies handelt es sich um ein tradi-

tionsreiches Vorgehen in den ethnologischen Disziplinen. Am Beispiel von Gemeinden können im Rahmen von Mi-krostudien verschiedene kulturelle Phänomene unter-sucht werden, manchmal auch ganze Gemeinden an sich. In so einem begrenzten Ausschnitt lassen sich hi-storische Erfahrungen und soziale Ordnungen, kulturelle Verkehrsformen und soziale Gruppierungen sehr genau beobachten und analysieren. In einer Gemeinde spiegelt sich nicht eine ganze Nation im kleinen wider und es handelt sich um keine abgeschlossene Entität, die keinen oder wenigen externen Einflüssen ausgesetzt ist.

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Kontinuität und Wandel• Diese Begriffe verweisen auf ein zentrales Fak-

tum von Kultur und Gesellschaften, dass sie nämlich einem Wechselspiel von dauerhaften und veränderlichen Elementen unterliegen. Sie treten bei jedem Phänomen eher gleichzeitig auf, freilich in sehr unterschiedlicher Gewichtung. Sie sind auch nur als relationales Begriffspaar zu verwenden, weil es dabei immer nur um ein Langsamer oder Schneller im Vergleich gehen kann; absoluter Stillstand oder permanente Bewegung findet sich selten. (vgl. W. Kaschuba)

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Grenze• Die Grenze ist, obwohl man zunächst an ein räumliches

Phänomen denkt, ein zutiefst kulturelles Phänomen. Es geht bei Grenzen stets um mehr als feste Markierungen oder Trennlinien. Grenzen können Quelle von Ängsten und Konflikten sein, aber ebenso von Möglichkeiten. Weil sie nie strikte Trennlinien von irgendetwas sind, stellen sie im räumlichen wie im sozialen Sinn Grenzzonen dar, in denen sich spezifische Dynamiken entwickeln. An Grenzen sind Gesellschaften wie Gruppen besonders verwundbar, an ihnen werden Identitäten ent- oder verworfen, an ihnen verschieben und verändern sich kulturelle Kategorien und Bedeutungen.

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Methoden (Beispiele)Beispiel Film „Kitchen Stories“• Feldforschung• Teilnehmende Beobachtung • Interviews• Expertengespräche• Historisch-archivalische Methoden• Mediananalyse• Kartierungen• Film und Fotografie• Verschiedene Analyseverfahren

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• Kultur ist ein zentraler oder wahrscheinlich der zentrale Begriff des Faches.

• Für die Begriffsgeschichte von Kultur kann zu-nächst auf das lateinische Wort cultura verwie-sen werden, mit dem die menschliche Aneig-nung der Natur beschrieben wird: die Kultivie-rung des Bodens, die Pflege der Landwirtschaft und in weiterer Folge überhaupt Fragen der Pflege, der Veredelung und der Ausbildung von Menschen.

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• Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird Kultur dann der Natur gegenüber gestellt. Kultur ist da-bei das von Menschen Erschaffene, Natur das Ursprüngliche. Natur umfasst die menschliche Leiblichkeit, Kultur die humane Geistigkeit.

• Herder spricht etwa von einer „Kultur des Vol-kes“ und versteht darunter noch Ursprüngliches und Unverbildetes.

• Goethe wiederum schreibt von „Bildungskultur“ und meint menschliche Herzens- und intellek-tuelle Geistesbildung.

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• Diese unterschiedlichen Semantiken, so Wolf-gang Kaschuba, fließen auch in die Volkskunde des 19. Jahrhunderts ein, bleiben vielfach unge-ordnet nebeneinander bestehen und werden kaum begriffs- und ideologiegeschichtlich hin-terfragt.

• Herders „Kultur des Volkes“ sucht nach ästheti-schen Zeugnissen, nach einer natürlichen Poe-tik, die in Märchen und Liedtexten vermutet wird. Eine „Kulturkunde“ der frühen Landes- und Rei-sebeschreibungen wiederum sammelt ländliche Bräuche, populäre Sitten, Kenntnisse über den Stand der Landespflege.

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Johann Gottfried Herder (144-1803)

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• Bereits hier wird klar, dass die Vorstellung einer Bildungskultur neben einer Kultur von Land und Leuten – vor allem verbunden mit dem Namen Wilhelm Heinrich Riehl – existierte.

• Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kommt dazu auch noch die politische Karriere von Kultur, die als „Deutsche Kultur“ zum Synonym für einen Nationalismus wurde, dem zunächst noch sie staatlich-politische Gestalt fehlte.

• Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897), Begründer der wissenschaftlichen Volkskunde; Professor für Kulturgeschichte und Statistik an der Univer-sität München

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Wilhelm Heinrich Riehl

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• Hauptwerk: vierbändige »Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deut-schen Socialpolitik« (Bd. 1: »Land und Leute« [1853], Bd. 2: »Die bürgerliche Gesellschaft« [1851], Bd. 3: »Die Familie« [1854], Bd. 4: »Das Wanderbuch« [1869]),

• Wurde zu einem vielgelesenen Werk im Bil-dungsbürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jhs.

• Riehl sah Volkskultur, Brauchtum und Traditio-nen als eigenständigen historisch-gesellschafts-wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand

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• Neben der Vorstellung von materieller und geisti-ger Kultur wirkte auch jene von niederer und ho-her Kultur lange weiter.

• Riehl unterschied Bildungsgut vom primitiven Gemeinschaftsgut, Hans Naumann sprach von gesunkenem Kulturgut und sah die schöpferi-sche Kompetenz bei den oberen Schichten.

• Erst die Reformdebatten seit den 1960er Jahren führten zu einem reflektierten Kulturbegriff, was auch Auswirkungen auf Fragestellungen und Betrachtungsweisen hatte.

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• Die Volkskunde hatte sich seit ihrer Etablierung für Veränderungsprozesse interessiert, zunächst aber noch mit einem sentimentalen und bewah-renden Blick, dann interessierte sie sich dafür, wie die Veränderungen von Menschen wahrge-nommen werden, welche Bedeutungen die Men-schen diesen Veränderungen beimessen und welche Handlungsoptionen sich daraus ergeben.

• Die Diskussion um den Kulturbegriff wie das Fach insgesamt wurde durch verschiedene theoretische Konzepte beeinflusst.

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• Eines dieser Konzepte ist das der Zivilisation von Norbert Elias.

• Norbert Elias (1897-1990), als Sohn jüdischer El-tern in Breslau geboren, 1915 Abitur, bis 1917 Kriegsdienst. Er studierte in Breslau, Heidelberg (u.a. bei Karl Jaspers), Freiburg im Breisgau (u. a. bei Edmund Husserl). Er promoviert 1922 mit der Arbeit „Idee und Individuum. Eine kritische Untersuchung zum Begriff der Geschichte“.

• 1924 ging er wieder nach Heidelberg, arbeitete für Karl Mannheim und saß im Oberseminar bei Alfred Weber.

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Norbert Elias

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• 1924 ging er wieder nach Heidelberg, arbeitete für Karl Mannheim und hörte bei Alfred Weber.

• Er folgte dann Karl Mannheim nach Frankfurt am Main, wo er 1932/33 seine Habilitations-schrift „Der höfische Mensch“ einreichte. Für die Lehrbefugnis fehlte die Antrittsvorlesung, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen.

• Er floh nach Frankreich und 1935 weiter nach England. Dort schrieb er – im Lesesaal des British Museum – sein zweibändiges Werk „Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psy-chogenetische Untersuchungen“ (1936; publiziert 1939).

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• Elias schlug sich mit Unterricht an Volkshoch-schulen durch.

• Erst 1954 erhielt er eine Dozentenstelle am De-partment of Sociology der Universität Leicester, wo er bis 1962 unterrichtete. Bei ihm studierten etwa Anthony Giddens und Martin Albrow.

• Von 1962 bis 1964 hatte er eine Professur an der University of Ghana in Accra inne.

• 1965 kam er als Gastprofessor an der Universi-tät Münster erstmals seit seiner Flucht nach Deutschland zurück.

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• Seit 1975 hatte er seinen Hauptwohnsitz in den Niederlanden und erst in den 1970er Jahren wurde aus seinem „Prozeß der Zivilisation“ ein wissenschaftlicher Bestseller.

• 1977 erhält Elias den ersten Adorno-Preis und von 1978 bis 1984 arbeitet er am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld und an der Ruhr-Universität Bochum.

• Bis zu seinem Tod im Jahr 1990 in Amsterdam arbeitete er unermüdlich an seinem Werk weiter.

• Sein Hauptwerk ist der „Prozeß der Zivilisation“, das nachhaltigen Einfluß auf die Sozial- und Geisteswissenschaften ausübte.

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• Die Veränderungen menschlichen Verhaltens, der Empfindungen und Affekte werden als ein Zivilisationsprozess verstanden.

• Zivilisation ist für Elias dabei die langfristige Um-wandlung von Außenzwängen in Innenzwänge.

• Er beschreibt Zivilisierung als langfristigen Wan-del der Persönlichkeitsstrukturen, den er auf ei-nen Wandel der Sozialstrukturen zurückführt.

• Faktoren des sozialen Wandels sind der konti-nuierliche technische Fortschritt und die Diffe-renzierung der Gesellschaften sowie der stän-dige Konkurrenz- und Ausscheidungskampf.

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• Dies führt zu einer Zentralisierung der Gesell-schaften (Einrichtung staatlicher Gewalt- und Steuermonopole) sowie zur Geldwirtschaft.

• Das Bindeglied zwischen diesen sozialstruktu-rellen Veränderungen und den Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur sind die wachsenden gegenseitigen Abhängigkeiten, die "Interaktions-ketten", in die Menschen eingebunden sind.

• Eine zunehmende Affektkontrolle erzwingt zwi-schen spontanem emotionalen Impuls und tat-sächlicher Handlung ein Zurückhalten dieses Impulses und ein Überdenken der Wirkungen.

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Das hat verschiedene Folgen:• das Sinken der Gewaltbereitschaft;• das Vorrücken der "Schamschwellen";• das Vorrücken der "Peinlichkeitsschwellen";• eine "Psychologisierung", d.h. die Steigerung

der Fähigkeit, die Vorgänge innerhalb anderer Menschen zu verstehen;

• eine "Rationalisierung", d.h. eine Steigerung der "Langsicht", also der Fähigkeit, die Folgen der eigenen Handlungen über immer mehr Glieder der Kausalketten vorauszu"berechnen".

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• Elias zeigt "wie etwa von den verschiedenen Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden.

• Für Elias bestimmt eine fundamentale dynami-sche Verflechtungsordnung ("Figuration") den Gang des geschichtlichen Wandels; "sie ist es, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt."

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• Diese Verflechtungsordnung ist recht einfach: "Pläne und Handlungen, emotionale und ratio-nale Regungen der einzelnen Menschen greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander.„

• Aber er weist auch darauf hin, "dass sich aus al-lem Planen und Handeln der Menschen vieles ergibt, was kein Mensch bei seinem Handeln eigentlich beabsichtigt hat“.

• In der Entwicklung der abendländischen Gesell-schaft "differenzieren sich die gesellschaftlichen Funktionen unter einem starken Konkurrenz-druck mehr und mehr."

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• Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funk-tionen bestimmt die Richtung der "Veränderung des Verhaltens im Sinne einer immer differen-zierteren Regelung der gesamten, psychischen Apparatur."

• Diese differenziertere und stabilere Regelung wird dem einzelnen Menschen von klein auf mehr und mehr, als ein Automatismus ange-züchtet und funktioniert dann als Selbstzwang.

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• "Die fortschreitende Differenzierung der gesell-schaftlichen Funktionen ist nur die erste, die all-gemeinste der gesellschaftlichen Transformatio-nen. ... Mit ihr, ... geht eine totale Umorganisie-rung des gesellschaftlichen Gewebes Hand in Hand."

• "Die eigentümliche Stabilität der psychischen Selbstzwang-Apparatur, ..., steht mit der Ausbil-dung von Monopolinstitution der körperlichen Gewalt und mit der wachsenden Stabilität der gesellschaftlichen Zentralorgane in engstem Zusammenhang.“

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• In früheren Gesellschaften lebte der Einzelne ungeschützter. Auf der einen Seite war er freier, sich der Lust hinzugeben, auf der anderen Seite war er gefährdeter durch Feinde oder Naturphä-nomene. Es war ein Leben zwischen Extremen.

• Elias behauptet nicht, dass es früher keine For-men von Selbstzwängen gegeben hätte, aber es "ist ein anderer Typus von Selbstbeherrschung oder Selbstzwang." Der neue Typus ist nicht mehr so ausgelassen, nicht mehr so extrem in den Schwankungen - zwischen Lust und Unlust, Freude und Leid -, sondern bewegt sich auf einer mittleren Linie.

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• Elias beschrieb also eine Entwicklung hin zur In-dividualisierung, die die Ausbildung individueller Fähigkeiten ebenso befördert wie die Anpas-sung von Verhaltensstandards.

• Die Geschichte der Zivilisierung sieht er als ei-nen „sozio- und psychogenetischen Vorgang“, als einen Prozess der gesellschaftlichen Verhal-tenskonditionierung, der sich in moralischen Strategien der Bedürfnis- und Triebkontrolle niederschlägt.

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• Der „Prozeß der Zivilisation rief viele Kritiker auf den Plan. Der Ethnologe Hans Peter Duerr be-zeichnete den Zivilisationsprozess als Mythos.

• Dieser Mythos besage, dass die derzeitige Do-mestikation unserer tierischen Natur das Ergeb-nis eines langwierigen Prozesses sei, der im westlichen Europa gegen Ende des Mittelalters und bei den „primitiven Völkern“ erst in jüngster Zeit begonnen habe.

• Duerr wehrt sich nicht zu Unrecht gegen ein Zerrbild fremder Kulturen.

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• Elias hat offenbar keine rezenten ethnologischen Bücher gelesen und kommt daher zu einer Fehleinschätzung der von ihm so genannten „Primitiven“.

• Durch Quellenarbeit widerlegt Duerr Elias, er bringt für die unterschiedlichen Epochen und Gesellschaften Bele-ge, die den Thesen Elias’ weitgehend widersprechen.

• Während Elias unter der Rubrik „natürliche Bedürfnisse“ nachzuzeichnen versucht, wie sich gewisse Scham- und Peinlichkeitsgrenzen erst nach und nach herausbilden, kann Duerr zeigen, dass Urinieren, Defäkieren und Furzen in praktisch allen Kulturen dieser Welt mit Ekel- und Schamgefühlen sowie Peinlichkeitsschwellen besetzt ist.

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• Andere Kritiker meinen, sein Geschichtsmodell sei zu nahe an längst überholten Evolutions-theorien.

• Zudem wird der Verdacht geäußert, Elias habe seine Belege zu sehr an die bereits bestehende Theorie angepasst.

• Ein anderer Kritikpunkt bezieht sich darauf, wie Elias seine an der Oberschicht gefundenen Be-funde auf andere Schichten und Milieus sowie auf andere Völker und Kulturen überträgt.

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• Durch seine übervereinfachende Modellkon-struktion, so ein letzter hier zu erwähnender Kri-tikpunkt, geraten aber auch einzelne Befunde von Elias in ein schiefes Licht, weil damit Ent-wicklungen nicht gedeutet werden können, die seiner Konstruktion zuwiderlaufen – z.B. im Bereich der wieder liberaler gewordenen Vor-stellungen und Praktiken in Bezug auf Nacktheit oder Sexualität.

• Die Zivilisationstheorie sollte aber dennoch nicht zu gering geschätzt werden, weil sie gewisse Perspektiven eröffnet

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• Ein Erbe von Elias Theorie liegt in einer nach-drücklichen Orientierung an gesellschaftlichen Prozessen – Prozesse, die niemals zu Ende sind und laufend beobachtet aber ebenso gestaltet werden können.

• Ein anderer zentraler Punkt ist sicherlich die Be-obachtung, dass eine Verlagerung der Kontrolle durch andere von einer Selbstkontrolle – der so genannten Selbstzwangapparatur – abgelöst wird. Damit ist auch jene Entwicklung zur Indivi-dualisierung angedeutet, die spätestens seit Ul-rich Becks „Risikogesellschaft“ auf der Agenda der Sozialwissenschaften steht.

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• Schließlich war Norbert Elias ein großer Intellek-tueller, der mit seinem Spätwerk noch zu über-zeugen wusste und neben der Zivilisationstheo-rie eben noch andere wichtige Bücher verfasste: seine wissenssoziologischen Studien „Engage-ment und Distanzierung“ und „Über die Zeit“; „Die Gesellschaft der Individuen“; Studien über die Deutschen“ und zusammen mit John Scot-son das Buch „Etablierte und Außenseiter“, um nur einige zu nennen.