Einführung in die Literaturwissenschaft

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Einführung in die Literaturwissenschaft. Was sind ›sprachliche Mittel‹?. - PowerPoint PPT Presentation

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Was sind ›sprachliche Mittel‹?

Rhetorik ist traditionell die Lehre von der Beredsamkeit. Sie unterweist in den Techniken und Mitteln, mit deren Hilfe bestimmte Gedanken (res) mit geeigneten Worten (verba) einem jeweiligen Publikum (bei Gericht, bei einer politischen Versammlung, bei einem feierlichen Anlaß) zu Gehör gebracht werden.

Aus dieser Perspektive betrachtet, sind Tropen (›Wendungen‹) und Figuren (griech. ›schemata‹, ›Haltungen‹) sprachliche Mittel. Sie dienen einem Zweck, den der Redner verfolgt.

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Die Figürlichkeit der Sprache

Bei Quintilian hat sich allerdings gezeigt, daß ›Rhetorik‹, sofern sie von Tropen und Figuren handelt, mit mehr zu tun hat als nur mit dem Bereich der Eloquenz, der besonders kunstvollen Rede.

Wollte man Tropen und Figuren in dieser Weise einschränken, dann müßte es so etwas geben wie ›schmucklose‹ Rede.

Es gibt jedoch keine Rede ohne Tropen und Figuren. Die Sprache selber ist figürlich.

Das zeigt sich insbesondere bei der Funktionsweise der Metapher als einer Katachrese. Sie bezeichnet durch einen übertragenen Ausdruck etwas, für das es keinen eigentlichen Ausdruck gibt (Beispiel: »Tischbein«).

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Die absolute Metapher ist kein Mittel

Metaphern, die komplexe Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen vermögen, welche nicht in ›eigentliche‹ Begriffe überführt werden können, nennt Blumenberg ›absolute Metaphern‹ (Beispiel: »das Buch der Natur«).

Solche Metaphern müssen nicht explizit zur Sprache kommen, sondern können latent, im ›Hintergrund‹, Vorstellungszusam-menhänge strukturieren.

Kleists Anekdote »Der Griffel Gottes« führt eine solche Hintergrundmetaphorik vor.

Eine absolute Metapher ist kein ›sprachliches Mittel‹, sondern geht dem Denken voraus.

Genau in diesem Sinne ist auch die Figürlichkeit der Sprache generell eine Voraussetzung des Denkens. Gedanke (›res‹) und Wort (›verbum‹) sind nicht zu trennen.

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Themenübersicht

• Literarizität: Was unterscheidet literarische Texte von anderen sprachlichen Äußerungen?

• Zeichen und Referenz: Wie stellen literarische Texte den Bezug sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar?

• Rhetorik: Was sind ›sprachliche Mittel‹?• Narration: Wie entstehen Geschichten?• Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift

Schreiben in Wirklichkeit ein?• Intertextualität und Intermedialität: Wie beziehen

sich literarische Texte auf andere Texte / andere Medien?

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Wie entstehen Geschichten? 1. Grundformen des Erzählens

Die Metapher erscheint bei Quintilian als eine elementare Funktion der Sprache, mit der Bezeichnungsmöglichkeiten hergestellt werden. Die Sprache ist ›poetisch‹, oder genauer: ›poietisch‹ (von griech. poiesis = das Machen, Hervorbringen).

Eine solche ›produktive‹ Dimension sprachlicher Äußerungen ist auch auf anderer Ebene gegeben: beim Erzählen.

Es lassen sich Grundformen des Erzählens unterscheiden, die es ermöglichen, Zusammenhänge von Ereignissen, das heißt Geschichten herzustellen.

In einem ersten Schritt führt die Frage nach dem Entstehen von Geschichten insofern auf das Thema der Gattungen.

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Beispiel: Die AnekdoteHeinrich von Kleist: »Der Griffel Gottes«

»In Polen war eine Gräfin von P...., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution erteilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet! – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.«

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Die Anekdote: Gattungsmerkmalegriech. anekdoton (Plural: anekdota), „das nicht Herausgegebene, Unveröffentlichte“: ursprünglich eine noch nicht bekannt gewordene, nicht veröffentlichte Schrift, im Lateinischen häufig auch als historia arcana, „geheime Geschichte“, übersetzt

eine kurze und unterhaltsame Erzählung, die nicht durch poetisch ‚Wahrscheinliches‘ (im Sinne von Aristoteles), sondern durch einen Bezug auf historisch ‚Wirkliches‘ geprägt ist

das Erzählte muß jedoch nicht authentisch sein, es kann sich z.B. um etwas einer historischen Persönlichkeit ‚Nachgesagtes‘, Zugeschriebenes handeln

oszilliert zwischen Faktizität und Fiktion, Tatsachenbericht und bloß erfundener Geschichte

Anekdoten haben nicht eigentlich einen Autor, sondern nur jemanden, der sie weitererzählt

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Hintergründe von Kleists Anekdote »Der Griffel Gottes«

Die Anekdote wurde zuerst in den Berliner Abendblättern, einer von Kleist herausgegebenen Tageszeitung, veröffentlicht (5.10.1810), und zwar ohne Verfassernamen.

»Vielleicht hat Kleist die Geschichte vom Fürsten Anton Heinrich von Radziwill (1775-1833) gehört, der sie später in Rahel Varnhagens Salon erzählte und die Buchstaben ›Potempiona‹ auf einen Zettel schrieb; Varnhagen [d.h. der Mann Rahels] vermerkte auf demselben Zettel: Vom Fürsten Anton Radziwill aufgeschrieben, 1828 bei Rahel. Eine polnische Dame hatte sich ein prächtiges Grabmal errichten lassen, mit einer stolzen Inschrift, die ihr, ungeachtet ihres sehr weltlichen Wandels die Seligkeit zusprach. Bald nach ihrem Tode schlug der Blitz in das Denkmal, und ließ von der Inschrift nur die nebenstehenden Buchstaben in der angegebenen Ordnung stehen. Das [polnische] Wort, welches sie bilden, heißt so viel als Verdunkelt, Verdammt.« (In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band 3. Hg. von Klaus Müller-Salget. Frankfurt/Main 1990, S. 921f.)

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Kleist: Der »Griffel Gottes« oder die Stimme Mephistos?

Die Anekdote kursiert in mehreren Varianten. Ihr Ursprung ist unklar. Vom Grafen Radziwill wurde sie im Salon der Varnhagen erst beinahe 20 Jahre nach ihrer Veröffentlichung in den Berliner Abendblättern erzählt.

Die Anekdote ist auf komplizierte Weise überliefert. Z.B. hat sie der Graf Radziwill nicht selbst aufgeschrieben, sondern seine Erzählung wird von Varnhagen nacherzählt und bezeugt. Dabei dient der handschriftliche Zettel als ein Beweisstück.

Kleists Fassung der Anekdote hebt das Moment der Zeugenschaft hervor (»Der Vorfall […] ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.)« (Mit »dieser Stadt« ist Berlin gemeint; vgl. den Veröffentlichungsort Berliner Abendblätter.)

Aber zugleich enthält Kleists eine Anspielung auf die letzte Szene von Faust I, die Kerkerszene, in der Mephisto über Gretchen sagt: »Sie ist gerichtet.«

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Der Ursprung der Geschichte in der erzählerischen Gattung

Durch das Nebeneinander von Augenzeugenschaft (= Authentizität) und literarischem Zitat (= literarische Erfindung) spielt Kleist hier mit dem Verhältnis von Fakt und Fiktion. Dabei macht er sich die Gattung der Anekdote zunutze. Das Erzählte ist gewissermaßen dieser Gattung entsprungen.

Die Anekdote gibt durch Nennung von historischen Namen, Orten Zeiten, Umständen usw. vor, sich auf Wirkliches zu beziehen. Sie prägt eine literarische Erzählgattung aus, die sich wesentlich über diese bestimmte Art der vorgeblichen Referenz definiert.

Erst mit dem Wissen um die elementare erzählerische Form der Anekdote erschließt sich die Erzählung von Kleist. Die Frage nach der Weise, in der sich in literarischen Texten Bezüge auf Wirklichkeit darstellen, kehrt hier auf der Ebene erzählerischer Gattung wieder.

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André Jolles: »Einfache Formen« (1930)

Grundformen des Erzählens, die nicht weiter zurückführbar, nicht weiter zerlegbar sind, nennt der Literaturwissenschaftler André Jolles ›Einfache Formen‹. Dazu zählen:

Legende Kasus

Sage Memorabile

Mythe Märchen

Rätsel Witz

Spruch

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Jolles, »Einfache Formen«: Sprache als Arbeit

Für Jolles sind Einfache Formen »jene[] Formen [...], die sich, sozusagen ohne Zutun eines Dichters, in der Sprache selbst ereignen, aus der Sprache selbst erarbeiten« (S. 10).

›Sprache‹ wird von Jolles als ›Arbeit‹ begriffen. Dabei ist die Tätigkeit des Dichters, die poetische Werke hervorbringt, nur die letzte von mehreren produktiven Instanzen.

Die erste Instanz ist die »benennende Arbeit« der Sprache. Sie erzeugt Sachverhalte.

Die zweite Instanz schafft eigenständige Gestalten, Fiktionen. Dies ist die Ebene der Einfachen Formen.

Die dritte Instanz gibt Deutungen dieser Fiktionen. Dies ist die Arbeit der literarischen Werke, die einem Autor zugeschrieben werden können (Beispiele: Verarbeitung des Mythos bei Homer, der Faust-Legende bei Goethe etc.).

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Legende

Als erste Einfache Form nennt Jolles die mittelalterliche Heiligenlegende. Sie ist der deutlichste Fall einer ›schöpferischen‹ elementarliterarischen Form:

»Was uns zunächst an der Weise auffällt, wie ein Heiliger – wir wollen sagen – zustande kommt, ist, daß er – ich muß mich wieder vorsichtig ausdrücken – selbst so wenig dabei beteiligt ist.« (S. 34)

Ein Heiliger ist jemand, der nach seinem Tode in einem komplizierten rechtlich Verfahren der Kanonisation von der Kirche zunächst selig und dann heilig gesprochen wird. Anlaß für die Kanonisation sind die Geschichten, die, ebenfalls nach seinem Tode, über jemanden kursieren, und die besagen, daß er ein vorbildlich tugendhaftes Leben geführt hat, daß er Wunder bewirkt hat und daß er auch nach seinem Tode Wunder bewirken kann.

Die Heiligenlegende ermöglicht es, den Heiligen anzurufen und ihn nachzuahmen. Sie erschafft den Heiligen.

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Legende»Der Heilige, in dem als Person die Tugend sich vergegenständlicht, ist eine Figur, in der seine engere und seine weitere Umgebung die imitatio erfährt. Er stellt tatsächlich denjenigen dar, dem wir nacheifern können, und er liefert zugleich den Beweis, daß sich, indem wir ihn nachahmen, die Tätigkeit der Tugend tatsächlich vollzieht.« (S. 36)

»Die abendländisch-katholische Legende [...] gibt das Leben des Heiligen, oberflächlich gesagt seine Geschichte – sie ist eine Vita. Diese Vita als eine sprachliche Form hat aber so zu verlaufen, [...] daß sich in ihr dieses Leben noch einmal vollzieht. Es ist nicht damit getan, daß sie Ereignisse, Handlungen unparteiisch protokolliert, sondern sie muß diese in sich zu der Form werden lassen, die sie von sich aus noch einmal verwirklicht.« (S. 39)

»Die Vita, die Legende überhaupt zerbricht das ›Historische‹ in seine Bestandteile, sie erfüllt diese Bestandteile von sich aus mit dem Werte der Imitabilität und baut sie in einer von dieser bedingten Reihenfolge wieder auf. Die Legende kennt das ›Historische‹ in diesem Sinne überhaupt nicht, sie kennt und erkennt nur Tugend und Wunder.« (S. 40)

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Legende

Die Legende erzählt das Leben einer Person so, daß sie streng nach Beispielhaftigkeit – den Kriterien des Wunders und der Tugendhaftigkeit – selektiert. Dabei verwirklicht sie narrativ das Prinzip der Wiederholung: indem sie Tugendhaftigkeit nachahmbar macht und indem sie Wunder so darstellt, daß sie als jederzeit wieder möglich erscheinen.

Im Weitererzählen der Legende werden die Beispiele von Tugendhaftigkeit und von Wundern vermehrt.

So kann etwa ein Märtyrer aus dem 3. Jahrhundert schließlich zum Heiligen Georg werden, der die Jungfrau vor dem Drachen errettet etc.

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Kleist: Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik. Eine Legende

»Um das Ende des sechszehnten Jahrhunderts, als die Bilderstürmerei in den Niederlanden wütete, trafen drei Brüder, junge, in Wittenberg studierende Leute, mit einem Vierten, der in Antwerpen als Prädikant angestellt war, in der Stadt Achen zusammen. […] Nach Verlauf einiger Tage, die sie damit zugebracht hatten, den Prädikanten über die merkwürdigsten Auftritte, die in den Niederlanden vorgefallen waren, anzuhören, traf es sich, daß von den Nonnen im Kloster der heiligen Cäcilie, das damals vor den Toren dieser Stadt lag, der Fronleichnamstag festlich begangen werden sollte; dergestalt, daß die vier Brüder, von Schwärmerei, Jugend und dem Beispiel der Niederländer erhitzt, beschlossen, auch der Stadt Achen das Schauspiel einer Bilderstürmerei zu geben. […] [U]nd [als] der Tag über den Zinnen der Stadt aufgegangen, versahen sie sich mit Zerstörungswerkzeugen aller Art, um ihr ausgelassenes Geschäft zu beginnen.«

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Kleist: Die heilige Cäcilie

»Nun fügte es sich, zur Verdoppelung der Bedrängnis, daß die Kapellmeisterin, Schwester Antonia, welche die Musik auf dem Orchester zu dirigieren pflegte, wenige Tage zuvor, an einem Nervenfieber heftig erkrankte; dergestalt, daß abgesehen von den vier gotteslästerlichen Brüdern, die man bereits in Mäntel gehüllt, unter den Pfeilern der Kirche erblickte, das Kloster auch, wegen Aufführung eines schicklichen Musikwerks, in der lebhaftesten Verlegenheit war.«

»Inzwischen waren in dem Dom, in welchen sich, nach und nach, mehr denn hundert, mit Beilen und Brechstangen versehene, Frevler, von allen Ständen und Altern, eingefunden hatten, bereits die bedenklichsten Auftritte vorgefallen; […] als Schwester Antonia plötzlich, frisch und gesund, obschon ein wenig bleich im Gesicht, erschien, und den Vorschlag machte, ungesäumt noch das alte […] italienische Musikwerk, auf welches die Äbtissin so dringend bestanden hatte, aufzuführen. […] [Sie] setzte sich selbst, von Begeisterung glühend, an die Orgel, um die Direktion des trefflichen Musikstücks zu übernehmen.«

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Kleist: Die heilige Cäcilie»Demnach kam es, wie ein wunderbarer, himmlischer Trost in die Herzen der frommen Frauen [...]: die Messe ward, mit der höchsten und herrlichsten, musikalischen Pracht aufgeführt; es regte sich kein Odem, während der ganzen Darstellung, in den Hallen und Bänken; besonders […] bei dem Gloria in excelsis war es, als ob die ganze Kirche, von mehr denn dreitausend Menschen erfüllt, gänzlich tot sei; dergestalt, daß, den vier gottverdammten Brüdern zum Trotz, auch der Staub auf dem Estrich nicht verweht ward, und das Kloster noch, bis am Schluß des dreißigjährigen Krieges bestanden hat«.

»Der Arzt, der […] befehligt ward, den Zustand der gedachten jungen Leute zu untersuchen, […] konnte schlechterdings, aller Forschungen ungeachtet, nicht erfahren, was ihnen in der Kirche, wohin sie noch ganz mit gesunden und rüstigen Sinnen gekommen waren, zugestoßen war. [...] [E]inige Bürger der Stadt, die während der Messe, in ihrer Nähe gewesen waren, […] sagten aus, daß sie, zu Anfang derselben, zwar einige […] Possen getrieben hätten: nachher aber, beim Beginnen der Musik, ganz still geworden, andächtig, Einer nach dem Andern, auf's Knie gesunken wären, und […] zu Gott gebetet hätten.«

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Kleist: Die heilige Cäcilie

»Bald darauf starb Schwester Antonia die Kapellmeisterin, an den Folgen des Nervenfiebers, an dem sie, wie schon oben erwähnt worden, daniederlag; und als der Arzt sich, auf Befehl des Prälaten der Stadt, ins Kloster verfügte, um die Partitur des, am Morgen jenes merkwürdigen Tages aufgeführten Musikwerks zu übersehen, versicherte die Äbtissin demselben, indem sie ihm die Partitur, unter sonderbar innerlichen Bewegungen übergab, daß schlechterdings niemand wisse, wer eigentlich, an der Orgel, die Messe dirigiert habe. Durch ein Zeugnis, das vor wenigen Tagen, in Gegenwart des Schloßvogts und mehrerer andern Männer abgelegt worden, sei erwiesen, daß die Vollendete in der Stunde, da die Musik aufgeführt worden, ihrer Glieder gänzlich unmächtig, im Winkel ihrer Klosterzelle danieder gelegen habe«.

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Kleist: Die heilige Cäcilie

»Demnach sprach der Erzbischof von Trier, an welchen dieser sonderbare Vorfall berichtet ward, zuerst das Wort aus, mit welchem die Äbtissin, aus mancherlei Gründen, nicht laut zu werden wagte: nämlich, daß die heilige Cäcilia selbst dieses, zu gleicher Zeit schreckliche und herrliche, Wunder vollbracht habe. Der Papst, mehrere Jahre darauf, bestätigte es; und noch am Schluß des dreißigjährigen Krieges, wo das Kloster, wie oben bemerkt, säkularisiert ward, soll, sagt die Legende, der Tag, an welchem die heilige Cäcilia dasselbe, durch die geheimnisvolle Gewalt der Musik rettete, gefeiert, und ruhig und prächtig das Gloria in excelsis darin abgesungen worden sein.«

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Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik?

Kleist greift die Gattung der Heiligenlegende auf. Es scheint so, als könne die heilige Cäcilie noch nach ihrem Tod Wunder bewirken.

Dabei bezieht er sich jedoch eher auf das Sujet der Legende als auf ihre Form.

So erzählt Kleist keine Heiligenvita, die aus geschichtlichen Zusammenhängen herausgebrochen wird (wie Jolles über die Legende sagt), sondern er verdeutlicht sehr genau die historischen Bedingungen des Geschehens.

Dies wirft verstärkt die Frage auf, ob sich überhaupt ein Wunder ereignet hat. So wird erzählt, wie eine Untersuchung in Gang gesetzt wird, ein Arzt hinzugezogen wird usw.

Auch der Titel deutet in diese Richtung: Hat tatsächlich die heilige Cäcilie interveniert? Oder handelt es sich um die Erschütterungskraft (die »Gewalt«) der Musik?

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Tradierungen und Verarbeitungen Einfacher Formen

Kleist verhandelt die Legende aus einem historischen Abstand (das Kloster ist längst säkularisiert). Bei der Überschreitung der Form der Legende wird das Ästhetische zur Alternative vormoderner Wundergläubigkeit.

Jolles betont immer wieder, daß Einfache Formen wie die Legende an das Weitererzählen, die mündliche Tradierungen gebunden sind und daß man sie als Text immer nur in verarbeiteter, reflektierter, in größere Zusammenhänge eingebundener Gestalt finden kann.

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Memorabile

Jene einfache Form, die der Legende diametral gegenübersteht, nennt Jolles das Memorabile. Während die Legende als Narrativ des Heiligen fungiert, prägt das Memorabile das Narrativ des Historischen aus. Als Beispiel zitiert Jolles einen Zeitungsausschnitt:

»Der Freitod des Kommerzienrats S.

Das Motiv für den Selbstmord des Kommerzienrates Heinrich S., der sich gestern abend in seiner Wohnung, Kaiserallee 203, erschoß, ist in pekuniären Schwierigkeiten zu suchen. S., der aus Turkestan stammt, besaß früher eine Wodka-Fabrik, die er jedoch bereits vor längerer Zeit verkauft hatte. Der 62jährige hatte schon vor längerer Zeit Selbstmordabsichten geäußert und den gestrigen Abend, an dem seine Frau sich im Konzert befand, zur Ausführung benutzt. Der Knall des Revolvers wurde von Asta Nielsen gehört, die die daneben gelegene Wohnung innehat. Frau Nielsen benachrichtigte dann als Erste Arzt und Polizei.« (S. 200)

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MemorabileWarum wird in diesem Beispiel erzählt, daß die Frau im Konzert war? Für den Ablauf der Ereignisse ist dies nicht wichtig.

► Der Kontrast ›Verzweiflung‹ und ›Kunstgenuß‹ ist geeignet, die Sache, um die es geht, hervorzuheben: den Selbstmord.

Warum wird der Filmstar Asta Nielsen erwähnt? Auch dies ist für den Ablauf der Ereignisse nicht wichtig.

► Es ergibt sich aber daraus eine Kontrastierung von ›Spiel‹ und ›Realität‹, die die ›Wirklichkeit‹ es Erzählten unterstreicht.

»[A]us freien Tatsachen verwirklicht[] sich eine gebundene Tatsächlichkeit. […] In diesem Sinne können wir sagen, daß das Memorabile die Form ist, in der sich für uns allerseits das Konkrete ergibt.« (S. 211)

Jolles spricht von »Dokumenten des Geschehens […] wo es zu äußerster Tatsächlichkeit zusammengewachsen ist« (S. 212).

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Das Memorabile und die AnekdoteJolles zeigt, daß selbst das ›Tatsächliche‹ einer einfachen narrativen Form bedarf, durch die es geschaffen wird: durch Herstellung eines Zusammenhangs zwischen Einzelheiten. (Seine Überlegungen zum Memorabile erinnern an Barthes‘ Theorie des Realitätseffekts.)

Gegenüber dieser Einfachheit des Memorabile erscheint die Anekdote bereits als komplexe literarische Form. Die Anekdote, wie sie etwa bei Kleist begegnet, ist zwar eine kleine, aber keine einfache Form, weil sie den Status des ›Tatsächlichen‹ hinterfragt: Sie spielt mit Formen der Zeugenschaft und scheint damit tatächliche Zusammenhänge nicht etwa herzustellen (wie das Memorabile), sondern sie zu verfremden.

Kleists Anekdote »Der Griffel Gottes« enthält auch Momente der Legende (vgl. das vermeintliche göttliche Wunder). Dies nähert den Text Kleists Cäcilien-Erzählung an. In beiden Texten zeigt sich die literarische Weiter-verarbeitung einfacher Formen.

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Texte und Folien im Netz unter:

www.uni-erfurt.de/literaturwissenschaft/

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