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Einführung in die Literaturwissenschaft

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Klausurtermin

Erster Termin:

1.2.2010, 16-18h im Audimax

Termin der Wiederholungsklausur:

1.3.2010, 16-18h (Ort wird noch bekanntgegeben)

Hinweis: Es gibt nur diese beiden Termine. Wer die Klausur nicht besteht, kann sein Studium nicht fortsetzen.

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Themenübersicht

• Literarizität: Was unterscheidet literarische Texte von anderen sprachlichen Äußerungen?

• Zeichen und Referenz: Wie stellen literarische Texte den Bezug sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar?

• Rhetorik: Was sind ›sprachliche Mittel‹?• Narration: Wie entstehen Geschichten?• Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift

Schreiben in Wirklichkeit ein?• Intertextualität und Intermedialität: Wie beziehen sich

literarische Texte auf andere Texte / andere Medien?

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Sprachliches Handeln und LiteraturAustin schließt bestimmte sprachliche Äußerungsformen aus seinen theoretischen Überlegungen aus:

»[P]erformative[] Äußerungen [sind] als Äußerungen gewissen [...] Übeln ausgesetzt, die alle Äußerungen befallen können. [...] Ich meine zum Beispiel folgendes: In einer ganz besonderen Weise sind performative Äußerungen unernst oder nichtig, wenn ein Schauspieler sie auf der Bühne tut oder wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder wenn jemand sie zu sich selbst sagt. Jede Äußerung kann diesen Szenenwechsel in gleicher Weise erleben. […] All das schließen wir aus unserer Betrachtung aus.« (S. 43f.)

Äußerungen, die einem solchen ›Szenenwechsel‹ unterliegen, sind zitathaft. Sie sind in sich gedoppelt, vielfältig. Sie sind wie Äußerungen, die sich auf frühere Äußerungen beziehen, in dem sie sie wiederholend aus ihrem Kontext herauslösen. Austin nennt vor allem literarische Äußerungen als Beispiel für ein solches Verfahren.

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Die Position des Autors

Literarischen Äußerungen geht es nicht in erster Linie um ein bestimmtes sprachliches Handeln. Statt dessen geht es darum, die Art und Weise eines solchen Handelns und die Bedingungen seines Gelingens oder Scheiterns vorzuführen.

Die Konventionen sprachlichen Handelns, die Austin beschreibt, werden entautomatisiert (Šklovskij). An die Stelle dieses Handelns tritt das Handeln des Dichters als Autor. Dabei scheint die Instanz des Autors für die ihren Zusammenhängen entkleidete sprachliche Äußerung einen neuen, eigenen Kontext zu bilden: Man unterstellt ihr einen Sinn, allein insofern diese Äußerung auf einen Autor zurückzuführen ist.

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Michel Foucault: »Was ist ein Autor?« (1969)Foucault hat diesen Zusammenhang, daß einem Text besondere Sinnhaftigkeit beigemessen wird, weil man ihn einem Autor zuschreiben kann, als Autorfunktion bezeichnet.

»[D]er Autorname hat die Funktion, eine bestimmte Seinsweise des Diskurses zu kennzeichnen. Hat ein Diskurs einen Autornamen, kann man sagen, ›das da ist von dem da geschrieben worden‹ oder ›ein gewisser ist der Autor von...‹, so besagt dies, daß dieser Diskurs nicht aus alltäglichen, gleichgültigen Worten besteht, nicht aus Worten, die vergehen, vorbeitreiben, vorüberziehen, nicht aus unmittelbar konsumierbaren Worten, sondern aus Worten, die in bestimmter Weise rezipiert werden und in einer gegebenen Kultur ein bestimmtes Statut erhalten müssen.« (S. 17)

»Literarische Anonymität ist uns unerträglich; wir akzeptieren sie nur als Rätsel. Die Funktion Autor hat heutzutage ihren vollen Spielraum in den literarischen Werken.« (S. 19)

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Protagonist – Erzähler – Autor

Entgegen einer alltäglichen Denkgewohnheit verfügen gerade jene Texte über eine Autorfunktion, die mehrere Subjektpositionen, mehrere ›Ich‹-Instanzen ins Spiel bringen.

Zum Beispiel ist in einem Roman, der Held, der ›ich‹ sagt, zu unterscheiden von dem Erzähler, der ›ich‹ sagt, und weder Held noch Erzähler sind mit dem Autor gleichzusetzen.

Auch die Krankengeschichte von Oskar Panizza ist für diese Vielheit von Subjektpositionen ein Beispiel. Es gibt in dieser Krankengeschichte, die Panizza selbst verfaßt hat, das Ich des Kranken und das Ich des Psychiaters; aber es gibt darüber hinaus, wenn man den Text als einen literarischen Text liest, eine weitere Stimme, die sich auf keine dieser beiden Positionen festlegen läßt, sondern sie wiederholt und ›unernst‹ werden lässt, und die nicht mehr an den konkreten Kontext der psychiatrischen Anstalt gebunden ist.

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»Ego-Pluralität«

Foucault: »Was ist ein Autor?«, S. 22f.:

»Es ist bekannt, daß in einem Roman, der so aussieht wie der Bericht eines Erzählers, das Personalpronomen in der ersten Person, das Präsens Indikativ, die Zeichen für die Ortsbestimmung nie genau auf einen Schriftsteller verweisen, weder auf den Augenblick, in dem er schreibt, noch auf die Schreibgeste; sondern auf ein alter ego, dessen Distanz zum Schriftsteller verschieden groß sein und im selben Werk auch variieren kann. Es wäre also ebenso falsch, wollte man den Autor beim wirklichen Schriftsteller oder auch beim fiktionalen Sprecher suchen; die Funktion Autor vollzieht sich gerade in diesem Bruch – in dieser Trennung und dieser Distanz. […] Alle Diskurse mit der Funktion Autor haben diese Ego-Pluralität. […] Die Funktion Autor wird nicht durch eines dieser Egos […] gewährleistet auf Kosten der […] anderen, die dann ja nichts weiter wären als dessen fiktive Verdoppelung. Im Gegenteil muß gesagt werden, daß in solchen Diskursen die Funktion Autor die Zersplitterung dieser […] simultanen Egos bewirkt.«

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Die Frage nach der ›Intention des Autors‹ als Komplexitätsreduktion

Wenn die Autorfunktion immer mit der Streuung verschiedener Ich-Instanzen einhergeht, dann ist die Vorstellung einer einheitlichen begründenden Instanz namens ›Autor‹ imaginär. Sie ist eine Konstruktion, beruht auf Zuschreibungen, die die Komplexität eines Textes zu vereinfachen suchen.

In diesem Sinne ist die berühmte Frage »Was will der Autor uns damit sagen?« eine Komplexitätsreduktion. Sie führt die komplexe Vielheit von Instanzen, die sich in einem Text beobachten lassen, auf die Identität eines Autors zurück. Die Suche nach einer ›Intention des Autors‹ versteift sich darauf, ein ›eigentliches‹ Ich finden zu können, von dem die anderen, die im Text angezeigt werden, nur Spiegelungen sein sollen.

Der ›Unernst‹, der ›spielerische‹ Charakter literarischer Texte, der Austin so sehr irritiert, weil hier die eindeutigen Handlungsbezüge fehlen, beruht gerade auf

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»Wen kümmert‘s, wer spricht?«

Der ›Unernst‹, der ›spielerische‹ Charakter literarischer Texte, der Austin so sehr irritiert, weil hier die eindeutigen Handlungsbezüge fehlen, beruht gerade auf der Vielheit verschiedener Instanzen.

Es ist eine Besonderheit moderner literarischer Texte, die Illusion einer einheitlichen Autorinstanz zu hintertreiben. Foucault zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz von Samuel Beckett: »Wen kümmert‘s, wer spricht?«

Ein berühmter Aufsatz von Roland Barthes aus den 1960er Jahren trägt den Titel: »Der Tod des Autors«. Damit ist natürlich nicht die reale Existenz eines Schriftstellers in Frage gestellt, der einen Text zu Papier bringt. Gemeint ist der Umstand, daß in den spielerischen Verfahren neuerer Literatur die Instanz einer vermeintlich den Text kontrollierenden Autorinstanz immer unkenntlicher wird.

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Michail Bachtin: Literatur und Karneval

Für den ›Unernst‹ der Literatur, von dem Austin spricht, und der die Literaturder gewöhnlichen Handlungszusammenhänge sprachlicher Äußerungenentkleidet, hat der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin (1895-1975) den Begriff des Karnevalesken vorgeschlagen.

Es ist ein Grundzug des Karnevals, daß er sich alltäglichen Handlungsbe-zügen entgegensetzt. Weitere Merkmale des Karnevals sind nach Bachtin:• Der Karneval ist ein Schauspiel ohne Polarisierung der Teilnehmer in

Akteure und Zuschauer. Alle sind aktiv.• Gesetze und Beschränkungen, die die gewöhnliche Lebensordnung

bestimmen, werden für die Dauer des Karnevals außer Kraft gesetzt.• Benehmen, Geste und Wort lösen sich aus der Gewalt einer jeden

hierarchischen Stellung (des Standes, der Rangstufe, des Alters, des Besitzstandes). Es wird ein intim-familiärer Kontakt zwischen den Teilnehmer hergestellt.

• Der Karneval vermengt das Geheiligte mit dem Profanen, das Hohe mit dem Niedrigen, das Große mit dem Winzigen, das Weise mit dem Törichten.

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Bachtin: Literatur und Karneval

Bachtin denkt dabei nicht an den Karneval, wie wir ihn heute kennen, sondern an archaische Formen volkstümlicher Lachkultur, wie sie in der Antike, im Mittelalter und in der Renaissance je verschiedene Ausprägungen gefunden haben. Diese Tradition des Karnevalesken, so Bachtins These, ist in die Literatur eingegangen.

»Die[ ] Karnevals-Kategorien, besonders die Kategorie der freien Familiarisierung von Mensch und Welt, wurden im Verlauf von Jahrtausenden in die Literatur transponiert, besonders auf der dialogischen Linie der Entwicklung der Romanprosa. Die Familiarisierung förderte die Zerstörung der epischen und tragischen Distanz und die Versetzung des Dargestellten in die Zone des intim-familiären Kontakts. Sie beeinflußte wesentlich die Organisation des Sujets, den Aufbau von Sujetsituationen, sie bestimmte die (in den hohen Gattungen nicht mögliche) spezifische Familiarität der Einstellung des Autors zu seinen Helden, sie brachte in alles die Logik der Mesalliancen und der profanierenden Erniedrigungen hinein, sie veränderte endlich den Wortstil der Literatur.« (S. 49f.)

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Das reduzierte Lachen und die Stellung des Autors

Mit dem Eingang karnevalesker Elemente wird, so Bachtin, das Lachen zurückgenommen, reduziert. Aber die fröhliche Relativierung durchzieht die Literatur als ein Grundprinzip. Insbesondere die Position des Autors wird davon berührt:

»Die entscheidende Ausprägung erhält das reduzierte Lachen in der Stellung des Autors. Diese Position schließt jede einseitige dogmatische Ernsthaftigkeit aus, läßt nicht zu, daß sich ein einzelner Standpunkt, ein einzelner Pol des Lebens und Denkens absolut setzt. Der einseitige Ernst (des Lebens wie des Denkens), das einseitige Pathos geht voll und ganz auf die Helden über. Der Autor jedoch, der alle Helden im ›großen Dialog‹ des Romans aufeinander stoßen läßt, läßt diesen Dialog offen, setzt keinen Schlußpunkt.«

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Karneval und AutorfunktionBachtins Beschreibung der Stellung des Autors innerhalb der karnevalisier-ten Literatur kommt Foucaults These von dem Zusammenhang von Autorfunktion und Ego-Pluralität nah.

Wie sich Autorschaft gerade über die vielen Stimmen verschiedener Ich-Instanzen konstituiert, hat sich auch bei Edgar Lee Masters in seinem Gedichtzyklus Die Toten von Spoon River gezeigt. Auch hier kann man von einem karnevalesken Verfahren sprechen, wenn die Toten zu sprechen beginnen und durcheinander reden, ohne das einem der vielen Sprecher das letzte Wort vorbehalten bleibt.

Auch Panizzas Krankengeschichte, als Literatur gelesen, ist in diesem Sinne karnevalesk, wenn die Stimmen des Patienten, des Psychiaters und des Dichters einander durchdringen und die klare Unterscheidung von ›gesund‹ und ›krank‹ aufgehoben erscheint.

Bachtin selbst bezieht sich auf die Romane von Dostojewskij, zum Beispiel auf die Figur des Mörders Raskolnikow aus Schuld und Sühne, dem die Greisin, die er getötet und ausgeraubt hat, des Nachts im Traum erscheint.

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Raskolnikows Traum»Er stand über sie geneigt. ›Sie fürchtet sich‹, dachte er, löste die Axt leise aus der Schlinge und schlug auf den Scheitel der Greisin ein, einmal und noch einmal. Aber seltsam: trotz dieser Schläge rührte sie sich gar nicht, als wäre sie aus Holz. Er erschrak, neigte sich tiefer und begann sie zu betrachten; aber sie hielt ihren Kopf noch tiefer. Daraufhin krümmte er sich ganz zum Fußboden hinunter und blickte ihr von unten ins Gesicht, blickte und erstarb: die alte Frau saß da und lachte. Sie wurde von einem leisen, unhörbaren Lachen geschüttelt und nahm sich sehr zusammen, daß er sie nicht hört. Plötzlich war ihm, als hätte sich die Tür zum Schlafzimmer ein wenig geöffnet und als würde auch dort gelacht und geflüstert. Rasende Wut ergriff ihn. Er begann, aus vollen Kräften die Greisin auf den Kopf zu schlagen, doch mit jedem Schlag der Axt wurde das Lachen und Flüstern aus dem Schlafzimmer immer lauter und lauter, die alte Frau aber schaukelte geradezu vor Lachen. Er wollte weglaufen, doch die Diele ist schon voller Menschen, die Türen auf die Treppe stehen auf, auf dem Treppenabsatz auf der Treppe und weiter unten: überall Leute, Kopf an Kopf. Alle schauen, aber sie sind ganz still und warten, sie schweigen… Sein Herz krampft sich zusammen, die Beine bewegen sich nicht, sind angewachsen… Er wollte aufschreien – und wachte auf.«

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Die Logik des TraumsRaskolnikows Traum ist im Modus einer internen Fokalisierung erzählt, das heißt es wird die Sicht des Protagonisten geschildert. In einer Mitteilung seiner Gedanken, einem inneren Monolog, der in direkter Rede erzählt ist, wird diese Perspektive unterstrichen: »›Sie fürchtet sich‹, dachte er.« Indem aber dieser innere Monolog eine Spekulation über die Gedanken einer anderen Person ist, der Greisin, macht sich hier bereits eine fremde Instanz bemerkbar. Diese erhält nun eine eigene Stimme; ihr Gelächter ertönt, und es wird schließlich von dem Flüstern und Lachen einer unabsehbaren Menge von Menschen begleitet.

Diese Vielstimmigkeit (Polyphonie), so Bachtin, ist ein karnevaleskes Phänomen. Es verbindet sich hier mit der Logik des Traums.

Wer, so könnte man fragen, ist eigentlich das Subjekt eines Traums? Ein Traum hat nicht nur eine Stimme, obwohl er von einem Subjekt geträumt wird. Diese Logik des Traums verhält sich genau analog zum Problem von Autorfunktion und Ego-Pluralität.

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Polyphonie

Bachtin gewinnt den Begriff der Polyphonie aus seiner Lektüre Dostojewskijs. Es geht ihm zunächst darum, eine bestimmte Schreibweise zu untersuchen, die sich vor allem in der literarischen Gattung des Romans beobachten läßt.

Zugleich aber findet er Momente des Karnevalesken und der Vielstimmigkeit in sehr verschiedenen Texten wieder. Mehr und mehr stellt sich bei ihm daher die Frage, ob Polyphonie nicht als ein allgemeineres Kriterium von Literatur gelten kann.

Dabei entdeckt Bachtin verschiedene Verwendungsformen von Worten, denen eine sehr grundlegende Bedeutung zukommt.

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Drei Typen des Wortes

Bachtin unterscheidet drei Typen des Wortes:

• das gegenständlich gerichtete Wort (Worte, die eine Sache mitteilen)• das objekthafte Wort (Worte, die selbst als Sache mitgeteilt werden)• das dialogische Wort (Worte, die Bestandteil mehrerer Mitteilungen

gleichzeitig sind; Beispiele: Ironie, Parodie, Zitat etc.)

Letztlich sind dies aber wohl drei verschiedene Aspekte von Worten,

die nicht unabhängig voneinander vorkommen und einander nicht

ausschließen. Diese drei verschiedenen Aspekte werden nur jeweils

auf verschiedene Weise und unterschiedlich stark ausgeprägt.

Bachtin geht von einer grundsätzlichen Dialogizität des Wortes aus.

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Das dialogische Prinzip

»Das Wort ist kein Ding, sondern das ewig bewegte, sich ewig verändernde Medium des dialogischen Umgangs. Ein einzelnes Bewußtsein, eine einzelne Stimme ist ihm niemals genug. Das Leben des Wortes besteht im Übergang von Mund zu Mund, von Kontext zu Kontext, von Kollektiv zu Kollektiv, von Generation zu Generation. Dabei bleibt das Wort seines Weges eingedenk. Es vermag sich nicht restlos aus der Gewalt jener Kontexte zu lösen, in die es einst einging.

Jedes Mitglied eines Sprechkollektivs findet das Wort nicht als ein neutrales Wort der Sprache vor, das von fremden Bestrebungen und Bewertungen frei ist, dem keine fremden Stimmen innewohnen. Nein, es empfängt das Wort von einer fremden Stimme, angefüllt mit dieser fremden Stimme. In seinen Kontext kommt das Wort aus einem anderen Kontext, durchwirkt von fremden Sinngebungen. Sein eigener Gedanke findet das Wort bereits besiedelt.« (Bachtin, S. 129f.)

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Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman

Die Philosophin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva hat Bachtins Prinzip des Dialogischen bzw. der Dialogizität umformuliert als ein Prinzip des Schreiben-Lesens:

»[D]as ›literarische Wort‹ [ist] nicht ein Punkt (ein feststehender Sinn) [...], sondern eine Überlagerung von Text-Ebenen, ein Dialog verschiedener Schreibweisen: der des Schriftstellers, der des Adressaten [...], der des gegenwärtigen oder vorangegangenen Kontextes.Indem er den Begriff Wortstatus [...] einführt, stellt Bachtin den Text in die Geschichte und die Gesellschaft, welche wiederum als Texte angesehen werden, die der Schriftsteller liest, in die er sich einfügt, wenn er schreibt. Die Diachronie verwandelt sich in Synchronie, und im Lichte dieser Verwandlung erscheint die lineare Geschichte als eine Abstraktion; die einzige Möglichkeit für den Schriftsteller, an der Geschichte teilzunehmen, besteht nun im Überschreiten dieser Abstraktion durch ein Schreiben-Lesen (une écriture-lecture)«.

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»Schreiben-Lesen«

Kristevas Begriff des Schreiben-Lesens ist doppeldeutig.

• Einerseits wird damit hervorgehoben, daß literarische Texte als ein Prozeß des Schreibens aufgefaßt werden können, durch den vorangegangene Texte gelesen werden. Schreiben und Lesen bilden hier eine Einheit: Gemeint ist nicht, daß ein Text sich einen früheren Text zum Gegenstand macht (dies wäre nur das, was Bachtin unter einem ›objekthaften Wort‹ versteht). Vielmehr geht es darum, daß eine sprachliche Äußerung aus einem früheren Kontext in die eigene Äußerung einwandert und dort einen veränderten Sinn erhält.

• Andererseits meint die Einheit von Schreiben und Lesen, daß Texte als Prozeß des Schreibens keine geschlossene Struktur bilden, sondern daß das Lesen an den Texten mitarbeitet. Wenn wir zum Beispiel den Versuch unternehmen, Panizzas Text als den eines Dichters zu lesen, dann arbeitet unsere Lektüre gewissermaßen an diesem Text mit.

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Intertextualität

In diesem Schreiben-Lesen geht es, so argumentiert Kristeva, nicht einfach nur um eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjektinstanzen (Intersubjektivität). Es handelt sich vielmehr um ein Verhältnis zwischen Texten. Dafür schlägt sie den Begriff der »Intertextualität«vor:

»[J]eder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen.«

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Wie beziehen sich literarische Texte auf andere Texte?

Die Beziehung literarischer Texte auf andere Texte ist nicht rein äußerlich. Das heißt sie stellt sich nicht in erster Linie als eine Text/Kontext-Beziehung dar, denn literarische Texte erweisen sich ja gerade als dekontextualisiert. Im Vergleich zu anderen sprachlichen Äußerungen erscheinen sie als herausgerissen aus Handlungszusammenhängen.

›Intertextualität‹ ist paradoxerweise ein Phänomen, das literarischen Texten innewohnt. Bachtin beobachtet dies als eine Karnevalisierung der Literatur. Dies bedeutet: Eine Vielfalt von Instanzen kommt in einem Text zu Wort – man denke an das Stimmengewirr in Raskolnikows Traum. Diese Vielfalt läßt sich nicht auf einen Nenner bringen, etwa den einer ›Autorintention‹. Es geht darum, diese verschiedenen Instanzen und Texte in dem Verhältnis zu bestimmen, das sie in einem literarischen Text zueinander einnehmen.

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Texte und Folien im Netz unter:

www.uni-erfurt.de/literaturwissenschaft/

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