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Workshop: Einführung in die Technikdidaktik (2016)
Dr. Martin Binder – DGTB 1
Einführung in die Technikdidaktik
Workshop am Landesinstitut für Pädagogik und Medien des Saarlandes
Abteilung Arbeitslehre
Termin: 26.02.2016
Referent Dr. Martin Binder
Pädagogische Hochschule Weingarten, Deutsche Gesellschaft für Technische Bildung e. V.
Inhalt
1. Zum Gegenstand der Technikdidaktik .............................................................................................. 2
Der Technikbegriff ......................................................................................................................................... 2
Merkmal 1: Künstlich hergestellte Gegenstände ................................................................................................. 2
Merkmal 2: Bedürfnis und Abstraktion ................................................................................................................ 2
Merkmal 3: Besondere Formen des Handelns ..................................................................................................... 3
Merkmal 4: Verbindung von Handlung und Gegenstand ................................................................................... 3
Die Technikdefinition von Tuchel .......................................................................................................................... 4
Übung: Technik erfassen .............................................................................................................................. 4
Das Artefakt............................................................................................................................................................ 4
Bedarf und Abstraktion ......................................................................................................................................... 4
Besondere Formen der Handlung ......................................................................................................................... 5
Verbindung von Handeln und Gegenstand .......................................................................................................... 6
Technik als mehrdimensionales Phänomen ............................................................................................... 7
Das dreidimensionale Modell von Ropohl ............................................................................................................ 7
Der Kompromiss als technisches Charakteristikum ............................................................................................. 8
Analyse soziotechnischer Zusammenhänge ........................................................................................................ 9
Übung: Soziotechnische Verflechtungen erkennen ................................................................................. 10
2. Intentionen und Ziele eines Unterrichts über Technik .................................................................... 10
Intentionen Technischer Bildung ............................................................................................................... 11
Ziele Technischer Bildung ........................................................................................................................... 12
Zu den Inhalten Technischer Bildung ........................................................................................................ 14
3. Theorie-Praxis-Verschmelzung in Zugangsthemen ......................................................................... 14
Praxis und Theorie als notwendige Zugänge zu Technik.......................................................................... 15
Theorie-Praxis-Verknüpfung als Bildungszugang ..................................................................................... 15
Der Ansatz des Zugangsthemas ................................................................................................................. 16
4. Literaturverzeichnis ........................................................................................................................ 17
Workshop: Einführung in die Technikdidaktik (2016)
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1. Zum Gegenstand der Technikdidaktik
Was ist Gegenstand Technischer Bildung? Eine vermeintlich einfach zu beantwortende Frage, die nur
einfach zu beantworten ist, wenn ihre Komplexität unbeachtet bleibt. Technikunterricht hat auch „die
Technik“ zum Gegenstand, so wie der Deutschunterricht sich mit der deutschen Sprache beschäftigt, der
Mathematikunterricht mit der Mathematik usw.
Wenn Gegenstand von Technikunterricht „die Technik“ ist, müsste nur noch geklärt werden, was unter
Technik verstanden wird. Dass ein Bildungsgegenstand nicht nur auf der Objektseite liegen kann,
sondern die Subjektseite nicht nur beachtet werden, sondern wesentlicher Ausgangspunkt sein muss,
soll zunächst zurückgestellt werden.
Der Technikbegriff
In allen Ansätzen, Technik zu definieren, sind einige Konstanten erkennbar. Zunächst wird sie als
menschliches Phänomen beschrieben, als Kulturbereich. Diese Zuordnung ist nicht randständig, sondern
elementar: Technik entsteht aus menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen heraus. Sie ist das
Ergebnis geistig-theoretischer und praktisch-realisierender Leistungen. In der Technikdidaktik wird daher
formuliert: Technik ist ein Bereich eigenständiger Theorie und Praxis.
Was ist nun aber das Markante am Kulturbereich Technik?
Merkmal 1: Künstlich hergestellte Gegenstände
Technik ist überall dort im Spiel, wo Gegenstände eingesetzt werden, die so in der Natur nicht vor-
kommen. Maschinen, Werkzeuge, Geschirr, Smartphones, Papier, Brot, Kleidung – aber auch Essbirnen,
ein Weinberg oder Tiere, die aus Züchtung hervorgegangen sind. Sogar der aus künstlicher Befruchtung
hervorgegangene Mensch enthält gegenständlich-technische Aspekte1.
Merkmal 2: Bedürfnis und Abstraktion
Die Tafelbirne2 muss „in die Welt“ kommen. Dazu bedarf es der geistigen Fähigkeit, die Umwelt als etwas
Gegebenes und zugleich Veränderbares zu verstehen. Am Beginn von Technik steht immer ein Bedürfnis,
das eine gedankliche Auseinandersetzung auslöst. Wo es nicht direkt befriedigt wird, wo der Mensch
Mittel oder systematische Verfahren gezielt einsetzt, sprechen wir von Technik. Ein Merkmal, mit dem er
sich von Tieren unterscheidet, ist die Tiefe und Komplexität der „Umwege“, die er dabei geht: Er löst
Probleme aus der Situation, in der sie gegeben sind und abstrahiert sie. An einem Beispiel beschrieben:
Ich habe Hunger und kann ihn nicht mit etwas stillen, was unmittelbar vorhanden ist. Ich überlege, wie ich
mein Bedürfnis mittelbar, also unter Einsatz gegenständlicher Mittel oder bestimmter Verfahrensweisen
umsetzen kann (zum Einkaufen fahren, einen Stock suchen, mit dem man einen Apfel vom Baum angeln
kann usw.). Weil solche Situationen das Leben vieler Menschen prägen, entwickeln sich Technikbereiche,
die sich darauf spezialisieren, unterschiedlichste Lösungen zu entwickeln (Entwicklung und Herstellung
von Verfahren und Gegenständen in den Bereichen Pflanzen- und Tierzucht, Lagerhaltung, Landwirt-
schaft, Nahrungsmittel, Vertrieb, Überprüfung, Zubereitung usw.). In den technischen Gegenständen und
1 Der Mensch wird in diesem Zusammenhang nicht mit künstlich hergestellten Gegenständen gleichgesetzt. Er wird
durch Manipulation seines Erbgutes aber sehr wohl zum Objekt gemacht. Leseempfehlung dazu: Fischer 2004 und Janich 2015. 2 An der Kultivierung der Ess- aus der Holzbirne entwickelt der Philosoph Simmel wesentliche Merkmale
menschlicher Kultur (s. Simmel 1997, S. 354).
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Verfahren zeigt sich die Abstraktion aus der unmittelbaren Bedarfssituation exemplarisch: Sie müssen
entwickelt und hergestellt werden, lange bevor der Bedarf entsteht.
Merkmal 3: Besondere Formen des Handelns
Bei ihren problemlösenden Handlungen gehen Menschen meistens nicht irgendwie vor, sondern
mittelbar und systematisch. Sie erfassen die Umgebungsbedingungen, suchen nach Maßnahmen, die den
Erfolg absichern, überprüfen den Prozess. Systematisches Vorgehen, das Vorbereiten von Arbeitsplätzen,
vorgeschaltete Übungsphasen, Prüfvorgänge: All das ist kein Selbstzweck, sondern dient dem sicheren
Erreichen des angestrebten Ziels. Das alles sind Handlungen, die typisch für Technik (und auch: für den
Menschen) sind und die als „technisches Handeln“ bezeichnet werden.
In einem erweiterten Verständnis ist alles systematische, optimierte, durch Planung und bewusstes
Durchführen operationalisierte Vorgehen „technisch“ – auch wenn keine Gegenstände eingesetzt
werden. Wir sprechen dann von der Argumentationstechnik in der Rhetorik, von der Stimmtechnik im
Gesang oder von der Problemlösetechnik Alltagssituationen.
Merkmal 4: Verbindung von Handlung und Gegenstand
Die meisten Technikdidaktiker bevorzugen den sogenannten „Technikbegriff mittlerer Reichweite“. Nicht
ein künstlich hergestellter Gegenstand allein (enge Begriffsverwendung, auch „Sachtechnik“ genannt)
zeigt das Wesentliche von Technik, auch nicht nur das kunstvolle, eingeübte und systematische Vorgehen
(weiter Technikbegriff). Erst, wenn Gegenstände zum Erreichen eines Zwecks in der beschriebenen Art
und Weise eingesetzt werden, wenn Absicht und Gegenstand in einer Handlung „zusammenkommen“,
wird von Technik gesprochen3.
Diese Verknüpfung von Absicht und Gegenstand führt zu Handlungsformen, die charakteristisch für
Technik sind. Ordnet man sie produktontologisch, entlang des Lebenszyklus´ eines Artefaktes also,
werden vier Handlungszusammenhänge unterschieden:
- Entwicklung und Konstruktion: Bestimmen des Zwecks, Abstrahieren von Aufgaben und
Funktionen, Auswählen geeigneter Wirkprinzipien und Werkstoffe, Formgebung und
Dimensionieren aller Komponenten, Festlegen erforderlicher Oberflächenbeschaffenheit und
Toleranzen, Kalkulation der Kosten usw.
- Herstellung:
Planung von Arbeitsorganisation und –schritten, Ausstattung der Arbeitsstationen
(Werkzeuge, Maschinen, Hilfsmittel, Vorrichtungen), Entwickeln von Vorrichtungen, Mess-/
Prüfeinrichtungen, Sicherheitsmaßnahmen usw.
Vorbereitung: Einrichten der Arbeitsumgebung, Einüben des sicheren Umgangs mit
Maschinen und Werkzeugen usw.
Durchführung und Bewertung: Fertigung, Erfassen der Qualität (Produkt und Prozess),
Optimierung usw.
- Nutzung/Bedienung: Inbetriebnahme, „sicherer Normalbetrieb“, Instandhaltung und
Instandsetzung usw.
3 Auch hier noch einmal Simmel: Er arbeitet heraus, welch grundlegende kulturelle Bedeutung das Einbeziehen der
äußeren Welt in die geistig-sittliche Entwicklung hat. „Wo keine Einbeziehung eines objektiven Gebildes in den Entwicklungsprozess der subjektiven Seele vorliegt, [...] mag sie Werte des höchsten Ranges in sich oder außer sich realisieren, aber es ist nicht der Weg der Kultur in deren spezifischem Sinne, den sie zurücklegt.“ (a. a. O. S. 368)
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- Auflösung: Ermitteln der Gefahren und Bedingungen, Entleeren von flüssigen und gasförmigen
Hilfsstoffen, Zerlegen nach Werkstoffen usw.
Die Technikdefinition von Tuchel
Eine sehr präzise und immer noch aktuelle Begriffsbestimmung stammt von Tuchel:
„Technik ist der Begriff für alle Gegenstände und Verfahren, die zur Erfüllung individueller oder gesell-
schaftlicher Bedürfnisse auf Grund schöpferischer Konstruktionen geschaffen werden, durch definierbare
Funktionen bestimmten Zwecken dienen und insgesamt eine weltgestaltende Wirkung haben.“ (Tuchel
1967, S. 24, Absatzgestaltung und Hervorhebungen: MB)
In Tuchels Definition finden sich die Gegenstandsdimension (Gegenstände), die Handlungsdimension
(Verfahren, Konstruktion) und die Zweckdimension, durch die die beiden ersten verbunden sind (Bedürf-
nis, Zweck). Ergänzend beschreibt er Voraussetzungen (Schöpfertum, die geistige Fähigkeit zur Abstrak-
tion eines Sachverhaltes zu Funktionen, das Definieren, also Abgrenzen eines Aspektes aus einem
undifferenzierten Ganzen) und ein Teil der Folgen (Gestaltung der Welt) alles Technischen.
Übung: Technik erfassen
Diese vier Merkmale können zur Analyse von Technik genutzt werden. Es wird hier empfohlen, eine
Technikanalyse an technischen Gegenständen zu üben. Sie eignen sich als Einstiegspunkt besonders gut,
weil sie in jeder Situation unseres Lebens verfügbar sind, und weil sie sichtbar sind: Man kann sie
betrachten und beschreiben, sich über konkrete Formen austauschen. Hier wird das beispielhaft an
einem Becher durchgeführt.
Das Artefakt
Der Becher besteht aus drei sichtbaren Komponenten
(Korpus, Griff, Boden; s. Abbildung 1). Griff und Boden
sind aus schwarzem Kunststoff, der Korpus ist aus
Metall.
Bedarf und Abstraktion
Der Becher wird genutzt, wo jemand Durst bzw. Lust
auf etwas zu trinken hat. Nun wird hier aber kein
beliebiges, sondern ein bestimmtes Trinkgefäß
betrachtet. In der Technik werden die Aufgaben, die
ein Gegenstand erfüllen soll, als „Funktion“ bezeich-
net4.
4 Wobei zwischen einem deskriptiven und einem teleologischen Funktionsbegriff unterschieden wird. Der
deskriptive unterscheidet einige wenige Grundfunktionen (Speichern, Wandeln und Transportieren von Stoff, Energie und Daten). Er ist besonders in den Ingenieurwissenschaften von Bedeutung, weil er in seiner extremen Abstraktion Spezialisten die Lösung technischer Probleme erleichtert. Der teleologische (von griechisch „telos“: Zweck, Ziel, Ende) beschreibt konkrete (nicht abstrakte) Aufgaben eines Gegenstands. Er wird oben ausgeführt.
Abbildung 1: Becher als Ausgangspunkt einer Technikbeschreibung
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Die Funktionen dieses besonderen Bechers sind:
Beschreibung der Funktion Technische Gestaltung
Aufbewahren einer Flüssigkeit. Hohlform aus einem wasserdichten Material.
Die Flüssigkeit ist ein Nahrungsmittel
für Menschen.
Form und Größe von Korpus und Griff lassen sich gut greifen. Am Rand
können Lippen gut ansetzen (Form, entgratete Kanten, Mundgefühl und
Geschmacksneutralität der Oberfläche). Der Werkstoff gibt keine
toxischen Stoffe ab und darf auch mit den eingefüllten Stoffen chemisch
nicht reagieren (bzw. nur so reagieren, dass keine unerwünschten
Beeinträchtigung entstehen).
Die Flüssigkeit ist heiß (oder kalt). Griff aus Werkstoff mit schlechten Wärmeleiteigenschaften.
Speichern der Temperatur der Flüssig-
keit.
Doppelwandiger Korpus, evt. mit vakuumiertem Hohlraum, Boden aus
Werkstoff mit schlechten Wärmeleiteigenschaften. Der Becher fasst mit
ca. 2 dl eine Menge, die getrunken werden kann, bevor die Flüssigkeit
zu stark abkühlt.
Der Becher soll gut zu reinigen sein,
auch in der Spülmaschine (Wärme,
Spülmittel).
Korpus aus rostfreiem Stahl (Korrosion, Säubern mit Stahlwolle oder
Putzmittel mit Schleifkörpern). Griff und Boden sind aus „Polypropylen-
Random-Copolymerisat schwarz“ – einer PP-Variante, die die
Bedingungen in einer Spülmaschine aushält und die beständig gegen
UV-Licht ist. Hier ist ein technischer Konflikt erkennbar: Zweckmäßig
wäre das Herstellen aus einem Material. Metall leitet Wärme aber sehr
gut, sodass das für Griff und Boden Kunststoff zweckmäßiger ist. Das
wiederum verkompliziert die Fertigung.
Becher soll eine bestimmte ästhetische
und haptische Anmutung haben.
Material mit steriler Anmutung, angenehmes Gefühl an Lippe und
Hand, schwarz und metallisch.
Becher soll in unterem Preissegment
angeboten werden.
Komponenten sind so gestaltet, dass sie sich in der Massenfertigung
verarbeiten lassen (s. u.).
Tabelle 1: Aufgaben und Gestaltungslösungen des Thermobechers
Besondere Formen der Handlung5
Die Temperaturspeicherung könnte auch mit Steingut erzielt werden, allerdings nicht so lange wie bei
diesem „Thermobecher“. Er ist daher besonders zweckmäßig in Situationen, in denen das Trinken eher
beiläufig geschieht, bei denen das Getränk einige Zeit unbeachtet stehen bleibt. Er eignet sich daher
besonders für Arbeitskontexte.
5 Wesentliche Aspekte der Handlungen mit dem Becher wurden bei der Beschreibung seiner Funktionen schon
eingeschlossen. Dass man die beiden Ebenen nicht scharf trennen kann, verdeutlicht, dass es sich hier um einen analytischen Zugang handelt. Er schafft eine künstliche, abstrakte Sicht auf den Becher, die die Gefahr enthält, die sinnhaften Beziehungen, ohne die dieser besondere Becher nicht verstanden werden kann, aus dem Blick zu verlieren.
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Neben den Nutzungshandlungen ist der Becher (nicht so offen
sichtbar) mit Handlungen seiner Entstehung und Auflösung
verbunden. Er wird entwickelt und hergestellt. Der Korpus ist so
geformt, dass er sich in einem Arbeitsschritt aus Blech tiefziehen
lässt. Eine Montageplatte ist mit dem Korpus kontaktgeschweißt –
ein Verfahren, das sich gut automatisieren lässt. Die Platte ist
oben abgeschrägt und unten in einem 90o-Winkel abgekantet. Der
Griff ist spritzgegossen (Verfahren der Massenproduktion) und
hat an der Innenseite einen Einschub, mit dem er auf die schräg
gestellte Lasche des Blechs aufgeschoben werden kann. Unten
„rutscht“ er dann auf die rechtwinklige Haltelasche, in der eine
Bohrung sitzt, durch die der Griff abschließend fixiert wird. Der
Boden ist über eine Presspassung aufgesteckt (und zusätzlich ver-
klebt oder verschweißt).
Die Formgebung der Baukomponenten richtet sich also nicht nur
nach größtmöglicher Gebrauchstauglichkeit, sondern nach der
Herstellung im Rahmen einer Massenproduktion. Außerdem ist
erkennbar, dass der Becher am Ende seiner Nutzungsphase nach Werkstoffen getrennt werden könnte:
Eine Schraube muss gelöst werden und der Griff kann demontiert werden. Durch diese Gestaltung wird es
verzichtbar, dass ein Kunststoff gewählt wird, der beim Einschmelzen des Stahls keine unerwünschten
Nebenwirkungen hat. Das Kleben des Bodens verstößt allerdings gegen diesen Zusammenhang.
In der Konstruktionstheorie wird von „Gestaltungsgerechtigkeiten“ gesprochen, wo ein Gegenstand
gezielt auf bestimmte Funktionen hin konstruiert wird: herstellungs-, belastungs-, nutzungs-, montage-,
recyclinggerechtes Gestalten. Es wird versucht, Bedingungen und Einflussgrößen, denen das Handeln mit
den Dingen unterliegt, möglichst exakt zu erfassen, Abläufe zu operationalisieren (in Teilschritte zerlegen
und zweckmäßig anordnen), Zusammenhänge zu mathematisieren, um sie messtechnisch erfassbar und
regelungstechnisch handhabbar zu machen.
Wo in der Technik vom Gestalten gesprochen wird, geht es also nur teilweise um Ästhetik. Vorrangig
geht es um das Entwickeln der konkreten Form aller Komponenten, incl. der Werkstoffwahl und der
Dimensionierung (Dicke des Materials, Geometrie des Querschnitts, sodass die auftretenden Kräfte
aufgenommen werden können).
Verbindung von Handeln und Gegenstand
Mehrere Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Gegenstand wurden bereits beschrieben. Die
Verfahrensweisen, die besonders in professionellen Zusammenhängen als „typisch technisch“ gelten –
also Operationalisierung, Algorithmisierung, Spezialisierung, Optimierung – sie beeinflussen das reale
Aussehen technischer Gegenstände maßgeblich. Sie wirken sich aber auch auf unseren Umgang mit ihnen
aus. Technik wird verbunden mit einer Art Versprechen auf Funktionssicherheit und Effektivität („Technik
fällt auf, wenn sie ausfällt“). Auf der Seite der Technikentstehung (Entwicklung, Konstruktion und
Herstellung) wird versucht, dieser Erwartungshaltung dadurch zu begegnen, dass möglichst alles
Nichtmessbare und Nichtberechenbare ausgeschlossen wird. Design wird in den Zuständigkeitsbereich
der „angewandten“ Kunst verlagert, unerwartbares Nutzerverhalten, persönliche Vorlieben oder soziale
Erwartungen werden als irrational und untechnisch ausgegrenzt. Dadurch wird Technik jedoch
wesentlicher Dimensionen beraubt.
Abbildung 2: Gestaltungsdetail Verbin-dungstechniken
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Technik als mehrdimensionales Phänomen
Zumindest in der westlichen Kultur dominiert das Technikverständnis von Ingenieuren (Kausalitäts-
versprechen6, Technik als Immer-wieder-Gelingen unter bestimmten Bedingungen), wie es gerade
beschrieben wurde. Sie erscheint als optimiertes Zusammenspiel von Stoffen, Kräften und Bewegungen.
Am Beispiel Auto:
Ein gut funktionierendes Auto muss mit möglichst geringem Energieverbrauch und mit möglichst wenig
Emissionen möglichst weit fahren. Um das zu erreichen, werden Motoren, Bremsen und Lenkungen mit
größtem Wirkungsgrad entwickelt und verbaut, Sensoren erfassen automatisch relevante Rahmen-
bedingungen, Sicherungssysteme werden unabhängig vom Nutzer aktiviert und durch Redundanzen
gegen den Totalausfall abgesichert.
Dass damit nicht erklärt werden kann, wieso wir in einer „Autogesellschaft“ leben, liegt auf der Hand. In
dieser Beschreibung sind zentrale Begriffe eindimensional verwendet. Wenn von „guter Funktionsweise“
und von „zentralen Rahmenbedingungen“ gesprochen wird, wird stillschweigend vorausgesetzt, dass sich
die Funktionen und Rahmenbedingungen auch ohne den Menschen vollständig beschreiben lassen
(Stoffe, Kräfte, Bewegungen sind physikalische Größen, keine humanen). In dieser simplen Sicht
funktioniert ein Auto genauso gut auf einem Prüfstand wie in der alltäglichen Verwendung. Dass
Menschen aber nicht das Auto mit dem höchsten Wirkungsgrad fahren, sondern oft extrem
unzweckmäßige (Stadtbewohner fahren Geländewagen, Nordamerikaner mit ihren engen Geschwindig-
keitsbegrenzungen Sportwagen), dass die Gestaltung des „Gesichts“ eines Autos und seines Interieurs viel
wirksamer auf Kaufentscheidungen sind als andere Merkmale – all das wird ausgeblendet. Ein Auto, das
nicht gefahren wird, weil es in diesen Punkten „versagt“, funktioniert genauso wenig wie eines, das mit
defektem Motor in der Garage steht.
Mit einer engen „Ingenieursperspektive“ gehen keineswegs randständige Zusammenhänge verloren,
sondern wesentliche. Ein Auto funktioniert nur, wenn es individuell-menschliche Bedürfnisse (Mobilität,
Bequemlichkeit, Vertrautheit, Sicherheitsgefühl, Schutz gegen Witterung, Entspannung durch Musik,
ästhetisches Empfinden, Wirksamkeitserfahrungen u. v. m.) genauso erfüllt wie soziale (institutionelle
Absicherung der massenhaften Nutzung von Autos, Organisation des Autoverkehrs über Regeln,
Kommunikationssysteme und Infrastruktureinrichtungen, soziale Kommunikation über Statussymbole…).
Das dreidimensionale Modell von Ropohl
Jede Technik hat, neben der rein materiellen (naturalen) Dimension eine humane und eine soziale
Dimension. Ohne menschliche Bedürfnisse und Eigenheiten gäbe es keine Technik – deshalb steht die
humane Dimensionen gewissermaßen am Anfang jeder Technik. Sie ist unauflösbar in Lebens-
zusammenhänge eingebunden, steht in engen sozialen Verflechtungen. Jedes einzelne Bauteil eines
Autos ist gesellschaftlichen Konventionen unterworfen. Normen sind nichts anderes als institutionell
verankerte Regeln. Sie können nicht aus einer physikalischen oder chemischen Eigenschaft abgeleitet
werden, sondern stellen eine soziale Übereinkunft dar.
6 Halfmann formuliert abstrakt: „Die Strukturierung der Umwelt von Systemen im Medium der Kausalität – also über
die Erwartung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen – vollzieht sich über die Form von Technik.“ (Halfmann 2003, S. 4) Interessant ist daran, dass Kausalität („Immer wenn, dann…“) in menschlichen Lebenssituationen in aller Regel nicht gegeben ist. Soziale Interaktionen sind komplex und nicht kausal verknüpft. Halfmann vermutet, dass Technik gerade deswegen so allmächtig scheint, weil sie eine Garantie auf Gelingen suggeriert, wo sie gar nicht möglich ist.
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Der Ingenieur und Technikphilosoph Ropohl stellt die drei Dimensionen von Technik in einem mittlerweile
weit verbreiteten Modell dar (vgl. die folgende Abbildung). Wer Technik in ihren Entstehungs-, Verwen-
dungs- und Folgezusammenhängen verstehen möchte, muss sie in den drei Dimensionen betrachten.
Abbildung 3: Dimensionen und Erkenntnisperspektiven der Technik (in: Ropohl 2009, S. 32)
Die humane Dimension spiegelt die menschliche Herkunft der Technik wieder: Nur der Mensch
distanziert sich in diesem Maße von seiner Umwelt, durchdringt sie geistig und gestaltet sie nach seinen
Bedürfnissen und Wünschen. Die soziale Dimension hat ihren Ursprung in den gesellschaftlich
organisierten Lebenssituationen, in denen Technik entsteht: Ohne Kommunikationsbedürfnis kein Papier,
kein Telefon, keine Zeichensysteme; ohne Moralvorstellungen keine Kleidermoden usw. Die naturale
Dimension ergibt sich aus der Tatsache, dass unser Leben in einer natürlich gegebenen Welt stattfindet.
Jeder technische Gegenstand wird aus Materie hergestellt und unterliegt den physikalischen und
chemischen Wirkstrukturen. Zusammenhänge der naturalen Dimension sind kausaler Art und können
daher relativ gut mathematisiert werden (Zustände können in Zahlenwerten und Zusammenhänge in
Funktionsgleichungen angegeben werden). Die naturale Dimension ist, verglichen mit der humanen und
der sozialen, klar erfassbar und vergleichsweise einfach zu verstehen. Sie ist daher die bevorzugte
Betrachtungsdimension der Ingenieure (aber hoffentlich nicht vieler Techniklehrer*innen).
Ropohl ordnet den Dimensionen Perspektiven zu (äußere, strahlenförmig angeordnete Felder im
Schema), aus denen heraus spezifische Sachverhalte und Zusammenhänge betrachtet werden können.
Am Beispiel einer Photovoltaikanlage beschrieben: Politologisch kommt die Entscheidung des
Gesetzgebers in den Blick, regenerative Energieträger zu fördern – auch und gerade zu einem Zeitpunkt,
als die Technik noch nicht ausgereift und wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig war. Aus der Sicht der
Ingenieurwissenschaften werden die Wirkstrukturen der Anlage betrachtet, die physikalischen
Bedingungen erfasst, es werden technische Alternativen entwickelt und bewertet. Die Soziologie
interessiert daran, dass Voraussetzung für solche Anlagen in vielen Fällen der Besitz eines
Einfamilienhauses ist, sodass aus der Verteilung von Solaranlagen auch soziale Strukturen abgelesen
werden können. Außerdem gehört es in bestimmten sozialen Milieus zum „guten Ton“, regenerative
Energieträger zu fördern, sodass man sich über den Besitz einer Solaranlage dieser Gruppe sichtbar
zuordnen kann (Distinktionsfunktion von Technik). Aus Sicht der Ökologie…
Der Kompromiss als technisches Charakteristikum
Charakteristisch für jede Technik ist der Kompromiss bei Entscheidungsprozessen. Am Beispiel eines
Notebooks: Es soll möglichst klein, flach und leicht sein, eine lange Akkulaufzeit haben, einen DVD-
Brenner und viele Steckplätze. Nun konfligieren die Anforderungen der Größe und des Gewichts aber
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gleich mehrfach mit den anderen: Lange Akkulaufzeiten müssen nach wie vor mit Größe und Gewicht
„erkauft“ werden, ein physisches Laufwerk braucht Platz und wiegt vergleichsweise viel. Ultrabooks sind
mittlerweile so flach, dass Steckplätze für Ethernet- oder VGA-Kabel rein geometrisch kaum mehr
untergebracht werden können. Die Produkte spiegeln diesen Entscheidungskonflikt wieder bzw. er ist in
ihnen erkennbar. Seit Flashspeicher technisch ausgereift und billig sind, kann auf ein physisches Laufwerk
verzichtet werden. Nutzer bemerken die Nachteile, die damit verbunden sind, oft erst, wenn sie Daten
von einer DVD einspielen wollen.
Sachs beschreibt den hier geschilderten Zusammenhang als Handeln im Interessens- und Zielkonflikt.
Die Ziele „handliches Format“ und „größtmögliche Performance“ können nicht zur Gänze gleichzeitig
erfüllt werden. Und eine wesentliche Einflussgröße wurde noch gar nicht erwähnt: die Ökonomie. An ihr
kann der Interessenskonflikt besonders gut aufgezeigt werden, weil Nutzer ökonomische Interessen
haben, die denen der Anbieter kontradiktorisch entgegengesetzt sind. Und schließlich sind von der
Nutzung eines Produktes zahlreiche Personen indirekt betroffen. Man denke an die gigantischen
Warenströme, die täglich durch die Welt rollen oder an die sozialen und ökologischen Bedingungen, unter
denen Rohstoffe abgebaut und Produkte hergestellt werden. Dadurch kommen zahlreiche Interessen ins
Spiel, die vom Nutzer selbst nicht bedacht werden.
Ein technisch gebildeter Mensch sollte in der Lage sein, solche Verflechtungen zu analysieren. Sie
existieren in jedem Produkt und in jedem seiner Komponenten: im Brötchen für 10 Cent vom Discounter,
im Markensneaker, in der PET-Getränkeflasche, in einer Radmutter am Pkw, im Eurostecker am Haar-
trockner usw. Unter einem solch umfassenden Blick wird häufig von „Soziotechnik“ gesprochen7.
Analyse soziotechnischer Zusammenhänge
Zur Analyse soziotechnischer Verflechtungen kann die „Aktor-Netzwerk-Theorie“ (ANT) herangezogen
werden. Sie erfasst die Einheit aus Mensch, Objekten und sozialen Strukturen, die in jeder Nutzung
von Technik gegeben ist. Es kann nicht immer bestimmt werden, inwieweit die Person, das technische
System oder die soziale Ordnung handlungsbestimmend ist. Wieder ein Beispiel aus unserer
„Autogesellschaft“: Jeder einzelne Autofahrer ist verantwortlich für den Feinstaub, den er erzeugt? Oder
sind es die Manager und Ingenieure, die Motoren nicht emissionsärmer hinbekommen? Aber sind nicht
sie alle eingebunden in gesellschaftliche Strukturen, die ihr Handeln weitgehend bestimmen? Wer die
horrenden Mieten in den Städten nicht bezahlen kann, muss immer weitere Wege zur Arbeit auf sich
nehmen. Und selbst, wenn er einen arbeitsnahen Wohnort wählt: In einer Gesellschaft des „Heuern und
Feuern“ wird man oft nicht umhin kommen, große Fahrwege zurückzulegen. Auch die Ingenieur*innen
sind nicht frei in ihren Entscheidungen. Sie müssen letztlich die Anforderungen erfüllen, die im
Pflichtenheft stehen. Oder die steuerliche Sonderbehandlung von Dieselkraftstoff: Wenn er deutlich
günstiger ist, obwohl er große Feinstaubemissionen erzeugt, wer trägt dann letztlich die Verantwortung
für Zustände wie beispielsweise die jüngsten in Stuttgart?
Um solche Vernetzungen offenzulegen, werden vier Analyseschritte vorgeschlagen (vgl. Degele 2002,
S.126 ff., besonders S. 134):
(1) Festlegen der Analyseeinheit: „soziotechnisches Netzwerk“ aus Menschen, Produkten, Institutio-
nen und großtechnischen Systemen (Infrastruktureinrichtungen).
(2) Bestimmen der „Aktanten“: Menschen, Organisationen, Produkte und soziale Regelwerke.
7 Zur Herkunft und Reichweite des Begriffs „Soziotechnik“: Binder 2013
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(3) Beschreiben der Vernetzungen: Der Mensch mit seinen Absichten, Organisationen mit eigenen
Interessen, die sozialen Regularien und Strukturen und die Gegenstände, die in Handlungen
eingesetzt werden, bilden eine Einheit, die nicht einfach die Summe aller Teile ist. Mensch und
Waffe ergeben nicht unabdingbar einen Mord. Es entsteht aber eine Bereitschaft, die Waffe in
einer bestimmten Situation zu nutzen, wenn sie vorhanden ist. Gesellschaftlich kann sogar eine
Erwartungshaltung entstehen, die aus der bloßen Verfügbarkeit eines technischen Mittels
entsteht (s. die aktuelle Diskussion über den „Kleinen Waffenschein“ oder die zur moralischen
Verpflichtung, pränatale Tests auf Gendefekte durchführen zu lassen, um die Geburt von
Menschen mit Behinderungen zu vermeiden).
(4) Variieren der Beobachterperspektive: In diesem Schritt wird unter verschiedener Sichtweise auf
das Netzwerk geschaut. Worin unterscheiden sich die Interessen und Ziele des Nutzers, des
Konstrukteurs, des Verkäufers, des Anwohners usw.? Hier kann die Übersicht von Ropohl als
heuristisches Instrument genutzt werden. Was sieht, wenn er auf das Netzwerk blickt, eine
Ingenieurin, ein Physiker, eine Psychologin, ein Soziologe, eine Anthropologin usw.
Übung: Soziotechnische Verflechtungen erkennen
Gute Übungsgegenstände sind das Auto, das Skateboard, das Smartphone, das Wohnhaus, das Rennrad,
Markenkleidung, ein „Kobold“-Staubsauger der Firma Vorwerk – technische Systeme also, bei denen die
soziale Dimension besonders offensichtlich ist. Eine Ausformulierung an dieser Stelle würde den Rahmen
sprengen. Es sei verwiesen auf meinen Beitrag „Der soziologische Blick auf Technik“, der in der zweiten
Ausgabe von „tu: Zeitschrift für Technik im Unterricht“ (2016) erscheinen wird.
2. Intentionen und Ziele eines Unterrichts über Technik
Etwas sperrig wird hier die Formulierung „Unterricht über Technik“ verwendet. Sie taucht in der
Technikdidaktik auf, wo neutral in Bezug auf landespolitische oder fachdidaktische Ansätze diskutiert
werden soll. Einen ausdrücklichen „Technikunterricht“ gibt es nur in einigen Bundesländern, während sich
Technik als Unterrichtsinhalt in allen Curricula wiederfindet. Im Fach „Arbeitslehre“ beispielsweise sind
zahlreiche technische Inhalte integriert. Sie werden dort unter dem Leitbegriff „Arbeit“ betrachtet: Wie
beeinflusst Technik die Arbeitswelt? Welche besonderen Eigenheiten bringen „technische“ Berufe mit
sich?
Dabei gehen aber notwendige Merkmale und Beschreibungs-
kategorien von Technik verloren. Die sogenannte „soziotechnische
Kontaktquote“, also die Situationen, in denen Menschen
technische Systeme einsetzen, liegt bei über 90 % im Bereich der
Verwendung von Technik – und die findet am häufigsten in
privaten und erst in zweiter Linie in öffentlichen und beruflichen
Lebenszusammenhängen statt.
Grundsätzlich müssen sich Lehr- und Lernangebote, die das
Prädikat „Bildung“ beanspruchen, zweifach legitimieren: Vor den
Sich-Bildenden und vor der Gesellschaft. In Abbildung 4 wurde das
modellhaft dargestellt. Zwei Akteure sind unweigerlich gegeben:
Das Bildungssubjekt und der Bildungsanbieter.
Umwelt O
O
O
O
O
O
US
O
O S O
AB
O
Abbildung 4: Zusammenhang zwischen Subjekt, Objekt und Bildungsakteur
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Das Subjekt muss sich nicht legitimieren, ihm wird ein unveräußerlicher Selbstwert zugeschrieben8. Kinder
und Jugendliche (S= Subjekte) entwickeln sich und werden sozialisiert in „ihrer“ Umwelt (US). Sie ist
jedoch auf deren Lebenswelt begrenzt, die selbst wiederum Teil der gesamten Umwelt ist. Das wird
wichtig, wo Ziele formuliert werden, die über den eigenen Lebenszusammenhang hinausweisen. Der
Begriff der Umwelt ist hier umfassend gemeint, d. h. er wird auf alle natürlichen, sozialen und personalen
„Elemente“ bezogen.
Der Bildungsakteur (AB) greift bestimmte Sachverhalte aus der Umwelt heraus und macht sie zu
Bildungsgegenständen (oder Objekte; O). Sie werden sinnvollerweise dem Erfahrungsbereich der
Subjekte entlehnt, müssen aber über diesen hinausführen: Weil die Welt größer ist als eine individuelle
Lebenswelt; weil die aktuelle Welt aus ihrer Vergangenheit heraus erklärt werden sollte und sich in eine
zukünftige entwickelt; weil auch innerhalb einer Lebenswelt unterschiedliche soziale Systeme
nebeneinander bestehen, die ebenfalls geistig durchdrungen werden sollen. Der (grau unterlegte)
Ausschnitt aus der Wirklichkeit, den der Bildungsakteur auswählt und an dem sich der Bildungsprozess
vollzieht, spiegelt immer seine individuelle Auswahl dar. Er kann sich dabei an den Interessen der
Gesellschaft orientieren, an denen des Kindes, oder aber an seinen eigenen Interessen und Vorlieben.
Durch die Kombination aus Freiheit in der Entscheidung des Bildungsakteurs, unveräußerlichem
Eigenwert des Bildungssubjektes und Schulpflicht entsteht eine besondere Legitimationspflicht für alle
Akteure, die in ds Bildungswesen involviert sind. Legitimiert werden müssen die ausgewählten Lern-
gegenstände, die Absichten und Zielsetzungen und die Art und Weise des Umgangs mit den Kindern und
Jugendlichen.
Intentionen Technischer Bildung
Unterricht über Technik zielt darauf ab, wesentliche Merkmale und Kategorien von Technik zu erarbeiten
– das ist die Objektseite Technischer Bildung. In den Intention von Technikunterricht findet sich, wie in
anderen Fächern auch, Lernen in den Dimensionen Herz, Kopf und Hand (Pestalozzi). Das Herz steht dabei
nicht nur für emotionale Zugänge, sondern auch für Einstellungen, Überzeugungen und Haltungen.
Unter Intentionen werden hier grundlegende Bildungsabsichten verstanden. Sie stellen „großräumige“
Orientierungen dar, dienen als Markierungspunkte am Planungshorizont, auf die hin die Ziele ausgerichtet
werden können. Lernziele sind konkreter, sie formulieren das, was in einem Unterricht unabdingbar
erreicht werden soll. Um diese Verbindlichkeit zu schaffen, müssen sie so gut wie möglich
operationalisiert werden: Möglichst präzise benannt, damit sie gut überprüft werden können; in
Einheiten zerlegt, die im Blick gehalten werden können; so aufeinander folgend, dass sich ein optimaler
Lernweg ergibt. All das können Intentionen nicht abbilden, sie müssen einen höheren Abstraktionsgrad
aufweisen. Hier werden sie folgendermaßen formuliert:
Technikunterricht soll dazu führen, dass Schülerinnen und Schüler (1) technisch geprägte Alltagssituatio-
nen (2) geistig durchringen können und dass sie in ihnen (3) verantwortlich und (4) kompetent (5) handeln
können.
8 Verankert in den UN-Menschenrechtskonventionen, im Grundgesetz, in den Landesverfassungen und
Schulgesetzen.
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Zu (1): Technikunterricht an allgemeinbildenden Schulen kann nicht auf Wissen und Können abzielen, das
spezialisierte Qualifikationen voraussetzt. Weder ist die Zeit vorhanden, sie zu erwerben und zu
konsolidieren, noch würden sie nach dem Unterricht so häufig erforderlich sein, dass der Lernerfolg
dauerhaft sein könnte. Womit Schülerinnen und Schüler alltäglich umgeben sind, was sie im Alltag
herausfordert, das soll durch das Lernen im Technikunterricht erschlossen werden können.
Zu (2): Eine wichtige Aufgabe von Bildung ist, dass Schülerinnen und Schüler kraft eigenen Denkens ihre
Umwelt verstehen und ordnen können. Gerade weil Technik immer undurchschaubarer wird, kann
„Begeisterung für“ oder „Staunen vor“ Technik kaum Zielsetzung sein. Beides stellt zunächst eine passive
und verständnislose Haltung des Subjektes gegenüber dem Bildungsobjekt dar, und die bildet seine
Interessen nicht ab. Insbesondere die unterschiedlichen Ziele und Interessen, die mit Technik verfolgt
werden, müssen in den Blick genommen werden.
Zu (3): Technik ist nicht erst, aber besonders im 21. Jahrhundert in undurchschaubare institutionelle
Zusammenhänge eingebunden. Jeder Einsatz von Technik baut auf einer ganzen Nutzungskette auf
(Entwicklung, Herstellung und Vertrieb der Produkte, Infrastruktursysteme, Konventionen und Regeln)
und verstetigt sie gleichzeitig. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, intendierte und nicht-intendierte
Folgen von Technik zu analysieren und ihr eigenes Handeln daran ausrichten zu können.
Zu (4): Technik ist ein Kulturbereich eigenständiger Praxis und Theorie und hat eine ganze Reihe wissen-
schaftlicher Bezugsdisziplinen. Vorrangig sind hier die Philosophie, die Ingenieurwissenschaften, die
Psychologie und die Soziologie zu nennen. „Technikkompetenz“, so unpräzise dieser Begriff nach wie vor
beschrieben ist, erfordert Wissen und Können, dass aus all diesen Disziplinen gespeist wird (und eben
nicht nur aus dem Ingenieur- und Facharbeiterbereich).
Zu (5): Technisch Bildung bezieht sich nicht nur auf Wissen, sondern immer auch auf das Handeln.
Gestalten, Konkretisieren und Umsetzen sind charakteristische Merkmale jeder Technik – darin
unterscheidet sie sich wesentlich von den Naturwissenschaften oder von der Soziologie. Technisch
Gebildete können in der Technospäre wirksam werden. Sie sind nicht nur Erduldende, sondern
Gestaltende.
Hinter all diesen Ausführungen steht am Ende das westlich geprägte Menschenbild „nach Ausschwitz“
(Adorno). Bildung wird als lebendiger und aktiver Prozess verstanden, in dem die Interessen und
Wertigkeiten der Person und der Gesellschaft gleichermaßen bedeutsam sind. Eine zweite Prämisse
ist die Überzeugung, dass Bildung in der kritischen Auseinandersetzung mit der Lebenswelt entsteht.
Sie ist domänengebunden, also an die sinnhaften Kontexte, in deren Zusammenhängen sie aufgebaut
wird.
Um solch abstrakt gehaltene Positionen in die Tat umsetzen zu können, ist es sinnvoll, sie in kleinere und
auf die individuelle Lernsituation zugeschnittene „Portionen“ zuzuschneiden: in Lernziele. Sie können
nicht aus den Intentionen „generiert“, also algorithmisch abgeleitet werden – dazu sind die Bestimmungs-
und Einflussfaktoren in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu vielfältig, und Sinnzusammenhänge
entziehen sich per se jeder Eindimensionalität. Sie müssen aber auf die Intentionen rückführbar sein.
Ziele Technischer Bildung
Da Lernziele auf einen konkreten Bildungsprozess (individuelle Personen und Institutionen) gerichtet sind,
können sie auch nur unter Berücksichtigung der konkreten Bedingungen formuliert werden. Die
wissenschaftliche Ebene der Technikdidaktik hat allerdings mehrere Vorschläge gemacht, in welchen
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Bereichen Ziele angestrebt werden sollten. Sie stellen keine grundsätzlich verschiedenen Positionen dar,
betonen aber jeweils bestimmte Aspekte. In historischer Abfolge sind das:
Die Lernzieltaxonomie von Wilkening ( in: Schmayl und Wilkening 1995, S. 120):
Objektbezogene
Dimension
Blick auf das technische Objekt inhaltsbezogene Lernziele
Blick auf den technischen Prozess verfahrensbezogene Lernziele
Subjektbezogene
Dimension
Blick auf das individuelle Verhalten des Menschen verhaltensbezogene Lernziele
Blick auf die sozial-humanen Verflechtungen wertungsbezogene Lernziele
Die Lernzieltaxonomie von Sachs (2005, S. 10 f.):
Handlungsperspektive Technikbezogene Fähigkeiten und Fertigkeiten
Kenntnis- und
Strukturperspektive
Wissen über technische Sachverhalte und die Fähigkeit, dieses Wissen in
Strukturen zu ordnen
Bedeutungs- und
Bewertungsperspektive
Bedeutung von Technik kennen lernen und den Nutzen und die Qualität von
Technik kritisch beurteilen können
Perspektive
vorberuflicher Orientierung
Kenntnisse über technische Berufe und Erfahrungen in berufsähnlichen Situationen
Die Lernzieltaxonomie von Schmayl (2013, S. 153):
Erschließungs-
richtungen
Objektbereich (von Struktur und Anforderungen
der technischen Wirklichkeit aus) Subjektbereich (aus der Perspektive der
Struktur und Entwicklungsmöglichkeiten der
Person her betrachtet)
Struktur-
dimensionen
- Sachdimension
- Sozio-technische Dimension
- Wert- und Sinndimension
- Praktische Dimension
- Intellektuelle Dimension
- Charakterliche Dimension
Zieltypus Inhaltlich – aber personbezogen formuliert Formal – aber inhaltlich gefüllt
Zielkomplexe - Sachverstand und Sachlichkeit
- Sozio-technische Einsicht und Befähigung
- Wertebewusstsein und Verantwortungsfähigkeit
- Können und Beherrschen
- Wissen und Verstehen
- Einstellung und Haltung
Tabelle 2: Lernzieltaxonomien in der Technikdidaktik
Während die Konzepte von Wilkening und Schmayl jeweils einen Subjekt- und Objektbereich unter-
scheiden, setzt Sachs vorrangig bei der Person an und bezieht die Lehr- und Lernziele konsequent darauf,
wie sich die Person im Lernprozess zur Sache verhält: handelnd, erkennend, kritisch reflektierend und
bewertend. Dass die vorberufliche Perspektive gesondert herausgestellt wird, ist zum einen der
Entwicklung des Faches parallel zur Arbeitslehre geschuldet, zum anderen aber in der Gewissheit, dass
dieser wichtige Aspekt üblicherweise zu wenig Beachtung findet.
In allen drei Ansätzen ist deutlich die Beziehung zwischen Subjekt, technisch geprägter Umwelt und der
Gesellschaft als ordnungsstiftende Kategorie erkennbar. Damit unterscheiden sie sich grundsätzlich von
sogenannten „abbildungsdidaktischen Ansätzen“, die von einer Fachwissenschaft aus ansetzen (z. B.
Deutschdidaktik als „abgespeckte“ Germanistik bzw. Literaturwissenschaft). Wer Unterricht als reduzierte
Fachwissenschaft versteht (z. B. als vereinfachte Form der Ingenierwissenschaften oder der MINT-
Wissenschaften), bezieht eben nicht die Welt als Ganzes ein, sondern einen definierten Ausschnitt mit
einer bestimmten Prägung9.
9 „Abbilddidaktiker“ übersehen, dass Fachdidaktiken vorrangig fachbezogene Bildungswissenschaften sind und
keine reduzierten universitären Fachdisziplinen. Zur Vertiefung wird der Beitrag „Techniktheorie und Technik-didaktik“ von Schlagenhauf empfohlen (Schlagenhauf 2002).
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Zu den Inhalten Technischer Bildung
Hier kann nur angedeutet werden, dass eine zu starke Orientierung an professioneller Technik wesent-
liche inhaltliche Bereiche ausklammern würde. Allgemeinbildender Technikunterricht darf sich nicht
primär an Wissen und Können aus beruflichen Kontexten ausrichten, sonst wäre er eben nicht mehr
allgemeiner Natur. In sehr ambivalenter Erinnerung bleiben mir persönliche Erfahrungen mit
Schülerinnen und Schülern in Ausbildungsabteilungen technischer Betriebe. Die Haltung „Hier lernt ihr,
ordentlich zu feilen“ oder das Herstellen eines sinnfreien Werkstücks (etwa der bekannte Würfel aus
Aluminium) wurden dort unhinterfragt (und teilweise auch unhinterfragbar) an die Jugendlichen
weitergegeben. Inwiefern drei Praktikumstage in einem metallverarbeiteten Betrieb sinnvoll genutzt sind,
wenn ein Aluklotz hergestellt wird; inwiefern es Sinn macht, das auch die Schülerinnen und Schüler tun zu
lassen, die nach der Schule in den kaufmännischen Bereich gehen; inwiefern in der beruflichen Realität
überhaupt noch von Hand gefeilt wird – solche Fragen wurden nicht gestellt. Die Ausbildungsbetriebe
„spulten“ ein Standardprogramm ab, ohne sich für unseren (allgemeinbildenden) Zielsetzungen auch nur
am Rande zu interessieren.
Allgemeinbildender Technikunterricht muss das Allgemeine am Speziellen erkennbar machen. Er kann
nicht zum Ziel haben, spezialisiertes Wissen und Können zu vermitteln oder auch nur anzubahnen. Er
muss die Technik, wie sie von den Jugendlichen alltäglich erfahren wird, zum Gegenstand der Ausein-
andersetzung machen – und darin Allgemeingültiges erkennbar machen. Professionelle Technik muss
dabei analysiert werden, sie ist wesentlicher Bestandteil unserer Kultur, mit der Kinder und Jugendliche
häufig umgehen, ohne sie zu verstehen. Es müssen aber auch Erfahrungen des privaten und öffentlichen
Lebens Berücksichtigung finden. Zur weiteren Vertiefung seien empfohlen Schmayl (2006) und Binder
(2015).
3. Theorie-Praxis-Verschmelzung in Zugangsthemen
Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist in Bildungskontexten genauso bedeutsam wie schlecht geklärt.
Eine gängige Vorstellung ist, dass es sich dabei um zwei verschiedene Bereiche handelt, die gewisse
Schnittflächen haben („Das mag für die Theorie gelten, in der Praxis dagegen nicht“). Ein Sachverhalt
scheint eine theoretische Ebene zu besitzen und weitgehend unabhängig davon eine praktische. Hier
können die kategorialen Unterschiede nicht angemessen dargestellt werden. Es sei verwiesen auf zwei
Monographien: Ryle (1978) diskutiert auf philosophischer Ebene, inwiefern sich Denken und Handeln
gleichen bzw. unterscheiden. Seine Fazit ist, dass sowohl im Denken wie im Handeln geistige und
praktische Anteile enthalten sind. Das Denken kann nur in einer Praxis des Geistes vollzogen werden, das
Tun nur mithilfe geistiger Durchdringung. Neuweg (2004) baut auf Ryle auf und arbeitet die Anteile
impliziten Wissens im Handeln heraus. Damit ist Wissen gemeint, über das eine Person verfügt und das
sie in ihrem Handeln einsetzt, das sie aber nicht explizieren (gedanklich präzise fassen und verbalisieren)
kann.
Hier wird vorausgesetzt, dass Theorie und Praxis unterschiedliche Zugänge zu ein und derselben
Wirklichkeit darstellen. In einer Theorie wird Wirklichkeit als geistiges Modell „angeschaut“, in der Praxis
„fädelt“ sich eine Person handelnd in die Wirklichkeit ein. Der theoretische Zugang besteht im
gedanklichen Durchdringen, was selbst eine Praxis darstellt. Der praktische Zugang setzt ein geistiges
Modell der Wirklichkeit voraus, das in der praktischen Auseinandersetzung weiter ausgeformt wird. Eine
Theorie, die in einer Praxis nicht wiederzufinden ist, ist eine schlechte Theorie, genauso wie ein
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theorievergessene Praxis schlechte Praxis ist. Der Idealfall ist gegeben, wenn für Schülerinnen und Schüler
die Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis nicht relevant ist. Das ist beispielsweise der Fall, wenn sie
ein Experiment durchführen, weil sie eine offene Frage aus der Praxis nicht anders beantworten können.
Dann ist das Klären der Sachstruktur Teil der handelnden Auseinandersetzung und des Lernens. Oder es
ist gegeben, wenn sie, um die Wirkstruktur einer Angelspule zu verstehen, diese demontieren und
ausgiebig untersuchen.
Praxis und Theorie als notwendige Zugänge zu Technik
Technik ist geprägt dadurch, dass Praxis und Theorie zusammengedacht werden. Wie stellt man sich den
Anfang von Technik anders vor, als dass etwas ausprobiert wurde, für das keine Theorie vorhanden war?
Auf der anderen Seite: Wie soll das gedacht werden: Das Ausprobieren „von etwas“, wenn keine
modellhafte Vorstellung des „Etwas“ vorhanden ist? Die Abstraktion ist ein grundlegendes Unter-
scheidungsmerkmal menschlicher Technik zur Werkzeugnutzung in der Tierwelt.
Didaktisch ist die Theorie-Praxis-Verknüpfung nicht verhandelbar. Reine Theorie (Schemazeichnungen
und Texte z. B. über die „Funktionsweise“ einer Solaranlage) verbietet sich genauso wie das gedankenlose
Zusammenzimmern von Werkstücken. Unterrichtspraktisch ist sie aber durchaus legitimationspflichtig:
- Bildungsinstitutionen und Schulträger würden teilweise gerne darauf verzichten, weil sie Zeit und
Geld kostet. Weshalb nicht nur Aufbau und Wirkweise eines Kollektors erarbeiten? Wozu soll da
noch ein Funktionsmodell entwickelt und gebaut werden?
- Schülerinnen und Schüler würden oft auch gerne darauf verzichten und nur vor sich hinwerkeln.
„Wann fangen wir endlich an?“, ist ein häufig zu hörender Satz, wenn Technikunterricht mit
einem Theorieblock begonnen wird.
Besonders in der beruflichen Bildung wird der Theorie-Praxis-Zusammenhang intensiv erforscht, dort
auch empirisch (Arbeitsprozesswissen, implizites Wissen, Expertiseforschung; zum Überblick: Fischer
2006).
Theorie-Praxis-Verknüpfung als Bildungszugang
Für den allgemeinbildenden Technikunterricht ist nach wie vor der Beitrag von Traebert als grundlegend
zu betrachten (Traebert 1988). Er hebt zwei Funktionen von Theorie in der Technik hervor: Aus der Praxis
heraus ergibt sich überall dort ein Bedarf an theoretischer Durchdringung, wo (1) die Optimierung über
Trial and Error-Strategien an ihre Grenzen stößt, wo (2) Teilfunktionen mathematisiert werden sollen, um
sie besser in den Griff zu kriegen und wo (3) Einzelwissen so abstrahiert werden soll, dass damit Analogien
erkannt und entwickelt werden können (a. a. O. S. 6). Theorie (aus dem Griechischen: Anschauung,
Einsicht) ist die Grundlage der Objektivierbarkeit von individuell erworbenem Wissen – und das ist
ein Zusammenhang von zentraler didaktischer Bedeutung. Wenn Schüler A und B zu einem Sachverhalt
die Erfahrung 1 machen und Schüler B und D zum selben Sachverhalt die Erfahrung 2, dann sollte
herausgearbeitet werden, welche der Erfahrungen verallgemeinerbar sind (bzw. welche nicht und unter
welchen Bedingungen das jeweils gilt). Erst dann entsteht ein Wissen, das in der vielfältigen Wirklichkeit
belastbar ist. In einem aktuellen Beitrag hebt Hüttner das hervor. Er weist darauf hin, dass sowohl bei
deduktiver (vom Allgemeinen zum Besonderen) als auch bei induktiver (vom Besonderen zum Allge-
meinen) Vorgehensweise ein entscheidender Punkt im Lernprozess dort auftritt, wo Praxis und Theorie
direkt aufeinander angewiesen sind (Hüttner 2015, S. 35 ff.). Wenn das gelingt, kommt es zur
Auseinandersetzung des Lernenden mit der Sache.
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Der Ansatz des Zugangsthemas
Caspers schlug in den 1970er Jahren vor, die herausragende Bedeutung der Verbindung von Praxis und
Theorie dadurch zu betonen, dass im Technikunterricht nicht von „Werkstücken“ gesprochen wird,
sondern von „Zugangsthemen“10. Dieser Begriff betont, dass die praktischen Anteile im Unterricht
vorrangig dazu dienen, Zugänge zu technischen Inhalten zu schaffen. Lehrkräfte müssen in der Lage sein,
hinter der Arbeit der Schüler an materiellen Dingen die Lernleistungen zu erkennen. Von daher sollen sie
nicht die materiellen Produkte bewerten – sie dienen dazu, (indirekt) auf Wissen und auf Fertigkeiten
rückzuschließen. Genauso wichtig ist die Beobachtung des Lernprozesses.
Aus den genannten Gründen wird hier konsequent von Zugangsthemen gesprochen. Aus meiner Arbeit
mit Studierenden kenne ich viele Beispiele, die zeigen, wie tief bei ihnen die Überzeugung sitzt, das
Herstellen eines Produktes wäre ein wichtiges Ziel von Technikunterricht. Sie reproduzieren damit, ohne
es zu beabsichtigen, die (schlechte) Tradition der Industrie-Schulen. Dort sollten Jungen aus einfachen
Verhältnissen Tugenden wie Fleiß (lat: industria), Genauigkeit, Folgsamkeit und Ausdauer eingebläut
werden (zur Geschichte des Faches: Sachs 1988). Und, nicht nebensächlich, wurden die Produkte verkauft
und damit der Schulbetrieb finanziert, weil die Gesellschaft keine Bildung für alle finanzieren wollte.
Heute sollte, wenn die Gesellschaft nicht geschichtsvergessen sein will, besondere Sensibilität für
ökonomische Zusammhänge im Bildungswesen bestehen. Unterricht sollte nicht (zumindest: nicht
vorrangig) dazu dienen, einen Output an zuverlässigen Käufern oder an willfährigen Facharbeitern zu
erzeugen. Dahinter steht ein instrumentelles Menschenbild, das in der Didaktik auf allen Ebenen
(Wissenschaft, Aus- und Weiterbildung, Schule) als nicht wünschenswert bzw. als negativ eingestuft wird.
Im Technikunterricht kann es nicht um das Herstellen von „Produkten“ gehen, denn das wäre, böse
zugespitzt, Kinderarbeit – und die ist in Deutschland verboten. Ein Gegenstand ist ein Arbeits- und kein
Lernergebnis. Letztlich ist nur die Funktion des Objektes im Lernprozess bedeutsam. Der entfaltet sich an
der eigenständigen Auseinandersetzung mit sinnhaften Gegenstandsbezügen. Unterricht, dem
das gelingt, hilft den Schülerinnen und Schülern beim Erschließen der Welt und ist allein damit erfolgreich
und folgenreich. Schlagwortartig zusammengefasst: Lehrkräfte müssen darauf achten, was sich im Verlauf
eines Unterrichts im Schüler verändert hat, nicht am Produkt.
Wenn also von „Zugangsthemen“ gesprochen wird, dann unterscheidet sich das zunächst rein sprachlich
von „Werkstücken“ oder „Produkten“. Allerdings ist Sprache ein Werkzeug des Denkens, sodass es
angemessen scheint, hier sensibel zu sein. Technikdidaktik hat die Aufgabe, solche Zusammenhänge
herauszuarbeiten und in die Diskussion zu bringen. Gerade weil im Schulalltag solche grundsätzlichen
Überlegungen nicht an jeder Stelle gemacht werden können, ist es von großer Bedeutsamkeit, dass sie an
anderer Stelle angeleitet (erste und zweite Phase der Lehrerbildung) und immer wieder von neuem
aufgefrischt werden (Fort- und Weiterbildung).
Zitiervorschlag:
Binder, Martin (2016): Einführung in die Technikdidaktik. Workshop am Landesinstitut für Pädagogik und
Medien des Saarlandes, Abteilung Arbeitslehre. Saarbrücken, 26.02.2016. Online verfügbar unter
http://www.ph-weingarten.de/technik/aktuelles-meldungen/Binder_Vortraege.php?navanchor=1010033.
10
S. Fußnote 4 in Caspers und Nonnenmacher 1984. Der Begriff erinnert in seiner Verwendung an Klafkis Kategorie der „Zugänglichkeit“ eines Inhaltes.
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