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Einiges aus meiner Kinderzeit Erinnerungen von Anneli Hönig d'Orville, geb. Förster Unser Vaterhaus stand in Kassel am Schlossplatz Nr. 4. Es war ein uraltes Haus, es wurde erzählt, dass die alte Stadtmauer mit hineingebaut wäre, jedenfalls war unten in unserem Buchdruckereibetrieb eine sehr dicke Mauer zwischen Buchbinderei und Druckerei, in der sich eine schmale Scharte befand, die in alten Zeiten einmal eine Schießscharte gewesen sein könnte. Das Haus stand jedenfalls unfgefähr an der Stelle, an der vor über 1070 Jahren Kassel entstanden ist. Gegenüber stand als erstes die Kattenburg, aus alten Zeiten war noch das Rondell, eine Befestigung nach der Fulda hin, und später entstand am gleichen Platz das landgräfliche, später kurfürstliche Schloss in der Renaissancezeit, aus dessen Zeit der Renthof noch heute existiert. Alles andere, wie Marstall, das Schlagdgebäude, fiel dem Bombenangriff 1943 zum Opfer. Damals wurde auch unser Haus bis zum Boden zerstört. Alte Wehrtürme des ganz alten Kassel stehen heute noch, wie der Druselturm und der Zwehrener Turm. Auch das älteste Theater Deutschlands, das Ottoneum, ganz in der Nähe unseres Hauses wurde verschont und steht heute noch im edelsten Renaissancestil. Wo Burg und Schloss früher standen, stand zu unserer Kinder- und Jugendzeit das Regierungs- und Gerichtsgebäude. Unser Haus, von Du Ry in klassizistisch- barockem Stil umgebaut, war ursprünglich landgräfliches Kommödientheater, der kolorierte Stich davon ist ja in unserem Besitz. Es war bis zu seiner Zerstörung so erhalten geblieben bis auf Umbauten im unteren Stock wegen des Druckereibetriebes. Ich habe unser Vaterhaus sehr geliebt und könnte heute noch die damaligen Treppen mit geschlossenen Augen hinaufgehen. Da war zunächst die Riesenhaustüre, die eigentlich beinahe über 2 Stockwerke ging. Der dazugehörige riesige Schlüssel hat uns oft Sorge gemacht, denn er ging kaum in unsere Täschchen bei Tanzstunde- oder Theaterbesuchen. An der Haustüre war ein Löwenkopf, ein ehemaliger, nun festgelegter Türklopfer. Jeden Samstag wurde er blankgeputzt, nur in den Kriegsjahren nicht, wo er durch den angesetzten Grünspan dann nicht mehr auffiel. Es musste ja im ersten Weltkrieg alles, was aus Kupfer, Messing, möglichst auch aus Silber und Gold war, abgegeben werden. Mutter hat damals schöne Messing- und Kupferkessel, die zum Zwetschgenmuskochen gebraucht wurden, abgegeben. Dafür bekam man dann eine eiserne Bratpfanne mit der Aufschrift: "Der deutschen Hausfrau Opfersinn

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Einiges aus meiner KinderzeitErinnerungen von Anneli Hönig d'Orville, geb. Förster

Unser Vaterhaus stand in Kassel am Schlossplatz Nr. 4. Es war ein uraltes Haus, eswurde erzählt, dass die alte Stadtmauer mit hineingebaut wäre, jedenfalls warunten in unserem Buchdruckereibetrieb eine sehr dicke Mauer zwischenBuchbinderei und Druckerei, in der sich eine schmale Scharte befand, die in altenZeiten einmal eine Schießscharte gewesen sein könnte. Das Haus stand jedenfallsunfgefähr an der Stelle, an der vor über 1070 Jahren Kassel entstanden ist.Gegenüber stand als erstes die Kattenburg, aus alten Zeiten war noch das Rondell,eine Befestigung nach der Fulda hin, und später entstand am gleichen Platz daslandgräfliche, später kurfürstliche Schloss in der Renaissancezeit, aus dessen Zeitder Renthof noch heute existiert. Alles andere, wie Marstall, das Schlagdgebäude,fiel dem Bombenangriff 1943 zum Opfer. Damals wurde auch unser Haus bis zumBoden zerstört. Alte Wehrtürme des ganz alten Kassel stehen heute noch, wie derDruselturm und der Zwehrener Turm. Auch das älteste Theater Deutschlands, dasOttoneum, ganz in der Nähe unseres Hauses wurde verschont und steht heute nochim edelsten Renaissancestil.

Wo Burg und Schloss früher standen, stand zu unserer Kinder- und Jugendzeit dasRegierungs- und Gerichtsgebäude. Unser Haus, von Du Ry in klassizistisch-barockem Stil umgebaut, war ursprünglich landgräfliches Kommödientheater, derkolorierte Stich davon ist ja in unserem Besitz. Es war bis zu seiner Zerstörung soerhalten geblieben bis auf Umbauten im unteren Stock wegen desDruckereibetriebes.

Ich habe unser Vaterhaus sehr geliebt und könnte heute noch die damaligenTreppen mit geschlossenen Augen hinaufgehen. Da war zunächst dieRiesenhaustüre, die eigentlich beinahe über 2 Stockwerke ging. Der dazugehörigeriesige Schlüssel hat uns oft Sorge gemacht, denn er ging kaum in unsereTäschchen bei Tanzstunde- oder Theaterbesuchen. An der Haustüre war einLöwenkopf, ein ehemaliger, nun festgelegter Türklopfer. Jeden Samstag wurde erblankgeputzt, nur in den Kriegsjahren nicht, wo er durch den angesetztenGrünspan dann nicht mehr auffiel. Es musste ja im ersten Weltkrieg alles, was ausKupfer, Messing, möglichst auch aus Silber und Gold war, abgegeben werden.Mutter hat damals schöne Messing- und Kupferkessel, die zumZwetschgenmuskochen gebraucht wurden, abgegeben. Dafür bekam man danneine eiserne Bratpfanne mit der Aufschrift:

"Der deutschen Hausfrau Opfersinn

gab Kupfer für das Eisen hin."

Und ich hatte einen kleinen Kinderring mit der Inschrift:

"Gold gab ich zur Wehr,

Eisen nehm’ ich zur Ehr."

Doch ich schweife ab. Also, durch die Haustür, neben der es innen rechts zurPapierkammer, links zum unteren Kontor, dem Kundenempfang, ging, führten 7breite Asphaltstufen zu einem gläsernen Windfang, links ging es dann zu VatersKontor eine kleine Treppe hoch, an der Tür stand "Comptoir", und zur Druckerei,rechts war eine Kellertreppe und die Tür zum Hof.

Vorn hinter dem Windfang kamen dann 4 Treppen, dann die breite Treppe mitschönem Geländer, zuerst 12 Stufen, dann 3mal 10 Stufen bis zu unserer Wohnungim II. Stock.

Im I. Stock wohnte Großmutter. Sie hatte eine kleine Küche, so richtig altmodisch,noch mit Wasserbank (für 2 Eimer), einem Küchenschrank und Kohleherd. Siehatte ein hübsches Wohnzimmer mit rotem Plüschsofa und ovalem Tisch, schönemBuffet und Nähtisch am Fenster. Die Fenster gingen zum Schlossplatz und warentief heruntergezogen mit dekorativem eisernem Geländer. Im Winter hatte sieimmer ein grüngestrichenes, rundes Vogelhäuschen am Fenster, das uns immerviel Spaß machte. Daneben war ein kleineres Schlafzimmer. Großmutter versorgtesich selbst, nur zum Mittagessen kam sie zu uns herauf.

Im ersten Stock war weiter noch die Setzerei, Maschinensetzerei und unser Balkonmit einem großen Glasgewächshaus und Sandkasten. Es war ein sehr großerBalkon mit einer Laube, die mit wildem Wein bewachsen war. Am Geländer, auchmit wildem Wein bewachsen, waren im Abstand von etwa 1/2 Meter eiserneKörbchen mit Geranien. Der Balkon zog sich an der ganzen Häuserfront entlang,vom Schlossplatz her zuerste schmal, dann aber 6 - 8 m breit, so groß, dass wirKinder darauf sogar holländern konnten. Ein Sandkasten, eine große Bank, eingroßer runder Tisch mit 6 Stühlen, ein Blumentisch, viel Blumen und Kästen mitwildem Wein, ja sogar ein Fliederbusch in einem großen Kübel, alles hatte Platzdarauf.

Dieser Balkon war unser Kinderparadies. Dort spielten wir bei schönem Wetterund konnten gegenüber die Kriegsschule beobachten. Vorn im Hof wurdenfrühmorgens die Pferde geputzt. Dann kam die Schmalseite des Gebäudes mitMannschaftsräumen und Pferdeställen und dann noch der Exerzier- und Reitplatz.Das war natürlich sehr interessant. In jedem Sommer war ein großes Reiterfest.Dann ritten die Soldaten nach Musik in alten Uniformen, rote und blaue Husaren

und Dragoner in grün/gelber Uniform, dazu auch noch Ulanen mit ihren Lanzen.Wir durften dann immer unsere Schulfreunde und Freundinnen dazu einladen. Daswar ein großes Ereignis. Auch die Geburtstage von uns Kindern, besonders meinerman 26. Juli und Hildes am 6. August wurden mit Topfschlagen, Verstecken undnatürlich der berühmten Klassenlotterie dort gefeiert. Manch lustiger Bowlenabendfand in späteren jahren dort statt. Dann wurden Gläser, Teller und Besteck ineinem Korb am Bindfaden von der Wohnung im 2. Stock heruntergelassen. Nurdie gläserne Bowle musste unter Todesangst die Treppe hinuntergetragen werden.

Vom Balkon aus konnte man direkt in die Setzerei sehen und den Handsetzernzuschauen. Da war der alte Herr Nass, der über 50 Jahre im Betrieb war und später,in sehr schweren Jahren, sogar Vater auch geldlich hilfreich zur Seite stand. Dawar Herr Förster, der die anspruchsvolleren Setzereien machte, dann HerrKloppmann und noch andere. An der schmalen Seite des Balkons war noch einRaum für den Maschinensetzer, Herrn Oppermann, und der Eingang zu einemFormularraum, der später, als Heinz erwachsen war, in ein Zimmer für ihnverändert wurde.

Aber nun zuerst zu unserer Wohnung. Wir hatten zwei Wohnungseingänge. Rechtsneben der Treppe war der meist benutzte Eingang, der zum langen Flur führte, andem Esszimmer, die Schlafzimmer, Badezimmer und Küche lagen. Daneben imrechten Winkel ging es durch einen sehr hübschen, stoffausgeschlagenenGarderobenraum - die Gäste wurden hier - direkt in das sogenannte Eckzimmer,den "Salon" der damaligen Zeit. Vom sogenannten "Gängelchen", dem vornehmenGarderobenraum, konnte man auch Vaters Zimmer erreichen. Das war einurgemütlicher raum, Vaters Tusculum und für uns Kinder nur bedingt zugänglich.Hier waren sehr schöne alte Weimarer Möbel, ein Empire-Zylinder-Büro undLiege, ein Biedermeiersekretär und ein wunderschöner Biedermeierglasschrankmit ganz alten Porzellanen, Empire und frühes Biedermeier und viel altem Zinn,ein Rauchtischchen, ein uralter Ohrensessel, ein Tisch. Beherrschend aber warVaters großer Bücherschrank mit dem vollständigen Goethe, viel gescheitenBüchern und Schweinslederbänden.

Das sogenannte Eckzimmer war ein großer Raum in der Hausecke mit schönemMahagonie, eigentlich Mutters Zimmer mit ihrem zierlichen Schreibtisch, ihremBücherschrank mit im wesentlichen Belletristik, dem Klavier, zwei Sofas, vielSesseln und einem großen runden Tisch, an dem sich abends die Familie traf.Besonders gern hatten wir eine Ecke des Zimmers, wo sich eine Estrade befand miteinem kleinen Sofa, einem kleinen Tisch und Stuhl. Diese Ecke war natürlichprädestiniert als Puppenwohnung.

Das Esszimmer hatte eine sehr schöne Stuckdecke. Es war ein großer, länglicherRaum mit schweren, schwarzen Eichenmöbeln, wie das damals Mode war. Wardas Eckzimmer in rot, so war dieser Raum in blau gehalten. Hieran schloss sichHeinz’ Zimmer, das sogenannte Kinderzimmer, das Anneli und Hilde bewohnten,das Elternschlafzimmer mit Bad und schließlich die Küche mit Speisekammer an.

Ich, Anneli, wurde am 26. Juli 1909, wie man erzählt, während eines furchtbare nGewitters nachts um 2 Uhr geboren. Als Tante Anna, Mutters Schwester, die zurHilfe aus Frankfurt/Main gekommen war, mich zum ersten Mal sah, soll sie gesagthaben: "Die sieht ja aus wie die ’oll Queen’". Bekanntlich war die alte KöniginViktoria von England sehr hässlich. Mutter war damals tief gekränkt, das hat siemir jedenfalls später oft erzählt. Ich habe heute noch eine Postkarte, die an das"Pfannenstielchen" Förster adressiert ist von Onkel Fritz, so nannte man damals inFrankfurt die ungetauften Kinder. Ich bekam sie einen Tag nach meiner Geburt miteinem Gedicht und habe sie heute noch. Heinz war 5/4 Jahr älter als ich und in derKindheit mein bester Spielgefährte.

Meine erste bewusste Erinnerung ist der Festzug 1913 zur Tausendjahrfeier von"Cassel". Der Zug ging den Steinweg hinauf, und im Zug wurde eine riesige"Chasalla" gefahren, die noch lange Zeit neben dem Denkmal von KurfürstFriedrich auf dem Friedrichsplatz stand. Ich bekam eine silberne Kette mit einemAnhänger in Form eines Talers, auch auf der Vorderseite den Kopf der Chasallazeigend, auf der Rückseite das Rathaus. Leider ist der Anhänger verlorengegangen.

Meine zweite bewusste Erinnerung war ein Jahr später, sie ist mir aber noch ganzgegenwärtig. Wir waren mit Mutter im Kinderzimmer und standen am Fenster. Dakam Vater aus dem Geschäft herauf und sagte zu Mutter: "Minkel, es gibt Krieg!"Er nahm sie dabei in den Arm und Mutter fing an zu weinen. Das hatte ich nochnie gesehen, und es hat mich Fünfjährige sehr beeindruckt und erschüttert. Vaternannte Mutter immer zärtlich "Minkel". Woher diese Bezeichnung kam, weiß ichnicht.

Uns ging es in den Jahren vor dem Weltkrieg recht gut. Vater hatte es allerdings inseinen späten Jugendjahren sehr schwer gehabt. Großvater Förster starb sehr früh,schon mit kaum 60 Jahren, und da Großmutter beinahe 20 Jahre jünger war, wurdesie sehr früh Witwe. Sie war auch früher viel krank und hatte bei einer Operationein Auge verloren. Sie trug eine Brille aus schwarzem Glas, was uns Kindern nieals etwas besonderes aufgefallen ist. Ihre einzige Tochter, unsere Tante Auguste,die sehr zart gewesen sein muss, starb schon mit 34 Jahren. So war Vater ihrEinziges, was sie besaß, und sie hing mit großer Liebe an ihrem Sohn. So ganzverstanden haben sich Mutter und Großmutter wohl nie, da Vater lange

Junggeselle gewesen war und sich ganz der Mutter gewidmet hatte. Außerdem warMutter eine heitere, humorvolle, wenn auch sehr ruhige FrankfurterGroßbürgerstochter, und Großmutter eine etwas herbe Norddeutsche; sie stammteaus Verden an der Aller.

Vater musste schon mit 26 Jahren das Geschäft übernehmen und all das, auch derTod seiner geliebten Schwester, hat wohl seinen meist ernsten Charakter geprägt.

Mutter kam aus einem sehr begüterten Bürgerhaus in Frankfurt. GroßvaterReichard hatte auch eine Druckerei, und auf einer Buchdruckertagung in Frankfurtlernten sich die Eltern kennen.

Mutter hatte es wohl in Kassel zuerst nicht ganz leicht, aber 9 sehr glückliche Jahrehaben die Eltern doch sehr heiter und sorglos miteinander verleben können. Dannkam, wie ich schon erwähnte, der I. Weltkrieg. Wir, Heinz und ich, konnten ja dieTragweite eines Krieges noch nicht erfassen. Es war immer ein großes Ereignis,wenn die Truppen auszogen mit Musik und Fahnen und alle mit einem kleinenBlumensträußchen geschmückt. Man glaubte ja damals auch, dass der Krieg in einpaar Wochen zu Ende sein würde. Die Siege wurden gefeiert, überall hingenschwarz-weiß-rote Fahnen. Wir lernten im 1. Schuljahr ein Lied: "Der Kaiser istein lieber Mann, er wohnet in Berlin, und wär’ es nicht so weit von hier, so ging’ich heut’ noch hin..." usw. Jedes Jahr im Sommer residierte der Kaiser in unserenersten Kinderjahren noch auf Schloss Wilhelmshöhe. Dann war der ganze Parkgeschlossen, und auf dem Schloss wehte die kaiserliche Standarte. Auf demFriedrichsplatz wurden dann große Paraden abgehalten. Für uns Kinder war dasimmer sehr aufregend.

Am 6. August 1916 kam unser Schwesterchen Hilde zur Welt. Wir, d.h. Heinz undich, waren nach Frankfurt verfrachtet worden. Es war ja gerade Ferienzeit. Dereigentliche Grund unserer Evakuierung war uns unbekannt. Heute wüsste natürlichso etwas jedes Kind. Am 5. August waren wir mit Tante Sofie im Zoo; das warimmer die Hauptattraktion und der Höhepunkt der Frankfurter Ferienaufenthalte.Tante Sofie führte uns zu der Wiese mit den Störchen und sagte: "Wollt ihr euchnicht ein Geschwisterchen wünschen?" So sagte Heinz ganz ernsthaft: "Storch,Storch, guter, bring mir einen Bruder!", ich dagegen "Storch, Storch, bester, bringmir eine Schwester!"

Am nächsten Morgen, es war Sonntag, kam Tante Sofie zu ungewöhnlich früherStunde in unser Zimmer und erzählte uns, dass wir ein Schwesterchen bekommenhätten. Zuerst war Heinz sehr enttäuscht und wütend auf mich, dann aber überwogdie Freude. Wir warfen Kissen und Deckbetten aus den Betten, sprangen daraufherum und sangen: "Ein Feriensonntagskind Hildegard!" Wir fanden es

wunderschön, von allen Seiten gratuliert zu bekommen.

Als wir dann, nach etwa 10 Tagen, wieder nach Kassel kamen, lag daswinzigkleine Schwesterchen bei Mutter im Bett. Es hatte ganz schwarze Härchenund war natürlich unser ganzes Entzücken. Es hatte uns auch etwas mitgebracht.Im Kinderwagen lagen 2 kleine, grüne Krepppapiertütchen mit aufgeklebten,kleinen Papiermachéfröschen, die eine Soldatenmütze auf den Köpfchen hatten. Inden Tütchen war irgendeine Süßigkeit, was für die Kriegszeiten ein Ereignis war.

Ja, dann kamen schwere Zeiten. Es gab wenig zu essen, morgens nur nochMarmeladenbrot, Magermilch usw. Wir hatten auch wenig Bezug zuirgendwelcher Landbevölkerung. Unser guter Bauer Krug aus Hertinghausen, deruns immer Butter, Eier, Äpfel, die Winterkartoffeln und vor allem dieWeihnachtsgans brachte, konnte auch nicht mehr kommen. Ich weiß, dass icheinmal mit unserem Mädchen, ich glaube, sie hieß Elise, dorthin zum „Hamstern“fuhr. Dort bekam ich ein Stück Landbrot mit Butter, das mir heute noch indeutlicher Erinnerung ist. Wir nahmen einen großen Korb voll Birnen mit undmussten ein großes Stück Landstraße laufen. Dazu kam ein heftiges Gewitter, undElise sagte: „Dass du mir jetzt nichts isst von den Birnen, sonst schlägt der Blitzein.“ Natürlich biss ich doch noch schnell einmal in eine Birne. Darauf erfolgte einmächtiger Donnerschlag! Ich habe, auch nachdem das Gewitter verzogen war,nichts mehr von den Birnen angerührt.

Kurz nachdem Hilde geboren war, wurde Vater eingezogen, gottlob nur alsVizefeldwebel ins Oberzwehrener Gefangenenlager. So konnte er abends nachHause kommen, denn Mutter musste das Geschäft übernehmen und bekamProkura. Sie hatte sich ja früher nie ums Geschäft gekümmert. Hilde war damalswohl ½ Jahr alt. Dazu bekam ich auch noch Scharlach und wurde mit einerPflegerin in die der Wohnung gegenüberliegende Formularkammer, die notdürftigmöbliert wurde, umquartiert. Als ich Vater nach der Krankheit zum ersten Mal sah,erkannte ich ihn nicht, weil er in Uniform war.

Hilde gedieh trotz Krieg und Hunger prächtig. Sie war mein besonderer Stolz undich durfte sie spazieren fahren. Als sie dann zu laufen anfing, fuhr ich mit ihr zumRondell hinter dem Regierungsgebäude. Dort zeigte ich sie stolz meinenFreundinnen und ließ sie vorführen, was sie konnte. Mutter hatte mir allerdingsverboten, sie laufen zu lassen, damit sie keine O-Beine bekäme. Sie hat sie abertrotzdem nicht bekommen. Als Hilde dann etwa so 2 – 3 Jahre alt war, durfte ichmit ihr zum Spielplatz im Fürstengarten gehen. Ich ließ sie dann im Sand spielenund kam mir sehr erwachsen vor. – Als Heinz und ich so etwa vier und fünf Jahrealt waren, kann ich mich noch entsinnen, dass wir an Winterabenden

„Gemütliches Eckchen“ spielten. Wir hatten zwei kleine Peddigrohrsessel, setztenuns dann im Kinderzimmer in ein Eckchen und Heinz nahm „Öda“, den Stoffhasenund ich bekam „Schlicka“, den Teddybär. Dann unterhielten wir uns und fandendas wunderschön. Öda war eines Tages zu unserer großen Trauer verschwunden.Er wurde lange später voll Wasser gesogen und verschlammt in unsererRegentonne auf dem Balkon entdeckt. Es war ein großer Schmerz.

Großmutter ging viel mit uns spazieren. Oft saß sie mit uns in der Orangerie in derAue. Sie hatte noch ein Ballnetz mit einem uralten Stoffball, der war mein ganzerStolz. Gummibälle gab es ja in den Kriegszeiten nicht. Donnerstags hatteGroßmutter Kränzchen mit Tante Sofie und Else Rhode und Frl. Sennholz. Dannnahm sie uns, besonders Hilde, später oft mit nach Kirchditmold oder zu Henkesan den Brasselberg, da gab's immer Waffeln. Überall stand an: „Der alte Brauchwird nicht gebrochen, hier können Familien Kaffee kochen.“ Das hieß, manbrachte den eigenen Kaffee mit und ließ in dort aufbrühen.

In ihren ersten Lebensjahren war Hilde für mich mehr wie eine Puppe. Sie mussteviel aushalten, z.B. musste sie still im großen Puppenbett liegen, und Heinz undich waren Vater und Mutter. Ich hatte eine sehr hübsche Puppenecke mitsämtlichen Möbeln in einer Ecke des großen Kinderzimmers und eine über 100Jahre alte Puppenwiege, braun gestrichen mit Knöpfen für die Wiegenbänder. Siewar wunderschön, ich glaube, sie stammte aus der Försterschen Familie. Mutterhat sie immer sehr gehütet, damit sie einmal für meine Kinder erhalten bleibensollte, aber sie ist dann 1943 bei dem großen Bombenangriff mit verbrannt, wieeben alle alten Erinnerungen und sehr viel Wertvolles, dem ich, wenn ichnachdenke, immer wieder nachtrauere. Eigentlich müsste ich ja auch noch unserenalten, riesengroßen Dachboden erwähnen: Da war die „grüne Kammer“ für dasviele Eingemachte und einem Gestell für die vielen Winteräpfel, die Kammer„geradeaus“, wo die Wäschemangel und einige Kommoden standen, dieBettenkammer mit riesigen Kisten mit Bettzeug, das Erkerstübchen , ein etwasgeheimnisumwittertes, uralt eingerichtetes, entzückendes, aber unbenutztesStübchen mit Nebenkammer, ein großer Trockenboden, wo auch beim Großputzdie großen Gardinenspanner aufgestellt wurden. Überall Ecken und Winkel,irgendwo stand noch eine riesige Kiste mit Schubladen, in denen sich dieverschiedensten Knöpfe befanden, und dann gab es da noch eine etwasunheimliche Rumpelkammer, wo uralter Kram war. Wir entdeckten dort einmaleinen völlig vermotteten Puppenwagen, sicher über 100 Jahre alt, den ich entzücktmit hinunter in die Wohnung nahm. Ich durfte ihn aber natürlich nicht behalten.

„Unsere Mutter“! Ihr gilt ein besonders inniges Gedenken! Wie haben wir siegeliebt und wie vermissen wir sie heute noch! Sie hatte eine sehr stille Art, aber

war von unvergleichbarer Güte und Verständnis. Sie war eine wirklich schöneFrau. Vater war sehr stolz auf sie und hat sie vergöttert, obwohl er ihr durchSorgen das Leben auch schwer gemacht hat. Die waren in einem Geschäftshaus inder damaligen Krisenzeit unausbleiblich. Mutter trug alles still und ergeben undschaffte es, uns trotzdem eine frohe Kinderzeit und ein harmonischesFamilienleben zu bieten.

Für uns war es immer ein Ereignis, wenn die Eltern abends ins Theater oder insKonzert gingen, was sie trotz allem häufig taten. Wir mussten dann schon im Bettsein, wenn Mutter sich nochmals über unsere Betten beugte, uns den „Gute-Nacht-Kuss“ gab und uns aus einem silbernen Döschen ein Stückchen Schokolade in denMund steckte, das sie aus ihrem Perlenpompadur geholt hatte. Sie hatte dann einenschwarzen Spitzenschal, eine spanische Mantilla, über ihrem Haar, duftete nachEach de Cologne und war für uns Kinder unsagbar schön.

Was ich jetzt im Rückblick auf unsere Erziehung durch Mutter noch immerbewundere, war ihre gütige Konsequenz, ebenso aber auch bei Vater. Wir habeneigentlich nie einen Zwang oder eine Strenge empfunden, aber es warunausweichliches Gesetz, dass alles getan wurde, was die Eltern sagten. Dabeiwaren sie sehr tolerant und gaben uns viel Freiheit und eigene Entscheidung. Undwenn sie nach dem Mittagessen ihren Mittagsschlaf hielten, - Vater unter einerDecke, die Mutter in ihrer Brautzeit gestickt hatte – dann schlichen wir nur undwagten kaum ein Wort zu sagen.

Für Vater fing der Sonntag schon Samstagmittag an, wenn das Geschäftgeschlossen war. Dann wurd erst um ½ 3 Uhr gegessen. Vater schob alle Sorgenhinter sich, war vergnügt und rauchte mit Genuss seine Zigarre. Die gute Launedauerte dann meist bis Sonntag nach dem Mittagessen. Dann war für ihn beinaheder Sonntag schon zu Ende, denn dann kamen ihm wieder die Geschäftssorgen inden Sinn. Allerdings liebte er am Sonntagnachmittag im Herbst oder Winter diesogenannte „Blaue Stunde“ in der Dämmerung. Dann durfte lang kein Lichtgemacht werden, für uns Kinder war es eine Qual und sehr langweilig.

Sonntags machten wir vormittags oft Spaziergänge nach Wilhelmshöhe, zumHohen Gras, den Fuchslöchern, zum Herkules oder ins Druseltal. Wichtig wardabei immer, ob man „einkehrte“ zu einer Bouillon oder im Sommer zu einem Eis.Im Frühling ging er gern allein oder mit uns zu „Worch“, einer sehr gutenKonditorei, und aß Speckkuchen. Er aß überhaupt gern und war ein verständigerGenießer. Die Speckkuchen- und Spargelzeit genoss er sehr, und wenn Vatereinmal, was sehr selten vorkam, einkaufte, dann war immer irgendeine Delikatessedabei.

Später, als Hilde älter wurde, ging sie, wie auch wir vor der Schulzeit, zu TanteKlepper in den Kindergarten. Da musste sie sogar über die Drahtbrücke über dieFulda. Zuerst wurde sie immer hingebracht. Heinz und ich waren zu gleicher Zeitdort und konnten eher allein gehen. - Später ging unser kleines Schwesterchenauch tapfer allein. Eines Tages kam sie nicht nach Hause. Es war große Aufregung,wir alle suchten, gingen zum Kindergarten, wo sie längst fortgegangen war.Endlich, nach Stunden, fanden wir sie bei einem anderen kleinen Mädchen in derMaulbeerplantage. Sie war mit dorthin gegangen, hatte dort mit zu Mittaggegessen und fand es wunderschön.

An etwas erinnere ich mich noch, was mich heute mit Grausen erfüllt. Die Fuldawar zugefroren, was eigentlich selten vorkam, aber noch nicht für den Eislauffreigegeben. Ich sollte Hilde vom Kindergarten abholen und wettete mit einerFreundin, dass ich mit Hilde über das Eis gehen würde, ich hätte keine Angst. Nureinige Jungen waren am Rande auf dem Eis. Ich wagte es wirklich, während meineFreundin über die Brücke ging. Wir hatten wohl einen Schutzengel und kamenglücklich und wohlbehalten am anderen Ufer an. Mutter hat das nie erfahren.

Am 6. Dezember hatte Großmutter Förster, die ja in unserem Hause und in derFamilie lebte, Geburtstag. Dann war in Kassel der sogenannte „Klowesabend“.Kinder liefen mit Masken als kleine Nikoläuse herum und bettelten umSüßigkeiten: „Ich bin der kleine Dicke, ich wünsche euch viel Glücke, viel Glückeund ein langes Leben, müsst mir auch ein' Zehner geben“ oder „Ich bin der kleineKönig, gebt mir auch nicht zu wenig. Lasst mich nicht so lange stehn, denn ichmuss noch weiter gehn“.

Während wir unten bei Großmutter den Geburtstagskaffee tranken, klingelte esimmer wieder, und ein Trüppchen Kinder erschien. Wie gern wären wir aucheinmal mit herumgezogen. Wir durften aber natürlich nicht, das war nicht„standesgemäß“ und gehörte sich nicht für uns. Großmutter hatte dann denKaffeetisch mit Liebe gedeckt. Sie hatte das schöne alte Zwiebelmustergeschirrund eine silberne Zuckerdose mit blauem Glaseinsatz. Ein großer, herrlicherGeburtstagsgugelhopf, Großmutter sagte „Rodonkuchen“, stand mitten auf demtisch. Zum Kaffee kamen dann ihre Kränzchenfreundinnen, Vater, Mutter und wir.

An Großmutters 70. Geburtstag kam Heinz, damals 13jährig, als Moritatensänger.Er zeichnete schon als Junge sehr gern und hatte lauter große Blätter mitHolzkohle bemalt. Dazu dichtete er:“

Heute war's vor 70 Jahrenin einer kleinen Allerstadt,wo sich trafen zwei der Wandrer,

ihres Weges gründlich satt.Storch, so hieß der eine undtrug ein kleines Kind im Mund.Auch der and're hatt' zu tragen,sagt: „Ich bin der Nikolaus,wohlbekannt in jedem Haus.Heute geh' ich hin nach Verden,dass die Kinder artig werden,bringe Birnen, Äpfel, Nüsse,manchem Bösen aber Schmisse...

und so ging das weiter. Die Beiden zogen zum Haus der Urgroßeltern, und derStorch warf das Baby in den Schornstein.

Heinz hatte immer besonders nette Ideen, wobei ihm sein Humor und seinzeichnerisches Talent zustatten kamen. Wir bewahren noch einige von seinenspäteren Neujahrsglückwünschen auf, die von der ganzen Bekannt- undVerwandtschaft immer mit Spannung erwartet und dann sehr gewürdigt wurden.Als Kind hatte er aber die schlechte Angewohnheit, mich immert an meinen langenZöpfen zu ziehen. Dafür habe ich ihn einmal die sehr steile Kellertreppe hinuntergeschubst. Das hätte schlimm ausgehen können; ich bekam die nötige Schelte.

Mit Hilde, die ja 7 Jahre jünger ist als ich, vertrug ich mich eigentlich sehr gut. Siewar immer sehr verständig, und ich als große Schwester konnte ihr viel erzählen.Und auch sie erzählte mir ihre großen und kleinen Sorgen.

Heinz bekam später Vaters Zimmer neben uns, und Vater zog in das kleineBiedermeierzimmer. Dieses Zimmer stammte aus Weimar, so ungefäht aus derGoethezeit, es war ganz reines Kirschholzbiedermeier, Sekretär, Rollbüro, einewunderschöne Empireliege und ein Gläserschrank mit ganz wundervollemPorzellan, das schon damals ein Vermögen vorstellte. Auch Vaters Bücherschrank,der für uns tabu war, stand hier, mit vielen alten Lederfolianten, seinemvollständigen Goethe, 32bändig und der uralten Familienbibel. Eine besondereAnziehung in Vaters Zimmer hatte das „große Bilderbuch“. Das war einriesengroßes Buch, etwa 1 m auf 60 cm, und sehr dick. Eine Großtante von Vaterhatte es selber zusammengestellt und geklebt mit Ausschnitten aus dem„Münchener Bilderbogen“ ihrer Zeit, das war die damals allein bestehendeIllustrierte. Es wäre heute unbezahlbar.

Unser Mädchenzimmer fanden wir sehr schön, besonders nachdem Vater es miteiner hellblauen Tapete mit weißen und rosa Blumen tapezieren ließ. In der Eckestand ein runder, gusseiserner Ofen, in dem man im Winter wunderbar Bratäpfel

machen konnte. Eine mit rosa Stoff bezogene Lampe fanden wir besonders schön.

Wenn wir krank waren, - meist waren es ja nur kleine Kinderkrankheiten, - durftenwir im Bett bleiben. Dann kam der alte Sanitätsrat Ebert und hörte uns ab, nichtwie heute mit dem Stethoskop, sondern er hielt sein Ohr an unsere Brust, und seineBürstenfrisur kitzelte so, dass ich oft lachen musste. Dann wurde auch, uns zurUnterhaltung, die „Spanische Wand“ ans Bett herangeschoben. IrgendeineGroßtante hatte sie einmal mit viel Liebe gemacht. Außen war sie mit grünemStoff in Falten bespannt und an der Innenseite mit lauter Ausschnitten von Bildernbeklebt. Sie war dreiteilig, und es war so viel darauf zu sehen, dass wir immerwieder Neues entdeckten und sie für uns ein großes Bilderbuch war.

Hilde war schon als Kind recht groß und von Anfang an eine sehr gute Schülerin.Sie ging die ersten 3 Vorschuljahre ins v. Kästnersche Lyzeum, eine Privatschule,und später in die Studienanstalt, die später zum Malwida-van Meysenburg-Gymnasium wurde. Ich besuchte das Oberlyzeum und Heinz das Realgymnasium.Im Gegensatz zu meinen Geschwistern, die vom 1. Schultag an zu den Bestengehörten, wenn nicht sogar die besten Schüler in der Klasse waren, war ich immernur Mittelmaß. Dass ich gern in die Schule ging, kann ich nicht behaupten. Ich warsehr schüchtern und suchte immer hinter meinem Vordermann Deckung. Wenn ichgefragt wurde, hatte ich immer Angst, ich würde etwas Falsches sagen, wenn iches auch richtig wusste.

Hilde konnte ich immer so ein bissel bemuttern und tat das auch sehr gern. Sieblieb eigentlich, so lange ich zuhause war, mein kleines Schwesterchen. SiebenJahre Unterschied macht sich in der Kinder- und Jugendzeit doch bemerkbar.

Weihnachten bei uns zuhause ist noch heute für mich mit einem besonderenZauber überstrahlt. Ich glaube ja, das sagt jeder, der an diese Zeit seiner Kindheitzurückdenkt. Kinderweihnacht ist halt etwas besonderes. Da waren erst einmal dievielen Heimlichkeiten mit unseren Weihnachtsarbeiten. Etwas nur Gekauftes galsbei uns nicht als Weihnachtsgeschenk. Ich weiß noch, zuerst ausgestickte Bilder,Tintenwischer und die ersten Waschlappen, die ich strickte, ganz schief,Großmutter half dann ein bissel nach, und alles wurde versteckt. Mutter hat gewissmanches vorher entdeckt. Dann der Weihnachtsmarkt auf dem Ständeplatz, direktvor unserer Schule, wo wir natürlich nach der Schule herumbummelten und auchnachmittags zu finden waren, die Tannenbäume an den Straßenecken und diegroße Spielzeugausstellung bei Tietz. Damals war alles noch ein Erlebnis.

Dann kam der Heilige Abend. Wir durften nicht ins Eckzimmer, und es war für dieEltern gar nicht so einfach, uns daraus auszuschließen, denn zwischen Eck- undEsszimmer war nur eine Portiere und ein dicker, roter Filzvorhang, der nur mit

Ringen und Haken an den Seiten befestigt war. Es wäre für uns Kinder einLeichtes gewesen, einmal einen solchen Ring zu lösen und zu gucken, was imWeihnachtszimmer passiert. Aber Mutter hatte einmal gesagt, wenn ihr guckt,bläst euch das Christkind die Augen aus, - eigentlich eine grausige Vorstellungvon dem „lieben“ Christkind. Immerhin hat das wohl Wunder gewirkt, denn ichkann mich nicht entsinnen, dass ich es einmal versucht hätte. Der Tag ging ingroßer Geschäftigkeit herum. Wir packten unsere kleinen Geschenke ein unddekorierten sie alle auf einm Tablett. Als wir größer wurden, gingen wir noch alleaußer Vater zur Christmette in die alte Lutherische Kirche am Graben. Und dannkam schließlich der Augenblich, wo das Glöckchen ertönte und wir insWeihnachtszimmer durften. Es war wie win Wunder: Der strahlende Christbaummit Silberkugeln und Lametta geschmückt und unzählige Kerzen. Er war sehrgroß, vom Fußboden bis zur Decke reichend. Später stand er etwas erhöht auf dem„Herrn Bock“, einem ganz gewöhnlichen Holzbock, den Vater wegen seineruralten Ehrwürdigkeit so tituliert hatte; er war festlich mit einem weißen Tuchverkleidet. Dann ging Mutter und später Hilde zum Klavier und es musstegesungen werden, was uns Kindern schwer fiel, weil ja doch hier und da etwasvom Gabentisch uns sofort in die Augen fiel. Es war immer wieder überwältigend.Vater und Mutter standen froh dabei, sich innig in die Augen sehend. Großmutterund auch wir kamen mit unseren Tabletts, und wir waren stolz, auch überall etwasverteilen zu können. Unser „Mädchen“ hatte auch seinen Tisch, auch immer reichbedacht. Ich weiß, daß eine, ich glaube, es war Elise Himmelreich, einmal einKaffeeservice bekam. Sie war überglücklich, packte das ganz Service ein, um esam freien Feiertag zu Hause zu zeigen, und brachte es dann am 3. Feiertag wiedermit, um alles immer wieder ansehen zu können.

Wir waren wirklich selig, wie in einer anderen Welt. Mutter hatte immer allePuppen neu angezogen, mit großer Sorgfalt, meist ähnlich wie wir selberangezogen waren.

Dann wurde gegessen, Frankfurter Würstchen, die immer frisch im FrankfurterWeihnachtspaket geschickt wurden, und Kartoffelsalat. Danach durften wir langeaufbleiben, spielen und lesen, denn Bücher gab es immer die Menge. Noch zweiherrliche Feiertage lagen vor uns, an denen dann auch die Freunde des Hauses zuBesuch kamen.

An Silvester durften wir, als wir klein waren, nicht aufbleiben. Die Eltern gingendann ins Theater in die „Fledermaus“ oder „Orpheus in der Unterwelt“, wie wir esspäter auch taten. Dann lag aber jedesmal am Neujahrsmorgen etwas auf demNachttisch, ein Glückswürfel oder -käfer oder irgendein anderes glücksbringendesSymbol aus Schokolade.

Später, als wir größer waren, wurde dann der lange Silvesterabend meist mitSpielen ausgefüllt. Es war eigentlich immer ein altehrwürdiges Lotto, das wir sonstdas ganze Jahr nicht spielten. Dieses Spiel stammte wohl aus Vaters Kinderzeit. Esbestand aus Zahlenkärtchen und einem großen Beutel mit runden Holzklötzchen,auf denen Zahlen standen und Glasplättchen. Später spielten wir auch Ma-Jongg.

Um 12 Uhr wurde dann der Tannenbaum noch einmal angesteckt, wir sahen dasFeuerwerk vom Zimmer aus, alles, wie es wohl heute noch ist. Großmutter saßmeist in einem Sessel und blickte wehmütig zum Tannenbaum hin, an dem einKerzchen nach dem anderen erlosch. Mich hat das immer sehr ergriffen. Heute binich in dem Alter, wo auch mich dann die Wehmut überkommt. Unsere Großmutterkam uns überhaupt sehr alt vor, obwohl sie damals kaum über 60 Jahre alt war. Siewar Norddeutsche, aus Verden an der Aller, war sehr zurückhaltend und mit etwa40 Jahren verwitwet. Vater war ihr ein und alles. Sie trug immer schwarze Kleiderund hatte ein schwarzes Spitzenhäubchen auf dem Kopf.

An die Großeltern in Frankfurt habe ich auch noch Erinnerung. Großmutter warsehr lieb und gut, aber wir hatten mächtig Respekt vor ihr. Großvater Reichard warunsere ganze Liebe. Mutter hat wohl in ihrer so lieben Art sehr viel von ihmgeerbt. Er verwöhnte uns sehr und hatte in seinem Zylinderbüro immer allemöglichen Dinge, mit denen er Unfug trieb. Da waren ulkige Nasen zumAufsetzen und riesengroße Ohren, die einen schauerlich aussehen ließen. Ermachte das zu unserem Gaudium und zog Grimassen dabei. Auch Mäuse ausGummi ließ er herumflitzen.

Sonntags zum Essen gab es immer beim Nachtisch Sekt, und Heinz und ichbekamen dann auch ein kleines Gläschen.

Großmutter und Großvater starben im Frühjahr 1916 kurz hintereinander,Großvater hatte den Tod seiner Frau nicht verwinden können. Kurz ehe Großvaterstarb, waren wir noch in Frankfurt. Ich weiß, dass ich oft bei ihm am Bett saß undihm „Schlaf Herzenssöhnchen“ sang; das mochte er so gern.

Überhaupt haben wir das Haus in Frankfurt, Reuterweg 88, es steht ja heute noch,sehr geliebt. Wir durften in jeden Sommerferien dorthin und wurden natürlich sehrverwöhnt. Die Tanten hatten einen Boxer, „Boxel“ genannt, mit dem konnten wiralles treiben, sogar auf ihm reiten, und er ließ sich alles gefallen.

Das Haus war sehr schön, mit Läufern auf der Treppe, vielen Geweihen imTreppenhaus und einem Riesen-Elchkopf, der mir immer ein bisschen unheimlichwar. Im Garten, der im wesentlichen aus einem ovalen Rasenplatz mit einer Juccamit Kiesweg rundherum bestand, gab es einen großen Quittenbaum, der uns inKassel auch jedes Jahr mit Quitten für „Quittenspeck“ belieferte.

Frankfurt war wirklich ein Paradies. Wir wohnten zuerst mit den Eltern im 2.Stock, der aber später im 1. Weltkrieg an Russlandflüchtlinge abgegeben wurde.Die Familie hatte einen Jungen „Andruscha“, mit dem wir gerne spielten. Späterzug auch Baron von Normann, ein entfernter Verwandter, von uns „OnkelNormann“ genannt, ins Haus. Später wohnten wir dann immer im „großenZimmer“ im 1. Stock. Die Tanten hatten einen Riesenkarton mit Puppen undPuppenkleidern aus ihrer Kinderzeit, noch mit Wachskopf und mit Lederbalg,daneben gab es viele Bände der „Fliegenden Blätter“ und ein Gerät zumDurchschauen, wodurch man die dazugehörigen Ansichten 3-dimensional sehenkonnte, lauter Attraktionen. Die Tanten machten uns den Ferienaufenthalt immerganz besonders schön: Einmal ging es in den Zoo, dann in den Palmengarten oderauch in den Taunis auf die Saalburg, ins Goethehaus, in die Frankfurter Altstadt –lauter Attraktionen für uns.

1920 durften wir die Hochzeit von Onkel Fritz und Tante Maria mitfeiern. Das warein großes Ereignis. Hilde, die damals noch kaum vier Jahre alt war, lief immerhinter der schönen Braut bewundernd her. Als später angestoßen wurde, nahm siein jede Hand ein Glas und „stieß damit an“, so dass beide Gläser zu Scherbengingen. Großer Spaß bei der Hochzeitsgesellschaft und dicke Tränen bei derUrheberin.

Als ich 12 Jahre alt war, durfte ich zum ersten Mal allein nach Frankfurt fahren,sogar für 6 Wochen, weil ich wieder einmal krank gewesen war und mich erholenmusste. Ich wurde in Kassel in den Zug gesetzt. In der entgegengesetzten Ecke saßein unheimlicher Herr, der mich fortgesetzt ansah. Ich hatte schreckliche Angst,aber der Schaffner schaute immer nach mir. Ich war froh, als noch andere Leuteeinstiegen. Auf meinem Proviantpäckchen stand „Nicht vor Wabern öffnen“. Ichhätte es so gern aufgemacht, aber ich wartete brav, bis der Bahnhof Wabern kam.Es waren Süßigkeiten darin. In Frankfurt holten mich dann die Tanten vomBahnhof ab. Vier Wochen durfte ich bleiben und kam dann noch für 14 Tage nachLangen zu Tante Maria. Es war der heiße Sommer von 1921. Vater kamüberraschend am 26. Juli zu meinem Geburtstag. Er war ganz aufgelöst von demlangen Weg vom Bahnhof her bei der Hitze und brachte einen ungefärbten, grauenGummiball und noch zwei kleine mit. Das waren die ersten Gummibälle nach demKrieg, ich war sehr stolz, so etwas zu besitzen.

Wir waren auch in Frankfurt, als im 1. Weltkrieg die erste, wohl die einzigeBombe auf ein Wohngebiet Frankfurts fiel und zwar ausgerechnet im Reuterweg,wenige hundert Meter vom großelterlichen Haus. Drei Balkone waren von einemHaus abgerissen, so konnte man in die Zimmer sehen. Die Hauptattraktion war einWeinglas, das unversehrt auf einem Regal stand.

Dann haben wir auch den Einzug der Franzosen, die kurz nach dem erstenWeltkrieg Frankfurt besetzt hatten, dort erlebt. Wir Kinder fanden es sehr schön,denn es dauerte lange, bis Mutter ein Visum bekam, und so hatten wir längerFerien.

Ein paar Mal waren wir mit Mutter und Tante Anna, wohl vor dem Weltkrieg, inBad Sooden an der Werra zur Kur. Später wurden wir, es muss 1919 gewesen sein,auch allein dort in ein Kinderheim geschickt. Ich hatte furchtbar Heimweh, zumalich in eine andere Gruppe als Heinz kam. Aber allmählich gewöhnten wir uns dortein. Wir hatten Taschengeld mitbekommen und kauften stolz ein. Heinz einenweißen Spazierstock, was ich kaufte, weiß ich nicht mehr, aber für unser kleinesSchwesterchen kauften wir stolz eine Stoffpuppe.

Als ich 13 Jahre alt war, also 1922, wurden wir wegen Unterernährung aufs Landverschickt. Wir wurden bei verschiedenen Bauernfamilien in den DörfernKirchberg und Gleichen bei Gudensberg untergebracht. Ich kam zu einem Bauer inKirchberg, er hieß Gleißner. Als mich der Lehrer zum Hof brachte, war nur die alteBäurin da, alle anderen waren auf dem Feld. Sie wusste wohl nicht, was sie mit mirdünnem, kleinen Stadtkind anfangen sollte. So machte sie mir die Stubentüre aufund sagte zu mir: „Setz dich.“ Da saß ich also am blankgescheuerten Bauerntisch,und die Tränen waren schon nahe. Kurz darauf kam sie herein mit einem großenBierglas voll Milch, 2 gekochten Eiern und 2 riesigen Landbrotscheiben mitSchinken und sagte nur: „Iss“ und verschwand. Ich habe nur so gewürgt, dieTränen liefen mir die Backen herunter, denn ich meinte, ich müsse alles aufessen.Gottlob kam bald die Bauerntochter und erlöste mich.

Wir haben dann aber viel Spaß gehabt und lebten uns gut ein Unterricht hatten wirim Freien, in Scheunen oder im Wirtshaus. Ich weiß, dass da immer noch dieBierkringel von den Tischen gewischt werden mussten, und es roch schrecklichnach abgestandenem Bier und Tabak. Hilde schrieb mir damals ihren ersten Brief.sie war Ostern in die Schule gekommen und hatte wohl die Wörter aus ihrer Fibelherausgesucht. Jedenfalls lautete er in schönster Sütterlinschrift geschrieben:

„Annelise, ist in Eurer Scheune Heu, HaferSau und Eule? Mäht ihr Heu mit der Sense?

Hilde“

Es gibt noch viele Geschehnisse aus meiner Kinderzeit, die ich vielleicht nocheinmal später erzählen kann

Für heute will ich schließen

Anneli