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Igor S. Narski: Die Anmaßung der negativen Philosophie Theodor W. Adornos 1 OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig 18.01.2020 Akademie-Verlag Berlin 1975 Reihe: Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie. Hrsg. v. Manfred Buhr, Nr. 65 Einleitung Unter den Theoretikern der Frankfurter Schule zeichnet sich Theodor Wiesengrund Adorno (1903- 1969) durch sein Interesse an tiefen philosophischen Problemen aus. Viele Jahre nahm er aktiv an der Arbeit des Frankfurter Instituts für Sozialforschungen teil, das er eine Zeitlang auch leitete. Unter seinen Mitstreitern nimmt er eine typische, dabei in gewissem Sinne zugleich eine Ausnahmestellung ein, die zudem äußerst extrem ist. Das Typische dieser Position besteht darin, daß alle Grundprinzipien der Frankfurter philosophisch- soziologischen Schule wie z. B. die Darstellung von Imperialismus und Sozialismus als lediglich besonderer Spielarten der einheitlichen ‚‚modernen Industriegesellschaft“, die Leugnung der revolu- tionären Rolle des Proletariats, die metaphysische Verabsolutierung der dialektischen Kategorie Ne- gationinsbesondere in ihrer Anwendung auf die Gesellschaft, die demagogische Kritik des Totali- tarismus“ – bei Adorno, der beim abstrakten Antifaschismus begann und beim Antikommunismus endete, ihren überaus klaren Ausdruck gefunden haben. 1 Die Ausnahmestellung seiner Ansichten hingegen gründet darin, daß er der Kategorie Negationeinen alleszerstörenden, äußerst nihilistischen und pessimistischen Sinn verlieh. Adornos Rebellion gegen die Fetischisierung ideologischer Phänomene, die entfremdete Verdinglichung und Manipula- tion des gesellschaftlichen Bewußtseins in der bürgerlichen Gesellschaft, welche nicht nur in sozio- logischen, sondern auch in musiktheoretischen Untersuchungen ihren Ausdruck fand, verkörperte sich in seinem philosophischen Hauptwerk Negative Dialektik“ (1966) in konzentrierter Form. Hier nahm diese Rebellion eine äußerst globale und extreme Gestalt an, wie [10] sie aus der Geschichte der Philosophie bis dahin nicht bekannt war. Diese theoretische Rebellion ist jedoch nicht mehr in erster Linie gegen den Kapitalismus und seine reaktionärste politische Gestalt, den Faschismus, son- dern vielmehr gegen den Sozialismus und die Ideologie der kommunistischen Bewegung gerichtet. Die negative Dialektik“ (und die ihrem Wesen nach insgesamt negative Philosophie) Adornos kul- minierte im gleichnamigen, von 1959 bis 1966 geschriebenen Buch. Den Grundstein dazu bildeten drei Vorlesungen, die Adorno 1961 im Collège de France in Paris gehalten hat; die im Buch entwik- kelten Ideen der sogenannten Logik des Zerfallshaben aber eine weitaus längere Geschichte. Wie Adorno selbst festgestellt hat, reichen ihre Keime bis in seine Studentenjahre zurück. In der ersten Hälfte der vierziger Jahre schrieb er gemeinsam mit M. Horkheimer die Dialektik der Aufklärung“, und diese Arbeit war ein wesentlicher vorbereitender Schritt zur Erarbeitung von Adornos opus ma- gnum. Es besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil wird das Verhältnis des Autors zur Ontologie darge- legt, und zwar anhand des Materials der klassischen und gegenwärtigen Versuche bürgerlicher Phi- losophen, sie überzeugend zu entwickeln. Im zweiten Teil werden die Begriffe und Kategorien der negativen Dialektik betrachtet, und der dritte Teil schließlich hat eine Analyse der Kritik der prak- tischen Vernunft“ I. Kants, der Philosophie der GeschichteG. W. F. Hegels und Meditationen über Metaphysik nach Auschwitz“ – zum Inhalt, in denen die Methode der negativen Dialektik anhand dieser konkreten Modelledargelegt wird. Das letzte große Buch Adornos erlangte ziemlich schnell breite und teilweise skandalöse Berühmt- heit. Denn die Tatsache, von der die Gesinnungsgenossen Adornos, Horkheimers und Marcuses nicht offen sprechen wollten so wie über den Strick im Hause des Gehängten nicht gesprochen wird –‚ nämlich das Fiasko der Frankfurter Schule, die Sackgasse, in welche ihre fundamentalen Konzeptio- nen geraten waren in diesem Werk fand sie ihren äußerst entlarvenden Ausdruck. Der Autor hoffte, 1 Den wahren Charakter der Evolution seiner Anschauungen suchte Adorno dadurch zu maskieren, daß er seine Ideen- verwandtschaft mit Walter Benjamin (1892-1940), einem dem Marxismus nahestehenden hervorragenden Humanisten und Antifaschisten, besonders hervorhob. Doch davon darf man sich nicht in die Irre führen lassen; diese Verwandtschaft ist in vielem nur scheinbar. (Vgl. K. Sauerland, Walter Benjamin jako teoretyk wspólozesnej kultury, in: „Studia filozo- ficzne“, Warszawa 1971, Heft 6, S. 26).

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Igor S. Narski: Die Anmaßung der negativen Philosophie Theodor W. Adornos – 1

OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 18.01.2020

Akademie-Verlag Berlin 1975

Reihe: Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie. Hrsg. v. Manfred Buhr, Nr. 65

Einleitung

Unter den Theoretikern der Frankfurter Schule zeichnet sich Theodor Wiesengrund Adorno (1903-

1969) durch sein Interesse an tiefen philosophischen Problemen aus. Viele Jahre nahm er aktiv an der

Arbeit des Frankfurter Instituts für Sozialforschungen teil, das er eine Zeitlang auch leitete. Unter

seinen Mitstreitern nimmt er eine typische, dabei in gewissem Sinne zugleich eine Ausnahmestellung

ein, die zudem äußerst extrem ist.

Das Typische dieser Position besteht darin, daß alle Grundprinzipien der Frankfurter philosophisch-

soziologischen Schule – wie z. B. die Darstellung von Imperialismus und Sozialismus als lediglich

besonderer Spielarten der einheitlichen ‚‚modernen Industriegesellschaft“, die Leugnung der revolu-

tionären Rolle des Proletariats, die metaphysische Verabsolutierung der dialektischen Kategorie „Ne-

gation“ insbesondere in ihrer Anwendung auf die Gesellschaft, die demagogische Kritik des „Totali-

tarismus“ – bei Adorno, der beim abstrakten Antifaschismus begann und beim Antikommunismus

endete, ihren überaus klaren Ausdruck gefunden haben.1

Die Ausnahmestellung seiner Ansichten hingegen gründet darin, daß er der Kategorie „Negation“

einen alleszerstörenden, äußerst nihilistischen und pessimistischen Sinn verlieh. Adornos Rebellion

gegen die Fetischisierung ideologischer Phänomene, die entfremdete Verdinglichung und Manipula-

tion des gesellschaftlichen Bewußtseins in der bürgerlichen Gesellschaft, welche nicht nur in sozio-

logischen, sondern auch in musiktheoretischen Untersuchungen ihren Ausdruck fand, verkörperte

sich in seinem philosophischen Hauptwerk „Negative Dialektik“ (1966) in konzentrierter Form. Hier

nahm diese Rebellion eine äußerst globale und extreme Gestalt an, wie [10] sie aus der Geschichte

der Philosophie bis dahin nicht bekannt war. Diese theoretische Rebellion ist jedoch nicht mehr in

erster Linie gegen den Kapitalismus und seine reaktionärste politische Gestalt, den Faschismus, son-

dern vielmehr gegen den Sozialismus und die Ideologie der kommunistischen Bewegung gerichtet.

Die „negative Dialektik“ (und die ihrem Wesen nach insgesamt negative Philosophie) Adornos kul-

minierte im gleichnamigen, von 1959 bis 1966 geschriebenen Buch. Den Grundstein dazu bildeten

drei Vorlesungen, die Adorno 1961 im Collège de France in Paris gehalten hat; die im Buch entwik-

kelten Ideen der sogenannten „Logik des Zerfalls“ haben aber eine weitaus längere Geschichte. Wie

Adorno selbst festgestellt hat, reichen ihre Keime bis in seine Studentenjahre zurück. In der ersten

Hälfte der vierziger Jahre schrieb er gemeinsam mit M. Horkheimer die „Dialektik der Aufklärung“,

und diese Arbeit war ein wesentlicher vorbereitender Schritt zur Erarbeitung von Adornos opus ma-

gnum. Es besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil wird das Verhältnis des Autors zur Ontologie darge-

legt, und zwar anhand des Materials der klassischen und gegenwärtigen Versuche bürgerlicher Phi-

losophen, sie überzeugend zu entwickeln. Im zweiten Teil werden die Begriffe und Kategorien der

negativen Dialektik betrachtet, und der dritte Teil schließlich hat eine Analyse der „Kritik der prak-

tischen Vernunft“ I. Kants, der „Philosophie der Geschichte“ G. W. F. Hegels und Meditationen über

Metaphysik – „nach Auschwitz“ – zum Inhalt, in denen die Methode der negativen Dialektik anhand

dieser konkreten „Modelle“ dargelegt wird.

Das letzte große Buch Adornos erlangte ziemlich schnell breite und teilweise skandalöse Berühmt-

heit. Denn die Tatsache, von der die Gesinnungsgenossen Adornos, Horkheimers und Marcuses nicht

offen sprechen wollten – so wie über den Strick im Hause des Gehängten nicht gesprochen wird –‚

nämlich das Fiasko der Frankfurter Schule, die Sackgasse, in welche ihre fundamentalen Konzeptio-

nen geraten waren – in diesem Werk fand sie ihren äußerst entlarvenden Ausdruck. Der Autor hoffte,

1 Den wahren Charakter der Evolution seiner Anschauungen suchte Adorno dadurch zu maskieren, daß er seine Ideen-

verwandtschaft mit Walter Benjamin (1892-1940), einem dem Marxismus nahestehenden hervorragenden Humanisten

und Antifaschisten, besonders hervorhob. Doch davon darf man sich nicht in die Irre führen lassen; diese Verwandtschaft

ist in vielem nur scheinbar. (Vgl. K. Sauerland, Walter Benjamin jako teoretyk wspólozesnej kultury, in: „Studia filozo-

ficzne“, Warszawa 1971, Heft 6, S. 26).

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die Dialektik mit ihren eigenen Mitteln zu vernichten; doch entgegen seinen eigenen Wünschen zeigte

er, zu welcher Selbstvernichtung das pseudorevolutionäre kleinbürgerliche [11] Denken gelangt. Den

bereits in einigen Ländern existierenden und sich festigenden Sozialismus konnte Adorno natürlich

nicht abschaffen, aber seine lauthals vorgetragenen Invektiven an die Adresse des Kapitalismus,

obwohl in vielem treffend, hatten keineswegs dessen Vernichtung zum Ziel; statt dessen leistete er

einen gewichtigen Beitrag zur theoretischen Desorganisation der revolutionären Bewegungen.

Schließlich brachte es Adorno dahin, daß seine „negative Dialektik“ unfreiwillig die Unaufrichtigkeit

und Perspektivlosigkeit der Marcuseschen Konzeptionen entlarvte. Die der Frankfurter Schule ent-

sprossene Konzeption Adornos erwies sich als deren Selbstverneinung.

Die vorliegende Arbeit versteht sich als Analyse der philosophischen Grundkonzeption Adornos, die

sich in der „Negativen Dialektik“ um bestimmte Deutungen der Kategorien „Identität“, „Negation“,

„Negation der Negation“ und einiger anderer sowie um entsprechende Interpretationen der Philoso-

phien von Hegel, Kierkegaard, Nietzsche und Heidegger konzentriert. Der programmatische „Anti-

systemcharakter“ der Adornoschen Konzeption und die aphoristische „Rätselhaftigkeit“ seiner Über-

legungen erschweren die Analyse; diese Schwierigkeiten sind im Prinzip überwindbar, wenn auch

nicht jede Zweideutigkeit seiner Überlegungen eindeutig entwirrt werden kann. Was die Hindernisse

betrifft, die Adorno der revolutionären materialistischen Dialektik des Marxismus in den Weg legen

wollte, so werden sie von der Entwicklung selbst hinweggefegt.

„Identität“, „Nichtidentität“ und „Negativität“

„Identität“ und „Positivität“ waren stets Objekt schärfster Attacken von seiten Adornos. Er sparte

nicht mit Worten, um seine Empörung gegen den angeblich antidialektischen Charakter der Kategorie

„Identität“ und den theoretischen wie praktischen „Konservatismus“ der Kategorie „Positivität“ aus-

zudrücken. Die Kritik von „Identität“ ist Adorno Ausgangspunkt für die Konstruktion seiner gesam-

ten „negativen Dialektik“ und Unterpfand dessen, daß die Dialektik „durch die Eiswüste der Abstrak-

tion hindurch“ letztlich zum „konkreten Philosophieren“ über das Einzelne gelangt.2 Diese Verspre-

chungen begeisterten [12] die bürgerlichen Rezensenten: B. Rang rühmte den Autor für die „Rettung“

der Konkretheit, und Habermas zählte ihn, neben Heidegger und Arnold Gehlen, zu den Repräsen-

tanten der einflußreichsten westdeutschen philosophischen Strömungen.3

All seine unzähligen Angriffe richtete Adorno gegen die Dialektik Hegels, und das für ihn bequemste

Beispiel des Wirkens der Kategorie „Identität“ ist die Identität von Sein und Denken in der Hegel-

schen Philosophie. Bequem deshalb, weil die vorliegende Hegelsche Identität tatsächlich der Kritik

nicht standhält, weil sie idealistischen Charakter trägt. Und indem er sie angreift, benutzt Adorno

erstens die Kritik am Idealismus als Garantie für die Rechtmäßigkeit seiner Anschuldigungen gegen

die Kategorie „Identität“ überhaupt (diese Beschuldigungen sind übertrieben und, sofern sie über die

Kritik der Hegelschen Auffassung dieser Kategorie hinausgehen, unrechtmäßig), und zweitens dazu,

sich in das Kostüm eines „prinzipiellen“ Gegners des Idealismus zu hüllen. Habermas tritt teilweise

ebenso auf, wenn er die objektive Dialektik nicht nur in ihrer Hegelschen, sondern auch in materiali-

stischer Gestalt als angeblich in beiden Fällen spekulativ, das heißt idealistisch, ablehnt. Etwas anders

baut Marcuse seine Überlegungen auf, wenn er bereits der Hegelschen Identität von Sein und Denken

Züge einer, weder Hegel noch dem Marxismus eigenen, totalen Negativität und Selbstzerstörung zu-

schreibt.4 Übrigens stellt auch Adorno Hegel nicht selten als Vorläufer Nietzsches dar.

Adorno entwickelte eine lange Liste von „Verfehlungen“ der Identität von Sein und Denken bei He-

gel; einige dieser Anschuldigungen sind vollauf berechtigt, andere entbehren nicht eines rationellen

Kerns. Diese Identität bedeute Versöhnung der Gegensätze5, sie sei apologetisch, kapituliere vor der

Herrschaft der Gewalt, zerstöre die Freiheit und sei Grundlage der sozialen Anpassung. Seine

2 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1966, S. 7. 3 Vgl. J. Habermas, Ein philosophierender Intellektueller, in: Über Theodor W. Adorno, Frankfurt/Main 1968, S. 43. 4 Vgl. H. Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Neuwied u. Berlin

(West) 1962, S. 247 f., 317. 5 Th. W. Adorno, Aspekte der Hegelschen Philosophie, Frankfurt/ Main u. Berlin (West) 1957, S. 37.

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allgemeine Schlußfolgerung in bezug auf die Identität von Sein und Denken, daß sie idealistische

Ideologie sei, ist zweifelsohne von marxistischen Einschätzungen der Philosophie Hegels nicht un-

berührt; doch diese richtige Schlußfolgerung wird von Adorno zur Begründung der falschen These

von der absoluten Gegensätzlichkeit zwischen „Identität“ und „Nichtidentität“ herangezogen. Dies

[13] These hat mit Dialektik nichts gemein und ist ihr folglich feindlich, sie ist metaphysisch.

Die These von der „Nichtidentität“ ist eines der fundamentalen methodologischen Prinzipien

Adornos. Er stellte sie nicht nur der Kategorie „Identität“, sondern auch Kategorien wie „Positivität“,

„Aufheben“, „dialektische Negation“, „Werden“, „Negation der Negation“ entgegen. Wie wir sehen,

ist nicht so sehr Hegel als vielmehr die Dialektik des Marxismus Zielscheibe der Angriffe Adornos.

In seinem besonderen Stil, der darauf abzielt, aphoristische Lakonismen mit einem verborgenen Hin-

tersinn zu vereinen, erklärt der Autor der „Negativen Dialektik“, daß alle bisher existierende Ontolo-

gie beseitigt werden und an ihre Stelle „das Nichtidentische, Seiende, die Faktizität“ treten müsse.

Auf diese Weise hypostasiert die negative Dialektik „den Begriff des Nichtbegrifflichen“.6 Mit ande-

ren Worten, Adorno bekennt, daß das Prinzip der „Nichtidentität“ gegen das begriffliche, rationale

Denken gerichtet ist. Das Versprechen der „Faktizität“ geht bei ihm Hand in Hand mit der Behaup-

tung, daß angeblich jede „Identität“ der Feind alles Faktischen, Einzelnen, Besonderen und überhaupt

Konkreten sei.7

Die Verwünschungen an die Adresse der „Identität“, mit denen Adorno nicht geizt, ähneln in einigen

Punkten den Überlegungen des Begründers der „allgemeinen Semantik“, A. Korzybski. In seiner Ar-

beit „Wissenschaft und Gesundheit“ (1933) stellte er die These auf, jede Identifizierung sei dazu ver-

urteilt, sich in diesem oder jenem Grade als falsche Einschätzung zu erweisen.8 Wie Korzybski hat

auch Adorno vollständig vergessen, daß eine Identifizierung nicht nur absolut und vollständig, sondern

auch unvollständig, relativ sein, das Moment des Unterschieds in sich enthalten – kurz gesagt, dialek-

tische Identifizierung sein kann; und weiter hat Adorno vergessen (oder gibt sich den Anschein, es

vergessen zu haben), daß die Hegelsche Kategorie „Identität“ nach der Absicht des großen deutschen

Dialektikers in sich den Keim des Unterschieds enthält, weshalb sie dem Vorhandensein der faktischen

Vielfalt der Dinge und dem Entstehen der Konkretheit auch ganz und gar nicht im Wege stand, wenn-

gleich sie, infolge des Hegelschen Idealismus, auch nicht imstande ist, dieses Entstehen zu erklären.

Was den Marxismus betrifft, so stellte er die Kate-[14]gorie „Identität“ auf eine materialistische

Grundlage und befreite sie von der schlechten spekulativen Abstraktheit, wobei er gleichzeitig den

formallogischen Begriff „absolute Identität“ als eine spezifische Abstraktion, die in bestimmten Gren-

zen vollauf berechtigt und für bestimmte Zwecke anwendbar ist, durchaus akzeptiert.

Nicht nur die marxistische, sondern auch die Hegelsche Auffassung der Kategorie „Identität“, das

heißt Positivität, verwirft nicht die Kategorien „Unterschied“ und „Negation“ und berücksichtigt folg-

lich die Negativität der Dinge und Prozesse. Diese unbestreitbare Tatsache gefiel Adorno und den

anderen Theoretikern der Frankfurter Schule überhaupt nicht; deshalb fielen sie über die Hegelsche

Auffassung dieser Begriffe her. Ihre Kritik der Positivität bei Hegel ist durch ihre Kritik der Hegel-

schen Negativität bedingt und umgekehrt. Sehen wir uns an, welchen Inhalt diese Kritik hat und zu

welchen Resultaten sie führt.

Adorno beginnt mit Lob an die Adresse Hegels9, der in seinem philosophischen Schaffen zwei, in der

Wirklichkeit sehr verschiedene Begriffe der Negativität miteinander verbunden habe – der eine war

vom jungen Hegel entwickelt worden und wurde von ihm der „Positivität“, das heißt dem apologeti-

schen und konformistischen Charakter der christlichen Religion entgegengestellt, und der andere

wurde später von ihm entwickelt, um das Resultat des Wirkens einer der operativen Kategorien seiner

Logik, nämlich der dialektischen Negation, zu kennzeichnen, und bildete den Gegensatz zur meta-

physischen Bestätigung. Über diesen Unterschied setzte sich Adorno hinweg, als er später die

6 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 138. 7 Vgl. ebenda, S. 22, 161 f. Siehe auch S. 17 f.: „Philosophie hat ... ihr Interesse dort, wo Hegel ... sein Desinteressement

bekundet: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen.“ 8 A. Korzybski, Science and Sanity, Lakeville 1948, S. XIV. 9 Vgl. M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1969, S. 30.

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Hegelsche Kategorie „Negativität“ und die ihr entsprechende Wirkungssphäre der Negation als un-

zureichend erklärte und dies dem Gesetz der Negation der Negation anlastete, auf dessen Hegelsche

Deutung und somit auch auf dessen marxistische er dann auch alle seine Angriffe richtete.

Vergleichen wir zu Beginn Adornos „Drei Studien über Hegel“ (1963) mit dem Marcuseschen Werk

„Vernunft und Revolution“ (1941). Das wird uns gestatten, die Besonderheiten der Position Adornos

plastischer herauszuarbeiten.

Im genannten Werk konstruierte Marcuse, der zu jener Zeit den Übergang vom hegelianisierenden

Revisionismus zum Freudschen Neo-Anarchismus noch nicht vollzogen hatte, ein [15] Schema, mit-

tels dessen er „Vernunft“ und „Verstand“ bedeutend schärfer gegenübersteht, als Hegel dies in der

„Enzyklopädie“ getan hatte. Bei Marcuse wird „Vernunft“ zu einer irrationalen „kritischen“ Kraft,

die alle Hindernisse überwindet und als einzige imstande ist, dem Druck der Wirklichkeit zu wider-

stehen. „Die Vernunft ist in ihrem tiefsten Wesen Wider-Spruch, Opposition, Negation, solange die

Vernunft noch nicht wirklich ist. Wird die widersprechende, oppositionelle, negative Kraft der Ver-

nunft gebrochen, so bewegt sich die Wirklichkeit unter ihrem eigenen positiven Gesetz und entfaltet

ungehindert vom Geist ihre repressive Gewalt.“10

Im Nachwort zur zweiten Auflage (1954), dem diese Sätze entstammen, hat Marcuse allerdings dieses

„Wenn“ in eine unbedingte Behauptung verwandelt, zumindest in bezug auf die Arbeiterklasse, die

seiner Meinung nach ihre revolutionäre Rolle vollständig und endgültig eingebüßt hat. Sonst hätte er

kaum geschrieben: „Weder die Hegelsche noch die Marxsche Idee der Vernunft ist einer Verwirkli-

chung nähergekommen, weder die Entwicklung des Geistes noch die der Revolution nahm die von

der dialektischen Vernunft ins Auge gefaßte Form an.“11

Der nächste Schritt auf dem Wege der Ersetzung der Dialektik Hegels und der Marxschen Dialektik

– dieser zwei, sich in Wirklichkeit prinzipiell voneinander unterscheidenden Methoden, die von

Adorno und Marcuse allerdings der „Bequemlichkeit“ halber in einem Atemzug genannt werden –

durch die Dialektik der absoluten Negation war bei Marcuse sein „Versuch über die Befreiung“

(1968). Allen Rebellen, so schreibt Marcuse, „gemeinsam ist ... die Radikalität der Weigerung“12, das

heißt der allgemeinen Abkehr sowohl vom Kapitalismus als auch vom Sozialismus. Und als metho-

dologisches Prinzip für Neo-Anarchisten und Extremisten aller Schattierungen stellt er die abenteu-

erliche und letztlich selbstmörderische Losung auf: „Die Kette der Ausbeutung muß an ihrem stärk-

sten Glied brechen.“13

Im Unterschied zu Adorno verweist Marcuse auf die „Dialektik“ von Negativität und Positivität: in

der ersten existiert ein Moment der letzteren. Im Prinzip ist das auch so, nur – von welcher „Positivi-

tät“ soll bei Marcuse die Rede sein, wenn er die Perspektiven der gesellschaftlichen Entwicklung

völlig [16] verloren hat (was auch der völlige Zusammenbruch seiner Hoffnungen auf „rebellische

Potenzen“ der Hippies unterstreicht, die sich bekanntlich nach ihrem chaotischen Aufbegehren und

dem nachfolgenden sexuellen Ästhetentum dem religiösen Mystizismus zugewandt haben); oder

sollte man die jetzige faktische Aussöhnung Marcuses mit den in Westeuropa und den USA existie-

renden kapitalistischen Verhältnissen „Positivität“ nennen?

Aber das allgemeine Schema der Angriffe auf Hegel ist bei Marcuse und Adorno das gleiche. Ihrem

Wesen nach ist dies eine der Formen, in der gegenwärtig die Ausweitung der Front von Angriffen auf

Marx seitens aller bürgerlichen Marxologen und Revisionisten vor sich geht. Die Argumentation ist

beispielsweise folgende: Hegel hat das Prinzip der Negation der Negation aufgestellt, dabei aber „ver-

gessen“, daß dieses mit all seiner Kraft sowohl auf seine eigene Lehre als auch auf die Philosophie

überhaupt angewendet werden muß; dafür hat der junge Marx dies nicht vergessen, dessen Konzeption

10 H. Marcuse, Vernunft und Revolution, a. a. O., S. 370. 11 Ebenda, S. 369. 12 H. Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt/Main 1969, S. 19. 13 Ebenda, S. 121. Es ist offensichtlich, daß diese Losung nichts mit der Überlegung gemein hat, man solle beim Gegner

die grundlegenden, anscheinend „beständigsten“ Thesen der theoretischen Kritik unterziehen, worauf denn Marcuse

hauptsächlich seine Hoffnungen gründet.

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der Entfremdung der Arbeit angeblich jegliche Philosophie untergräbt. Marcuse behauptet, „daß alle

philosophischen Begriffe der Marxschen Theorie gesellschaftliche und ökonomische Kategorien

sind, während Hegels gesellschaftliche und ökonomische Kategorien allesamt philosophische Be-

griffe sind. Selbst die Marxschen Frühschriften sind nicht philosophisch. Sie drücken die Negation

der Philosophie aus, obgleich noch in philosophischer Sprache.“14 Bei Adorno ist diese Konzeption

nicht so deutlich formuliert, dafür durchdringt sie seine gesamte Philosophie.

Aus diesen Thesen geht insbesondere die für die Frankfurter Schule und ihre sich häufig wiederho-

lenden Vertreter überaus charakteristische Behauptung hervor, daß der Marxismus keine Philosophie

und die Philosophie keine Wissenschaft sei: aus dem Gegensatz von geistiger und körperlicher Arbeit

hervorgegangen, müsse das Philosophieren verschwinden, sobald dieser Gegensatz „aufgehoben“

wird, und das habe im Prinzip schon der junge Marx realisiert. Diese Behauptung ist falsch; sie rührt

auch aus folgendem her: die Tatsache, daß in den antagonistischen Klassengesellschaften Ideologie

falsches Bewußtsein ist, wird unzulässigerweise auf Ideologie überhaupt, insbesondere aber auf die

wissenschaftliche Ideologie übertra-[17]gen. Eine solche These entspringt aus der Identifizierung der

Schicksale bürgerlicher Philosophie mit den Geschicken progressiver Philosophie überhaupt, das

heißt aber in unserer Zeit vor allem – der Philosophie des Marxismus. Natürlich haben nach Hegel

viele Denker die Negation und Beseitigung der Philosophie proklamiert, wobei sie die Philosophie

im alten Sinne meinten. Auf diese Weise trat Feuerbach auf, und nach ihm Belinski, Dembowski und

andere revolutionäre Demokraten; die Junghegelianer Ruge, Heß und Stirner hatten die gleiche Posi-

tion. Aber erst Marx und Engels machten aller vorherigen Philosophie tatsächlich ein Ende durch die

große revolutionäre Wende – die Erarbeitung des dialektischen und historischen Materialismus.

In den „Drei Studien zu Hegel“ beschuldigt Adorno den großen Dialektiker, daß er die „Negativität

des Ganzen“ nicht erreicht habe15, da das Hegelsche System in Gestalt der vollständigen Realisierung

der absoluten Idee ein positives Fazit habe. Weiter fallen allerdings die Wege von Adorno und

Marcuse nicht zusammen. Adorno benutzt auf seine Weise die Schlußfolgerung des militanten An-

tidialektikers und Antikommunisten B. P. Wyscheslawzew, „... der Kampf endet immer: er ist kein

ewiges und absolutes Prinzip des Seins, denn wenn er sich ewig fortsetzte und allein existierte, so

würden die Gegensätze einander verschlingen, und alles stürzte ins Nichts.“16 Wyscheslawzew suchte

die schließliche Versöhnung der Gegensätze. Adorno hingegen argumentiert folgendermaßen: der

Kampf hört bestimmt auf, aber weil das höchste Prinzip des Seins die umfassende Negation ist, müs-

sen alle Gegensätze einander verschlingen, wonach alles zerfällt und ins Nichts stürzt. Nur der Zerfall

und das Nichts bleiben. In den Schriften Adornos dominiert der Nihilismus – umfassender als bei

Nietzsche oder Heidegger. Er beseitigt die Kategorie des Werdens, ersetzt sie durch die Begriffe

„Bruch“ und „Tod“ worüber in der „Negativen Dialektik“ in vielen schönklingenden Wendungen zu

lesen ist. Damit betrat Adorno den Kierkegaardschen „Weg des Negativen“17 nicht nur, sondern

schritt auch auf ihm fort, weiter als irgendein Denker vor ihm.

Der totale Nihilismus wurde von Adorno in die Charakterisierung der Negativität als Methode einge-

führt: „Dialektik, Inbegriff negativen Wissens möchte kein anderes neben sich [18] haben; noch als

negative schleppt sie das Gebot der Ausschließlichkeit aus der positiven, dem System, mit sich fort

... Dazu muß Dialektik, in eins Abdruck des universalen Verblendungszusammenhangs und dessen

Kritik, in einer letzten Bewegung sich noch gegen sich selbst kehren.“18 Hier wird gleichsam der

Schlußpunkt gesetzt, und es führt kein Weg weiter.

14 H. Marcuse, Vernunft und Revolution, a. a. O., S. 229. Vgl. auch seine Arbeit: Zum Begriff der Negation in der Dia-

lektik, in: H. Marcuse, Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1969, S. 185-191. 15 Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt/Main 1963, S. 104. Dieser Vorwurf hindert Adorno nicht daran, bei

anderen Gelegenheiten Hegel als Vorläufer Schopenhauers, Nietzsches und Diltheys zu bezeichnen (vgl. ebenda, S. 58,

92, 98). 16 B. P. Vyšeslavcev (B. Petrov), Filosofskaja niščeta marksizma, Frankfurt/Main 1957 (Possew-Verlag), S. 25 (russ.) 17 „Die Ironie ist wie das Negative der Weg“; S. Kierkegaard, Der Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates,

München 1929, S. 339. 18 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 395.

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Seinerzeit rügte der russische Existentialist und extreme Irrationalist L. Schestow Kierkegaard wegen

seiner angeblich „unzureichenden“ Irrationalität. Heute versucht der deutsche totale Nihilist Adorno,

Nietzsche und Heidegger im philosophischen Nihilismus zu übertrumpfen. Wie Heidegger Ende der

zwanziger Jahre verkündet, „ist das Wesen des Nichts: die Nichtung. Sie ist weder eine Vernichtung des

Seienden, noch entspringt sie einer Verneinung“.19 Fast vierzig Jahre nach der aufsehenerregenden Rede

des „Vaters“ des deutschen Existentialismus erklärt Adorno die Negativität als Produkt der Negation

und zerstört sie durch eine neue Negation: er schlägt ihr vor, sich selbst zu beseitigen, und rät ihr, wie

einem Sterbenden, die Rechnung mit dem Leben abzuschließen. Seine „Negative Dialektik“ beendet er

mit den Worten, das negative Denken sei „solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“.20

In der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie wehen die allesvertrocknenden Winde der Vernich-

tung: die Ideologen des Kapitalismus, welche ihr persönliches Schicksal mit seinen Geschicken ver-

binden, selbst wenn sie sich als seine „Kritiker“ betrachten, schaffen selbst jenes „geistige Vakuum“,

in dem wirkliche Kritik, Widerstand und Kampf nicht gedeihen können. Adorno schreibt viel darüber,

daß nach den Gaskammern und Krematorien von Auschwitz bürgerliche Kultur unmöglich sei, denn

sie habe sich selbst entehrt, und es gebe keine Ideale, die sie mit neuen Hoffnungen beleben könnten.

Aber indem er den Zustand der Ausweglosigkeit zu erhärten sucht, legt er damit auch an die antibür-

gerliche Kultur Hand an, denn er bemüht sich, diejenigen zu entwaffnen, die einen echten Ausweg

suchen – den Ausweg aus dem Kapitalismus zu Sozialismus und Kommunismus. [19]

„Aufheben“, „Negation“ und „Negation der Negation“

Eine der Besonderheiten der Manipulationen, die Adorno mit der Geschichte der Philosophie vollführt,

ist sein Versuch, dem bürgerlichen Denken in seinen progressiven Entwicklungsperioden Züge seines

späteren Verfalls zu verleihen. In diesem Zusammenhang erklärt er, daß Hegel in der Deutung des

Begriffs der bestimmten Negation Nietzsche „voraufgehe“, insofern er gewußt habe, daß die Negation

auch auf sich selbst angewendet werden müsse und daß das Werden selbst negativ sei, denn es zerstöre

das ihm voraufgegangene Sein, so daß die gesamte Philosophie Hegels „Inbegriff der Negativität“21

sei; wenn sie irgendwo ein schöpferisch-konstruktives Moment enthalte, so sei dieses auf jeden Fall

konservativ.22 Bei solchen und ähnlichen Behauptungen machen sich Adorno und seine Mitstreiter

nicht sehr viel Gedanken um Hegel, denn die Verfälschung der Hegelschen Dialektik dient als beque-

mes Mittel zum Zweck, nämlich, die marxistische Dialektik verfälschen zu können. Steigerwald hatte

recht, als er bemerkte, daß hier „das ‚Nein‘ Nietzsches plötzlich neben das ‚Nein‘ von Marx“ tritt.23

Zur Realisierung dieser Konzeption werden aber auch stärker „professionelle“ Verfahren angewen-

det. So etwa, wenn Marcuse darauf verweist, daß die gesamte Sphäre des objektiven Geistes bei Hegel

aus entfremdeten Institutionen bestehe und die soziale Wirklichkeit aus diesem Grunde bei ihm ne-

gativ sei24, und wenn Adorno behauptet: „Noch in der Vorrede zur Phänomenologie wird Denken,

Erzfeind jeder Positivität, als das negative Prinzip charakterisiert“25, obwohl sich der spätere, reife

Hegel dennoch als ungenügend „negativ“ herausstellte. Worüber schrieb aber Hegel in der Vorrede

und der Einleitung zur „Phänomenologie des Geistes“ tatsächlich?

Bereits in der „Phänomenologie des Geistes“ war er Gegner einer Negativität, die als Tätigkeit ledig-

lich den erreichten Inhalt widerlegt und ihn „zu nichte zu machen“ weiß.26 In der „Vorrede“ zu seinem

ersten großen Werk schreibt Hegel, daß begreifendes Denken das im Entwicklungsprozeß entste-

hende „bestimmte Negative, und hiermit ebenso ein positiver Inhalt“ ist.27 Noch bestimmter spricht

19 M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt/Main 1969, S. 34. 20 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 398. 21 Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a. a. O., S. 63. 22 Ebenda, S. 112. 23 R. Steigerwald, Wie kritisch ist Herbert Marcuses „kritische Theorie“?, in: Die „Frankfurter Schule“ im Lichte des

Marxismus, Frankfurt/Main 1970, S. 99. 24 H. Marcuse, Vernunft und Revolution, a. a. O., S. 317. 25 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 46. 26 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Stuttgart 1951, S. 55. 27 Ebenda.

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sich Hegel in der „Einleitung“ gegen die nihilistische Behandlung der Negativität aus: „Der [20] Skep-

ticismus, der mit der Abstraktion des Nichts oder der Leerheit endigt, kann von dieser nicht weiter

fortgehen, sondern muß es erwarten, ob, und was ihm etwa Neues sich darbietet, um es in denselben

leeren Abgrund zu werfen.“28 Bei der Analyse des Begriffs der allgemeinen Freiheit schreibt Hegel

folgendes: „Kein positives Werk noch That kann also die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt

ihr nur das negative Thun; sie ist nur die Furie des Verschwindens ... Das einzige Werk und That der

allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen innern Umfang und Erfüllung hat,

denn was negirt wird, ist der unerfüllte Punkt des absolutfreien Selbsts; er ist also der kälteste platteste

Tod, ohne mehr Bedeutung, als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers.“29

In der „Wissenschaft der Logik“ trat Hegel gegen die Behauptung auf, „daß die Dialektik nur ein

negatives Resultat habe“.30 Die Kategorie „Negativität“ bei Adorno verabsolutiert aber gerade dieses

negative Resultat, ähnlich wie dies in der neuesten bürgerlichen Ideologie geschieht, über die Adorno

selbst scharfsinnig schreibt, daß sie an allem verzweifelt – sowohl am Leben als auch an der Erlösung

durch den Tod. Damit übertrumpfte er Freud und dessen Behauptung, daß der Glauben an die innere

Gesetzmäßigkeit des Todes möglicherweise auch nur eine Illusion sei, die wir uns geschaffen hätten,

um die Bürde der Existenz zu ertragen.

Das sind die Tatsachen, und aus ihnen folgt, daß das „negative Prinzip“ Hegels seinem Wesen nach

der Adornoschen Kategorie „Negativität“ entgegengesetzt ist, denn letztere gleicht der kalten „Furie

des Verschwindens“, und man kann mit Hegels Worten außerdem noch von ihr sagen, sie drücke

„aber nicht nur dies aus, daß dieser Inhalt eitel, sondern auch, daß diese Einsicht selbst es ist“.31

Adornos „Negativität“ hat nichts gemein mit der wahrhaft dialektischen Hegelschen Negation oder

dem „Aufheben“, das nicht nur die Negation des Voraufgegangenen einschließt, sondern auch das

Rationale des Vorhergehenden aufbewahrt und es auf ein neues, höheres Entwicklungsniveau hebt,

das heißt, an die Kategorie „Werden“ heranführt.

Der konstruktive und positive Charakter des „Aufhebens“ ist in den ästhetischen Analysen Adornos

noch nicht verschwun-[21]den, wo er Überlegungen zur Einheit von Behauptung und Negation an-

stellt; aber der Philosoph Adorno läßt diesen Wesenszug einfach verschwinden, so daß er nicht nur

die rationellen Ideen der „Phänomenologie des Geistes“ nicht entwickelt, sondern sie, im Gegenteil,

vollständig zurückweist.

Der sophistische Gebrauch der Autorität Hegels ist jedoch für Adorno lediglich Voraussetzung für

die Verfälschung der Marxschen „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ mit dem Ziel, die in

ihnen enthaltene Analyse der Hegelschen Dialektik zu seinen eigenen Zwecken zu verwenden.32

Adorno bemüht sich, den Sinn der Marxschen Aussagen zu den Begriffen „Positivität“, „Aufheben“

und zum Gesetz der Negation der Negation bei Hegel dahingehend zu entstellen, als seien sie gegen

jegliche Positivität und das Gesetz der Negation der Negation als solches gerichtet und sprächen

zugunsten der absoluten Negativität. Aber auch hier wird der Sinn der Primärquelle verfälscht.

Marx hat es tatsächlich als wesentlichen Mangel der Hegelschen Dialektik angesehen, daß in der prak-

tischen Darlegung der Kategorie „Aufheben“ bei Hegel überall, besonders aber in der Philosophie des

Geistes, das Moment des Erhaltens hypertrophiert wird, was zur Konservierung des Alten führt. Das

ist „die Wurzel des falschen Positivismus Hegels oder seines nur scheinbaren Kritizismus“33. Aber

dieser Hypertrophie stellte Marx keinesfalls die „umgekehrte“ Hypertrophie des Moments der Zerstö-

rung, Vernichtung entgegen. Später schrieb Engels, vor der dialektischen Philosophie bestehe „nichts

28 Ebenda, S. 73. 29 Ebenda, S. 453 f. 30 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Zweiter Teil, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, Stuttgart 1964, S. 338. Auch Lukács

hatte bereits versucht, aus der Hegelschen Konzeption das Prinzip extremer Negativität zu abstrahieren (vgl. G. Lukács,

Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied u. Berlin (West) 1968, S. 353). 31 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 55. 32 Vgl. z. B. Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a. a. O., S. 30. 33 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Ergänzungs-

band, Erster Teil, Berlin 1968, S. 581.

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Endgültiges, Absolutes, Heiliges; sie weist von allem und an allem die Vergänglichkeit auf, und

nichts besteht vor ihr als der ununterbrochene Prozeß des Werdens und Vergehens, des Aufsteigens

ohne Ende vom Niedern zum Höhern“34. Engels weist die absolute Vernichtung zurück, die nicht zum

Entstehen des Neuen beiträgt und der „unnützen“ Negation gleicht, von der Lenin später in den „Phi-

losophischen Heften“ schrieb.

Es bleibt auch noch die Frage, wofür und wie der junge Marx das Gesetz der Negation der Negation

kritisierte. Adorno stellt die Sache so dar, als ob Marx das Gesetz der zweifachen dialektischen Ne-

gation als unwahr angesehen und für eine einmalige Negation plädiert hätte, die durch keinerlei

zweite Negation und überhaupt durch nichts eingeschränkt sei. Eine [22] solche Deutung der entspre-

chenden Seiten in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ ist völlig falsch. Marx trat ge-

gen die idealistische Interpretation der Negation der Negation auf, gegen jene spezifisch Hegelsche

Verkörperung dieses Prinzips, die vom Geist ausgeht, der sich in die Natur, Körperlichkeit, Materie

entfremdet und dann zu sich selbst zurückkehrt. Die absolute Positivität der Negation der Negation –

das ist die falsche idealistische Behauptung eines geistigen Absolutums als Ursprung der Welt, aber

das positiv auf sich selbst gründende Positive – das ist die wahrhaft materialistische These von der

Ursprünglichkeit der Natur, die keines ihr voraufgehenden Weltgeistes, keiner absoluten Idee oder

dergleichen bedarf.

Bei Hegel ist „die entfremdete Wesenswirklichkeit des Menschen ... nichts als Bewußtsein, nur Ge-

danke der Entfremdung, ihr abstrakter und darum inhaltsloser und unwirklicher Ausdruck, die Nega-

tion. Die Aufhebung der Entäußerung ist daher ebenfalls nichts als eine abstrakte, inhaltslose Aufhe-

bung jener inhaltslosen Abstraktion, die Negation der Negation.“35 Im idealistischen System wird die

kritisierte soziale Wirklichkeit in der Regel rein geistig „aufgehoben“ und folglich keiner wirklichen

Kritik unterzogen. In diesem Sinne sind schon in der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes“ der

„unkritische Positivismus und der ebenso unkritische Idealismus der spätem Hegelschen Werke“ la-

tent, im Keim vorhanden.36

In dieser Hinsicht wies Marx nicht nur die Negation der Negation, sondern bereits die erste Negation

zurück, aber nicht jede, sondern nur die dialektisch-idealistische Negation und Negation der Nega-

tion. Bereits in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ negiert er zwar theoretisch, aber

mit einem seiner Tendenz nach bereits deutlich sichtbaren „Ausweg“ in die Praxis das Privateigentum

an Produktionsmitteln und betrachtet den Kommunismus als „positive Aufhebung des Privateigen-

tums als menschlicher Selbstentfremdung“37, das heißt als Negation der Entfremdung der Arbeit, mit

anderen Worten, als Negation der Negation. All dies unterscheidet sich von den nihilistischen Über-

legungen Adornos wie Tag und Nacht.

Adorno charakterisiert seinen Begriff der Negativität als be-[23]sonderes „Bedürfnis“, das sich selbst

negiere38. Betrachtet man sie durch diese Brille der „Negativität“, kann man sowohl vom historischen

als auch vom Erkenntnisprozeß sagen, er „frißt sich auf wie die mythischen Götter mit Vorliebe ihre

Kinder“.39 Sein Schüler A. Schmidt sekundiert ihm: „Zur Dialektik der Geschichte gehören wir mit

Fleisch und Blut. Wir konstituieren die Negativität und versuchen das Negative selbst zu negieren.“40

Auf diese Weise sind die Tiraden von der alles zerstörenden Negativität, die als „spekulative Kraft,

das Unauflösliche aufzusprengen“41, wirksam wird, aufs engste mit einer völlig verzerrten Interpre-

tation der Negation der Negation verknüpft.

34 F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd.

21, Berlin 1962, S. 267 (Hervorhebung von mir – I. N.). 35 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a. a. O., S. 584 f. 36 Ebenda, S. 573. 37 Ebenda, S. 536. 38 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 397. 39 Ebenda, S. 392. 40 A. Schmidt, Diskussionsbeitrag, in: Die „Frankfurter Schule“ im Lichte des Marxismus, a. a. O., S. 139. A. Schmidt

hat in seiner Behandlung der Dialektik der Geschichte vieles direkt von Lukács (vgl. H. Ley/Th. Müller, Kritischer Ver-

nunft und Revolution. Zur Kontroverse zwischen Hans Albert und Jürgen Habermas, Köln 1971, S. 131). 41 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 36.

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Adorno argumentiert folgendermaßen: „Die Negation der Negation macht diese (das heißt die Nega-

tion – I. N.) nicht rückgängig, sondern erweist, daß sie nicht negativ genug war.“42 In dem Maße, wie

die Dialektik von Seiten der formalen Logik beeinflußt wird, nähert Adorno die Negation der Selbsti-

dentifikation an, und das konformistische und apologetische Verhältnis zur Wirklichkeit wird in die

völlige Leugnung von Veränderungen verwandelt. Indem Adorno die Kritik am Gesetz der Negation

der Negation als Zurückweisen des Hegelschen idealistischen Systems darstellt, gewinnt er anschei-

nend Überzeugungskraft: „Die Rückkehr des Resultats der Bewegung in ihren Beginn annulliert es

tödlich.“43 Tatsächlich, die derart aufgefaßte Negation der Negation, welche alle Entwicklung in ei-

nen unauflöslichen Kreis einschließt, bringt sie zum Erliegen. Hierbei benutzt Adorno die Kritik des

jungen Marx an Hegel, der in der Gesellschaft die Negation der Negation auf die Restauration des

Alten reduziert.

Was stellt nun Adorno der Hegelschen Vereinigung des Endes mit dem Anfang entgegen, wenn er

fordert, die Identifizierung der Negation der Negation mit der Positivität zurückzuweisen, da in ihr

„das antidialektische Prinzip“, die traditionelle Logik, angeblich die Oberhand gewinnt?44 Seiner An-

sicht nach „ist Negation der Negation keine Positivität“.45 Es wird also gefordert, daß die Dialektik

sich selbst negiert, somit die ursprüngliche Negation bis zum Äußersten führt, so daß sie total, alles-

verzehrend wird.

In den fünfziger Jahren schrieb R. Heiss, ein bürgerlicher Historiker der Dialektik, der der Frankfurter

Schule nahe-[24]steht, über den Begriff der Negativität: „Jetzt heißt es Revolution, Untergang, Angst,

Verzweiflung und anders. Das Negative tritt mitten in die Zeit hinein und wird in ihr erlebt. Jeder

dieser Denker ist auf seine Weise ein Kritiker der Gegenwart und ein Künder der kommenden nega-

tiven Zeiten.“46 Revolution und Untergang werden hier als Synonyme betrachtet. Das ist auch für

Adornos Ansichten der 60er Jahre charakteristisch.

In ihrem Buch „Dialektik der Aufklärung“ hatten Adorno und Horkheimer 1944 die Frage nach der

Rettung der Zivilisation durch ihre Versöhnung mit der Natur gestellt. Aber auch hier herrschten

Motive des Untergangs und Zerfalls vor, und das Schema der Negation der Negation wurde mit der

Struktur totaler Selbstentfremdung identifiziert.

Entfremdung und Verdinglichung

Unter „Aufklärung“ verstehen Adorno und Horkheimer nicht eine historische und damit im wesent-

lichen vergangene Entwicklungsetappe bürgerlichen Bewußtseins und bürgerlicher Kultur, sondern

den Glauben an die Vernunft überhaupt, der als außerhistorische und überzeitliche Erscheinung be-

trachtet, gewissermaßen seit Xenophanes datiert wird und zur „Entmythologisierung“ jedes Ereignis-

ses führt.47 Ohne sich weiter um die Korrektheit der theoretischen Parallelen zu kümmern, setzte

Adorno den „Geist der Aufklärung“ dem Hegelschen Prinzip der Identität von Denken und Sein

gleich; vor allem aber brachte er ihn mit der Nietzscheschen Behandlung dieses „Geistes“ und den

Vorstellungen M. Webers von der sogenannten „zweckmäßig manipulierenden Rationalität“ (die phi-

losophisch nicht sehr bestimmt sind) in Zusammenhang.

Doch der Irrationalismus triumphiert bei Adorno überall. Er beherrscht auch seine Konzeption der Auf-

klärung. „Nicht bloß die ideelle, auch die praktische Tendenz zur Selbstvernichtung gehört der Ratio-

nalität seit Anfang zu.“48 Aber wenn Adorno diese halbexistentialistische These anhand der Verwand-

lung des französischen Materialismus in Positivismus und dessen nachfolgender Degradation illustriert,

so zeigt diese Illustration, entgegen den Wünschen des Autors, nicht die Berechtigung seiner Argu-

mente in bezug auf das angeblich von Anfang [25] an „beschädigte Leben“, die Unzulänglichkeit von

42 Ebenda, S. 160. 43 Ebenda, S. 156. 44 Siehe ebenda, S. 159. 45 Ebenda, S. 283. 46 R. Heiss, Wesen und Formen der Dialektik, Köln u. Berlin (West) 1959, S. 63. 47 Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 185. 48 M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 7.

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Vernunft, Verstand, Denken und Logik, sondern die Wahrheit der vom historischen Materialismus

bewiesenen These, daß die bürgerliche Kultur in dem Maße verfällt, wie die herrschende Klasse der

kapitalistischen Gesellschaft ihre frühere progressive Rolle verliert.

Der Übergang zum Entgegengesetzten im Sinne sowohl der Aufdeckung von Wahrheitsmomenten

hinter den Mystifikationen als auch der Geburt neuer Mystifikationen hinter den Wahrheitsmomenten

geht bei Adorno übrigens in beiden Richtungen vor sich. Wenn er beispielsweise für seine These von

der Selbstverfälschung der Vernunft eine Parallele politischen Charakters anführt, so realisiert er eine

idealistisch-spekulative Umkehrung der wirklichen Sachlage: das Modell der Bewegung von der po-

litischen Demokratie zum politischen „Totalitarismus“ wird von ihm in nicht klassenmäßiger und

äußerst unbestimmter Terminologie beschrieben.49 Adornos Verkündung, daß „im Dienst der Gegen-

wart Aufklärung sich zum totalen Betrug der Massen um(wandelt)“50, hat mystifizierende Gestalt: er

vermeidet beharrlich, dieser Beschuldigung genaue Koordinaten zu geben, obwohl ihr Sinn 1947 und

zur Zeit der Neuausgabe 1969 nicht derselbe sein konnte wie im Manuskript des Jahres 1944. Diese

Nebelhaftigkeit, Unbestimmtheit und Unkonkretheit ist natürlich nicht zufällig: sie dient trotzdem

einer genügend konkreten Aufgabe, nämlich der, die Thesen des Buches nicht so sehr gegen den

gegenwärtigen Kapitalismus als vielmehr gegen den Sozialismus zu kehren; mit feindseligen Ausfäl-

len gegen diesen geizt Adorno durchaus nicht, weder in den Vorkriegs- noch in den Nachkriegsjahren.

Die Kritik der Aufklärung war für Adorno eine der besonderen Varianten der von ihm entwickelten

Attacke gegen den Begriff des sozialen Fortschritts überhaupt. Vier Jahre vor der „Negativen Dialek-

tik“, in einem Vortrag in Münster (1962), erklärte er, daß es überhaupt keinen Fortschritt gebe und

die Bewegung der Geschichte einem Riesen gleiche, „der alles niedertrampelt, was ihm in den Weg

kommt... Fortschritt heißt: aus dem Bann heraustreten .. . Insofern ließe sich sagen, der Fortschritt

ereigne sich dort, wo er endet.“51 Vor uns liegt das Schema der Selbstentfremdung der Vernunft und

des sozialen Fortschritts.

[26] Über Entfremdung und Selbstentfremdung hat Adorno viel geschrieben; es ist auch ein Thema

Marcuses, Horkheimers, Habermas’ und Fromms. Marcuse wandte sich ihm übrigens früher als

Adorno zu. In Artikeln zu Beginn der dreißiger Jahre beschäftigte er sich mit der Interpretation der

Marxschen „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844“ von der Vorstellung

aus, daß die Entfremdung der Arbeit von Marx aus den Eigenschaften der menschlichen Natur über-

haupt abgeleitet worden sei und darin der Gegenstand der wirklichen Philosophie des Marxismus

bestünde. „Es handelt sich also um einen den Menschen als Menschen (und nicht nur als Arbeiter,

Wirtschaftssubjekt und dergleichen) betreffenden Sachverhalt, um ein Geschehen nicht nur in der

Wirtschaftsgeschichte, sondern in der Geschichte des Menschen und seiner Wirklichkeit.“52

Die Wurzeln der abstrakt anthropologischen Verfälschung der „Ökonomisch-philosophischen Manu-

skripte“ mit der Konstruktion eines Gegensatzes zwischen jungem und reifem Marx sowie zwischen

Marx überhaupt und Engels reichen jedoch schon weiter in die Vergangenheit zurück. Diese Verfäl-

schung wurde schon von Lukács in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1923) vorgenommen, wo

die These vertreten wurde, daß die gesamte Geschichte der Menschheit die Geschichte der entfremdeten

Verdinglichung sei, so daß das Wesen des historischen Materialismus de facto auf den Abschnitt aus

dem ersten Band des „Kapitals“ über den Warenfetischismus reduziert wird. Die Entfremdung, so er-

klärte Lukács auch später, ist „ein Zentralproblem der Zeit, in der wir leben“.53 Verdinglichung, Ver-

gegenständlichung und Entfremdung blieben für Lukács lange Zeit identische Begriffe, weshalb er üb-

rigens auch das Proletariat rein spekulativ als Kritik der Verdinglichung definierte.54 Die Ablehnung

jeder Verdinglichung und jeder Gegenständlichkeit, als im Prinzip mit Entfremdung identisch, war eine

49 Siehe ebenda, S. 23-49, 217. 50 Ebenda, S. 49. 51 Th. W. Adorno, Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt/Main 1969, S. 37; vgl. S. 49. 52 H. Marcuse, Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, in: Ideen zu einer kritischen Theorie der

Gesellschaft, a. a. O., S. 10. 53 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, a. a. O., S. 23. 54 Ebenda, S. 163.

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der hauptsächlichen theoretischen Quellen für die Konzeption der anthropologischen Ursprünglichkeit

und Unausrottbarkeit der Entfremdung nicht nur bei den Theoretikern der Frankfurter Schule, sondern

auch bei vielen anderen bürgerlichen Verfälschern des Marxismus vom Schlage M. Heideggers und J.

P. Sartres, J. Hyppolites und I. Fetschers, R. Garaudys und G. Petrovkić’.55 Die Identifizierung von

Verding-[27]lichung und Entfremdung bedeutet, die Entfremdung zu verewigen, und die Identifizie-

rung der Entfremdung mit der Verdinglichung führt zum Verlust eines solch wesentlichen Moments

entfremdeter sozialer Verhältnisse wie der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

All dies finden wir bei Adorno in konzentrierter Form. Für ihn ist Entfremdung nicht nur die „rastlose

Selbstzerstörung der Aufklärung“56 und Selbstvernichtung der bürgerlichen Rationalität als Ideolo-

gie, sondern der allgemeine totale Prozeß der Depravation der Menschheit. Die Entfremdung ist „ein

Negatives, Zerstörerisches“57, das die Menschen in vernünftige Tiere verwandelt, die „einander und

der Natur ... radikal entfremdet“ sind.58

Die Entfremdung hat nach Ansicht Adornos ihren Grund in der tiefen Selbstentfremdung des Men-

schen, und diese ist von Ewigkeit her, so daß selbst der Terminus „Selbstentfremdung“ das Wesen

der Sache nicht trifft; die Entfremdung wird nicht, weil sie von Anfang an existiert.59

Adorno liebt die Pose des unabhängigen Denkers, und in seinen Werken werden an die Adresse wohl

jeder bedeutenden alten und neuen philosophischen Strömung geringschätzige und ironische Bemer-

kungen gemacht. Aber die Abhängigkeit Adornos von vielen dieser Strömungen unterliegt keinem

Zweifel; im vorliegenden Fall betrifft das seine Abhängigkeit von den Existentialisten mit ihrem

Schema der doppelten (oder dreifachen) Entfremdung, von dem wir an anderer Stelle sagten, daß in

ihm „die echte Entfremdung, strenggenommen, in der Funktion ... einer Überwindung der Entfrem-

dung“ auftritt.60 Wie die Existentialisten nimmt auch Adorno an, daß eine Überwindung der Entfrem-

dung eigentlich unmöglich ist. „Überwindungen, auch die des Nihilismus ..., sind allemal schlimmer

als das Überwundene.“61

Danach legt Adorno unexakt und nachlässig die Ansichten von Marx zum Warenfetischismus dar

und richtet sie gegen Lukács, allerdings nicht, um den Marxismus zu verteidigen, sondern nur zu dem

Zweck, die Position eines unparteiischen Richters zwischen ihnen einzunehmen und ohne große An-

strengungen theoretisches Kapital für sich selbst herauszuschlagen. Die Verweise auf Marx sind da-

bei nur Schein: indem er alle Arten der Entfremdung im abstrakten Prinzip der totali-[28]tären poli-

tischen Gewalt konzentriert62, bricht er völlig mit der sozialen und Klassenanalyse und schafft breite

Möglichkeiten für jenes fast hemmungslose Jonglieren mit „alienierender“ Terminologie, das den

Vertretern der „kritischen Theorie der Gesellschaft“ in hohem Maße eigen ist. Adorno verweist auf

Marx, aber spricht die Sprache und denkt in den Begriffen Nietzsches und Heideggers.

Fast unisono mit den Heideggerschen Attacken auf die zivilisierte und technisierte Welt klingen die

Adornoschen Ausführungen über die Entfremdung des Menschen von der Natur. „Aufklärung ist

mehr als Aufklärung, Natur, die in ihrer Entfremdung vernehmbar wird.“63 Und er wiederholt alle

55 Lukács selbst hat später die prinzipielle Identifizierung von Verdinglichung und Entfremdung als fundamentalen und

groben Irrtum und Zeichen seiner damaligen philosophischen Unreife verurteilt (siehe ebenda, S. 25; auch G. Lukács,

Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft, Berlin 1954, S. 628, 639). 56 M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 1. 57 Ebenda, S. 2. 58 Ebenda, S. 270. 59 Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 272. 60 I. S. Narski, Marksistskaja koncepcija otčuždenija i ekzistencializm, in: Filosofija marksizma i ekzistencializm, Moskva

1971, S. 29. 61 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 371. 62 Vgl. „Das Wesen der Aufklärung ist die Alternative, deren Unausweichlichkeit die der Herrschaft ist.“ (M. Horkhei-

mer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 38). Diese Formel besagt nicht nur, daß der entfremdete Mensch

beherrscht wird, sondern vor allem, daß die Beseitigung der Entfremdung nicht Eroberung der Freiheit ist, sondern Ver-

wandlung der zuvor Entfremdeten in neue Herren und Unterdrücker. Die Herrschaft selbst ist ein nichtausrottbarer ent-

fremdeter Zustand. 63 Ebenda, S. 46.

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Tiraden gegen die „industrielle“, „technische“ und „urbane“ Entfremdung, die wir bei O. Spengler,

A. und M. Weber, Th. Litt und vielen anderen bürgerlichen Philosophen und Soziologen des 20.

Jahrhunderts finden und die in etwas anderen Varianten auch bei Theoretikern der Frankfurter Schule,

z. B. bei E. Fromm und H. Marcuse, auftreten.64

Auch Habermas gehört zu diesen Theoretikern. Er popularisierte die These, daß Technik Herrschaft

und damit Hindernis für die Befreiung geworden ist.65 Er wendet sich Freudschen Motiven zu, wenn

er die Antagonismen der kapitalistischen Gesellschaft aus der Struktur biologischer Instinkte ableitet

und die Entfremdung mit dem Fehlen von oder Mangel an sinnlichem Wohlbehagen identifiziert.

Ähnliche Einflüsse sind auch bei Adorno und in starkem Maße bei Marcuse bemerkbar.

Bei der Behandlung des Problems der Selbstentfremdung des Menschen ist Adorno von allen seinen

Mitstreitern weitaus am stärksten pessimistisch eingestellt, denn diese hoffen noch auf etwas, wenn

auch, wie Marcuse, nur auf die sexuellen Skandale der Hippies. Adorno hofft auf nichts; völlige Aus-

weglosigkeit – das ist das letzte Wort seiner „negativen Dialektik“ in dieser wie auch in allen anderen

Fragen.

Pessimismus und Hoffnungslosigkeit

Die Protagonisten der Frankfurter Schule – und Adorno ist hier keine Ausnahme – beginnen übrigens

mit Worten über die [29] Hoffnung, und nicht selten enden sie auch damit. Am meisten „Hoffnungen“

hat Marcuse, und er hat lange auf seine „Große Weigerung“ gehofft; bei dem der Frankfurter Schule

nahestehenden E. Bloch wurde „Hoffnung“ sogar in den Rang einer Hauptkategorie seines philoso-

phischen Utopismus erhoben. Auch Adorno benutzt diesen Terminus, wenn er schreibt: „Es liegt in

der Bestimmung negativer Dialektik, daß sie sich nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist

ihre Gestalt von Hoffnung.“66 Der Gründer der Schule, M. Horkheimer, bemerkte 1959: „Den Prozeß

aufzuhalten, indem sie ihn begreift, ist die Hoffnung der Theorie.“67

Diese Worte von Hoffnung sind aber leere Worte, insbesondere bei Adorno, wenn er „die immerwäh-

rende Gefahr des Rückfalls“68 der bürgerlichen Ordnung als Untergang der gesamten sozialen Welt

und den Zerfall des Lebens in seiner innersten Grundlage darstellt. R. Heiss verallgemeinerte diese

Stimmung folgendermaßen: „Doch nun setzt in breiter Form der negative und destruktive Blick ein,

in welchem bisweilen alle Wirklichkeit zu verschwinden droht ... Nichts ist mehr gültig – es sei denn

das Nichts.“69

Den extremen Pessimismus Adornos könnte man anhand von Hunderten seiner Äußerungen belegen.

Sich damit beschäftigen hieße offene Türen einrennen. Nichtsdestoweniger lohnt es, einige Beson-

derheiten seiner Position klarer zu umreißen.

Aus der Philosophiegeschichte sind einige Typen von Dialektik der Verzweiflung bekannt. Sie wer-

den z. B. durch Stil und Denkrichtung von Marc Aurel, B. Pascal, A. Schopenhauer, S. Kierkegaard,

L. Schestow gekennzeichnet. Bekannt sind auch die „traoische Dialektik“ A. Lieberts und die „tragi-

sche Theologie“ P. Tillichs. Adorno jedoch beschuldigt alle seine Vorgänger, den „selbstvernichten-

den“ Charakter des dialektischen Denkens ungenügend verstanden zu haben. Die Vernunft hebt sich

auf, das Leben löscht sich aus – das ist sein ständiges Motto. Irrationalismus und Pessimismus bilden

hier ein einheitliches Ganzes. Adorno verwandelt die Negation der Negation aus einem Gesetz des

64 Vgl. die Kritik verschiedener Variationen zum Thema „technische Entfremdung“ bei H. Ley, Dämon Technik?, Berlin

1961. 65 Siehe J. Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt/Main 1969, S. 50, 54 u. a. 66 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 396. 67 M. Horkheimer, Soziologie und moderne Philosophie, in: Soziologie und moderne Gesellschaft. Verhandlungen des

14. Deutschen Soziologentages, Stuttgart 1959, S. 36. 68 Th. W. Adorno, Stichworte, a. a. O., S. 50. 69 R. Heiss, Die großen Dialektiker des 19. Jahrhunderts. Hegel – Kierkegaard – Marx, Köln u. Berlin (West) 1963, S.

195. Es ist bezeichnend, daß Kierkegaard, Nietzsche und Marx für Heiss Denker gleichen Ranges sind, denn angeblich

verkünden sie „wie aus einem Mund den kommenden Untergang der Kultur ihrer Zeit“ (ebenda, S. 209). Von welcher

Kultur und welchem Untergang im jeweiligen Fall die Rede ist, darüber nachzudenken war für Heiss anscheinend müßig.

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Übergangs zu Höherem nicht bloß in eine Formel für die Rückkehr zum Ausgangszustand, sondern

in das Symbol des sich unaufhaltsam ausweitenden Stromes der Selbstvernichtung. Er tritt nicht nur

gegen die dialektische Logik von Hegel und Marx auf, sondern weist die Logik [30] überhaupt zu-

rück; und in idealistischer Manier ist für ihn die Selbstvernichtung des logischen Denkens zugleich

Zusammenbruch der realen Wirklichkeit.

Die Position des Individuums in der heutigen Welt wird von Adorno bestimmt als Gedrängtsein „in

absolute Einsamkeit“70, und sein Sturz reiße „die gesamte Konstruktion des bürgerlichen Daseins in

sich hinein“.71 Die gegenwärtige Epoche ist seiner Meinung nach das Zeitalter des zerfallenden Indi-

viduums und der regressiven Kollektive“.72 „Die Welt ist schlimmer als die Hölle ..., weil nicht ein-

mal die Nihilität jenes Absolute wäre, als welches sie schließlich noch im Schopenhauerschen Nir-

wana versöhnlich erscheint.“73 „Hegel wird dadurch zum Entsetzen verifiziert und auf den Kopf ge-

stellt ... Zu definieren wäre der Weltgeist, würdiger Gegenstand von Definition, als permanente Ka-

tastrophe.“74 Der Autor dieser „kräftigen“ Formulierungen vermeidet die Antwort auf die Frage, wel-

che soziale Kraft tatsächlich dafür verantwortlich ist, daß die Welt im 20. Jahrhundert nicht nur ein-

mal in eine Kriegskatastrophe geriet. Er bevorzugt nebelhafte Phrasen über die Entfremdung, die

permanentem Tod gleiche, und zitiert das goethisch-mephistophelische Prinzip bei Hegel, „daß alles,

was entsteht, wert ist, daß es zugrunde geht“.75 Welche Gesellschaftsordnung aber an der Aufrecht-

erhaltung der Entfremdung schuldig und folglich dem Glück der Menschen feindlich gesinnt ist und

aus diesem Grunde vernichtet werden muß – darauf erhalten wir keine Antwort. Adorno zieht es vor,

im Bewußtsein des Lesers den „Horror der Ahnung“76, das Gefühl der Ausweglosigkeit zu erzeugen.

„Nichts auf der Erde und nichts im leeren Himmel ist dadurch zu retten, daß man es verteidigt“77 –

so lautet seine pessimistische Schlußfolgerung.

Die Dialektik der Entfremdung, transformiert in das erstarrte „Ebenbild des allgegenwärtigen Schrek-

kens ..., des Schwindels einer vom totalen Untergang bedrohten Gesellschaft“78 – das ist bereits eine

metaphysisch in Unbeweglichkeit verendete, das heißt aber scheinbare Dialektik. Adorno sagte über

Hegel: „Er vertraut nicht der Dialektik als der Kraft zur Heilung ihrer selbst sich an“79; aber er selbst

glaubt nicht an die Dialektik, er kann nichts von ihr erwarten, da er sie letztlich auf „dialektische“

Behauptungen vom Tod als totaler [31] Verdinglichung reduziert. Überlegungen, die dahin gehen,

daß das Leben sinnlos sei und der Tod Erlösung davon bringe, erscheinen ihm ebenso zu „optimi-

stisch“ wie die Ansicht, der Sinn des Lebens sei der Tod und dieser löse alle Lebensprobleme. All

das ist Selbstbetrug: „... der Tod, dem die Sinnfrage entgehen will, auch wofern sie, ohne anderen

Ausweg, vom Sinn des Todes sich begeistern läßt.“80 Sinnlos ist nach Adorno alles – das Leben wie

der Tod, das Sein wie das Nichts.81

Je mehr Adorno davon schreibt, daß die existierende bürgerliche Gesellschaft zum Untergang verur-

teilt ist, und je mehr er die Ausweglosigkeit unterstreicht, desto mehr offenbart sich, daß diese Aus-

weglosigkeit von ihm absolut, antidialektisch aufgefaßt wird – die Möglichkeit eines revolutionären

Übergangs von der bürgerlichen Gesellschaft zu ihrem Gegenteil, das heißt der sozialistischen Ge-

sellschaft, wird geleugnet.

70 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 201. 71 Ebenda, S. 361. 72 Ebenda, S. 190. 73 Ebenda, S. 393. In diesem Zusammenhang ist die Meinung E. v. Hartmanns von Interesse, „daß die Welt eine bestmög-

liche wird, nämlich eine solche, die zur Erlösung kommt“ – d. h. ihrem Untergang entgegengeht. (E. v. Hartmann, Aus-

gewählte Werke, Bd. 8, Leipzig 1908, S. 411). 74 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 312. 75 Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a. a. O., S. 95. 76 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 355 (im folgenden ders. Titel). 77 Ebenda, S. 382. 78 Ebenda, S. 98. 79 Ebenda, S. 329. 80 Ebenda, S. 368. 81 Ebenda, S. 370.

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Deshalb verwandelte er die Greueltaten der deutschen Faschisten in ein spezifisches Symbol für das

Ende der Moral, der Kultur und des Lebens. Nach Ansicht Adornos „hat Auschwitz das Mißlingen

der Kultur unwiderleglich bewiesen“.82 „Kein vom Hohen getöntes Wort, auch kein theologisches,

hat unverwandelt nach Auschwitz ein Recht.“83 Das soziale Leben, das „Allgemeine ..., arbeitet gegen

sich selbst“84, und deshalb bringt es Erscheinungen hervor, die es des Rechtes berauben, weiterhin zu

existieren. Das muß man aber so verstehen, daß eben für die Kultur, welche die bürgerliche ablöst,

sie als ihren Gegensatz zurückweist, kein Platz ist. Er betont das auch: „Alle Kultur nach Auschwitz,

samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“85 Das ist also der letzte Sinn des Gesagten: wenn die

Menschen zu Auschwitz fähig waren, so sind sie zum Kommunismus nicht fähig, und deshalb ist für

den Kommunismus auf der Erde kein Platz.

Das Erdbeben in Lissabon 1755 war für Voltaire Beweis für die Falschheit des naiven historischen

Optimismus. Das faschistische Konzentrationslager Auschwitz 1944 wurde für Adorno Begründung

für die Leugnung des historischen Fortschritts überhaupt. Man kann Adorno nicht als Aufklärer be-

zeichnen; von seinem früheren Antifaschismus entwickelte er sich zu einem Philosophen des Dun-

kels, der Zerstörung und [32] des Untergangs, zu einem überzeugten Menschenverächter und Anti-

kommunisten. Marx bemerkte in einem Brief: „Das Veraltete sucht sich innerhalb der neugewonne-

nen Form wiederherzustellen und zu behaupten.“86 Namentlich Adorno war es, der sich bemühte, die

Dialektik, eine der größten theoretischen Errungenschaften der Neuzeit, in den Dienst des Alten zu

stellen, indem er sie entstellte, sie ihres Optimismus und ihres revolutionären Geistes beraubte.

Der Irrationalismus der Negativität

Die negative Dialektik Adornos ist von einem extremen Irrationalismus durchdrungen. Adorno be-

gann mit Angriffen auf die Ideologie des Faschismus und beschuldigte sie unter anderem, der Logik

zuwiderzulaufen, und jetzt fällt er über die dialektische Logik des Marxismus her und erklärt sie für

positivistischer als den Positivismus, und zwar auch deshalb, weil sie Logik ist. Was die Adornosche

Dialektik betrifft, so ist sie, als „Logik des Zerfalls“, der Selbstmord der Logik. Dementsprechend

vermag das Denken, „gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von

Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen“.87 Die Dialektik Adornos ist Antilogik

und Antidialektik. Über dialektische Synthese beispielsweise lohnt es nicht, ernsthaft zu sprechen,

denn der Widerspruch ist „kein herakliteisch Wesenhaftes. Er ist Index der Unwahrheit von Identität,

des Aufgehens des Begriffenen im Begriff“.88 Begriffliches Denken ist überhaupt Unsinn. Das

„Nichtbegriffliche“, welches „dem Begriff unabdingbar“ ist, kann triumphieren.89

Es ist wohl kaum nötig, den Irrationalismus der negativen Dialektik in allen Einzelheiten nachzuwei-

sen. Es sollen aber wiederum bestimmte Besonderheiten dieser Version des Irrationalismus betrachtet

werden.

Sie ist nicht auf einer „tabula rasa“ entstanden. Bereits der späte Schelling und Kierkegaard wandten

sich von der Baconschen Devise „Wissen ist Macht“ ab und schleuderten den Bann gegen die Ver-

nunft. F. Nietzsche und E. Jünger teilten nicht das Vertrauen Kants in die Vernunft als Mittel der

Festigung der sozialen Hierarchie und setzten das unsaubere [33] Werk fort, die Logik mit Schmä-

hungen zu überhäufen. In „Holzwege“ charakterisierte Heidegger die Vernunft als „hartnäckigste

Widersacherin des Denkens“.90 Die „Kritik der dialektischen Vernunft“ Sartres schließlich ist mit

Irrationalismus geradezu durchtränkt.

82 Ebenda, S. 357 83 Ebenda, S. 358. 84 Ebenda, S. 337. 85 Ebenda, S. 357 (Hervorhebung von mir – I. N.). 86 K. Marx, Brief an F. Bolte vom 23.11.1871, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 33, Berlin 1966, S. 328. 87 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 142. 88 Ebenda, S. 15. 89 Ebenda, S. 139. 90 M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt/Main 1963, S. 247.

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Es muß auch an die ausweitende Behandlung des Irrationalen durch Denker erinnert werden, die sich

selbst durchaus als Verteidiger der Vernunft ansahen. Für Max Weber war alles das irrational, was

über die Grenzen instrumenteller Manipulationen hinausgeht, welche der Festigung des Systems re-

pressiver Herrschaft dienen. Der junge Lukács sah in der Irrationalität „das Problem der Undurch-

dringbarkeit jeder Gegebenheit, durch Verstandesbegriffe“.91

Mit anderen Worten, alles, was bisher noch nicht erkannt und theoretisch begriffen ist, war für ihn

irrational und dem gewöhnlichen Denken wesentlich entgegengesetzt. Lukács identifizierte die Irra-

tionalität mit der Spontaneität sowohl der kapitalistischen Verhältnisse als auch der nichtorganisierten

revolutionären Bewegung. In den zwanziger Jahren zeigte er sogar direkte Sympathien für die Irra-

tionalität im Denken; er schrieb z. B.: „Das Dilemma der Materialisten (gegen die Idealisten – I. N.)

hat seinen Sinn verloren, denn es enthüllt sich als rationalistische Beschränktheit.“92 Die irrationali-

stische Unbeschränktheit ist breit wie das Leben.

Von all diesen Motiven läßt sich Adorno leiten, wenn er seinen Gang gegen die Vernunft antritt; die

negative Dialektik fordert, auf sie zu verzichten. Da der Geist „wie ein Insekt (ist), das gegen die

Scheibe nach dem Licht fliegt“93, so sollte man ihn je eher, desto besser loswerden.

Es ist wahrscheinlich schwierig, in der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie ein kompromißlose-

res Auftreten gegen die Vernunft, das theoretische Denken und die Logik zu finden, als dies bei

Adorno der Fall ist. Er verkündet die „Demontage“ aller wissenschaftlichen Systeme, und in der Zer-

störung der theoretischen Begriffe sieht er „Gegengift gegen die Philosophie“. Mit großem Abscheu

spricht er von der formalen Logik94, und ihm sekundiert insbesondere Max Horkheimer95, für den die

Vernunft lediglich ein „Organ der Kalkulation“ ist.96

Adorno und seine Mitstreiter reihten sich in den gemein-[34]samen Kreuzzug der Irrationalisten gegen

die formale Logik ein und warfen dabei die für die klassische deutsche Philosophie und insbesondere

auch für Marcuse charakteristische Unterscheidung zwischen „Vernunft“ und „Verstand“ über Bord.

Die Verwandlung Hegels in einen Irrationalisten vom Typ Bergsons und Diltheys97, die Leugnung der

Wahrheit von Wissenschaft und objektiver Dialektik98, die durch Angriffe auf den erkenntnistheoreti-

schen und soziologischen Positivismus Poppers und Alberts maskiert wird, und schließlich direkte

Appelle an den Alogismus – das sind die Meilensteine dieses Weges. Nur einem Denken, das sich

gegen sich selbst verschwört, ist Wahrheit gestattet, aber der Sinnlosigkeit dieser Verschwörung ent-

spricht die Vertiefung der Sinnlosigkeit des Lebens. „Je weiter die Produktivkräfte sich steigern, desto

mehr verliert die Perpetuierung des Lebens als Selbstzweck die Selbstverständlichkeit.“99

Als Resultat all dessen bildete sich bei Adorno ein eigener Stil irrationalen Denkens heraus. Es wäre

schwer, in der Philosophiegeschichte einen Irrationalismus zu finden, der absolut irrational dächte

und argumentierte. Argumente erfordern eine bestimmte Logik. Der Nachfolger betrachtet diese als

Residuum unüberwundener Rationalität, aber danach wiederholt sich die Geschichte von neuem. Man

kann zweifellos weder Jacobi noch Schopenhauer noch Eduard von Hartmann zu den totalen

91 G. Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, a. a. O., S. 217. – Etwas anderes ist es, daß Lukács später gegen den

Irrationalismus auftrat und seiner Kritik sogar ein ganzes Buch widmete (G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin

1955). 92 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, a. a. O., S. 262. 93 Th. W. Adorno, Stichworte, a. a. O., S. 45. 94 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 159. Vgl. R. Heiss, Wesen und Formen der Dialektik, a. a. O., S. 165. 95 M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 33. 96 Ebenda, S. 95. 97 Siehe Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a. a. O., S. 88 f., 98. Vgl. auch H. Marcuse, Hegels Ontologie und die

Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt/Main 1968, S. 217 ff. 98 „In einer schlechthin Einen, unterschiedslosen, totalen Materie wäre keine Dialektik“ (Th. W. Adorno, Negative Dia-

lektik, a. a. O., S. 203). Habermas formuliert diese These noch direkter, wenn er schreibt, daß angeblich für den jungen

Marx (und dieser These schließt er sich an) „eine Dialektik der Natur, unabhängig von gesellschaftlichen Bewegungen

überhaupt undenkbar“ gewesen sei. (J. Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied u. Berlin (West) 1963, S. 270). – Vgl.

auch G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, a. a. O., S. 238, 247-249. 99 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 240; vgl. S. 255.

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Irrationalisten rechnen: sie stellten zwar den Glauben, den blinden Willen oder das Unbewußte über

die Vernunft, aber dabei argumentierten sie teilweise ziemlich folgerichtig und auf ihre Weise durch-

aus logisch. Bei Kierkegaard finden wir Musterbeispiele irrationaler Problemdiskussion, doch sein

Urteil über die Kantsche Philosophie bzw. über die Hegelsche ist ziemlich exakt. Ähnliches kann

man auch von Nietzsche und Klages sagen.

Von diesem Hintergrund hebt sich Adorno durch seine beständigen Anstrengungen ab, die er unter-

nahm, um die Dialektik durch ihre eigenen – verfälschten – Mittel zu irrationalisieren. Das „Abschlie-

ßen“ der Dialektik „in sich selbst“, ihre Selbstverneinung werden von ihm bis zu einem spezifischen

„selbstvernichtenden“ Denkverfahren geführt, wobei eine bestimmte These nur zu dem Zweck aus-

gesprochen wird, sie danach sofort negieren zu können, und sie wird eigens negiert, [35] um sie an-

zunehmen. „Erheischt negative Dialektik die Selbstreflexion des Denkens, so impliziert das hand-

greiflich, Denken müsse, um wahr zu sein, heute jedenfalls, auch gegen sich selbst denken.“100

So verbirgt sich bei Adorno hinter dem Programm der „Antiphilosophie“, des „Antisystems“ nicht

nur der Versuch, auf alle im Fundus der Philosophiegeschichte vorhandenen Unterteilungen und Qua-

lifizierungen verschiedener Strömungen zu verzichten. Er tritt gegen ausnahmslos alle Arten des of-

fenen und verdeckten Idealismus und danach gegen die Gegner jeder dieser Arten auf. Gegen wen

nicht alles richtet Adorno seine orakelnde Kritik, wobei er Verdikte nach rechts und links austeilt –

gegen Irrationalisten und Erkenntnissoziologen, Absolutisten und Relativisten in der Erkenntnistheo-

rie; gegen Schopenhauer und Nietzsche, Kant und Hegel, Husserl und Heidegger. Und all dies, um

hernach den Idealismus durch eine besondere irrationalistische Argumentation zu stützen.

Der Mechanismus ist folgendermaßen: die „Überwindung“ aller Verfahren zur Kritik konkreter Arten

des Idealismus als völlig unbefriedigend tritt in der Funktion einer Bestätigung des Idealismus auf.

Die irrationale Logik der Selbstverneinung erfordert Kritik vor allem jener Konzeptionen, die den

Anschauungen Adornos verwandt sind – die Negierung des Idealismus bedeutet seine Bestätigung,

und eben das, was dem eigenen Geist am nächsten steht, wird deshalb am hartnäckigsten negiert (und

zudem muß man alle Konzeptionen verwerfen, denn jede von ihnen ist „Ideologie“ in all ihrer Falsch-

heit und Verzerrtheit). Wahrheit ist in den Augen Adornos Unwahrheit, und deshalb ist seine Kritik

beispielsweise des Existentialismus dessen Billigung.

Zu solchen Resultaten führt die „entfesselte“ Dialektik101, die sich nicht nur in Widersprüchen ver-

strickt, sondern auch logische Widersprüche zum Prinzip erhebt; und deshalb wird Adorno nicht im

geringsten verlegen, wenn er dazu aufruft, Konkretheit zu schaffen durch die abstrakte, zerstörende

Negativität; er greift die Methoden der bürgerlichen empirischen Soziologie an, qualifiziert sie als

positivistisch, platt und vulgär, wendet sie aber in seinen sozialen Untersuchungen selbst an.102 Wenn

das eine wahr ist, so ist auch sein direktes Gegenteil wahr.

Aber derselbe „Übergang ins Gegenteil“ geht bei Adorno [36] völlig anders vor sich, wenn er Gift

und Galle gegen den dialektischen Materialismus speit. Hier ist der Gedankengang genau umgekehrt.

Adorno erklärt direkt, daß er kein Marxist ist, aber gleichzeitig gibt er zu verstehen, daß der Verzicht

auf den Buchstaben des Marxismus das beste Verfahren sei, seinen Inhalt positiv einschätzen zu kön-

nen, und die Annahme des Marxismus bedeute, ihm einen schlechten Dienst zu erweisen. Folglich ist

Marxist der, der – ihn negiert! Dieser Schluß paßt völlig in den Rahmen revisionistischen und anti-

kommunistischen Denkens. Irrationalismus und Angriffe auf die Logik gehen Hand in Hand mit der

Wortklauberei der Revisionisten wie mit wütendem Antikommunismus.

So wird die These Adornos realisiert: „Einstweilen ist Vernunft pathisch; Vernunft wäre erst, davon

sich kurieren.“103 Durch die Befreiung von der Vernunft fand sich Adorno jedoch in Gesellschaft der

geschworenen Feinde des sozialen Fortschritts wieder. Die negative Dialektik mußte sich vom

100 Ebenda, S. 356. 101 Ebenda, S. 46. 102 Im Geiste eines vulgären Soziologismus leitet Adorno z. B. den erkenntnistheoretischen Dualismus Kants aus dem

„Dualismus“ der Produktionsverhältnisse ab. Siehe ebenda, S. 377. 103 Ebenda, S. 172.

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Bewußtsein ihrer selbst befreien, aber dadurch trat sie in eine Reihe mit den Erzfeinden der Mensch-

heit.

Erkenntnis und Widerspiegelung

Ist der Irrationalismus Adornos mit bestimmten seiner Anschauungen über den Erkenntnisprozeß

vereinbar?

Für Adorno ist Erkenntnis die wichtigste soziale Tätigkeit, aber deshalb, weil sie keine Erkenntnis im

eigentlichen Sinn des Wortes ist. „Gesellschaft ist der Erfahrung immanent, kein ἄλλο γένος [anderes

Gebiet]. Nur die gesellschaftliche Selbstbesinnung der Erkenntnis erwirkt dieser die Objektivität, die

sie versäumt, solange sie den in ihr waltenden gesellschaftlichen Zwängen gehorcht, ohne sie mitzu-

denken. Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt.“104 Mit anderen Worten, ge-

sellschaftliche Verhältnisse und Erkenntnis sind ein und dasselbe. Das ist ein Motiv des bürgerlichen

Idealismus, welches in bestimmter Gestalt in den Arbeiten des frühen Lukács anklingt; die Erkenntnis

der Gesellschaft ist zugleich ihre Veränderung, und die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse

ist deren Erkenntnis.

Diese idealistischen Thesen sind bei Adorno eng mit der [37] Identifizierung von Erkenntnis als sol-

cher und Erkenntnis sozialer Erscheinungen verknüpft – mit der Negation der Rechtmäßigkeit von

Naturdialektik und objektiver Dialektik überhaupt. Sie hängen auch mit den Prätensionen des Autors

der „Negativen Dialektik“ zusammen, daß diese eine spezifische Theorie der sozialen Erkenntnis sein

solle. Das entspricht der für die gesamte Frankfurter Schule charakteristischen Identifizierung von

Methode und Erkenntnistheorie mit Erkenntnissoziologie und sozialem Kritizismus überhaupt. Daß

jede Erkenntnis ideologischer Prozeß im Sinne eines falschen, verzerrten Bewußtseins sein soll, ist

bekanntlich einer der Eckpfeiler der „kritischen Gesellschaftstheorie“.

Mit diesen Motiven verbindet Adorno in eklektischer Manier die von Nietzsche übernommene äu-

ßerste Biologisierung des Inhalts der Erkenntnisprozesse: wenn sich das hungrige Raubtier auf sein

Opfer stürzt, bedarf es bestimmter Impulse. In der Gesellschaft bedarf es rechtfertigender Illusionen,

wenn man „Appetit auf seinen Gegner“ hat. „Das zu fressende Lebewesen muß böse sein. Dies an-

thropologische Schema hat sich sublimiert bis in die Erkenntnistheorie hinein.“105

Diese Quasi-Erkenntnis hat mit Wahrheit nichts gemein: „Erkenntnis, die den Inhalt will, will die

Utopie.“106

Der inhaltlosen Erkenntnis entspricht die inhaltlose Wahrheit. Adorno behauptet, daß „jeder Schritt

zur Kommunikation hin die Wahrheit ausverkauft und verfälscht“107, alle einzelnen Begriffe sind

falsch108 (und das schreibt der „Verteidiger“ des Individuellen und Konkret-Einzelnen!) ‚ aber wie an

vielen Stellen zu lesen ist, ist auch das Ganze das Unwahre. Folglich gibt es nirgends Wahrheit!

Adornos Feindseligkeit gegen die Widerspiegelungstheorie entspringt aus der Identifizierung von Er-

kenntnis und Sozialverhalten des Subjekts. Die in dieser entstellten Form vorhandene These von der

Einheit von Theorie und Praxis, Erkenntnis und Tätigkeit wird in ihr direktes Gegenteil verwandelt:

den historischen Prozeß zu erkennen heißt, sich in ihn „einzuleben“, ihn aktiv zu manipulieren – und

nichts weiter.

Von diesen Positionen aus wird ein scharfer Frontalangriff gegen das Widerspiegelungsprinzip vor-

getragen. Adorno erklärt es zur Grundlage der Gegenüberstellung von Objekt und Subjekt und gleich-

zeitig zur Vergegenständlichung des Subjekts. [38] Die Widerspiegelungstheorie bezeichnet er nicht

anders als „die offizielle Denkerei des Ostblocks“.109 Er behauptet, daß sie lediglich die naiven Leh-

ren der antiken Atomisten wiederholt und „die Spontaneität des Subjekts (verleugnet) ... Abbildendes

104 Th. W. Adorno, Stichworte, a. a. O., S. 157. 105 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, S. 31. 106 Ebenda, S. 63. 107 Ebenda, S. 49 f. 108 Vgl. ebenda, S. 92. 109 Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a. a. O., S. 20.

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Denken wäre reflexionslos, ein undialektischer Widerspruch“.110 Was Adorno mit „Spontaneität“

meint, verdeutlichen seine Schüler, die bei den Positivisten in die Lehre gegangen sind. 0. Negt er-

klärt, das Subjekt „konstituiere“ die Gesetzmäßigkeiten des Objekts; und A. Schmidt fügt hinzu, daß

Erkenntnis insgesamt „Konstruieren sei.

All diese metaphysischen und verfälschenden Gegenüberstellungen ähneln der heutzutage bei Revi-

sionisten „modischen“ starren Entgegenstellung von „Schöpfertum“ und Widerspiegelung. Die

Leninsche Widerspiegelungstheorie leugnet aber nicht nur nicht die schöpferische Aktivität des Sub-

jekts, sondern setzt im Gegenteil ihr Vorhandensein voraus und erklärt sie. Das Aufstellen wissen-

schaftlicher Gesetze ist natürliches Fazit der erkennenden, das heißt widerspiegelnden Tätigkeit der

Wissenschaftler (es kommt noch hinzu, daß Leute vom Schlage Adornos, Negts und Schmidts „Kon-

stituierung“ im neokantianischen und neopositivistischen Geist interpretieren). Das Konstruieren von

Modellen ist hingegen eines der Verfahren der Erkenntnistätigkeit.

Von „Modellen“ schreibt auch Adorno. „Philosophisch denken ist soviel wie in Modellen denken;

negative Dialektik ein Ensemble von Modellanalysen.“111 Aber seine „Modelle“ haben mit der Mo-

dellmethode in der Logik der wissenschaftlichen Erkenntnis nichts gemein und erinnern eher an die

repräsentativen Quasi-Abstraktionen von G. Berkeley. Und obwohl Adorno auch ganze philosophi-

sche Lehren zu den „Modellen“ zählte – so z. B. die Kants und Hegels –‚ treten bei ihm meistens

einzelne emotionale Beispiele auf, einzelne Skizzen, die hernach chaotisch zu einem formlosen Hau-

fen vereinigt werden. Homers „Odyssee“ wird so zum „Modell“ der Aufklärung, der Marquis de Sade

– zum „Modell“ von Herrschaft und Versklavung.

Ganz allgemein sind es aber nicht die Beispiele, die schaden, sondern die Tatsache, daß sie von

Adorno mit zerstörerischem gnoseologischem Ziel verwendet werden; sie sollen die Theorien erset-

zen und sie vernichten. Zu diesem Zweck werden nicht [39] nur metaphysische Gegenüberstellungen

benutzt – sinnliches Abbild anstelle begrifflichen Denkens –‚ sondern es findet auch eine sensualisti-

sche Destruktion der Konkretheit statt. Die falsche Antithese dehnt sich bis zur äußersten Grenze aus.

Auf falschen Antithesen und Fälschungen beruht die gesamte Methode der negativen Dialektik. Von

Adornos Methode zu sprechen, bedeutet jedoch zugleich, auf seinen literarischen Stil hinzuweisen;

denn immer, wenn es seiner Argumentation an Logik und Beweiskraft fehlt – und das ist auf Schritt

und Tritt der Fall –‚ nimmt er seine Zuflucht zu rhetorischen Kunstgriffen, die voll sind von falscher

Vieldeutigkeit, orakelhaften Metaphern und Gedankensprüngen von einem Thema zu einem völlig

anderen. „Jede drastische These ist falsch“112, schrieb er. Aber Adorno formuliert bisweilen selbst

paradoxe und drastische Aphorismen, die man je nach Belieben deuten kann.

Sprache und Denken Adornos scheinen an der hermeneutischen Intuition geschult, denn er schreibt:

„Philosophie ließe, wenn irgend, sich definieren als Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht spre-

chen kann.“113 Diese Anstrengung realisiert sich durch die Auflösung der Sprache. Teils Wittgenstein

und Korzybski, teils Heidegger und Sartre wiederholend, behauptet Adorno, daß Bestimmtheit der

Sprache und der Philosophie nicht vereinbar seien.114

Mit einer gewissen „Abenteuerlichkeit“ der Sprache geht die Widersprüchlichkeit des Adornoschen

Denkens Hand in Hand. Adorno widerspricht bei fast jedem Schritt sich selbst – das haben wir bei

der Betrachtung seines Irrationalismus bereits festgestellt. Er weist sowohl Religion als auch Atheis-

mus zurück, ironisiert sowohl die „Metaphysik des Todes“ der Existentialisten als auch die faschisti-

schen „Lebensphilosophen“, verbreitet selbst aber Todesangst. Er lobt die Konkretheit der Praxis und

tritt selbst sowohl gegen ihr Primat über die Theorie als auch ihre Einheit mit der Theorie auf.115 Wie

110 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 203 f. 111 Ebenda, S. 37. 112 Ebenda, S. 259. 113 Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a. a. O., S. 119. 114 Th. W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, in: Stichworte. Kritische Modelle 2, a. a. O., S. 157. – Adorno betrachtet jede

Sprache, und desto mehr den philosophischen „Jargon“, als Gestalt entfremdeter Ideologie (vgl. Th. W. Adorno, Jargon

der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt/Main 1969. S. 138). 115 Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 144.

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Adorno die Philosophen am meisten kritisiert, von denen er selbst am meisten übernommen hat, so

stellt sich zudem heraus, daß er sich des Eklektizismus sowohl schämt als auch ihn lobt: er nennt die

Philosophen, welche Eklektizismus zu vermeiden suchten, Paranoiker, will seinen eigenen Eklekti-

zismus aber nicht eingestehen.116 Und wenn er schließlich teils Marx Hegel gegenübersteht, teils sie

beide zusammen nennt, nachdem er zuvor [40] Hegel als Vorfahren des nazistischen Rassismus dar-

gestellt hatte, so ist das ebenfalls ein methodologisches Verfahren, und zudem ein ziemlich schablo-

nenhaftes. Zur Schablone nimmt Adorno auch dort seine Zuflucht, wo er Engels Marx gegenüber-

stellt, indem er, um es mit den Worten von Engels auszudrücken, „das Stückchen vom bösen Engels,

der den guten Marx verführt hat“, wiederholt.117

In Widersprüche verstrickt, richtet Adorno die Methode der „Modellanalyse“ gegen die Methode der

widerspiegelnden Modellierung. Er kämpft gegen „Totalität“ und „Vergesellschaftung“, und zwar von

der Position des bürgerlichen Individualismus aus („Das Ganze ist unwahr“), aber nimmt selbst Zu-

flucht bei der „Totalität“ abstrakter soziologischer Schemata und ironisiert die anthropologische Apo-

logie des Individuums118 er behauptet: „Kollektivismus und Individualismus ergänzen einander im Fal-

schen.“119 All die starren Antithesen, die Adorno so gern benutzte, wie z. B. Subjektivität und Objekti-

vität, Gesellschaft und Natur, Demokratie und Technokratie, Geschichte und Theorie, Kritik und Apo-

logie, Prozeß und System, Aktion und Erkenntnis, Praxis und Widerspiegelung, Humanismus und Sci-

entismus, taugen letztlich in seinen Augen nichts, denn er verzichtet mit ungewöhnlicher Leichtigkeit

des Gedankens auf jede dieser Alternativen (hinzu kommt, daß viele der konstruierten Dilemmata illu-

sorisch sind). Adorno glaubt nicht an Wissenschaft, Theorie, Erkenntnis; aber auch nicht an den Men-

schen, die Geschichte und die Praxis. Adorno bemüht sich, nichts völlig konkret zu negieren, aber seine

„Negative Dialektik“ negiert alles und verwandelt sich, ähnlich dem Heideggerschen „Nichts“, am

Ende in leeren Schall. Er läßt die Hände von allen Widersprüchen, die vor ihm entstehen; sie sind für

ihn unauflösbare Antinomien. Das unterstreicht den pessimistischen Charakter seiner Philosophie.

Hieraus folgt noch ein Strich zur Ergänzung der Charakterzeichnung von Adornos Methode. Diese

ist ihrem Wesen nach antidialektisch. In gewissem Sinne hat Adorno sein Ziel erreicht; seine negative

Dialektik vermochte es, die äußerste Negation zu realisieren, sich selbst zu negieren und in ihr eigenes

Gegenteil zu verwandeln. Die Dialektik hat aufgehört, Dialektik zu sein, und an ihrer Stelle zeichnet

sich die Metaphysik unlösbarer Widersprüche ab. Es gibt noch einen Bereich, [41] wo diese Meta-

physik sich selbst demonstriert – das ist der Bereich der Ontologie.

Ontologie und Praxis

Adorno bestimmt seine Dialektik als „Ontologie des falschen Zustandes“120, denn das „Negative,

Falsche, zugleich jedoch Notwendige ist der Schauplatz von Dialektik“.121 Diese Ontologie ist ge-

nauso trügerisch und unbestimmt wie die Methode Adornos, aber in ihrer Haupttendenz spricht sie

mit ebensolchen schönen Worten von sich selbst. Sehen wir nun vor allem, was Adorno zur Philoso-

phie überhaupt sagt.

Was ist, nach Meinung Adornos, Philosophie? Wie gewöhnlich vermeidet er Definitionen, und die

von ihm vorgeschlagenen Charakterisierungen sind nichts weiter als Metaphern und nebelhafte Sym-

bolisierungen. Er ruft die Philosophie auf, Stimme des Widerspruchs und des Mißlingens zu werden,

ihre eigene Selbstkritik auszudrücken. Ihre Aufgabe sei es, die „Blume des Nichtexistierenden“ zu

finden und alle ihre Kategorien zum Zustand der Dissonanz zu führen. „Philosophie ist weder Wis-

senschaft noch ... Gedankendichtung, sondern eine zu dem von ihr Verschiedenen ebenso vermittelte

wie davon abgehobene Form. Ihr Schwebendes aber ist nichts anderes als der Ausdruck des

116 Vgl. ebenda, S. 31. 117 F. Engels, Brief an E. Bernstein vom 23.4.1883, in: Karl Marx/F. Engels, Werke, Bd. 36, Berlin 1967, S. 15. 118 Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 272, 292, 305. Den Aphorismus „Das Ganze ist das Unwahre“

stellte Adorno als Epigraph seiner Arbeit „Aspekte der Hegelschen Philosophie“ voran; er ist seinen „Minima moralia I‘

entnommen. Adorno selbst schreibt aber auch: „nichts Partikulares ist wahr“ (ebenda, S. 153). 119 Ebenda, S. 278 (im folgenden ders. Titel). 120 Ebenda, S. 20. 121 Ebenda, S. 173.

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Unausdrückbaren in ihr selber. Darin wahrhaft ist sie der Musik verschwistert.“122 Die letzten Worte

bringen die bekannte Meinung Carnaps in Erinnerung, Philosophie drücke die irrationale Musik des

Herzens aus. Adorno vermochte es, die „Logik des Zerfalls“ in irrationalen, zusammenhanglosen

Phrasen auszudrücken, und die Form seines Philosophierens entspricht nicht selten (so auch hier, bei

der Bestimmung der Philosophie) dem Inhalt. Und wenn Adorno auf Musik verweist, so hat er die

atonale, entleerte Musik im Auge, die er im Schaffen A. Schönbergs fand und als deren Paraphrase

er die absurden Dramen S. Becketts und die Erzählungen F. Kafkas ansah.

Adorno löst die Grundfrage der Philosophie auf seine, und zwar äußerst charakteristische Weise. Wie

auch Horkheimer, sah er deren klare Formulierung durch Engels als „vordialektisch“ an; ihre mate-

rialistische Lösung führe angeblich zu einer [42] „entfremdeten“ Betrachtung der Frage. Der Gegen-

satz von Subjekt und Objekt hat nach Ansicht Adornos keine eigentlich ontologische Bedeutung, und

deshalb sei es müßig zu fragen, was primär und was sekundär ist. Beide Begriffe seien „Ausdruck

einzig der Nichtidentität“.123 Da diese Nichtidentität als allgemeine Diskrepanz und Dissonanz

Adorno in der Philosophie unendlich teuer ist, geht er nicht den von den Machisten gebahnten Weg

und erkennt die relative Unterscheidbarkeit von Objekt und Subjekt an. „Subjekt ist in Wahrheit nie

ganz Subjekt, Objekt nie ganz Objekt; dennoch beide nicht aus einem Dritten herausgestückt, das sie

transzendierte.“124

Ebenso unannehmbar ist für ihn aber auch die gnoseologische Unterscheidung zwischen Subjekt und

Objekt, weil sie mit dem Widerspiegelungsprinzip in Zusammenhang gebracht werden könnte – und

dieses wiederstrebte Adorno zutiefst.

Die beschriebene Position, obwohl unbeständig und ausweichend, erlaubt es Adorno, die Pose eines

Kritikers sowohl des Idealismus und Positivismus als auch des Materialismus einzunehmen; er kriti-

siert sowohl Kant als auch Hegel, sowohl Bergson als auch Husserl, sowohl Heidegger als auch

Sartre.125 Adornos Bemerkungen zum dialektischen Materialismus sind voll von Bosheit, aber weder

exakt in den Fakten noch überzeugend in der Argumentation; Adorno sieht den Materialismus und

die materialistische Dialektik im Zerrspiegel, und der Haß trübt ihm das Auge. Auf den Materialismus

zielend, schreibt er: „Trotz des Vorrangs des Objekts ist die Dinghaftigkeit der Welt auch Schein“126,

und an anderer Stelle: „Objekt ist, wenngleich abgeschwächt, auch nicht ohne Subjekt. Fehlte Subjekt

als Moment an Objekt selber, so würde dessen Objektivität zum Nonsens.“127

Welche Motivation liegt nun aber allen solchen, dabei durchaus widersprüchlichen, Erklärungen zu-

grunde?

Diese Motivation ist eine zwiefache. Einerseits erweist Adorno, wie W. R. Beyer richtig bemerkt,

dem Objekt seine Reverenz, aber nur zu dem Zweck, das Subjekt, das menschliche Bewußtsein und

die Persönlichkeit zu erniedrigen.128 Andererseits versucht Adorno, jegliche Aktivität des Bewußt-

seins nur als Kehrseite der allumfassenden entfremdeten Verdinglichung darzustellen. Adorno

schreibt, „daß Subjektivierung und Verdinglichung nicht bloß divergieren, sondern Korrelate sind ...

[43] Verdinglichtes Bewußtsein ist ein Moment in der Totalität der verdinglichten Welt“.129 Für die

Realisierung dieser Ziele ist kein im eigentlichen Sinne materielles Objekt vonnöten; es genügt jenes

unbestimmte Objekt, das beispielsweise von Sartre anerkannt wird, und zwar als Hindernis, Störung,

Druck und Bedrohung. „Index für den Vorrang des Objekts ist die Ohnmacht des Geistes in all seinen

Urteilen wie bis heute in der Einrichtung der Realität“, schreibt Adorno.130 Er bemüht sich, das

122 Ebenda, S. 113. 123 Ebenda, S. 174. 124 Ebenda, S. 175. 125 Siehe ebenda, S. 17, 50, 60, 116, 156, 179, 195, 323. 126 Ebenda, S. 188. 127 Th. W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a. a. O., S. 166. Vgl. auch: „Beides, Körper und Geist, sind Abstraktionen von

ihrer Erfahrung, ihre radikale Differenz ein Gesetztes“ (Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 200). 128 Vgl. „Die postulierte Passivität des Subjekts mißt sich an der objektiven Bestimmtheit des Objekts“ (ebenda, S. 187). 129 Ebenda, S. 96, 100. 130 Ebenda, S. 185.

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Subjekt in Objekt zu verwandeln, die Materie phänomenologisch im Bewußtsein aufzulösen, die Ma-

terie aus dem Bewußtsein abzuleiten.131

Die Verabsolutierung der Praxis als „ontologische Seinsstruktur“ und die Verwandlung der Lehre von

der objektiven Realität in „soziale Ontologie“ führte schon den frühen Lukács zu idealistischen Resulta-

ten – er identifizierte Praxis in ihrer totalen Gestalt mit Freiheit, mit den gesellschaftlichen Kräften, die

die Praxis verwirklichen, und sogar mit der Theorie, der sie folgen.132 Der Identität von Subjekt und

Objekt in ihrer Fichte-Hegelschen Version näherte sich auch der vorgebliche Gegner jeglicher Identität,

Adorno. Und zwar der Identität; deshalb ist ihm mit der Einheit von Theorie und Praxis nicht gedient.133

Er behauptet demzufolge, daß der Materialismus ohne Idealismus nicht existieren könne134, und Ob-

jekt ist für ihn lediglich „terminologische Maske“.135 Aus diesem Grunde stellt er den jungen Marx

dem gesamten nachfolgenden dialektischen Materialismus entgegen und rügt Engels, weil er „Mate-

rie als das erste Sein“ anerkennt136; gleichzeitig träumt er von der „Aufhebung“ des historischen Ma-

terialismus.137

Wodurch hebt nun Adorno den historischen Materialismus auf? Durch historischen Idealismus.

Durch einen Idealismus, für den nach A. Schmidt folgendes gilt: „Nicht das Abstraktum der Materie,

sondern das Konkretum der gesellschaftlichen Praxis ist der wahre Gegenstand materialistischer

Theorie.“138 Die Schüler der Frankfurter Schule aus der Redaktion der „Praxis“ lassen demgegenüber

den Tarnanstrich der „Konkretheit“ und der Verweise auf den Materialismus beiseite und schreiben

offener, daß nur die menschliche objektive Realität“ existiere und die Einheit der Welt nicht in ihrer

Materialität, sondern in der Praxis bestehe, weil Praxis „universelles, freies, schöpferisches [44] und

selbstschöpferisches Sein ist“.139 Wir haben dieselbe mystische Identität von Theorie und Praxis,

Subjekt und Objekt vor uns, die von Marx und Engels schon in der „Heiligen Familie“ entlarvt wurde.

Das ist ebendieselbe Identität von Geistigem und Materiellem, die in den Konstruktionen der ameri-

kanischen Pragmatisten existiert, welche überhaupt nicht gegen den Idealismus auftraten, sondern

nur gegen dessen ontologische Systematisierung und Bestimmtheit.

Natürlich ist die Identität von Bewußtsein und Sein in den Werken Adornos verschleiert. Nicht um-

sonst kämpft er so hartnäckig gegen „Identität“, und wahrscheinlich könnte ihm hier nur der „allge-

meine Semantiker“ A. Korzybski die Siegespalme streitig machen. Adorno hat eine ambivalente Po-

sition inne: es hat den Anschein, als kämpfe er hauptsächlich gegen den „ökonomischen“, vulgären,

metaphysischen Materialismus; es stellt sich jedoch heraus, daß er seine Pfeile gegen die Verfechter

der objektiven wissenschaftlichen Analyse ökonomischer Prozesse abschießt. Nichts, aber auch gar

nichts Bestimmtes und Konkretes sagt Adorno über „Praxis“. Die Kategorie „Praxis“ wird bei ihm,

wie das seinerzeit bei dem Junghegelianer A. Ruge und danach bei J. P. Sartre der Fall war, auf reines

Wortgeklingel reduziert, auf die „‚Praxis‘ der Kritik“140 in Worten, während sie sich bei Marcuse,

wenn auch nur für kurze Zeit, als „Praxis des Abenteurertums“ darstellte.

In beiden Fällen haben wir es mit der Negation einer im echten Sinne revolutionären Praxis zu tun,

wenn auch in verschiedener Weise: in einem Falle entartete die Praxis in Geschwätz, das von W.

Benjamin höhnisch als „Labung an der negativistischen Ruhe“ charakterisiert wurde, und im anderen

– in Aufwiegelung zu anarchischen Aktionen. Aber auch im ersten Falle handelt es sich um gefährli-

ches Geschwätz, das Wesen und Ziel des kritischen Parameters der Dialektik verfälscht und darauf

gerichtet ist, die revolutionären Kräfte zu desorientieren und zu paralysieren. Auch die Angriffe

131 Siehe Th. W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a. a. O., S. 156. 132 Vgl. G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 339, 350 f. 133 Siehe Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 144: „Die Forderung der Einheit von Praxis und Theorie hat

unaufhaltsam diese zur Dienerin erniedrigt; das an ihr beseitigt, was sie in jener Einheit hätte leisten sollen.“ 134 Vgl. ebenda, S. 195. 135 Ebenda, S. 191. 136 Ebenda, S. 349, 125. 137 Ebenda, S. 205. 138 A. Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt/Main 1962, S. 30. 139 G. Petrović, Wider den autoritären Marxismus, Frankfurt/Main 1969, S. 168. 140 W. R. Beyer, Die Sünden der Frankfurter Schule. Ein Beitrag zur Kritik der „Kritischen Theorie“, Berlin 1971, S. 20.

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Adornos auf das Gesetz der Negation der Negation waren in ihrem Wesen Kampf gegen die Anwen-

dung der revolutionären Theorie auf die Praxis.141 In der bürgerlichen Philosophie hat die Verfäl-

schung des Begriffs „Kritik“ eine lange Tradition, die schon bei den Junghegelianern beginnt. Bei

Adorno hat diese Verfälschung ihren Kulminationspunkt erreicht: seine „Kritik“ hat das [45] Ziel,

die Möglichkeiten der tatsächlich revolutionären Kritik zu zerstören.

Die Identität von Bewußtsein und Sein wird bei Adorno durch das Schema einer idealistischen Inter-

pretation der Praxis realisiert, und das heißt, durch Hypertrophierung der noch ungenauen Formulie-

rungen des jungen Marx aus den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“.142 Das Material für

die Adornosche Ontologie war in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ von Lukács fast fertig vor-

handen. Die „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“, mit der sich die philosophische Evolution Lu-

kács’ vollendete, fügte Nuancen hinzu, die erlauben, wenn man sie sich anzueignen versteht, den

Unterschied zwischen subjektiv-idealistischer und materialistischer Konzeption der Praxis noch un-

klarer und verschleierter werden zu lassen. Der „ontopraxeologische“ Ausgangspunkt, der die objek-

tiven Gesetze in Natur und Gesellschaft mit der Tätigkeit des Subjekts identifiziert, diente Adorno

und seinen Schülern als Ausgangspunkt für die nachfolgende Identifizierung dieser Tätigkeit mit den

Gedanken des Subjekts von ihr. O. Negt beschuldigte die sowjetischen Philosophen, die Materialität

der Welt von der gesellschaftlichen Praxis „getrennt“ zu haben und dadurch zu einem „auch praktisch

folgenreichen erkenntnistheoretischen Objektivismus“ gekommen zu sein.143

Die „soziale Ontologie“ Adornos ist, ungeachtet all ihrer Angriffe auf die „Ontologie“ Husserls, Hei-

deggers und Sartres und trotz des unverkennbaren Wunsches, höher als alle anderen philosophischen

Schulen und Strömungen – von Kant und Hegel bis zu Nietzsche und Spengler – zu stehen, durch

äußerst eklektische Anleihen bei M. Weber, K. Mannheim und G. Lukács gekennzeichnet. Geschichte

wird zur „ontologischen Grundstruktur des Seienden“144, „Die Naturgesetzlichkeit der Gesellschaft

ist Ideologie“145, „Die Welt wie sie ist wird zur einzigen Ideologie und die Menschen deren Bestand-

teil“.146 So verwandelt sich die Ideologie beinahe in das einzige Objekt der Wirklichkeit, und die

Lehre von ihr fällt mit der Lehre vom Sein zusammen. Wir gelangen schließlich zum eigentümlichen

„ideologischen Idealismus“ Adornos.

Die Ideologiekonzeption der Frankfurter Schule werden wir nicht speziell betrachten. Alle ihre Ver-

treter identifizieren Ideologie mit falschem, verzerrtem gesellschaftlichem Bewußtsein. [46] Adorno

ist der Meinung, sobald der Ideologiebegriff „von keinem richtigen Bewußtsein sich unterscheidet,

taugt er nicht länger zur Kritik von falschem“.147

Es kann von einem Marxisten keine Einwände dagegen geben, daß das Prädikat der Falschheit auf

die Ideologie der herrschenden Klasse in den antagonistischen Klassengesellschaften bezogen wird.

Aber für Adorno existiert, ebenso wie für alle anderen Theoretiker der Frankfurter Schule, überhaupt

nur eine solche Ideologie. Sie ist entweder die Lüge der Gewalt oder der Selbstbetrug der Verzweif-

lung. Hätte der Löwe ein falsches Bewußtsein, „so wäre seine Wut auf die Antilope, die er fressen

will, Ideologie“.148 „Ebenso ist Verzweiflung die letzte Ideologie, geschichtlich und gesellschaftlich

bedingt.“149 Jawohl, die Ideologie der Verzweiflung ist das Finale der Evolution jeder revolutionären

Ideologie. Der Antikommunismus und Antisowjetismus ließ Adorno keine Möglichkeit, sich neue

Orientierungen und Ziele anzueignen, und es bleibt ihm nur übrig zu wiederholen, „Ideologie lauert

auf den Geist“150 und zerstöre ihn.

141 Ebenda, S. 36. 142 Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 349. 143 O. Negt, Diskussionsbeitrag; in: Die „Frankfurter Schule“ im Lichte des Marxismus, a. a. O., S. 128. 144 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 349. 145 Ebenda, S. 347. 146 Ebenda, S. 269. 147 Ebenda, S. 196. Es sei daran erinnert, daß die Frankfurter Schule im Unterschied zur Wissenssoziologie Mannheims

die Ideologie zu den Wissenschaften rechnet. 148 Ebenda, S. 340. 149 Ebenda, S. 364. 150 Ebenda, S. 39.

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Das ist auf jeden Fall richtig für die Ideologie Adornos und seinen sozialphilosophischen Idealismus.

Nichts weiter als falsche Ideologie ist auch seine Variante der „sozialen Ontologie“, die danach von

A. Schmidt entwickelt wurde. Dieser zieht gegen den „materialistischen Hegelianismus“ der sowje-

tischen Philosophen zu Felde und verkündet danach die bereits zitierte Behauptung, daß nicht das

Abstraktum Materie, sondern die Konkretheit der gesellschaftlichen Praxis wahrhafter Gegenstand

der materialistischen Theorie sei. Bei ihm ist die Praxis primär und die Materie sekundär, da „Begriffe

wie ‚Denken‘ und ‚Sein‘, ‚Geist‘ und ‚Natur‘ ebenso wie die naturwissenschaftlichen Erklärungswei-

sen der Praxis entsprungene Produkte sind“.151

„Sein“, „Natur“ und „Materie“ sind demnach nichts weiter als Entfremdung der Praxis, das heißt

Verdinglichung der geistigen Kräfte des Menschen. Aber das ist durchaus nicht neu, das wurde bereits

von Hegel ausgesprochen! Und wir sind gezwungen, uns das noch einmal als großartige Entdeckung

der „kritischen Theorie der Gesellschaft“ anzuhören. [47]

Die gesellschaftliche Bilanz der „negativen Dialektik“

Welchen Gewinn haben nun diejenigen, die an die „Macht“ der negativen Dialektik geglaubt haben?

Was sind sozialer Sinn und Resultat dieser Lehre? Was bringt sie den Menschen unserer Zeit, an die

sie gerichtet ist?

Vor allem ist aber auch die Frage zu beantworten, was die negative Dialektik als Ganzes darstellt.

Schon auf der Grundlage unserer Analyse von Kategorien wie „Negation“, „Entfremdung“ und an-

deren kann eine gewisse Charakterisierung erfolgen. Wie aber verhalten sich diese Kategorien zuein-

ander, und welches System bilden sie?

Adorno selbst bezeichnet seine negativ-dialektische Philosophie als „Antisystem“, in welchem es

weder einen bestimmten Kategorienbestand noch eine klar fixierte Wechselbeziehung zwischen den

Kategorien gebe und geben könne. In der nebulösen Unbestimmtheit dieses Antisystems werden je-

doch zwei verschiedene Schichten von Kategorien hinreichend deutlich – das sind zum einen die

Kategorien, die von Adorno zurückgewiesen werden, die er verwirft, und zum anderen die Katego-

rien, die in den Bestand der negativen Dialektik übernommen werden, die aber für den, der mit ihrer

Interpretation durch Adorno übereinstimmt, nur Niedergeschlagenheit und Verlorenheit bringen. Wir

kennen bereits Kategorien der einen wie der anderen Gruppe.

Die depressiv-psychologische, genauer die ideologische Funktion der negativen Dialektik Adornos

stützt sich in bestimmtem Maße auf die falsche These H. Marcuses, daß es die Marxsche Dialektik

„mit einer besonderen Stufe des historischen Prozesses zu tun“ habe.152 Das heißt, die Marxsche Dia-

lektik bezieht sich angeblich nur auf den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts und geht in ihrer Bedeu-

tung nicht über ihn hinaus. Um nicht nur einer bestimmten Etappe der menschlichen Geschichte,

sondern der Geschichte insgesamt zu entsprechen, braucht Dialektik nach Meinung Adornos nicht

sehr viel zu tun – sie hat lediglich die Idee der Geschichte, der Entwicklung und des Fortschritts zu

leugnen. Der Verlauf der historischen Ereignisse muß in ihren Augen die Züge des Einheitlichen

verlieren und in einzelne Episoden zerstreut sein. Dialektik ist weder objektive Erkenntnis „noch eine

Weltanschauung, in deren Schema [48] man die Realität zu pressen hätte“.153 Sie ist weder Abbildung

noch Verkörperung der gesellschaftlichen Praxis. Das hat W. R. Beyer in seiner Arbeit „Praxisnahe

und praxisferne Philosophie“ sehr gut nachgewiesen.154

Wenden wir uns nun den sozialen Prätensionen zu, mit denen Adorno und Marcuse ihre negativ-

dialektischen Konstruktionen verknüpften. Sie unterstreichen ihren offensiven Charakter. Gegen wen

und was ist die negative Dialektik gerichtet? W. Sonnemann erklärt, sie sei Werkzeug zur Zerstörung

151 A. Schmidt, Zum Verhältnis von Geschichte und Natur im dialektischen Materialismus; in: Existentialismus und Mar-

xismus, Frankfurt/Main 1965, S. 151. 152 H. Marcuse, Vernunft und Revolution, a. a. O., S. 277. 153 Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a. a. O., S. 21. 154 Vgl. W. R. Beyer, Praxisnahe und praxisferne Philosophie; in: Die „Frankfurter Schule“ im Lichte des Marxismus, a.

a. O., S. 26 ff.; W. R. Beyer, Adornos „Negative Dialektik“; in: „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“, Jg. 15 (1967), S.

1199 ff.

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aller möglichen „Masken von Herrschaft“.155 Sie tut aber faktisch nichts für den Kampf gegen die

kapitalistische Herrschaft, während Adorno und Horkheimer selbst schreiben, daß ihr ein „kritisches

Denken, das auch vor dem Fortschritt nicht innehält“156 eigen sei. Es geht um den Fortschritt in sei-

nem Wesen, nicht um seine Schattenseiten. Weder für den Rückschritt noch für den Fortschritt...

Wohin in diesem Falle? Horkheimer verwies in seinem Interview mit dem „Spiegel“ 1969 auf den

religiösen Glauben als einen möglichen Orientierungspunkt.

Natürlich ist das nicht die Hauptsache. Hinter Formulierungen von der Art, daß die negative Dialektik

in allen Richtungen angreife, verbirgt sich ihr konservativer, apologetischer Sinn. B. Willms schreibt,

„die Aggressivität der kritischen Sozialtheorie ist ein Rückzugsgefecht. Eines strategischen Rückzugs

vielleicht: das Denken zieht sich auf seinen Ausgangspunkt, die Subjektivität, zurück, um wenigstens

diese zu erhalten“.157 Aber in Wirklichkeit ist es ein Rückzugsgefecht anderer Art: unter der Maske

des Kritikers bemüht sich Adorno, und seine Freunde mit ihm, die bürgerliche Gesellschaft in all

ihren Antagonismen zu konservieren, sie in ihrer Grundlage, das heißt aber auch in ihren Widersprü-

chen, ohne die die bürgerliche Gesellschaft nicht existierte, zu verewigen. Marcuse formuliert diesen

eigentümlich verflochtenen Zustand des Protestes, der Hoffnungslosigkeit der Sackgasse und des

Wunsches, den Status quo zu erhalten, in folgenden Worten: „Die kritische Theorie der Gesellschaft

besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken

könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie. Damit will sie jenen die Treue

halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben haben und hingeben.“158

[49] Nach allem oben Gesagten schimmert aus der folgenden verallgemeinernden und abstrakten

Charakterisierung, die Adorno seiner negativen Dialektik gibt, ihr völlig bestimmter und gesellschaft-

lich unheilvoller Sinn hervor: „Tatsächlich ist Dialektik weder Methode allein noch ein Reales im

naiven Verstande. Keine Methode: denn die unversöhnte Sache, der genau jene Identität mangelt, die

der Gedanke surrogiert, ist widerspruchsvoll und sperrt sich gegen jeglichen Versuch ihrer einstim-

migen Deutung. Sie, nicht der Organisationsdrang des Gedankens veranlaßt zur Dialektik. Kein

schlicht Reales: denn Widersprüchlichkeit ist eine Reflexionskategorie, die denkende Konfrontation

von Begriff und Sache. Dialektik als Verfahren heißt, um des einmal an der Sache erfahrenen Wider-

spruches willen und gegen ihn in Widersprüchen zu denken. Widerspruch in der Realität, ist sie Wi-

derspruch gegen diese. Mit Hegel aber läßt solche Dialektik nicht mehr sich vereinen ... Ihre Logik

ist eine des Zerfalls ...“159 Hinter den Worten über die Feindseligkeit der gesellschaftlichen Wirklich-

keit wird die angestrengte Arbeit für die Zerstörung deutlich. Aber sie trifft nicht die Adorno feindli-

che Wirklichkeit, sondern jeglichen Willen zu deren Veränderung. Das entspricht auch dem „sozialen

Befehl“, der die „Logik des Zerfalls“ hervorgebracht hat.

Wie schätzt nun die „Logik des Zerfalls“ die Menschen unserer Zeit und ihr Schicksal ein? Mit einer

klassenmäßigen Analyse kann man hier nicht rechnen, dafür ist an globalen Einschätzungen kein

Mangel. Die Menschheit, so erfahren wir, ist „ein endloser Zug gebeugt aneinander Geketteter, die

den Kopf nicht mehr heben können unter der Last dessen, was ist“.160 Und weiter: „Wohl sind die

Menschen ausnahmslos unterm Bann ... Unterm Bann haben die Lebendigen die Alternative zwischen

unfreiwilliger Ataraxie – einem Ästhetischen aus Schwäche – und der Vertiertheit des Involvierten.

Beides ist falsches Leben.“161 Im zweiten wird die Vergeblichkeit des anarchistischen Revolutiona-

rismus anerkannt, das erste kann als Anerkennung der Fehlerhaftigkeit von Adornos eigener Position,

des aristokratischen Elitedenkens, angesehen werden.

155 W. Sonnemann, Jenseits von Ruhe und Unordnung. Zur Negativen Dialektik Adornos, in: Über Theodor W. Adorno,

a. a. O., S. 140. 156 M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. IX. 157 B. Willms, Theorie, Kritik und Dialektik, in: Über Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 89. 158 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied

u. Berlin (West) 1967, S. 268. 159 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 146. 160 Ebenda, S. 336. 161 Ebenda, S. 354.

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Folglich existiert die „unfreiwillige Ataraxie“ im Milieu der „Dissoziation“ und „Depersonalisie-

rung“ oder der allgemeinen Schizophrenie162, und der Mensch, der von Adorno als „un-[50]freie

Funktion“ und „schutzlose Bedürftigkeit“ bestimmt wird163, ist „an den Felsen seiner Vergangenheit

festgeschmiedet“.164

Diese unerfreuliche Situation wird von Adorno von den sozialen Umständen der kapitalistischen Ge-

sellschaft mit ihren antimenschlichen Grundstrukturen hergeleitet. „Die bürgerliche Gesellschaft ist

eine antagonistische Totalität.“165 Diese „Totalität“ wird von ihm in den üblichen Formeln der „kri-

tischen Theorie der Gesellschaft“ charakterisiert, durch ihren Begriff der totalen Herrschaft, die ihr

eigene Identifizierung von Sozialismus und Kapitalismus, Kommunismus und Faschismus, und durch

Ausführungen über die „Ohnmacht der Arbeiter“.166 Die Empörung Adornos gegen die imperialisti-

sche Wirklichkeit war aufrichtig, und diese „Empörung ist unerläßliches Element, um das Leiden

auszudrücken“167, aber sein Leiden führt nicht zu revolutionären Entschlüssen.

Auf der Grundlage einer Analyse der musikwissenschaftlichen Arbeiten Adornos versucht man heute

manchmal, diese letzte Schlußfolgerung in Zweifel zu ziehen. Man beginnt, Adorno beinahe als Ver-

treter der Aufklärung anzusehen, der die skeptische Tätigkeit von Montaigne fortsetze, die den Boden

für die auf sie folgenden revolutionären Theorien bereitete, und der sich sogar in der Theorie direkt

auf Marx stütze.168 Wir sind mit einer solchen Einschätzung der Sozialphilosophie Adornos, die das

spezifische Gewicht der ästhetischen und künstlerischen Problematik in seiner Weltanschauung über-

treibt, nicht einverstanden.

Selbst wenn man damit einverstanden ist, daß „die Musikphilosophie Adornos zwischen Empörung

und Verzweiflung schwankt“169, so schwankt seine Philosophie der Gesellschaft nur um den Pol der

Verzweiflung. Das gewaltige Arsenal subtiler philosophiehistorischer Gegenüberstellungen und

künstlerischer Intuitionen, der eindrucksvollen Beschreibungen der Phänomene von Fetischisierung

und der scharfsinnigen kritischen Bemerkungen gegen die imperialistische „Massen“-Pseudokultur –

all das ist bei Adorno unfruchtbar; es befreite ihn nicht aus dem Banne der sozialen Klassenkräfte,

gegen die er protestierte, und reduziert den progressiven Parameter seiner negativen Dialektik auf

Null, ebenso wie das bei der Dialektik Marcuses und Sartres der Fall ist.

Wenn Adorno verkündete, daß der „gegenwärtige Zustand“ [51] der Gesellschaft „zerstörend“ ist170,

so hofften seine Leser, in ihm einen Ankläger zu finden, der hilft, die sozialen Geschwüre zu kurieren.

Als er aber die Bilanz seiner Entlarvungen mit den Worten zog, daß die „Zuflucht der Hoffnung“

lediglich das „Niemandsland zwischen den Grenzpfählen von Sein und Nichts“ sei171, so sahen eben-

diese Leser, daß der Arzt nichts verheißt, nicht einmal die Euthanasie seiner Patienten. Daher rührt

die Enttäuschung der westdeutschen Studentenschaft und das skandalierende Herabstürzen ihres Göt-

zen von dem Piedestal, auf das er erst kurz zuvor mit großem Pomp gehoben worden war.172

Das Schicksal des „negativen“ Denkens von Adorno ist bezeichnend. In der Geschichte haben sich

zwei Grundtypen negativer Dialektik herausgebildet. Einer ist die „negierende Dialektik“ der Eleaten

und bis zu einem gewissen Grade der Sophisten und Skeptiker, eine Dialektik, welche Verfahren des

dialektischen Denkens zu metaphysischen Zwecken benutzte, aber die Entwicklung dialektischer An-

schauungen zu den untersuchten Problemen unfreiwillig stimulierte. Ende des 19. Jahrhunderts

162 Ebenda, S. 275. 163 Ebenda, S. 128. 164 Ebenda, S. 58. 165 Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a. a. O., S. 40. 166 Vgl. M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 43; Th. W. Adorno, Negative Dialektik, S.

179 f. u. a. 167 D. Zoltai, T. Adorno i negativnost’ filosofii muzyki; in: „Voprosy filosofii“, 1971, Heft 8, S. 75. 168 Siehe: A. V. Michajlov, Koncepcija proizvedenija iskusstva u Teodora V. Adorno; in: O sovremennoj buržuaznoj

estetike. Sbornik statej, vypusk 3, Moskva 1972, S. 185, 210. 169 D. Zoltai, T. Adorno i negativnost’ filosofii muzyki, a. a. O., S. 77. 170 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 273. 171 Ebenda, S. 372; vgl. S. 351. 172 Vgl. W. Schoeller (Hrsg.), Die neue Linke nach Adorno, München 1969.

Igor S. Narski: Die Anmaßung der negativen Philosophie Theodor W. Adornos – 26

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entstand eine neue Variante der „negierenden Dialektik“ bei F. Bradley. Der zweite Grundtyp ist die

negierende Dialektik der Neuhegelianer in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts bei S. Marck

und A. Liebert, die von Motiven des Tragismus und der Ausweglosigkeit, der Unlösbarkeit und des

Katastrophencharakters gesellschaftlicher Widersprüche durchzogen wird. Zum zweiten Typ gehört

als seine extreme, äußerste Entwicklungsform die „negative Dialektik“ Adornos.

Wenn die „negierende Dialektik“ Zenons von Elea an fruchtbare erkenntnistheoretische Ideen heran-

führte und bei dem „absoluten Idealisten“ F. Bradley an diese wenigstens erinnert wurde, so tragen

die pseudodialektischen Negationen Adornos weder erkenntnistheoretische noch gesellschaftlich-re-

volutionäre Früchte.173 Sie zeigen, daß die Dialektik Adornos in ihrem Wesen ungenügend negativ

ist, denn sie negiert nicht die kapitalistischen Eigentumsformen und behindert die Aufdeckung ihres

eigenen echt ideologischen Charakters. Die Adornoschen Negationen diskreditieren die Dialektik,

indem sie sie in Apologie tödlicher Fäulnis verwandeln. Dabei ist die wahrhafte Dialektik Waffe im

Lebenskampf. „In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wort-

[52]führern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zu-

gleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede ge-

wordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch

nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.“174 Für bürgerliche Ideologen

vom Schlage Adornos hingegen vernichten Kritik und Revolution sich selbst, und der Untergang der

kapitalistischen Gesellschaftsform fällt mit dem Untergang der Menschheit überhaupt zusammen.

Wir haben es mit einer falschen Identifizierung, mit dem am meisten verfälschten aller „Modelle“ von

Identität zu tun.175

173 Es ist charakteristisch, daß bereits bei den antiken Skeptikern, die das Prinzip der aktiven menschlichen Tätigkeit

ablehnten, die Annäherung beider Typen negierender Dialektik bemerkt werden kann; daß der Skeptizismus, um mit

Hegel zu sprechen, es lernte, „sich Rechenschaft zu geben von der Nichtigkeit dieses als Wahr und Wesen Behaupteten“

(G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Zweiter Band; in: Sämtliche Werke, Bd. 18, Stuttgart

1959, S. 542). 174 K. Marx, Das Kapital, Erster Band; in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 27 f. 175 Zu Adorno und zur Frankfurter Schule insgesamt vgl. folgende Hefte der Reihe „Zur Kritik der bürgerlichen Ideolo-

gie“, hrsg. von Manfred Buhr: N. Motroschilowa/J. Samoschkin, Marcuses Utopie der Antigesellschaft (Heft 4); Gertraud

Korf, Ausbruch aus dem „Gehäuse der Hörigkeit“? (Heft 5); Rolf Bauermann/Hans-Jochen Rötscher, Dialektik der An-

passung (Heft 17); Peter Reichel, Verabsolutierte Negation (Heft 21); Wilhelm Raimund Beyer, Vom Sinn oder Unsinn

einer „Neuformulierung“ des Historischen Materialismus (Heft 43).