Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema...

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Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen Verein in Rostock und seinen Jugendtreff vorgelegt von Ulrike Stepan Betreuer Prof. Dr. Wolfgang Nieke eingereicht am 15. Dezember 2000 UNIVERSITÄT ROSTOCK Philosophische Fakultät Institut für Allgemeine und Sozialpädagogik

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Magisterarbeit

zum Thema

Einstellungen und Erwartungenvietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong,

einen deutsch-vietnamesischen Verein in Rostockund seinen Jugendtreff

vorgelegt von

Ulrike Stepan

Betreuer

Prof. Dr. Wolfgang Nieke

eingereicht am 15. Dezember 2000

UNIVERSITÄT ROSTOCKPhilosophische Fakultät

Institut für Allgemeine und Sozialpädagogik

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Inhalt

2

Inhaltsverzeichnis

0 VORWORT .............................................................................................................. 4

1 EINLEITUNG ........................................................................................................... 6

2 DIE SITUATION JUGENDLICHER HEUTE ................................................................ 7

2.1 Lebensphase Jugend ...................................................................................... 7

2.2 Die Lebenslage der Jugendlichen mit Migrationsgeschichte................... 13

2.2.1 Kulturelle Identität................................................................................ 14

2.2.2 Die Probleme der Jugendlichen mit Migrationsgeschichte.................. 19

2.2.3 Zusammenfassung................................................................................ 22

3 DIE LEBENSLAGE VIETNAMESISCHER JUGENDLICHER ...................................... 23

3.1 Geschichtliche Entwicklung und heutige Situation in Vietnam .............. 23

3.2 Als Ver tragsarbeiter in die DDR – Die Migration der Eltern ................. 30

3.2.1 Die Situation der Vertragsarbeiter vor der Wende............................... 30

3.2.2 Die Situation nach der Wende.............................................................. 32

3.3 Sozialisation in Vietnam – eine fremde Kultur ......................................... 34

3.3.1 Kultur und Religion.............................................................................. 34

3.3.1.1 Der Konfuzianismus.................................................................. 34

3.3.1.2 Religion..................................................................................... 36

3.3.2 Mentalität.............................................................................................. 37

3.3.3 Die Rolle der Familie........................................................................... 40

3.3.4 Die Rolle der Frau ................................................................................ 44

3.3.5 Sprache................................................................................................. 45

3.3.6 Bildung und Ausbildung....................................................................... 47

3.4 Zusammenfassung........................................................................................ 48

4 UNTERSTÜTZUNG DURCH SOZIALE NETZWERKE ............................................... 50

4.1 Die Bedeutung sozialer Netzwerke............................................................. 50

4.2 Entstehung und Weiterentwicklung des Vereins Dien Hong................... 53

4.3 Der Jugendtreff des Vereins........................................................................ 57

5 METHODISCHES VORGEHEN ............................................................................... 63

5.1 Zum Erhebungsver fahren........................................................................... 64

5.1.1 Probleme und mögliche Fehlerquellen................................................. 65

5.1.2 Stichprobe............................................................................................. 68

5.2 Besonderheiten bei der Befragung von Vietnamesen ............................... 69

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Inhalt

3

5.3 Hypothesen, Fragestellung, Operationalisisierung................................... 71

6 ERGEBNISSE ......................................................................................................... 72

6.1 Das erhobene Mater ial................................................................................. 72

6.2 Die Ergebnisse der Interviews.................................................................... 74

6.2.1 Persönliche Daten der Stichprobenteilnehmer ..................................... 75

6.2.2 „ In Vietnam ist es lustiger“ .................................................................. 77

6.2.2.1 Typisch! – Mentalitätsunterschiede.......................................... 78

6.2.2.2 Schule........................................................................................ 79

6.2.2.3 Zusammenleben und Gemeinschaft .......................................... 82

6.2.2.4 Freunde und Freizeit ................................................................ 84

6.2.2.5 Probleme in Deutschland.......................................................... 86

6.2.2.6 Wissen über Deutschland vor der Migration............................ 88

6.2.2.7 Familie...................................................................................... 89

6.2.2.8 Tradition und Religion.............................................................. 91

6.2.3 „ Ich bin Vietnamese!“ – Kulturelle Identität........................................ 94

6.2.4 Zukunft und Wünsche.......................................................................... 96

6.2.5 Zum Verein Dien Hong........................................................................ 98

7 AUSWERTUNG UND AUSBLICK ........................................................................... 102

7.1 Zu den Hypothesen .................................................................................... 102

7.1.1 Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher in Rostock................. 102

7.1.1.1 Entwicklungsaufgaben und Identität ...................................... 102

7.1.1.2 Kulturelle Unterschiede.......................................................... 106

7.1.1.3 Soziale Ressourcen – Familie und Freunde........................... 108

7.1.1.4 Fremdenfeindlichkeit .............................................................. 110

7.1.2 Einstellungen und Erwartungen an Dien Hong.................................. 111

7.2 Ausblick ...................................................................................................... 115

L ITERATUR ........................................................................................................... 119

ANHANG ........................................................................................................................I

L iste der geführ ten Interviews.............................................................................I

Leitfaden .............................................................................................................. I I

Codier leitfaden...................................................................................................IV

ERKLÄRUNG ............................................................................................................... V

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Vorwort

4

0 Vorwor t

Als Herr Professor Nieke im Wintersemester 1999 in einer Vorlesung erwähnte, dass

der vietnamesisch-deutsche Verein Dien Hong1 – Gemeinsam unter einem Dach e.V.

Studenten suchen würde, die Interesse an einer Diplom- oder Magisterarbeit über ihn

hätten, wusste ich noch nichts über Vietnam. Es war für mich ein Land, das einen

Krieg gegen die USA geführt hatte, wo es den Vietkong gab und das (immer noch?)

sozialistisch sein musste. Auch über die Situation der ehemaligen Vertragsarbeiter2

der DDR und deren nachgezogene Familien war mir wenig bekannt.

Um den Verein und die Jugendlichen, die für die vorliegende Arbeit interviewt

werden sollten, kennen zu lernen, gab ich auf ihren Wunsch hin einmal in der Woche

Nachhilfe in Englisch. So wurde der Freitag Nachmittag zu einem festen Termin, an

dem ich neben dem Unterricht Zeit hatte, die Jugendlichen und ihre Kultur zu

erleben.

Der Verein wies gleich zu Beginn der Zusammenarbeit darauf hin, dass die

Jugendlichen den Treff nicht in dem Maße nutzen, wie es möglich und

wünschenswert wäre. Sowohl sie als auch ihre Eltern scheinen Dien Hong nicht als

das wahrzunehmen, was er eigentlich ist: Ein gemeinnütziger Verein, den

Vietnamesen selbst gegründet haben, um für sich und alle anderen Kulturen

Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten zu schaffen. Sie sehen Dien Hong als eine

Einrichtung, die ihren Mitarbeitern einen Job garantiert und an die man gewisse

Ansprüche stellen kann. So wird z.B. erwartet, dass der Verein in allen Fällen

sofortige und kostenlose Hilfe leistet. Diese Probleme sollten im Mittelpunkt der

Magisterarbeit stehen und die „Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer

Jugendlicher an Dien Hong“ untersucht werden.

Allerdings ist die Situation nachgezogener vietnamesischer Jugendlicher noch nicht

besonders erforscht, so dass ich mich zunächst ganz allgemein mit der Problemlage

1 Leider muss in dieser Arbeit aus computertechnischen Gründen auf vietnamesische Sonderzeichen

verzichtet werden.2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird für die gesamte Arbeit die männliche Form benutzt (es

sei denn, in den Zitaten findet sich eine andere Variante).

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Vorwort

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dieser Gruppe auseinander setzen musste. Durch die Nachmittage im Verein und das

Studium der Literatur wurde das Feld der interessanten Fragen immer größer.

Aus den Gesprächen mit den Jugendlichen war zu erkennen, dass der Verein nicht

die Bedeutung für sie hat, die man vermuten könnte. Was also kann oder soll eine

Magisterarbeit in diesem Bereich leisten? Um konkret an den Problemen des Vereins

zu arbeiten, fehlten mir die notwendigen Vorkenntnisse, z.B. über die vietnamesische

Mentalität. Andererseits stand das Thema für die Arbeit fest.

„Ein Forschungsprozess3 ist (…) prinzipiell offen, auch die Fragestellung kann sich

im Laufe der Forschung ändern. Wesentlich sind darum offene

Forschungsverfahren“ (nach Devereux, zitiert bei: Gudjons 1995, S. 66) In diesem

Sinne lege ich das Thema der Arbeit etwas weiter aus und betrachte die Lebenslage

und die Einstellungen der vietnamesischen Jugendlichen nicht nur in Bezug auf Dien

Hong. Aus den gegebenen Bedingungen halte ich dies für sinnvoll und korrekt.

In der vorliegenden Arbeit findet sich wieder, was ich während der letzten Monate

aus Büchern, Fernsehsendungen und vielen Gesprächen über Vietnam, seine

Menschen und die hier lebenden vietnamesischen Jugendlichen erarbeitet habe. Ich

kann weder einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, noch für die

Widerspruchsfreiheit der beschriebenen Dinge garantieren. Was kann man schon

über ein Land und seine Menschen wissen, das man noch nie gesehen hat und

welches zudem einem fremden Kulturkreis angehört? Deshalb sind die folgenden

Kapitel ein winziger Ausschnitt von dem, was eigentlich zum Thema zu sagen wäre.

Vielleicht animieren sie zum genaueren Hinschauen und zu weiteren Forschungen.

Es lohnt auf jeden Fall, sich eingehender mit der vietnamesischen Kultur und der

bisher wenig erforschten Situation der nachgezogenen Kinder der DDR-

Vertragsarbeiter zu beschäftigen!

3 In den Zitaten wird wie in der gesamten Arbeit die neue Rechtschreibung verwandt.

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Einleitung

6

1 Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Situation vietnamesischer

Jugendlicher, die als Kinder ehemaliger Vertragsarbeiter der DDR in den letzten

Jahren nach Deutschland gekommen sind. Sie richtet sich an alle am Thema

Interessierten, an Pädagogen und die Mitarbeiter von Vereinen, welche sich mit

migrierten Kindern und Jugendlichen befassen sowie an Studenten und Dozenten,

denen sie als Grundlage für weitere Forschungen dienen mag.

Ausgehend von der Lebenslage der Jugendlichen heute im Allgemeinen wird auf die

Besonderheiten der Situation der Jugendlichen mit Migrationsgeschichte

eingegangen (Kapitel 2). Diese berücksichtigend werden die speziellen Probleme der

vietnamesischen Kinder und Jugendlichen, welche durch die Differenzen zwischen

südostasiatischer und westeuropäischer Kultur bedingt sind, dargestellt (Kapitel 3).

Jugendliche, insbesondere wenn ihre Biografie eine Migration beinhaltet, benötigen

für ihre Entwicklung die Unterstützung durch soziale Netzwerke, deren Bedeutung in

Kapital 4 beschrieben ist. Der Verein Dien Hong – gemeinsam unter einem Dach

e.V. gehört für die Vietnamesen in Rostock zu solch einem Netzwerk dazu. Seine

Ziele und Angebote sowie deren Wahrnehmung durch die Jugendlichen werden

ebenfalls dargestellt.

Die in Rostock lebenden Jugendlichen vietnamesischer Herkunft wurden zu ihrer

Lebenslage und den Einstellungen und Erwartungen an Dien Hong befragt. Kapitel 5

zeigt das angewandte Forschungsdesign und die ihm eigenen Probleme. Im darauf

folgenden Kapitel finden sich die Ergebnisse der Befragung. Das 7. und letzte

Kapitel beinhaltet die Überprüfung der im theoretischen Teil aufgestellten

Hypothesen und einen Ausblick auf die Arbeit des Vereins.

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Die Situation Jugendlicher heute

7

2 Die Situation Jugendlicher heute

In diesem Kapitel wird kurz und thesenartig die Lebenssituation Jugendlicher

dargestellt und insbesondere auf die Lage von Kindern und Jugendlichen mit

Migrationsgeschichte eingegangen. Dabei können nicht alle in diesem Bereich

vorhandenen Ansätze berücksichtigt werden.

2.1 Lebensphase Jugend

„Jugend bedeutet ein Doppeltes: sie ist einmal eine subjektive

biographische Lebensphase, in der Aufgaben der inneren

Entwicklung, des Lernens, der Identitätsbildung anstehen; sie ist

zum anderen eine gesellschaftlich bestimmte Lebenslage, abhängig

von gesellschaftlichen Bedingungen und Erwartungen (…). In der

Vorbereitung auf die Anforderungen der Erwachsenenrolle (…) liegt

der biographische und gesellschaftliche Sinn der Jugendphase.“

(Fischer/ Münchmeier 1997, S. 13)

Jede Lebensphase verlangt die Ausbildung bestimmter entwicklungstypischer

Kompetenzen, welche die Voraussetzung für die folgenden Entwicklungsschritte

darstellen (vgl. Oerter, zitiert bei Hurrelmann 1997, S. 32). In der

Entwicklungspsychologie hat sich hierfür der Begriff „Entwicklungsaufgabe“

durchgesetzt. „Unter einer Entwicklungsaufgabe werden die psychisch und sozial

vorgegebenen Erwartungen und Anforderungen verstanden, die an Personen in

einem bestimmten Lebensabschnitt gestellt werden. Die Entwicklungsaufgaben

definieren für jedes Individuum in bestimmten sozialen Lebenslagen die

vorgegebenen Anpassungs- und Entwicklungsprobleme, denen es sich stellen muss.“

(Hurrelmann 1997, S. 32f.)

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Die Situation Jugendlicher heute

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Gudjons nennt drei Faktoren, die Einfluss auf die Bewältigung von

Entwicklungsaufgaben haben: Zum einen muss der Jugendliche die

unterschiedlichen Rollen, welche er ‚spielt’ und die unterschiedlichen

Anforderungen, die sich ihm stellen, so meistern, dass er das Gefühl der Kohärenz,

also der Einheit seiner Persönlichkeit, bewahren kann. Zum anderen ist er

gezwungen, die eigenen Leitbilder, Werte und Normen mit den in der Gesellschaft

dominierenden zu vermitteln. Letztendlich muss so etwas wie ein biographisches

Bewusstsein entstehen, das bedeutet: Das eigene Leben wird dem Menschen als sein

individuelles Dasein in einem bestimmten gesellschaftlichen und historischen

Kontext bewusst. (Vgl. Gudjons 1995, S. 128)

Nieke beschreibt die Situation, durch welche die Entwicklungsaufgaben entstehen,

folgendermaßen: Die „Normen und Erwartungen der umgebenden Gesellschaft,

Kultur und Lebenswelt“ werden an das Individuum herangetragen. Dieses „nimmt

sie subjektiv wahr“ und setzt sich mit ihnen auseinander. Gleichzeitig entwickelt es

„eigene Zielsetzungen“, an welchen es sich orientiert und die es wiederum mit denen

der Gesellschaft vermitteln muss. (Vgl. Nieke 1997 o.S.4)

Aus den genannten Faktoren ergeben sich für das Jugendalter folgende

Entwicklungsaufgaben:

1. Akzeptieren des eigenen Körpers

2. Erwerb der männlichen bzw. weiblichen Rolle

3. Entwicklung reiferer Beziehungen zur Gleichaltrigengruppe

4. Erprobung von Sexualität und Intimität

5. Vorbereitung auf die Gründung einer eigenen Familie

6. emotionale Lösung von den Eltern (und anderen Erwachsenen)

7. Vorbereitung auf das Berufs- und Erwerbsleben

8. Übernahme von Verantwortung für das Allgemeinwohl

9. Entwicklung eigener Handlungsmuster für die Nutzung des

Konsumwarenmarktes und der Medien (Ziel ist die Herausbildung eines eigenen

Lebensstils) (vgl. Hurrelmann 1997, S. 34)

10. Entwicklung eines eigenen Wertesystems

4 Bei Handouts oder Folien zu Vorlesungen (Nieke 1997 und 1999) existieren keine Seitenangaben.

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11. Schaffung eines reflektierten Selbstbildes (wissen, wer man ist und was man

will)

12. Entwicklung einer Zukunftsperspektive

(außer 9.: vgl. Havighurst und Dreher & Dreher, zitiert bei Nieke 1997, o.S. und

Gudjons 1995, S. 123)

Individuation und Identität gelingen nur, wenn die genannten Entwicklungsaufgaben

gelöst werden (vgl. Hurrelmann 1997, S. 36f.). Erwirbt der Jugendliche in einem

oder in mehreren der genannten Bereiche vorübergehend oder dauerhaft

unzureichende Kompetenzen und erbringt die von der sozialen Umwelt erwarteten

Fähigkeiten und Dispositionen nicht, kann es zu Problemen kommen. Ist es ihm

unmöglich, die Situation durch geeignete personale oder soziale Strategien zu

bewältigen, so sind erhebliche individuelle Belastungen zu erwarten, die zur Störung

der weiteren Entwicklung führen können. Das Fehlen einer hohen

Problembewältigungskompetenz verleitet in dieser Situation zu defensiven, passiven

oder ausweichenden Reaktionen. (Vgl. ebd.)

Der Übergang ins Erwachsenenalter ist vollzogen, wenn die Entwicklungsaufgaben

gelöst sind. „Das bedeutet also: Die Entwicklung der intellektuellen und sozialen

Kompetenzen und der Aufbau der Selbstständigkeit sind abgeschlossen“

(Hurrelmann 1997, S. 34). Im Jugendalter setzt der Prozess der selbstständigen und

bewussten Individuation ein und kommt zu einem vorläufigen Abschluss. Es

entwickelt sich eine besondere und unverwechselbare Persönlichkeitsstruktur.

Gleichzeitig bildet sich die Identität, verstanden als das Erleben situations- und

lebensgeschichtlicher Kontinuität heraus. Der Mensch erfährt sich auch in

verschiedenen Situationen als mit sich selbst identisch. (Vgl. ebd., S. 36f.)

Die Form der Verarbeitung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter unterscheidet

sich sehr von der in der Kindheit. Durch die Geschlechtsreife entsteht ein

Ungleichgewicht in der psycho-physischen Struktur der Person. Die anatomischen,

physiologischen und hormonalen Veränderungen betreffen den gesamten Körper und

eine umfassende Anpassung auf körperlichen, seelischen und auch sozialen Ebenen

wird notwendig. (Vgl. Oerter & Montada, zitiert bei Hurrelmann 1997, S. 31)

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„ In soziologischer Perspektive ist die Jugendphase als eine eigenständige

Lebensphase insofern anzusehen, als in ihr der Prozess des Einrückens in zentrale

gesellschaftliche Mitgliedsrollen eingeleitet und zum Ende gebracht wird“

(Hurrelmann 1997, S. 49). Es handelt sich bei der Jugendphase um einen bestimmten

sozialen Status oder eine soziale Position. Das bedeutet, es existieren bestimmte

Vorstellungen darüber, wie sich jemand, der diese Position innehat, verhalten soll

und welche Rechte und Pflichten er besitzt. Übergänge von einem Status in einen

anderen werden als Statuspassagen bezeichnet und sind mit einer Veränderung der

sozialen Verhaltensanforderungen verbunden. In der Jugend sind im Vergleich zum

Status Kindheit schrittweise Erweiterungen der Handlungsspielräume und der

Rollenvielfalt zu erkennen. Der Einzelne wird stärker in das Netz sozialer

Erwartungen und Verpflichtungen eingebunden und bildet entsprechende

Kompetenzen zur Teilnahme an sozialen Interaktionsprozessen heraus. (Vgl.

Hurrelmann 1997, S. 39)

Typisch für die heutige Jugend ist eine relativ frühe Selbstständigkeit im Bereich der

politischen und konsumistischen Partizipation. Gleichzeitig erreichen die

Jugendlichen ihre Selbstständigkeit im Bereich der Familienrolle und der

Erwerbstätigkeit sehr spät, so dass man von einer „Statusinkonsistenz“ sprechen

kann, die Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung hat. (Vgl. ebd., S. 49)

Als Lebenslage lässt sich ein Set von Indikatoren verstehen, mit deren Hilfe man die

Lage von Personen in einer Gesellschaft beschreiben kann. Jugendliche gelten als

prinzipiell erwachsen, erleben aber noch einen Freiraum des Ausprobierens, bevor

sie in die Rollen und Positionen der Erwachsenengesellschaft eintreten. (Vgl. Nieke

1997, o.S.) „Jugendliche haben (…) eine Art ‚Moratorium’ als Experimentier- und

Probehandeln zur Verfügung: Rollen können ergriffen und aufgegeben,

Möglichkeiten der Identität durchgespielt werden“ (Erikson, zitiert bei Gudjons

1995, S. 128).

Von der zunehmenden Arbeitslosigkeit, Globalisierung und Rationalisierung im

Erwerbsarbeitssektor sind die Jugendlichen in ihrem Schonraum nicht befreit. Die

Jugendphase als Vorbereitungszeit auf die Erwachsenengesellschaft ist von diesen

Entwicklungen direkt betroffen. Arbeit dient immer noch als wichtiges Mittel der

Selbstbehauptung und Identifikation, ist aber weder für alle Erwachsenen noch für

die Jugendlichen in Form von Ausbildungsplätzen (mit Zukunft) vorhanden. (Vgl.

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Fischer/ Münchmeier 1997, S. 13) Die Shell Jugendstudie zeigt, „dass von allen

Problemen am stärksten die Probleme der Arbeitswelt die Jugend beschäftigen und

nicht die klassischen Lehrbuchprobleme der Identitätsfindung, Partnerwahl und

Verselbständigung“ (ebd., S. 14).

Besondere Brisanz erfährt die Entwicklung im Jugendalter unter den Bedingungen

von postmoderner Pluralisierung und einer immer stärker geforderten

Individualisierung. Der „Sinn-Markt“ bietet dem Einzelnen verschiedenste

Deutungsangebote für sein Leben. Damit gewinnt das Individuum an

Entscheidungschancen. Diese Entwicklung geht mit dem Verlust eines kollektiv und

individuell verbindlichen „Sinn-Daches“ einher. Die großen Institutionen, wie

Kirchen, Parteien und Verbände bieten keine ausreichenden

Orientierungsmöglichkeiten mehr, das Individuum ist für die Entwicklung eines

eigenen Lebensstils selbst verantwortlich. Das bedeutet, dass der Einzelne die

verschiedenen Sinnangebote zu einer „ästhetischen Gesamtfigur“ , dem eigenen Stil,

„zusammenbasteln“ muss. Aus vorgegebenen „Sinn-Elementen“ entstehen

sogenannte „Patchwork-Identitäten“ oder „Bastelexistenzen“. (Vgl. Hitzler/ Honer

1994, S. 307ff.) „Jeder Jugendliche und jede Jugendliche muss sich mit den

vielfältigen Chancen und Risiken für den Individuations- und Integrationsprozess auf

eine eigene Weise auseinander setzen. In einer Gesellschaft, die durch Prozesse der

‚ Individualisierung’ von sozialen Beziehungen gekennzeichnet ist, trägt jedes

Individuum die endgültige Verantwortung für die Bewältigung und Koordination der

divergierenden Handlungsanforderungen selbst – auch dann, wenn es sich in einer

sozialstrukturell ungünstigen Lebenslage befindet, die es aus eigener Kraft kaum

beeinflussen kann.“ (Hurrelmann 1997, S. 230)

Die Ursachen, die im Jugendalter zu Problembelastungen führen können und die

Möglichkeiten, ihnen zu begegnen, fasst Hurrelmann sehr anschaulich in einer

Grafik zusammen.

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Bedingungen für Problembelastungen und ihre Bewältigung(Hurrelmann 1997, S. 197)

Es wird deutlich, dass zum einen die Umwelt für die Entwicklung des Einzelnen von

Bedeutung ist. Zum anderen sind aber auch die personalen Bedingungen, also

bestimmte Fähigkeiten eines Menschen oder das Fehlen derselben, ausschlaggebend

dafür, wie das Individuum die Entwicklungsaufgaben meistert.

Wichtig für die Bewältigung der verschiedenen Herausforderungen sind die sozialen

Ressourcen, die ein Individuum besitzt. Eine Bezugsgruppe, deren

Verhaltenserwartung als Orientierung dienen kann, ist besonders wichtig. Für die

Jugendlichen sind hier die Familie oder die Gleichaltrigen ausschlaggebend.

Diejenigen Jugendlichen, die sich mehr an der Familie ausrichten, übernehmen eher

konventionelle Ansichten, sind zukunftsorientiert und auf das Erwachsenwerden

bezogen. Das Ausrichten an der Gleichaltrigengruppe führt oft zu einer Ablehnung

des Erwachsenwerdens und bestehender Normen. Die Jugendlichen leben eher

gegenwartsorientiert und hedonistisch und lernen in der Peergroup das Aushandeln

der eigenen Position. (Vgl. Nieke 1997, o.S.)

Die Familie hat einen Teil ihrer Unterstützerrolle in unserer Gesellschaft an andere

Institutionen abgegeben. Schulen, Beratungsstellen, Sozialarbeit,

Freizeitorganisationen usw. ‚ teilen’ sich die Sozialisation der Jugend.

SozialeLebensbedingungen

Unterstützungspotentialder sozialen Umwelt

Problemkonstellationendes Individuations-

undIntegrationsprozesses

PersonaleBedingungen

Individuelle Problem-bewältigungsstrategien

Konforme, nonkonformeoder deviante Symptome

der Problembelastung

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Die Familie als kleinstes Netzwerk bietet im Jugendalter einen guten Rückhalt, kann

aber auch als kontrollierend und normativ regulierend empfunden werden. Freunde

und Bekannte stellen einen wichtigen Kreis der Unterstützung durch Informationen

und Kontakte dar, der auch spontan helfen kann. Zu dieser informellen Hilfe durch

die Familie und Freunde kommt die professionelle Unterstützung durch ausgebildete

Helfer und spezielle Einrichtungen. Zusammen sollten beide Formen ein

koordiniertes Netzwerk bilden. (Vgl. Hurrelmann 1997, S. 237ff.) (siehe Abschnitt 4)

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Jugendliche haben eine Reihe von

Entwicklungsaufgaben zu erfüllen. Diese entstehen durch Anforderungen, welche die

Umwelt an sie stellt, und den Versuch, diesen einerseits gerecht zu werden und

andererseits eine eigene Identität zu entwickeln und zu bewahren. Eigene

Kompetenzen und Unterstützung seitens der ihn umgebenden Menschen erleichtern

dem Einzelnen die Bewältigung dieser Aufgaben.

2.2 Die Lebenslage der Jugendlichen mitMigrationsgeschichte5

„Die Kinder und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte haben wesentliche

Anforderungen mehr und zusätzlich zu bewältigen als einheimische ohne

Migrationsgeschichte“ (Nieke 1998, S. 15).

Zu den im vorhergehenden Abschnitt angeführten Aufgaben, die Heranwachsende zu

lösen haben, kommen bei den Jugendlichen mit Migrationsgeschichte die

5 In Anlehnung an Nieke (1998, S.1ff.) wird in dieser Untersuchung der Begriff der „ K inder und

Jugendlichen mit M igrationsgeschichte“ (bzw. Wanderungsgeschichte) verwendet. „DasDefinitionsmerkmal, mit dem hierbei Kinder und Jugendliche einer sozialen Gruppe zugeordnetwerden, entstammt nicht formalen und äußerlichen Zuschreibungen, wie ausländischeStaatsbürgerschaft oder fremdartiges Aussehen, denen dann eine dies übernehmendeSelbstdefinition der Betroffenen entsprechen kann, sondern greift ein bestimmendes gemeinsamesElement der Lebensgeschichte der in dieser Gruppe zusammengefassten jungen Menschen auf,nämlich die Erfahrung einer Wanderung über nationale, sprachliche und kulturelle Grenzenhinweg und die Bewältigung der damit einhergehenden Anforderungen für die Anpassung an dieneue soziale Lage.“ (Nieke 1998, S. 1f.)

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Erfahrungen des Verlustes der gewohnten Umgebung und der Freunde und

Verwandten, die zurückbleiben, hinzu. Sie verlieren die Sicherheit, mit der sie sich

bisher in einer vertrauten Kultur bewegen konnten und sind gezwungen, neue

Umgangsformen zu erlernen. Welche Auswirkungen diese großen Veränderungen

auf die Jugendlichen haben, soll im Folgenden gezeigt werden.

2.2.1 Kulturelle Identität

„Die Merkmale der Kultur enthalten eine bestimmte Weltanschauung. Sie bestimmt

die Art und Weise, wie die Gruppe oder Gemeinschaft die Wirklichkeit wahrnimmt.

Kultur entwickelt sich aus dem Zusammenhang von praktischen Tätigkeiten, die

Menschen in einer Gemeinschaft verrichten. Ihre Funktion ist, praktisch allen

Menschen einer Gemeinschaft zu nützen und ihr Zusammenleben zu erleichtern. Das

schließt nicht aus, dass Menschen an der Kultur auch leiden.“ (Hettlage-Varjas 1992,

S. 147) Versteht man mit Nieke Kultur als „die Gesamtheit der Deutungsmuster einer

Sozietät einschließlich ihrer materiellen Manifestationen“ (Nieke 1997, o.S.), dann

wird deutlich, was es heißt, seinen eigenen Kulturkreis zurückzulassen und in einen

anderen überzuwechseln.

Kulturalität bedeutet: Dazugehören. Jemand, der einer bestimmten Kultur angehört,

kann deren Zeichen deuten und sich durch ihren Gebrauch verständlich machen. Er

hantiert bewusst und unbewusst in ihrem Rahmen und reproduziert sie gleichzeitig.

(Vgl. Hettlage-Varjas 1992, S. 151)

Das Aufwachsen in einer bestimmten Kultur verleiht dem Individuum das Gefühl für

kulturelle Identität. Es erlebt sich selbst kontinuierlich in einer Umgebung, der es

sich zugehörig fühlt. Der Einzelne steht in Verbindung mit Menschen, „mit denen er

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftspläne teilt.“ Er erfährt sich als „sozial,

psychisch, zeitlich und räumlich integriert“ . (Vgl. Hettlage-Varjas 1992, S. 152)

Eine Kultur gibt ihren Mitgliedern Selbstverständlichkeiten an die Hand, die ihnen

oftmals erst durch den Kontakt mit anderen Kulturen bewusst werden. Deren

Gewohnheiten erscheinen zunächst fremd und grenzen aus. „Besonders Floskeln, die

bestimmte Handlungen begleiten, wie Begrüßung, Sichverabschieden, Interaktionen

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Die Situation Jugendlicher heute

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beim Einkaufen bis zum Erzählen von Witzen, führen bei Ausländern, auch wenn sie

die Zweitsprache gut beherrschen, immer wieder zu interkulturell bedingter

Unsicherheit“ (Dorfmüller-Karpusa 1992, S. 173).

Der Verlust der Sicherheit im Umgang mit anderen hat schwer wiegende Folgen für

das Individuum. Bem (1998, S. 39 f.) spricht von einem „allgegenwärtigen

Bewusstsein des Andersseins“ und einem „doppelten Konformitätsdruck“ . Die

Jugendlichen sind einerseits „stolz, Türke zu sein“ , andererseits sollen sie auch

„Liebe zu Deutschland (…) bekennen“ (ebd.).

Hettlage-Varjas berichtet ähnliches aus ihren Gesprächen mit Migranten. Als

typische Reaktionen auf die traumatischen Erfahrungen der Migration nennt sie „das

Gefühl der Verlassenheit, des Ausgeschlossenwerdens, die Angst, die Kontinuität der

Existenz zu verlieren und die Überzeugung, an einem angeborenen, unheilbaren

Defekt, der Andersartigkeit, zu leiden“ (Hettlage-Varjas 1992, S. 145). Menschen

mit Migrationsgeschichte müssen Verluste aushalten. Manche hegen einen „Groll“

denjenigen gegenüber, die sie verlassen mussten oder von denen sie verlassen oder

von ihren Wurzeln getrennt wurden. Sie vergleichen die eigene Situation immer

wieder mit der derjenigen, die im Herkunftsland geblieben oder im Aufnahmeland

geboren sind. Diese haben in ihren Augen eine Heimat, welche ihnen selbst fehlt.

(Vgl. ebd.)

������� � � � ��� � ��� � ��� � ��� � ����� ��� ��� ��� ��� ��� �� � � ���� � ����� � � �!� � � �#"�$���%#&� ' � � ( ���� � �angebracht, weil es die Lage der Jugendlichen mit Wanderungsgeschichte sehr

eindringlich beschreibt:

„Die Verpflanzung von der eigenen Gesellschaft in eine fremde erzeugt einen

dauerhaften psychischen Stress. Die Einbuße der Möglichkeit, auf Routinereaktionen

in den zwischenmenschlichen Beziehungen zurückgreifen zu können, geht mit der

Überflutung durch neue Stimuli und einem Zwang, immer neu entscheiden zu

müssen, einher. Das Erlernen von neuen Rollen, Regeln und Verhaltensstandards in

allen Lebensbereichen, von Institutionen und vom unüberblickbaren Feld von

engmaschigen gesellschaftlichen Zusammenhängen erzeugt ein Gefühl der

permanenten Überforderung. Die affektive Seite dieses Prozesses ist, dass die

Trennung von der Heimat auch als ein Stück Persönlichkeitsverlust erlebt wird: Das

ganze Gerüst der Werte und Normen, durch das man sein Selbstwertgefühl erhält und

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Die Situation Jugendlicher heute

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an dem man sich bei zwischenmenschlichen Beziehungen orientiert, gilt nicht mehr.

Kurz: Der ganze Bezugsrahmen und die Maßstäbe zum Verständnis der sozialen

Umwelt und deren Reaktionen auf das eigene Ich werden zerstört. Die Phase der

Entdeckung der fremden Maßstäbe und Normen ist schmerzhaft, weil sie den

Menschen in seine infantile Phase zurückversetzt. Man lernt nur durch Fehler und

durch die Sanktionen der sozialen Umwelt. Man lernt nur durch Fehler und wartet) *�+�, - . / 0 1�2 3 / 4#5�/ 4#6 *�5�4 7 4 *85�6 7 6 9�:;7 4 6 +�/ 4 7 4 *;< =�> ?#@�7 A 6 - B C�1�. 4 7 ,#D E�E�F�2�G;< H�I�J

Das Zurechtfinden in der neuen Situation läuft im Spannungsfeld zwischen

Herkunftskultur und Kultur des Aufnahmelandes ab. Die eigene Gruppe der

Migranten entwickelt daraus wiederum eine neue ‚Migrantenkultur’ , die in

unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlicher Gewichtung durch die einzelnen

Mitglieder der Gruppe Elemente beider Kulturen enthält. Das Individuum muss sich

mit diesen Kulturen auseinandersetzen und dabei seine eigene Identität finden.

Jugendliche aus Migrantenfamilien müssen die Fähigkeit zum Handeln in zwei (mit

der Migrantenkultur drei) Sozialsystemen erwerben. „Sie sind gezwungen, sich

direkt und unvermeidlich mit den Normen beider Kulturen zu konfrontieren und

diese müssen situationsspezifisch interpretiert und angewandt werden“ (Bem 1998,

S. 79). Dabei sind die Jugendlichen auch innerhalb der eigenen Gruppe

Diskriminierungen ausgesetzt, wenn sie z.B. als „zu Deutsch“ wahrgenommen

werden (vgl. Ebd.).

Viele Kinder und Jugendliche halten an der Wir-Identität ihrer Lebenswelt und

Kultur fest, die sich von der einheimischen Mehrheit unterscheidet (Ethnizität). Dies

kann in unserer Gesellschaft, die sich nicht als multikulturell versteht, Folgen für die

Einzelnen haben, z.B. die Benachteiligung bei der Einstellung in einen Betrieb. (Vgl.

Nieke 1998, S. 12f.)

K#L�M N O P Q R�S�T U M VXW�Y�Z�[�U P P T O \�U�Q ] O M ^ O V_W�Y�P U M V ` S�U a Z�U Y�b�U S�M U M U c�S�O V U Y�d�Z�a U O W�eXZ�U bgf�U \zu einer neuen, eigenständigen Identität durchlaufen werden (so diese denn

tatsächlich gelingt und die Bereitschaft dafür vorhanden ist). Beide Autoren

scheinen, trotz gewisser Unterschiede und jeweils eigener Gewichtung, einen

ähnlichen Ablauf der Bewältigung der Migration zu beobachten: Nach einer ersten

Euphorie und der zunächst vorhandenen Bereitschaft zur Aneignung der kulturellen

Kompetenz und der Sprache sinkt, durch traumatische und negative Begegnungen

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Die Situation Jugendlicher heute

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mit der Aufnahmegesellschaft, diese Stimmung. Sie wandelt sich in eine „Phase der

interkulturellen Orientierungslosigkeit und des Identitätsverlustes“ (Hettlage-Varjas

1992, S. 147). Der Einzelne fühlt sich zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur hin

und her gerissen und versucht, beiden Systemen gerecht zu werden. Eine

Überangepasstheit an die neue Kultur und die damit verbundene Ablehnung der

ursprünglich eigenen oder - im Gegensatz dazu – die Integrationsverweigerung

können auftreten. Der Verlust der eigenen Kultur muss bewältigt und Trauerarbeit

geleistet werden, bevor eigene Wertvorstellungen entstehen. Diese haben ihre

Wurzeln in beiden Kulturen. Der Preis für dieses ‚ reicher Werden’ im kulturellen

Sinne ist ein Leben im Spannungsfeld von Fremd- und Selbsterfahrung. Dabei kann

die Distanz zu beiden Kulturen auch zu einer Selbstdistanz und zu einer

Vereinsamung führen. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer (oder mehreren)

Kulturen muss hart erarbeitet werden. (Vgl. Hettlage-Varjas 1992, S. 147 undh#i�j k l m n o�p�q r j s#t u�u�v�w�x;y�z�z�{ { y |

Eine - im Vergleich zu den ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitern - relativ

gut untersuchte Minderheit stellt die Gruppe türkischer Arbeitnehmer und ihrer

Familien dar.

Hoffmann führte Interviews mit Jugendlichen, deren Ergebnisse sich mit

Einschränkungen auch auf andere Minderheiten beziehen lassen. Die von ihm

Befragten müssen ein großes Maß an Bewältigungsleistung aufbringen, um die

verschiedenen Handlungsanforderungen mit eigenen Interessen in Einklang zu

bringen. Dies führt aber nicht zwangsläufig dazu, dass sie sich als Defizitträger mit

pathogenen Eigenschaften entwickeln und mit Attribuierungen wie traditionell,

rückschrittlich und identitätsgeschädigt etikettiert werden. Die Interviews machen

deutlich, dass von den meisten Jugendlichen eine stabile Ich-Identität entwickelt

wird. Die dafür notwendigen Leistungen sind nicht zu unterschätzen. Das

Spannungsverhältnis von sozialer und persönlicher Identität wird weitgehend gelöst.

Das bedeutet: Soziale Rollenvorschriften werden internalisiert, ohne dass dabei eine

individuelle Akzentuierung aufgegeben werden muss. Persönliche Identität wird

entwickelt, ohne dass man sich von sozialen Interaktionen ausschließt. (Vgl.

Hoffmann 1990, S. 197f.)

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Die Situation Jugendlicher heute

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Die erwartete Identitätsdiffusion bei den Kindern und Jugendlichen mit

Migrationsgeschichte hat sich somit nicht bestätigt. Allerdings fehlen auch bis auf

wenige Fallstudien Untersuchungen darüber, wie sich unter den gegebenen

Umständen Identität herausbildet. Interessant ist die Frage danach, welche Wir-

Identitäten für die Kinder und Jugendlichen von Bedeutung sind. In den vorliegenden

Einzelstudien wird von „ multiplen Switch-Identitäten“ gesprochen, das heißt, die

Kinder und Jugendlichen ‚schalten’ , je nach Situation, zwischen verschiedenen,

eigentlich unvereinbaren Wir-Identitäten hin und her. (Vgl. Nieke 1998, S. 14)

Bei allen von Hoffmann in der erwähnten Studie befragten Jugendlichen zeigen sich

allerdings Identitätsprobleme aufgrund geringer sozialer Wertschätzung und des

Ausländerstatus, also der Nicht-Zugehörigkeit zur Majorität der Bevölkerung. Die

Betroffenheit von Zugehörigkeitskonflikten und Status- und Selbstwertproblemen ist

sehr unterschiedlich und hängt unter anderem vom Grad erfahrener Diskriminierung

und Ausländerfeindlichkeit ab. Einige der Jugendlichen haben soziale Ablehnung

bereits im Herkunftsland erfahren, in welchem sie zu einer Minderheit gehörten.6 Sie

fühlen sich in noch stärkerem Maße in beiden Ländern als Fremde.

Urlaubsaufenthalte im Herkunftsland oder auch die Vorstellung einer Rückkehr lösen

weitere Zugehörigkeitskonflikte aus, denn häufig wurde im Aufnahmeland von den

Jugendlichen ein neues Regel- und Wertesystem aufgebaut, das nicht mit dem im

Herkunftsland übereinstimmt. (Vgl. Hoffmann 1990, S. 200ff.)

Die Identitätsprobleme türkischer Jugendlicher werden oftmals festgemacht an den

besonderen Orientierungsproblemen zwischen türkischer und deutscher Lebenswelt,

die beide als starr und unveränderlich aufgefasst werden. Dabei haben sich

stereotype und idealisierte Vorstellungen von der jeweils anderen Lebenswelt

entwickelt, die bruchstückhaft sind und den realen Zugang verstellen. Insbesondere

differente Erziehungsziele und –praktiken, die unterschiedliche Rollen- und

Autoritätsstruktur der Familie und die verschiedenen Handlungsorientierungen in

Ehe und Partnerschaft gelten immer wieder als Beweis für die Unvereinbarkeit

beider Kulturen.

6 Hoffmann befragte unter anderem aus der Türkei stammende Kurden und aramäische Christen.

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Die Situation Jugendlicher heute

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Die Aussagen der Jugendlichen belegen die Heterogenität der unterschiedlichen

kulturellen Systeme, die von ihnen ausbalanciert werden müssen. Manche als

„Kulturkonflikt“ gekennzeichneten Orientierungsprobleme entpuppen sich aber

letztendlich als generationsspezifische Auseinandersetzungen über innerfamiliäre

Handlungs- und Entscheidungsspielräume. Interessant ist, dass (nach der Studie

Hoffmanns) die Modifikation der persönlichen Identität geschlechtsspezifisch

unterschiedlich verläuft. Jungen passen sich danach in extern beobachtbaren

Handlungen eher der deutschen Umwelt an, konservieren aber gedanklich

herkömmliche Regel- und Normensysteme. Mädchen hingegen zeigen sich im

Verhalten oftmals eher traditionell. Sie stehen unter massivem sozialem Druck und

verspüren Angst vor der Lösung von elterlichen und sozialen Rollenzuweisungen.

Ideell aber haben sie die persönliche Identität längst modifiziert und betrachten die

traditionellen Rollen eher distanziert. (Vgl. Hoffman 1990, S. 205ff.)

Hettlage-Varjas entwickelt als ein Konzept geglückter Identitätsbildung das Bild des

bikulturellen Menschen. Diesem ist es gelungen, sich mit zwei Kulturen zu

identifizieren. Wer bikulturell ist, sieht ihrer Ansicht nach „gefühlsmäßig ein, dass

z.B. seine Muttersprache nicht die einzige ist, die zutreffend Lebenserfahrungen

auszudrücken vermag, dass die zweite Sprache ebenso reich und wertvoll ist“

(Hettlage-Varjas 1992, S. 152). Der Mensch ist sich sicher, dass er beide Lebensstile

leben kann, wenn dies auch bedeutet, Ambivalenzen auszuhalten (vgl. ebd., S. 152f.).

Diese gelungene Bikulturalität scheint allerdings ein Glücksfall und nicht die Regel

zu sein.

2.2.2 Die Probleme der Jugendlichen mit Migrationsgeschichte

Jugendliche mit Migrationserfahrungen müssen sich in ihrer neuen Umgebung

zurechtfinden. Was für einheimische Jugendliche bei der Bewältigung von

Anforderungen und Problemen selbstverständlich ist, stellt für sie oft ein zusätzliches

Problem dar.

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Eine der größten Schwierigkeit für migrierte Familien ist die Sprache, die sie im

neuen Land als Zweitsprache beherrschen müssen. Sie bildet die Grundlage, sich in

einem fremden Land zurechtzufinden. (Vgl. Nieke 1999, 16.11.) Die Sprache wird

von den Kindern und Jugendlichen sowohl außerschulisch und ungesteuert als auch

im Unterricht erworben, und ist bereits im Moment des Lernens das Medium für den

Kontakt mit der Umwelt. Ihr Gebrauch ist nicht nur im Unterricht, sondern auch in

allen sozialen Situationen außerhalb der Familie, notwendig. Die Prozesse der

schulischen Sozialisation, der unterrichtlichen Kommunikation und der Kognition

sind an diese Sprache gebunden. Außerdem hat sie eine wichtige Funktion bei der

Entwicklung der Persönlichkeit und der Identitätsbildung. Die gesamte

Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft ist von ihr abhängig. (Vgl. Nguyen-thi 1998,

S. 54ff.)

„Vermutlich die meisten Kinder und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte

wachsen in einer Situation doppelter Halbsprachigkeit auf“ (Nieke 1998, S. 13).

Beide Sprachen werden oftmals nur auf spezifischen Gebieten ausgebildet, so dass

bestimmte Sachverhalte nur jeweils in der einen, nicht aber in der anderen Sprache

ausgedrückt werden können (vgl. ebd.).

Von ähnlich großer Bedeutung wie die Sprache ist das Wissen um kulturelle

Or ientierungen der Aufnahmegesellschaft, die sich oftmals sehr von der

Herkunftskultur unterscheidet. Ein Beispiel dafür, das besondere Bedeutung für die

Kinder und Jugendlichen hat, ist die sehr unterschiedliche Einstellungen zur Schule.

Nieke (1999, 16.11. 1999) weist darauf hin, dass in vielen Herkunftsländern ein eher

memorisierendes Lernsystem existiert und die Schüler nun auch hier ihre Leistungen

durch Auswendiglernen erbringen wollen. In vielen Ländern bestehen

Ganztagsschulen. Der Tagesablauf der Jugendlichen sieht dort ganz anders aus und

Hausaufgaben werden selten gefordert. Ein wichtiger Unterschied zur

Herkunftskultur besteht oft auch darin, dass die Kinder eine Ausbildung „ ihrem

Geschlecht entsprechend“ genießen sollen. Während Jungen eine gute Bildung

erhalten, ‚brauchen’ Mädchen diese nicht, denn sie sollen früh heiraten. (Vgl. Nieke

1999, 16.11.)

Die Vorstellungen über das Zusammenleben in der Familie und die Definition von

Geschlechter rollen sind in den Kulturen ebenfalls sehr unterschiedlich. Gerade bei

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Die Situation Jugendlicher heute

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Migranten aus Kulturen mit eher traditionellen (oft patriarchalen) Rollenmustern

treten häufig Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung in westliche Gesellschaften auf.

Bei der Darstellung der Situation eines türkischen Mädchens stellt Bem fest, dass

zwar in Deutschland Veränderungen in der Familienstruktur erkennbar sind,

trotzdem aber die alte Familienstruktur als kognitives Modell bestehen bleibt. (Vgl.

Bem 1998, S. 130f.)

Für Mädchen besteht häufig ein Problem darin, dass sie sich einerseits die Freiheit

wünschen, die deutschen Mädchen (anscheinend?) selbstverständlich ist, diese aber

andererseits als moralisch verwerflich bewerten (müssen). Sie geraten in den

Zwiespalt, etwas zu wollen, es andererseits aber abzulehnen. (Vgl. Bem 1998, S.

160ff.) Auch den Jungen fällt die Eingewöhnung in diesem Bereich schwer: „Wie

verkraftet es z.B. ein junger Türke, wenn er im Elternhaus die dominante Rolle des

Mannes lernt und in der Schule die Mädchen als völlig gleichberechtigt erfährt?“

(Gudjons 1995, S. 301)

Eine weitere Belastung für die Kinder und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte

und ihre Familien liegt in der Fremdenfeindlichkeit, auf die sie in vielen Bereichen

der Gesellschaft treffen. Dazu gehören zum einen natürlich die eindeutig rassistisch

begründeten Übergriffe (Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen), aber auch die

‚versteckte’ Fremdenfeindlichkeit in all ihren Facetten, wie sie sich in schiefen

Blicken, dummen Bemerkungen, Vorurteilen, etc. äußert.

Institutionell erfahren Migranten ebenfalls oft Diskriminierungen. So werden Kinder

und Jugendliche aufgrund unvollständiger Zweitsprachenkompetenz oder allein

wegen ihres Status als Migrant an Sonder- oder Förderschulen überwiesen. Viele

Lehrer sehen die niedrigeren Schulformen von vornherein als „normal“ für

Migranten an, ohne dass deren Leistung beachtet wird. (Vgl. Nieke 1999, 16.11.)

Tatsächlich gibt es auch unter den Lehrern noch Vorstellungen von „geringerer

intellektueller Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft auf Grund der

Zugehörigkeit zu einer Rasse und einem differenten Kulturkreis“ (Nieke, 1999;

16.11.). Diese Erwartungshaltung der Lehrer überträgt sich durchaus auf viele

Schüler (Pygmalion-Effekt). Es sind Leistungsabfälle bei Schülern sichtbar, deren

Lehrer sie für wenig leistungsfähig halten. (Vgl. ebd.)

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Die Situation Jugendlicher heute

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2.2.3 Zusammenfassung

Aus den vorhergegangenen Abschnitten lassen sich für Jugendliche mit

Migrationsgeschichte folgende Probleme und Aufgaben zusammenfassend

festhalten.

1. Jugendliche mit Wanderungsgeschichte müssen (wie alle Jugendlichen) die

Entwicklungsaufgaben für ihr Alter erfüllen. Das bedeutet, dass sie

intellektuelle und soziale Kompetenzen entwickeln, sich Selbstständigkeit

erarbeiten und eine Identität ausbilden müssen. Sie sollen die Statuspassage vom

Jugendlichen zum Erwachsenen in allen Bereichen meistern. Dazu bietet ihnen

das Jugendalter ein ‚Moratorium’ , in dem sie verschiedene Rollen und

Handlungsweisen ‚ausprobieren’ können.

2. Für die Jugendlichen mit einer Wanderungsgeschichte kommt die Überwindung

des Ver lustes ihrer ursprünglichen Kultur mit ihren entlastenden

Selbstverständlichkeiten und dem Gefühl des Dazugehörens hinzu. Dies ist für

viele eine traumatische Erfahrung. Sprache, Sitten, Werte und Umgangsformen

der neuen Kultur müssen mühsam erlernt und internalisiert werden. Ein Leben im

Spannungsfeld von Herkunftskultur, Aufnahmekultur und Migrantenkultur

erwartet sie. All dies wird noch schwieriger zu bewältigen durch den allgemeinen

Trend der Pluralisierung und Individualisierung.

3. Die Jugendlichen mit Wanderungsgeschichte haben nicht immer genügend

soziale Ressourcen zur Verfügung. Die Rollenverteilung innerhalb der Familie

ändert sich im neuen Kulturkreis. Die Eltern können ihre ursprünglichen

Funktionen als Vorbilder und Ratgeber nicht mehr oder nur eingeschränkt

erfüllen, da ihnen die Orientierung im neuen Umfeld oft noch schwerer fällt als

ihren Kindern. Die Gruppe der Peers ist auch nicht immer in ausreichendem

Maße vorhanden, da Kontakte zu Einheimischen erst aufgebaut werden müssen.

4. Im Aufnahmeland erfahren die Jugendlichen Fremdheit und Ablehnung durch

die Einheimischen. Dabei reicht das Spektrum der Ausgrenzung von

institutioneller und rechtlicher Diskriminierung bis hin zu körperlichen

Angriffen.

Durch die genannten Punkte ist sichtbar, dass eine reelle Chancengleichheit für die

Jugendlichen mit Wanderungsgeschichte im Vergleich zu einheimischen

Jugendlichen nicht gegeben ist. Sie brauchen für ihre Entwicklung und ihr Leben in

der Aufnahmegesellschaft Unterstützung.

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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3 Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

3.1 Geschichtliche Entwicklung und heutige Situation inVietnam

Es kann und soll in dieser Arbeit nicht die gesamte Geschichte Vietnams in allen

Einzelheiten dargestellt werden. Das Wissen um einige Entwicklungen ist aber zum

besseren Verständnis der Situation im Lande und der Mentalität der Menschen

unablässig. Die Erläuterungen beschränken sich auf die Ereignisse im 20.

Jahrhundert und dabei hauptsächlich auf die Jahre seit der Wiedervereinigung von

Nord- und Südvietnam im Jahre 1975.

Nach dem 1945 begonnenen Indochinakrieg zwischen Frankreich und Vietnam

wurde das Land 1954 im Genfer Abkommen entlang des 17. Breitengrades getrennt.

Im Norden gründete man unter Leitung des Kommunisten Ho Chi Minh die

Demokratische Republik Vietnam (DRV7). Im Süden entstand mit Unterstützung der

Amerikaner die Republik Vietnam.

Hier begann sich bald Widerstand gegen eine Regierung unter Einfluss der USA zu

bilden. Die Kommunisten vereinigten die Gegner 1956 zu den Vietkong. Zusammen

mit der 1960 gegründeten Nationalen Front zur Befreiung Südvietnams begannen sie

in den folgenden Jahren einen Guerillakrieg gegen die Regierung, der mit Hilfe des

Nordens immer mehr ausgeweitet wurde. Die USA unterstützten die

südvietnamesische Regierung und griffen schließlich direkt in den Krieg ein. (Vgl.

Das große Buch des Allgemeinwissens 1991, S. 512)

Mit dem Pariser Abkommen wurde 1973 ein Waffenstillstand vereinbart und die

USA zogen ihre Truppen ab. Nordvietnam und die Nationale Front zur Befreiung

Südvietnams übernahmen letztendlich 1975 mit dem Einmarsch in Saigon die Macht

auch im Süden. (Vgl. Heyder 1997, S. 267)

7 Die Abkürzung für Vietnam ist unterschiedlich. Bei den verschiedenen Autoren findet sich entweder

einfach „V“ (vgl. z.B. Trogemann, 1997) oder „VN“ (vgl. z.B. Pfeifer 1991). Dementsprechendheißt die Demokratische Republik Vietnam entweder DRV oder DRVN, die Kommunistische ParteiVietnams KPV oder KPVN, usw. Der Einfachheit halber wird das Kürzel „V“ benutzt.

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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Der Großteil der neuen Regierung, die nun beide Landesteile vertreten sollte, bestand

aus Mitgliedern der Regierung der Demokratischen Republik Vietnam. Die

Verfassung der DRV von 1959 wurde als Interimslösung für die Dauer der

Erarbeitung einer neuen Verfassung für Gesamtvietnam übernommen, auch Hymne

und Wappen blieben die Nordvietnams. Hauptstadt der neu entstandenen

Sozialistischen Republik Vietnam (SRV) wurde Hanoi, Saigon benannte man in Ho

Chi Minh City um. Letztendlich war die Wiedervereinigung lediglich eine

Übernahme des Südens durch den Norden. (Vgl. Trogemann 1997) Der Süden galt

als ‚verwestlicht’ und die Neuformung der Menschen war erklärtes Ziel (vgl. Pfeifer

1991, S. 136f.).

Nguyen do Thinh, Vorsitzender des Vereins Dien Hong und selber Südvietnamese,

berichtete im Gespräch über die Situation der Südvietnamesen im vereinigten

Vietnam. Als er das Land 1982 verließ, wusste er nicht, welches sein Reiseziel sein

würde.

„ Das war mir egal, Hauptsache nach dem Ausland, denn in Vietnam hatte

ich zum damaligen Zeitpunkt überhaupt keine Chance, irgendwas beruflich

zu werden oder überhaupt, weil Kinder aus Südvietnam, die keine

Parteimitglieder sind oder so, die werden ja meistens ausgeschlossen.“ 8

(Interview I)

Auf ihrem IV. Parteitag (1976) beschloss die Kommunistische Partei Vietnams

(KPV) einen sofortigen und radikalen Umgestaltungsprozess in Südvietnam. Es

sollte eine Verwaltung nach nordvietnamesischem Muster errichtet werden. Ihre

Schlüsselpositionen wurden mit Kadern des Nordens besetzt. Dies brachte nicht nur

politische, sondern auch viele wirtschaftliche Probleme mit sich. Beide Landesteile

waren von externer Unterstützung abhängig. Die Hilfen der USA an den Süden

wurden eingestellt. In beiden Landesteilen, sowohl im industriell geprägten Norden

als auch im eher landwirtschaftlich ausgerichteten Süden, verschlechterte sich die

Lage, so dass die Pro-Kopf-Versorgung der Bevölkerung unter der in Kriegszeiten

lag. Der Versuch, den Privathandel im Süden durch breit angelegte Enteignungs- und

8 Die Zitate aus den Interviews werden sprachlich geglättet, da keine linguistische Analyse

beabsichtigt wird.. Der Sinn bleibt dabei erhalten.

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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Verhaftungskampagnen zu kontrollieren, schwächte die Wirtschaft zusätzlich. (Vgl.

Trogemann 1997, S. 10ff.)

Vietnam nutzte nach dem Krieg nicht die Chance, einen neuen Weg jenseits von

bereits existierenden Gesellschaftsmodellen zu gehen. Es orientierte sich in seiner

gesamten Gesellschaftsstruktur an den RGW-Staaten9 und versuchte, die

Wirtschafts- und Sozialpolitik dieser Länder nachzuahmen, obwohl die Bedingungen

in Südostasien ganz andere waren als in Europa. (Vgl. Heyder 1997, S. 88ff.) Die

regierende KPV übernahm die Ideologie dieser Staaten. Vietnam befand sich nach

ihrer Einschätzung 1975 in einer Übergangsperiode zum Sozialismus. Die immer

noch dominante Kleinproduktion wurde dabei als Resultat der besonderen

Geschichte des Landes angesehen, welches aus seiner als vorkapitalistisch

eingeschätzten Situation direkt in die Epoche des Sozialismus übergehen werde.

Dadurch konnte man eigene Entwicklungsformen begründen, ohne die theoretischen

Prämissen in Frage zu stellen. (Vgl. Pfeifer 1991, S. 52ff.)

Der erste gesamtvietnamesische Fünfjahresplan 1976-1980 scheiterte in allen

Bereichen. Eine geringe Steigerung der Nahrungsmittelproduktion bei gleichzeitigem

Bevölkerungswachstum führte zu einem Rückgang der Pro-Kopf-Versorgung. Die

verstärkte Einfuhr von Nahrungsmitteln wurde notwendig. Es entwickelte sich ein

großer Schwarzmarkt und es kam zunehmend zur Korruption innerhalb der Partei.

Nach dem Scheitern des Planes wurde das angestrebte Modell zunehmend kritisiert.

In den Folgejahren stand es immer wieder im Zentrum innervietnamesischer

Reformdiskussionen. (Vgl. Trogemann 1997, S. 25f.)

Eine bedeutende außenpolitische Schwierigkeit Vietnams bestand in seiner Stellung

zur Volksrepublik China und der UdSSR. Lange Zeit versuchte man, möglichst mit

beiden Staaten gute Kontakte zu pflegen und sich nicht völlig von einem abhängig zu

machen. Vietnam geriet aber letztendlich doch in die Spannungen zwischen den

beiden Ländern. Als 1977 der Konflikt zwischen Kambodscha (den Roten Khmer)

und Vietnam in eine militärische Intervention Vietnams gipfelte, stellte sich China

auf die Seite der Roten Khmer. Vietnam schloss einen Vertrag mit der UdSSR. Die

9 Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Zusammenschluss der sozialistischen Staaten zum Ziele

gegenseitiger Wirtschaftsförderung und als Gegengewicht zur EuropäischenWirtschaftsgemeinschaft gedacht.

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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Folgen waren der Bruch mit China, ein Handelsembargo der USA und vieler anderer

Staaten und damit die erhöhte Abhängigkeit Vietnams von der UdSSR. Hinzu kamen

materielle Belastungen durch die notwendig gewordenen Truppenstationierungen

entlang der Grenzen. (Vgl. Trogemann 1997, S. 27ff.)

Das Zentralkomitee der KPV diskutierte 1979 in einer Plenarsitzung die

wirtschaftliche Lage des Landes, die Landesverteidigung und die Bekämpfung von

Korruption im Parteiapparat. Neue Entscheidungen wurden für die Wirtschaft gefällt.

Diese hatten ein angemessenes Verhältnis zwischen zentraler Planung und

Marktorientierung zum Ziel. So wurden z.B. materielle Produktionsanreize erhöht

und Privatinitiativen gefördert. Es kam zwar infolge dessen tatsächlich zu

kurzzeitigen Produktionssteigerungen, aber letztlich konnten die Reformen nur die

Symptome und nicht die Ursachen bekämpfen, denn der gesamtwirtschaftliche

Rahmen, die zentrale Steuerung der Wirtschaft durch die KPV, blieb unangetastet.

(Vgl. Trogemann 1997, S. 48ff.)

Der Fünfjahresplan von 1981 bis 1985 hatte mit ähnlichen Problemen zu kämpfen

wie sein Vorgänger. Zwar stieg das Pro-Kopf-Einkommen in dieser Periode, aber das

Existenzminimum konnte auch 1984 nicht erreicht werden. Technische und

organisatorische Mängel bei Transport und Logistik machten es unmöglich, dass

landwirtschaftliche Überschussgebiete die Nahrungsknappheit anderer Regionen

ausgleichen konnten. Insbesondere in den nördlichen Gebieten kam es zu Engpässen

in der Versorgung und dadurch zur Unterernährung von großen Teilen der

Bevölkerung und einer erhöhten Kindersterblichkeit. (Vgl. Trogemann 1997, S.

53ff.)

Auf einer Plenarsitzung 1985 wurden das erste Mal der bürokratische Zentralismus

und das staatliche Subventionssystem für die wirtschaftliche Krise verantwortlich

gemacht. Damit übernahm die Partei erstmalig selbst die Verantwortung für

Missstände. Ein schrittweiser Abbau der Subventionen sollte die Lage entspannen,

was aber an einem fehlenden Zeitplan für diese Veränderungen scheiterte. Die

Stützungen wurden ungleichmäßig reduziert. Bestimmte Produkte sanken im Preis,

dafür wurden andere um so teurer. (Vgl. Trogemann 1997, S. 59ff.)

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Die entscheidende Wende brachte der sechste Parteitag 1986. Die KPV leitete unter

dem Motto „ Doi Moi“ (Politik der Erneuerung) eine Phase der Reformen ein.

Diesmal sollte nicht nur die Wirtschaft umgestaltet werden, sondern auch eine

Liberalisierung des politischen Lebens stattfinden. „Hinter dem Begriff Doi Moi

steht die Suche nach neuen Wegen, die Zielvorstellung einer sozialistischen

Gesellschaft zu verwirklichen. Die Dezentralisierung der Wirtschaft und eine

Demokratisierung (…) von Partei und Gesellschaft unter strikter Kontrolle der Partei

stellen die wesentlichen Elemente des angestrebten Erneuerungsprozesses dar. Doi

Moi kann daher in Wirtschaftsreformen und politische Reformen unterschieden

werden.“ (Trogemann 1997, S. 86)

Wirtschaftlich gesehen bedeutet Doi Moi keinen Neuanfang, sondern die

entschlossenere Durchführung bereits vor dem Parteitag beschlossener Reformen.

Ihre Umsetzung begann relativ verhalten und beschleunigte sich erst 1988. In diesem

Jahr wurde Vietnam drittgrößter Reisexporteur weltweit. Ein 1987 verabschiedetes

Investitionsgesetz schaffte günstigere Bedingungen für ausländische Investoren.

Allerdings gingen dem Land mit Zusammenbruch des ‚Ostblockes’ viele wichtige

Verbündete und Handelspartner verloren. Zusätzliche schlechte

Witterungsbedingungen führten zu einem starken Rückgang der

Nahrungsmittelproduktion um 1990. (Vgl. Trogemann, 1997, S. 86ff.)

Die politischen Reformen bestanden unter anderem in mehreren Säuberungswellen

innerhalb der Partei, die immer wieder mit Fällen von Korruption zu kämpfen hatte.

Weiterhin wurde eine Demokratisierung des politischen Lebens propagiert, um die

Entfremdung zwischen Partei und Volk zu überbrücken. Die Medien wurden

aufgewertet und die Zensur gelockert. Freiheiten gab es auch in Kunst, Literatur und

Wissenschaft. Schon in den beiden ersten Jahren nach den Beschlüssen gewann die

politische Liberalisierung jedoch eine Eigendynamik, die zunehmend in Konflikt mit

dem Kontrollbedürfnis der Partei geriet. Bereits 1988 kam es so zu einer politischen

Kehrtwende und einer erneuten autoritären Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens.

(Vgl. Trogemann 1997, S. 101ff.) Dies zeigt, dass die Reformen instrumentellen

Charakter hatten. Sie sollten die Partei stärken und nicht ihren Führungsanspruch

gefährden. Den politischen Reformen war damit von Anfang an eine Grenze gesetzt:

das Machtmonopol der KPV. (Vgl. ebd., S. 106ff.)

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Trotz des Truppenabzugs aus Kambodscha 1989 hoben die USA das Embargo gegen

Vietnam zunächst nicht auf. Dies - verbunden mit der ‚Krise des Sozialismus’ in

Europa - schwächte das Land weiter. Vietnam äußerte sich zunächst entrüstet über

die Vorgänge in Europa. Es vermutete ‚ imperialistische’ und ‚ reaktionäre’ Kräfte als

Drahtzieher hinter den Vorgängen. Als klar wurde, dass die Entwicklungen dauerhaft

waren, musste Vietnam schon aus wirtschaftlichen Gründen etwas vorsichtiger mit

seinen Stellungnahmen werden und das Recht der Völker auf Selbstbestimmung

anerkennen. Trotzdem stellte man das eigene System nicht in Frage, sondern betonte

die Führungsrolle der Partei auch weiterhin.10 Der Widerstand dagegen wurde

innerhalb der Bevölkerung immer größer. Viele Menschen und einige

Organisationen (z.B. der Schriftstellerverband) forderte unter anderem die

Beibehaltung der errungenen Freiheiten. (Vgl. Trogemann, 1997, S. 128ff.)

Der siebte Parteitag 1991 brachte neue Personalentscheidungen mit sich. Das

Politbüro wurde verjüngt, aber die Reformer blieben nach wie vor im Hintergrund.

Nach dem Umbruch in so vielen Staaten war ein Verweis auf die Modelle anderer

Länder nicht mehr möglich. Eine eigene Konzeption für die sozialistische

Entwicklung des Landes wurde notwendig. Man beschloss weitere

Wirtschaftsreformen, die sich aber streng im Rahmen der Entwicklung hin zu einer

staatlich kontrollierten Marktwirtschaft mit sozialistischer Orientierung bewegten.

Die neuen Maßnahmen unterschieden sich daher nicht wesentlich von den

bisherigen. (Vgl. Trogemann 1997, S. 138ff.)

Heute ist „Vietnam – ein Land im Wandel“ , wie der Titel einer Ausstellung zweier

Berliner Fotografen in den Räumen des Vereins Dien Hong zeigt. „Das Land ist

weiterhin im Prozess der Umstrukturierung begriffen. Auf politischer Ebene besteht

nach wie vor das Einparteiensystem. Die Kommunistische Partei sieht als Fernziel

die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft. Nahziel ist jedoch erst einmal das

Überleben, und das wird durch die gegenwärtig bestehende Mehrsektorenwirtschaft

gesichert. Private Initiative und Orientierung am Markt sind gefragt.“ (Heyder 1997,

S. 95)

10 Vietnam gehörte übrigens zu den wenigen Ländern, die China zur Niederschlagung der

Widerstandbewegung gratulierten. Es lobte auch Castros kompromisslose Haltung in Kuba.

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

29

Lietsch schreibt: „Der Ruf der Partei, die das Land noch immer fest im Griff hält, ist

schlecht“ (ebd., S. 2). Kaderwillkür und Korruption haben selbst die klassische Basis

der KPV, die Arbeiter und Bauern, gegen die Partei aufgebracht. Ob die im letzten

Jahr gestartete und auf zwei Jahre begrenzte Selbstkritikkampagne die skeptischen

Menschen umstimmen kann, lässt sich bezweifeln. Zwar wurden mehrere hohe

Kader der Partei vor Gericht gebracht und sogar zum Tode verurteilt (siehe Der

Spiegel Nr. 21 vom 24.05.1999), aber die Kontrolle der Medien beispielsweise

wurde nicht gelockert. (Vgl. Lietsch 2000, S. 2)

Viele ausländische Investoren, die das Land dringend bräuchte, haben es wieder

verlassen. Etliche von ihnen gingen während der Asienkrise 1997. Ein geplantes

Handelsabkommen mit den USA liegt vorläufig auf Eis. Unberechenbare

Entscheidungen der Behörden, eine undurchdringliche Bürokratie und die

gnadenlose Bereicherung einiger Beamter lassen Probleme entstehen, die vermeidbar

wären. Auch Aktionen wie die 1996 gestartete „Kampagne gegen die sozialen Übel“

machen die Arbeit in Vietnam nicht gerade reizvoll. Praktisch über Nacht mussten

Firmenschilder und Leuchtreklamen entfernt werden, denn die englische Sprache

wurde als dekadent verboten. (Vgl. Lietsch 2000, S. 2)

Flückiger sieht in den 1986 begonnenen Reformen einen bedeutenden Schritt für die

Entwicklung des Landes. „Diese Freiheit, gegen Profit ein Geschäft zu führen,

Handel zu treiben oder Land zu bebauen, hat Vietnams Gesellschaft und die seiner

indochinesischen Nachbarn in den letzten Jahren am schnellsten verändert“ (ebd., S.

40). Städte wie Hanoi oder Ho Chi Minh City (Saigon) haben sich in der folgenden

Zeit in rasantem Tempo entwickelt. Im Vergleich zu anderen Ländern ist Vietnam

noch immer arm, aber die Vietnamesen freuen sich über das Aufblühen ihrer

Wirtschaft und Kultur. Das Interesse an Informationen und an westlicher Lebensart

ist groß. Die Abendschulen im Land sind voll mit jungen Leuten, die das studieren,

was sie für die Grundlage der Modernisierung halten: Englisch, Computerwesen,

Geschäftsmanagement. (Vgl. Flückiger 2000, S. 39)

Von den in Deutschland lebenden Vietnamesen wurden Anfang der 90er Jahre der

Reformprozess und die Zukunft des Landes sehr unterschiedlich beurteilt. Einige

beschreiben das ganze System als „ faul bis auf die Knochen“, während andere

zuversichtlich sind, dass sich schon einiges gebessert hat und noch weitere

Veränderungen folgen werden. Bei vielen erweckt die Beschränkung der

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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Veränderungen auf die Wirtschaft den Eindruck, die Reformen seien eher

systemstabilisierend als –verändernd. Einig sind sich alle darin, dass der

demokratische Reformprozess auch das politische und gesellschaftliche System

einbeziehen muss. (Vgl. Horr 1991, S.291ff.)

3.2 Als Vertragsarbeiter in die DDR – Die Migration derEltern

Es ist für die vorliegende Arbeit notwendig, kurz die Situation der Vertragsarbeiter

vor und nach der Wende zu beschreiben, da dies die Erfahrungen sind, welche die

Eltern der hier betrachteten Kinder und Jugendlichen in einem fremden Land

gemacht haben. Ausführliche Darstellungen dazu finden sich unter anderem in den

Arbeiten von Astrid Krebs (1999) und Helga Marburger (1993).

3.2.1 Die Situation der Ver tragsarbeiter vor der Wende

Bereits in den fünfziger Jahren gingen Vietnamesen in die DDR, um dort eine

berufliche Aus- und Weiterbildung zu absolvieren. Zwischen 1966 und 1986 kamen

circa 13.000 Vietnamesen in die DDR. In den Jahren 1987/ 88 nahm der

Arbeitskräftebedarf in der DDR stark zu. Die Republik Vietnam entsandte immer

mehr Arbeitnehmer, so dass im Zeitraum von 1980 bis 1990 insgesamt rund 70.000

Vietnamesen für jeweils maximal 5 Jahre ihre Tätigkeit im ‚sozialistischen

Bruderland’ aufnahmen. Grundlage für die Entsendung der Vertragsarbeiter in die

DDR waren Regierungsabkommen beider Länder und deren Zusatzprotokolle (1973;

1979/ 80). (Vgl. Schmalz-Jacobsen/ Hansen 1997, S. 174f.) Dabei ist deutlich

sichtbar, dass zumindest ab Anfang der 80er Jahre die vietnamesischen

Vertragsarbeiter nicht mehr gezielt ausgewählt und dann in den Betrieben der DDR

tatsächlich qualifiziert wurden. Sie sollten lediglich den Arbeitskräftemangel

ausgleichen und dem Herkunftsland Gelder einbringen. (Vgl. Krebs 1999, S. 7f.)

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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Die Löhne der Vertragsarbeiter sowie ihre Sozialversicherungsbeiträge orientierten

sich an denen einheimischer Beschäftigter. Von dem Anteil des Lohns, der über 350

Mark im Monat lag, durften sie bis zu 60% ins Heimatland transferieren. Da die

DDR eine nicht konvertierbare Währung benutzte, konnten auch Waren ausgeführt

werden.11 Die Vertragsarbeiter waren verpflichtet, 12% des Nettolohns an den

vietnamesischen Staat zu dessen Aufbau und Verteidigung abzuführen. Die

Trennungsentschädigung, welche die Vietnamesen für ihr Leben fern der Heimat und

Familie erhielten, betrug 4 Mark pro Tag. Sie konnte aber bereits bei geringen

Vergehen gegen die Arbeitsdisziplin gekürzt oder gestrichen werden. (Vgl. Krebs

1999, S. 9; Vgl. Marburger u.a. 1993, S. 19ff.)

Die Unterbringung in betriebseigenen Wohnheimen mit strengen Heimordnungen

stellte eine große Herausforderung an jeden einzelnen Vertragsarbeiter dar. Beengte

Verhältnisse, genaue Kontrolle der Besuche und die Zuteilung (nicht freie Wahl) der

Mitbewohner erschwerten das Leben in einem fremden Land zusätzlich. Es isolierte

die Vertragsarbeiter von der deutschen Bevölkerung. (Vgl. Krebs 1999, S. 9f.; Vgl.

Marburger u.a. 1993, S. 23f.)

Die Vertragsarbeiter reisten in die DDR in der Regel ohne Familienangehörige ein.

Eltern, Ehepartner, Kinder und Geschwister mussten zurückbleiben. Die Familien

waren so über mehrere Jahre (bis auf einen genehmigten längeren Heimaturlaub und

kurze Besuche aus dringenden familiären Gründen) getrennt. In der DDR selbst war

den vietnamesischen Frauen eine Schwangerschaft bis 1989 verboten. Wurde eine

Frau schwanger, hatte sie die Wahl, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen

oder in die Heimat zurückzukehren, was für die meisten eine soziale, psychische und

materielle Katastrophe bedeutete. (Vgl. Krebs 1999, S. 10f.; Vgl. Marburger u.a.

1993, S. 27ff.)

Nicht nur durch die isolierte Wohnsituation war der Kontakt zur einheimischen

Bevölkerung stark eingeschränkt. Mangelnde Information über die jeweils andere

Kultur, die meist geringen Sprachkenntnisse der Vietnamesen, die im Wesentlichen

auf betriebliche und Arbeitsabläufe beschränkt waren, sowie das Rotationsprinzip,

nach dem die Arbeiter nach wenigen Jahren durch neue ersetzt wurden, erschwerten

11 Die Verschickung der Waren stieß bei den Einheimischen oft auf Neid, da es sich um Güter

handelte, die auch für sie nur schwer zugänglich waren.

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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das gegenseitige Kennenlernen. Sowohl die ostdeutsche als auch die vietnamesische

Regierung wollten keine engen Beziehungen der Vertragsarbeiter zur einheimischen

Bevölkerung. Zwar war oft die Rede von ‚Völkerfreundschaft’ und ‚Solidarität’ , aber

diese Parolen gerieten anhand der erlebten Gettoisierung der Vietnamesen zur Farce.

(Vgl. Krebs 1999, S. 11ff.; Vgl. Marburger u.a. 1993, S. 25f.; 30f.)

3.2.2 Die Situation nach der Wende

1990 wurden von den Entsendeländern und der DDR Änderungen in den

Regierungsabkommen beschlossen. Die Regelung, dass ein Arbeitsverhältnis nur

auflösbar sei, wenn beide Seiten dies befürworteten, wurde aufgehoben. Nun waren

Entlassungen auch aus betrieblichen Gründen, die schnell gefunden wurden,

möglich. Die Arbeiter, denen daraufhin gekündigt wurde, hatten ein Anrecht auf eine

Prämie von 3000 DM bei vorzeitiger Heimreise und die Zahlung von 70% des

Lohnes bis zu drei Monaten sowie die Unterbringung in einem Wohnheim bis zur

Ausreise. Wollte jemand bis zum ursprünglichen Ausreisedatum im Land bleiben, so

hatte er ein Recht dazu und konnte auch eine Arbeitserlaubnis für andere Tätigkeiten,

eine Gewerbeerlaubnis und die Leistungen des Arbeitsamtes in Anspruch nehmen.

Mit dem Einigungsvertrag wurde das neue BRD-Ausländergesetz für das gesamte

Bundesgebiet gültig. Die Aufenthaltstitel der DDR mussten in die

Aufenthaltsgenehmigungen der Bundesrepublik überführt werden. Die

Vertragsarbeitnehmer erhielten eine Aufenthaltsbewilligung, soweit sie eine feste

Arbeitsstelle aufweisen konnten. Die meisten der Vietnamesen waren jedoch zu

diesem Zeitpunkt ohne Anstellung. Für einen Großteil derer, die ihre Arbeit verloren

hatten, war es nahezu utopisch, eine neue zu finden. (Vgl. Krebs 1999, S. 15ff.)

Auch die Wohnsituation stellte zunehmend ein Problem dar. Aufgrund von

Entlassungen und gestiegenen Wohnheimpreisen wurden etliche Vietnamesen

obdachlos. Sie fanden zum Teil Unterschlupf bei Freunden, was zu einer starken

Überbelegung der Heime führte. (Vgl. ebd., S.22)

Viele Vietnamesen nutzten die neu gewonnene Freiheit dazu, endlich eine Familie zu

gründen oder ihre Familien aus Vietnam legal oder auch illegal nachzuholen (vgl.

ebd., S. 22f.).

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1993 wurde für ehemalige Vertragsarbeiter der DDR, die vor 1990 eingereist waren,

eine Bleiberechtsregelung erarbeitet. Sie erhielten eine Aufenthaltsbefugnis, die aber

die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts und ausreichenden eigenen

Wohnraum voraussetzt, was für viele kaum zu erreichen war. Arbeitslose erhielten

für die Dauer des Arbeitslosengeldes eine Aufenthaltsbefugnis, alle anderen

Arbeitskräfte der DDR eine Duldung. (Vgl. Krebs 1999, S. 25)

Die auslaufende Duldung vieler Vertragsarbeiter im April 1994 entfachte die

Diskussion um die Anerkennung der Aufenthaltsjahre in der DDR bei der Erteilung

einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung neu. Durch das Gesetz vom November

1997 wurden die Jahre rechtmäßigen Aufenthaltes in der DDR vor dem 3.10.1990

auf die vorgesehene Frist für die Erlaubnis angerechnet. Natürlich hatte ein großer

Teil der ehemaligen Vertragsarbeiter die Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt bereits

verlassen.

In Rostock gestaltete sich die Situation folgendermaßen: „Während der Wende fand

eine fast vollständige Entlassung der in Rostock arbeitenden Vietnamesen statt,

wobei die meisten mit einer Ausstiegsprämie von 3000 DM nach Vietnam

zurückkehrten. Zu diesem Zeitpunkt verblieben nur 350 der vietnamesischen

Vertragsarbeiter in Rostock, …“ (Krebs 1999, S. 27) Bis Ende 1998 erhöhte sich die

Zahl der in der Stadt lebenden Vietnamesen aufgrund von Familiennachzug und

Geburten auf fast 800. (Vgl. ebd., S. 28)

Die Arbeitsmarktsituation für die Vietnamesen ist (wie überall) auch in Rostock

problematisch. Für die soziale Lage zieht Dien Hong aber insgesamt eine recht

positive Bilanz. Die Mehrheit der Vietnamesen besitzt zumindest eine

Aufenthaltsbefugnis und damit die Gewissheit, für einen längeren Zeitraum das

Leben hier planen und bestimmte Leistungen beanspruchen zu können. „Betroffene

Eltern können endlich Kinder- und Erziehungsgeld erhalten, Geldinstitute und

potentielle Arbeitgeber können sich leicht vom Daueraufenthaltsrecht einer

Bewerberin oder eines Kindes überzeugen“ (Dien Hong 1998, S. 49).

Auch die Wohnsituation verbessert sich zusehends. Viele Vietnamesen verlassen die

Wohnheime und ziehen in alle Stadtteile, was zum einen den Kontakt zu

Einheimischen verbessert und zum anderen hilft, soziale Brennpunkte abzubauen.

„Trotzdem haben zu viele der Rostocker Vietnamesen kaum Bindung zum

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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‚Alltagsleben‘ in der hiesigen Gesellschaft, leben weitgehend unter sich, sind

erwerbslos und haben nur geringe Vermittlungschancen. Es bestehen bei einigen, vor

allem bei vielen Frauen, noch erhebliche Sprachdefizite.“ (Dien Hong 1998, S. 50)

3.3 Sozialisation in Vietnam – eine fremde Kultur

Die Erziehung und Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in Vietnam ist von

der unsrigen sehr verschieden. Im Folgenden sollen einige Punkte herausgearbeitet

werden, die für das bessere Verständnis der Situation der nachgezogenen Kinder der

Vertragsarbeiter notwendig sind, weil sie zeigen, worin die Unterschiede bestehen

und welche Probleme sich daraus für das Leben im Aufnahmeland ergeben.

3.3.1 Kultur und Religion

Seine wechselvolle Geschichte setzte Vietnam immer wieder den verschiedensten

Kultureinflüssen aus. Das Volk nahm viele unterschiedliche Elemente als

Bereicherung der eigenen Kultur auf. Besondere Prägung erfuhr diese durch den

Konfuzianismus, der auch heute noch in vielen Werten und Normen präsent ist. (Vgl.

Bui 1996, S. 53) Da er eine bedeutende Rolle in der Geschichte und den Werten

Vietnams spielt, sollen hier sein Inhalt und die Verbreitung im Land kurz dargestellt

werden.12

3.3.1.1 Der Konfuzianismus

Der Konfuzianismus geht zurück auf die Lehren des Kung Fu Tse (Konfuzius, 551-

479 v. Chr.). Er selber hinterließ keine Schriften, aber seine Lehre wurde von seinen

12 Auch der Buddhismus und andere Weltanschauungen haben das Land geprägt. Meiner Ansicht nach

sind ihre Inhalte jedoch bekannter, als die des Konfuzianismus, weshalb sie hier nicht nähererläutert werden.

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Schülern später festgehalten. Konfuzius vertrat eine konservative Staats- und

Moralvorstellung. Als bedeutendste Tugenden sah er Menschlichkeit,

Rechtschaffenheit, Schicklichkeit, Weisheit und Loyalität. (Vgl. Kunzmann u.a.

1995, S.23). Sie zeigen sich in den fünf grundlegenden sozialen Beziehungen, die in

der Gesellschaft verwirklicht werden sollen:

Güte des Herrschers - Loyalität des Untertanen

Liebe des Vaters - Pietät des Sohnes

Wohlwollen des Älteren - Ehrfurcht des Jüngeren

Gerechtigkeit des Mannes - Gehorsam der Frau

Treue des Freundes - Treue des Freundes

(Vgl. Heyder 1997, S. 30)

Auf diese grundlegenden Tugenden stützt sich die gesamte Gesellschaft. „Die

Stabilität des Staates gründet in der Moral des Einzelnen und der zentralen Rolle der

Familie. Der wahre Herrscher regiert sein Volk allein durch sein moralisches

Vorbild.“ (Kunzmann u.a. 1995, S. 23) Den Zusammenhang des Ganzen und seiner

Glieder fasst eine Stelle aus der „Großen Lehre“ zusammen: „Wenn man sein Land

regieren will, muss man als Erstes seine Familie in Ordnung halten. Wenn man seine

Familie in Ordnung halten will, muss man als Erstes seinen Charakter bilden. Wenn

man seinen Charakter bilden will, muss man als Erstes das rechte Herz haben. Will

man das rechte Herz haben, dann muss man als Erstes aufrichtig denken. Will man

aufrichtig denken, dann muss man als Erstes zur Einsicht gelangen.“ (zit. ebd.) Das

Ideal des Konfuzianismus ist der edle, gebildete Weise. Deshalb haben Wissen und

Bildung einen hohen Stellenwert in konfuzianisch geprägten Gesellschaften. (Vgl.

ebd.)

Der Konfuzianismus kam im Zuge der chinesischen Herrschaft (2. Jh. v. Chr. bis 939

n. Chr.) nach Vietnam, wurde aber erst nach ihrem Ende wirklich bedeutsam. 500

Jahre später hatte er den Buddhismus verdrängt und wurde zur Staatsdoktrin und zur

Grundlage sämtlicher Bildung. Der Konfuzianismus entsprach in vielen Bereichen

der Lebensweise der Menschen, denen Ahnenverehrung, Ein- und Unterordnung,

Bedeutung der Familie und ein großer Gemeinschaftssinn von jeher wichtig waren.

(Vgl. Heyder 1997, S. 31)

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Der 1070 gebaute Literaturtempel in Hanoi diente zur Verehrung des Konfuzius und

war lange Zeit Ort der Staatsprüfungen für die Ämter am Königshof. Kenntnisse in

der Literatur, insbesondere der konfuzianischen Inhalte, und eine Identitifizierung

mit ihnen, ermöglichten auch Menschen aus armen Verhältnissen den sozialen

Aufstieg, denn so konnten sie z.B. einen Posten als Mandarin13 erhalten. Wer nicht

gleich einen Stelle bekam, ging als Lehrer in die Dörfer und bereitete sich auf die

nächste Prüfung vor. So blieben die Gelehrten in Kontakt mit den einfachen Leuten,

lernten deren Leben kennen und wurden von ihnen wegen ihrer großen Bemühungen

um das Wissen und die Bildung anerkannt. (Vgl. Heyder 1997, S. 33)

Die Oberschicht wurde stärker von der konfuzianischen Lehre beeinflusst, als z.B.

die Bauern. Nur sehr wenige Kinder aus den unteren Schichten der Gesellschaft

konnten eine Ausbildung absolvieren und somit den sozialen Aufstieg erreichen.

Trotzdem hinterließ der Konfuzianismus im Verhalten und Denken der Vietnamesen

insgesamt viele Spuren. (Vgl. Heyder 1997, S. 33f.)

3.3.1.2 Religion

Religiöse Elemente wurden aus den verschiedenen Weltanschauungen und

Religionen übernommen. Doan schreibt dazu: „ Ich glaube sagen zu können, dass

unsere Region, Vietnam, stark vom Animismus geprägt ist. Man kann sehr schwer

nur differenzieren und sagen: der eine ist buddhistisch, der andere konfuzianisch. Am

Anfang hatten wir sehr viel Ahnenverehrung, aber nicht nur die Ahnen wurden

verehrt, sondern auch sehr viele Gegenstände und Pflanzen. Und es wurden immer

weitere als Gottheiten aufgenommen, Fische und Vögel und andere Lebewesen.

Dann kam der Buddhismus und dann der Konfuzianismus, aber wir haben nicht viele

Religionen daraus gemacht, sondern alles wurde aufgenommen. Auf dieser Basis

gibt es Götter, die gut sind, vor allem aber Götter, die böse sind. Wenn ich Buddha

verehre, dann darf ich die bösen Götter nicht vernachlässigen, damit sie mir nicht

etwas Böses antun. (…) Alles nach dem Motto: wir müssen alle Götter verehren,

lieber zehn als neun, damit keiner auf uns böse sein kann.“ (Doan 1984, S. 20f.)

13 Beamter am Hof

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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In der DRV galt in den letzten Jahrzehnten, wie in vielen anderen sozialistischen

Ländern, Religion als „Opium für das Volk“ und als einer modernen Gesellschaft

nicht gemäß. Die einzige religiöse Betätigung, die zu keiner Zeit ein Problem

darstellte, war die Ahnenverehrung, die sehr tief in der vietnamesischen Seele

verankert zu sein scheint. Heute steht der Staat religiösen Fragen offener gegenüber.

Er hat 1992 das Recht auf Konfessions- und Religionsfreiheit eingeräumt. (Vgl.

Heyder 1997, S. 42f.) Während der Zeit, in der die Religion nicht gern gesehen war,

scheinen viele Bräuche und Traditionen verlorengegangen zu sein.

3.3.2 Mentalität

Die Mentalitäten in den Landesteilen weisen Unterschiede auf. Der Süden stand am

längsten unter dem Einfluss nicht-asiatischer Kulturen. Die Mentalität der

Südvietnamesen ist dadurch offener und weniger in den Traditionen verhaftet.14

Deshalb wird ihnen im Norden häufig der Vorwurf gemacht, sie hätten den eigenen

kulturellen Hintergrund vergessen, um sich der westlichen Kultur in die Arme zu

werfen. Das habe auch zur Folge, dass sie oberflächlich, verschwenderisch und

vergnügungssüchtig seien. Im Gegenzug dazu bezeichnen die Südvietnamesen ihre

Landsleute im Norden als arbeitswütig, rückständig, bäurisch, geizig, unflexibel. Sie

hätten keinen Charme und keine Kultur und verstünden nicht zu leben. (Vgl. Heyder

1997, S. 64ff.)

Einige Punkte aus einer Tabelle von Heyder (1997, S. 68f.) versuchen, die Mentalität

der Nord- und Südvietnamesen gegenüberzustellen.15

14 Nguyen do Thinh berichtete allerdings, dass im Süden Traditionen, wie der Drachentanz etc. noch

eine wirklich heilige Bedeutung hätten, während dies im Norden in den Jahren kommunistischerHerrschaft verlorengegangen sei.

15 Bei Heyder findet sich auch ein kurzer Abschnitt über die Menschen in Mittelvietnam. Siebeschreibt nicht, wo genau diese Region liegt, berichtet aber, dass die politische Teilung des Landesentlang des 17. Breitengrades durch Mittelvietnam hindurch verlief. Der Boden Mittelvietnams istunfruchtbar und steinig und die Anbaufläche ist recht schmal, da die Berge an vielen Stellen bis andas Meer reichen. Zusätzlich erschweren Taifune und Überschwemmungen das Leben hier. Deshalbgingen in Notzeiten immer wieder Aufstände von Mittelvietnam aus. Die Menschen Mittelvietnamsscheinen viele der „vietnamesischen Eigenschaften“ noch weiter perfektioniert zu haben. Bildungwird besonders geschätzt und die Leute gelten als sehr „zäh, tapfer, arbeitsam widerstands- undleidefähig, auch etwas starrköpfig, vor allem aber von einem tiefen Gefühl des Zusammenhalts, dergegenseitigen Solidarität durchdrungen“ (Heyder 1997, S. 71). (Vgl. ebd.)

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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Süden Norden

Die Menschen hier haben ein offenesWesen.

Die Menschen scheinen nicht so leichtzugänglich.

Freundschaften werden leichtgeschlossen, gehen aber oft nicht sehrtief und können schnell vergessen sein.

Wenn nach gründlicher Prüfung eineFreundschaft geschlossen wird, hält dieseoft ein ganzes Leben und birgtVerpflichtungen für beide, die man nichtohne Ehrverlust vernachlässigt.

Man ist schnell bereit, auch mal größereSummen für ein Gelage/ Kleidung, …auszugeben.

Viele Leute haben ein Talent zurSparsamkeit, das es ermöglicht, auch beigeringem Einkommen irgendwann etwaszu erhalten.

Die Südvietnamesen haben das Talent,das Leben zu genießen und alles von derlockeren Seite zu sehen.

Pflichtbewusstsein und Arbeitseifer sindwichtig.

Südvietnamesen verhalten sicheuropäischer.

Nordvietnamesen besitzen einenzurückhaltenden Stolz, der sagt: Hier istVietnam, wem es nicht gefällt, der kannja gehen.

Trotz aller aufgeführten Unterschiede weist Heyder darauf hin, dass die größeren

Differenzen die zwischen Stadt- und Landbevölkerung sind. „Wenn die

vietnamesische Gesellschaft geteilt wird, dann nicht entlang eines Breitengrades,

sondern durch die sozialen Unterschiede (…). Der Graben zwischen denen, die am

Wohlstand mehr oder weniger partizipieren und denen, für die auch die Politik der

Erneuerung nicht die geringste Erleichterung brachte, verläuft quer durch die

Gesellschaft – und er wird von Jahr zu Jahr tiefer.“ (Heyder 1997, S. 74)

Es scheint bestimmte Werte zu geben, welche die Vietnamesen auszeichnen, auch

wenn die Pauschalisierung solcher Einschätzungen zweifelhaft erscheint. Zumindest

gibt es einige Dinge, die man als ‚ typisch’ in großen Teilen der Literatur

wiederfindet und auch in dem Bild, welches Besucher Vietnams von diesem Land

haben. So beantwortete Wolfgang Richter, der Ausländerbeauftragte der Hansestadt

Rostock und zweimaliger Vietnamreisender, die Frage danach, was ihm als Erstes zu

diesem Land einfalle, folgendermaßen: Vietnam sei ein Land mit unheimlich

offenen, herzlichen Menschen. Sie zeigen eine uns eher fremde Gastfreundschaft und

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Wärme, was mit Sicherheit dazu beiträgt, dass es den Vietnamesen schwer fällt, sich

in unserem Land wohl zu fühlen. (Interview II)

Jones (1990) schreibt in seinem „Vietnam Handbuch“: „Die Menschen in diesem

Land sind in ihrem Temperament sanft, sensibel, beharrlich und sie gehören von

Natur aus zu den höflichsten, freundlichsten und gastfreundlichsten Menschen, die

man auf der Welt finden kann. Ihr Stehvermögen ist ausgeprägt und ihre gesamte

Einstellung ausgesprochen mutig, was ihnen geholfen hat, das Land nicht nur in

seiner Infrastruktur, sondern auch in seiner Moral, seiner Kultur, seiner

medizinischen Versorgung und seinem Schulsystem wieder aufzubauen. Diese

Menschen, die gnadenlose Bombenabwürfe, gelben Regen und Napalm überstanden

haben, sind außergewöhnlich stolz auf ihr Land. Tausende von Bombentrichtern sind

mit Erde aufgefüllt worden, Sumpfgelände wird entwässert, Staudämme und

Bewässerungsanlagen werden gebaut, und überall entstehen Wasserkraftwerke. Die

Narben sind noch immer da, aber sie sind eher versteckt im Herzen der Menschen

und kaum in der Landschaft sichtbar.“ (Jones 1990, S. 7)

Seit Jahrtausenden ist das Leben der Vietnamesen durch den Anbau von Nassreis

geprägt. Diese Tätigkeit ist sehr aufwendig und erfordert ein Zusammenarbeiten

vieler Menschen. Das mag eine Ursache für die Herausbildung bestimmter

Eigenschaften, Verhaltensweisen und Normen sein, die heute als ‚ typisch’ für

Vietnamesen gelten. Fleiß ist nicht nur eine gern gesehene Eigenschaft, sondern

scheint, so Heyder zum „nationalen Hobby“ kultiviert worden zu sein. (Vgl. ebd., S.

59) „Wenn die Kraft für schwere Arbeit nicht mehr ausreicht, dann repariert man

eben hier noch etwas, sieht dort nach dem Rechten, bis eine andere vietnamesische

Eigenschaft ihr Recht fordert: die Sparsamkeit. Diese verbietet die Verschwendung

von Lampenöl ebenso wie von Strom. Deshalb (und nur deshalb) geht man

schließlich zu Bett. Fleiß ist eines der wichtigsten Kriterien für die Wertschätzung

durch die Vietnamesen. (Fleiß und guter Charakter stehen an der Spitze der

Eigenschaften, die für junge Leute der Ehepartner haben muss.)“ (Ebd., S. 59)

Eine weitere Eigenschaft ist das starke Zusammenhaltsgefühl der Vietnamesen.

Blutsbande sind entscheidend für gegenseitige Unterstützung. Diese wird aber auch

schnell auf andere ausgeweitet. Besonders im Ausland kann man mit der Hilfe durch

prinzipiell alle Landsleute rechnen. (Vgl. ebd.)

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Die Vietnamesen sind recht patriotisch, wobei dieser Patr iotismus nicht ein

verordneter ist, sondern ein tiefes, romantisches Gefühl, das Vietnamesen gegenüber

ihrem Land empfinden. Es ist unabhängig davon, wo sie leben und wie sie zur

jeweiligen Regierung stehen. Sie sind stolz auf ihre Geschichte und Kultur und

lieben die heimatliche Landschaft. „ Im Grunde sind die meisten Vietnamesen davon

überzeugt, dass ihre Heimat das Paradies auf Erden ist – oder sein könnte, wenn man

sich nur wirtschaftlich aufrappeln würde!“ (Ebd., S. 60).

Das Maßhalten und die Bescheidenheit gehören zur Tradition. Sie sind Bestandteil

einer Lebenseinstellung, die Extreme meidet und in der die Fähigkeit, sich auf das

Wesentliche zu beschränken, sehr geschätzt wird. (Vgl. Heyder 1997, S. 61) Dazu

gehört auch die Fähigkeit, sich auf gegebene Situationen einzustellen und die

Bereitschaft, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nach vorne zu schauen.

Vietnamesen können sich in Dinge fügen, die z.B. Europäer zu langen Diskussionen

herausfordern würden. Aber auch ihre Geduld hat ein Ende, spätestens wenn es um

die Gemeinschaft geht. Ist sie bedroht, so wird sie hartnäckig und schonungslos

verteidigt. (Vgl. Heyder 1997, S. 61ff.)

3.3.3 Die Rolle der Familie

Die Familien bilden den Kern der südostasiatischen und chinesischen Kultur. Sie

sind patriarchalisch gegliedert und durch hierarchische Rollenpflichten

gekennzeichnet. (Vgl. Nguyen-thi16 1998, S. 27) Jeder hat seinen festen Platz und

bestimmte Pflichten gegenüber der Familie als Ganzem und den einzelnen

Mitgliedern. Dies ist sogar sprachlich im Gebrauch der Personalpronomina sichtbar.

(Vgl. Bui 1996, S. 55ff.) Das Ich-Verständnis ist eher familial und auf die Rolle, die

eine Person in der Gesellschaft spielt, zugeschnitten. Es erscheint dabei weniger

individualistisch als in der westlich-europäischen Kultur (Ich als Sohn, als älterer

Bruder,…). Der Einzelne ist nicht nur in die Familie eingebettet, sondern bezieht sein

Ich aus ihr. Somit stellt die Intaktheit der Familie die Voraussetzung für ein

funktionierendes Selbst dar. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der

16 Nguyen-thi beschreibt das Leben von Vietnamesen in Vietnam und nach der Migration recht

ausführlich. Zwar handelt es sich bei ihren Untersuchungen um Südvietnamesen, aber bei denGrundwerten scheinen die Unterschiede wie beschrieben nicht so gravierend zu sein.

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Familie und dem Ich-Schema, der Erfüllung familiärer Rollenpflichten und dem

Selbstwertgefühl. Die Familie bildet häufig eine selbsterhaltende soziale und

ökonomische Einheit. Ihre Mitglieder leisten zudem untereinander eine emotionale

(und geistige) Stabilisierung. Es lässt sich erahnen, welche Probleme entstehen, wenn

eine Familie auseinandergerissen wird oder durch Migration die Einbettung in den

kulturellen Kontext verliert. (Vgl. ebd.)

Der Konfuzianismus, der die Kultur des Landes immer wieder beeinflusst hat, spielt

hier offensichtlich eine wichtige Rolle. In seinem Weltbild stellt die

Familienordnung die Voraussetzung für die gesellschaftliche Ordnung dar.17 So gab

es bereits im alten Vietnam rechtliche Festsetzungen der Familienordnung, deren

Verletzung zu den zehn schlimmsten Verbrechen zählte und mit der Todesstrafe

geahndet wurde. Die vorgegebenen Grundwerte bestanden (und bestehen zu einem

erheblichen Teil bis heute) in der Pietät des Sohnes gegenüber dem Vater (der Kinder

gegenüber den Eltern), der Sittsamkeit der Ehefrau gegenüber ihrem Mann und dem

Gehorsam des jüngeren Bruders gegenüber dem älteren (der jüngeren Geschwister

gegenüber den älteren). Die Kinder haben gegenüber den Eltern die Pflicht des

unbedingten Gehorsams und der Dankbarkeit bis zum Tode. (Vgl. Nguyen-thi 1998,

S. 27ff.) Der Vater oder Ehemann in der Kleinfamilie und das Oberhaupt der

Großfamilie haben seitdem beinahe uneingeschränkte Macht- und Rechtsbefugnisse.

Diese werden im Alltag aber dadurch geschwächt, dass der Frau die Kindererziehung

und die Budgetverwaltung obliegen. Auch die Großfamilie ist streng hierarchisch

gegliedert. Trotz allem wird die Familie aber nicht als Last empfunden, von der man

sich möglichst schnell befreien möchte. 18 (Vgl. Bui 1996, S. 55ff.)

Kinderlosigkeit gilt als größtes Unglück einer Familie und freiwilliger Verzicht als

Blasphemie als Blasphemie. Mindestens ein Sohn ist auch heute noch für das

vollkommene Glück wichtig, wobei sich hier Unterschiede zwischen Stadt und Land

feststellen lassen. Mädchen gelten aber keineswegs als Last. (Vgl. Heyder 1997, S.

118ff.)

17 Vgl. Abschnitt 3.3.1.118 Nicht nur die Familie, sondern die ganze Gesellschaft ist im Übrigen auf allen Ebenen hierarchisch

gegliedert. Eigenschaften, wie Disziplin, Gehorsam, Respekt vor Würdenträgern und vor dem Alterwerden als menschliche Vorzüge empfunden. Häufig findet man ein passives, unkritischesVertrauen auf Autoritätsträger. Das Wir (die Familie, die Dorf- oder Stadtgemeinde, das Volk oderder Staat) hat immer Vorrang vor dem Ich. (Vgl. Bui 1996, S. 53ff.)

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

42

Vietnamesische Kinder scheinen in der Regel ausgeglichen und artig. Ihnen fehlt die

westliche Ich-Bezogenheit, sie werden zum Gehorchen erzogen und fühlen Scham

über unrechtes Verhalten. Dabei darf das vietnamesische Kleinkind fast alles. Jeder

ist ihm gegenüber nachsichtig und die Erziehung verläuft in allen Bereichen ohne

Leistungsdruck und Hektik. Kleine Kinder werden prinzipiell niemals allein

gelassen. Es ist immer jemand bei ihnen, selbst wenn es nur das etwas ältere

Geschwisterkind ist. Deshalb kommen Verlustängste gar nicht erst auf, die Kinder

sind geborgen und entwickeln psychische Stabilität. Im Alter von etwa 5 Jahren

beginnt dann der ‚Ernst des Lebens’ an. Die Kinder beginnen mit dem Lernen und

übernehmen erste Tätigkeiten im Haushalt. (Vgl. Heyder 1997, S. 118ff.)

Konstituierendes Band der Eltern-Kind-Beziehung ist „ Liebe“ . Nguyen-thi

beschreibt sie weniger als ein subjektives Gefühl, sondern mehr als ein Verhalten

oder eine Einstellung, die Respekt, Höflichkeit, Gehorsam und Dankbarkeit

einschließt (vgl. Nguyen-thi 1998, S. 27ff.) Die Eltern bilden in allen Lebenslagen

einen wichtigen Orientierungspunkt. So treffen z.B. die wenigsten jungen

Vietnamesen die Entscheidung über eine Ehe allein. Auf die Zustimmung der Eltern

wird sehr viel Wert gelegt. Das berichtete auch Nguyen do Thinh:

„ Und danach habe ich auch die Erlaubnis von meinen Eltern

(erhalten), meine Frau zu heiraten, und da habe ich sie eben

geheiratet.“ (Interview I)

Eine Heirat ohne Zustimmung der Eltern kann bedeuten, dass das Verhältnis zu

ihnen stark beeinträchtigt wird und sie den Kindern jegliche Unterstützung entziehen.

Für die sehr familienverbundenen Vietnamesen ist so eine Situation schwer

auszuhalten. (Vgl. Heyder 1997, S. 118ff.)

Natürlich gibt es auch in vietnamesischen Familien Generationenkonflikte. Die

Achtung vor den Eltern schützt aber vor allzu direkten Auseinandersetzungen, die als

ungehörig gelten. Wer seinen Eltern nicht den nötigen Respekt erweist, kann nicht

einmal auf das Verständnis der Gleichaltrigen hoffen. Die Eltern erwarten von ihren

Kindern Gehorsam, Höflichkeit, Duldsamkeit, Toleranz, das Einfügen in die

Gemeinschaft am angestammten Platz, Fleiß, Lernerfolge und die Unterstützung in

allen Lebenslagen, besonders im Alter. Im Gegenzug finden es die Kinder

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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selbstverständlich, dass die Eltern alles tun, damit sie gut heranwachsen und eine

ordentliche Ausbildung erhalten und dass sie so lange für sie da sind, bis sie

vollständig auf eigenen Füßen stehen können. (Vgl. Heyder 1997, S. 118ff.)

In Deutschland kommt es zu einer Verschiebung der Handlungschancen zwischen

den Generationen. Die Eltern und Großeltern müssen Kompetenzeinbußen

hinnehmen, während die Kinder einen Kompetenzzuwachs erfahren. So sind die

Eltern häufig abhängig von den Sozialkontakten und Kenntnissen der Kinder. Dies

bringt für die Rollenaufteilungen und –erwartungen in der Familie Probleme mit

sich. Die Kinder sollen den Eltern zwar folgen, diese kommen aber weniger mit dem

Leben in der fremden Kultur zurecht, als sie selber. (Vgl. Nguyen-thi 1998, S. 27ff.)

„Der geforderte Gehorsam der Kinder gegenüber ihren Eltern wird dann zur Phrase,

wenn die Eltern ihren Kindern nicht helfen können“ (Krebs 1999, S. 34).

Die Kinder schlucken die Probleme hinunter oder verdrängen sie. Sie führen ein

regelrechtes Doppelleben: in der Familie und unter Landsleuten bleiben sie brav,

traditionsgetreu und vermeiden Diskussionen und Widerstand, um der Familie nicht

weh zu tun. Unter ihren Freunden und Mitschülern hingegen passen sie sich an die

europäischen Verhältnisse an. Nguyen do Thinh bestätigt diese Einschätzung.

Befragt danach, ob die Jugendlichen die Ratschläge und Anweisungen der Eltern

tatsächlich befolgen oder auch gegen sie rebellieren, sagte er:

„ Also nach außen hin tun sie so, als ob sie gehorchen. Also, wenn

der Vater – der Vater, nicht die Mutter – was sagt, dann wird das

eben gemacht, so nach außen hin. Aber man merkt ja, dass sie

dagegen kämpfen. Sie nicken und sagen zwar „ ja“ , aber dieses „ ja“

hat einen Unterton, wo man merkt: aha, ist eben nicht so. Sie

machen das, weil das ein Zwang ist von den Eltern, freiwillig wohl

weniger. Und wenn wir mal mit ihnen wegfahren, ohne Eltern und

uns mit ihnen unterhalten, dann bestätigt sich diese Aussage auch.

Die hätten gerne was anderes, aber da die Eltern so bestimmen und

befehlen, müssen sie das erst mal eine Zeit lang durchhalten, bis sie

denn irgendwie eigenständig agieren können.“ (Interview I)

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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Die Eltern klammern sich an die alten Traditionen, die deutschen Verhältnisse

scheinen ihnen fremd und bedrohlich. Die Kinder fühlen sich von ihnen in ihrer

Situation allein gelassen, wenn sie nicht Unterstützung durch Lehrer, Betreuer oder

eine Jugendgruppe erfahren. (Vgl. Bui 1996, S. 37ff.)

3.3.4 Die Rolle der Frau

Bis heute ist die Rolle der Frau in Vietnam maßgeblich von traditionellen

Vorstellungen geprägt. Der ‚Bewertungsmaßstab’ für eine Frau besteht in ihrer

Schönheit, ihren Umgangsformen, der Arbeit, die sie leistet und ihrer Tugend oder

Moral. Reine ‚Hausfrauenkarrieren’ sind ebenso selten, wie reine Karrierefrauen.

Von einer Frau oder einem Mädchen wird ein „dreifaches Folgen“ erwartet:

1. als Mädchen zu Hause folge deinem Vater

2. als Ehefrau folge deinem Mann

3. nach dessen Tode folge deinem Sohn. (Vgl. Nguyen 1991, S. 257f.)

Die alten Traditionen und Wertvorstellungen sind immer noch präsent. Besonders in

den Familien werden die Rollenmuster gepflegt (vgl. Heyder 1997, S. 107ff.). Im

Durchschnitt haben Vietnamesinnen auch heute ein geringeres Qualifikationsniveau

als die Männer. So wagt z.B. eine Frau selten, eine höhere Stellung als ihr Mann zu

bekleiden. (Vgl. Nguyen 1991, S. 257f.)

Viele Traditionen und Einstellungen haben sich somit erhalten. Sie werden aber von

den Frauen nicht mehr einfach hingenommen. Bei der Gründung der DRV wurde die

Gleichberechtigung der Frau in der Verfassung formuliert. Damit können die Männer

nicht mehr frei über ihr Leben, ihre Gesundheit und ihr Vermögen verfügen. (Vgl.

Heyder 1997, S. 107ff.)

Im Krieg wurden viele Frauen zu Familienoberhäuptern. Sie mussten die Feldarbeit

verrichten, die Kinder groß ziehen, lernten Lesen und Schreiben, kämpften in

Volksmilizen und so weiter (vgl. ebd.). Die Frauen nahmen selbst das Zepter in die

Hand, trafen die wichtigen Entscheidungen allein und erlangten ein neues

Selbstbewusstsein.

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

45

Ähnliches gilt für die Frauen, deren Männer als Vertragsarbeiter in ‚sozialistischen

Bruderländern’ tätig waren. Auch sie mussten allein zurechtkommen. Als die

Möglichkeit dazu gegeben war, holten viele Männer ihre Frauen nach Deutschland.

Ihre Rolle wird in der neuen Heimat aber immer geringer.

„ Die nachgezogenen Ehefrauen, die ja jahrzehntelang

Alleinerziehende in Vietnam sind und zum größten Teil selber das

Geld verdienen müssen und die Kinder erziehen, haben ihre

Ehemänner jahrzehntelang nicht gesehen und tragen selber die

Verantwortung für die Versorgung sowie Erziehung ihrer Kinder.

Nun sind sie hier, sind bisschen älter (…) und können die deutsche

Sprache nicht so schnell lernen wie ihre Kinder und sind meistens

auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen. Das heißt, wenn sie zur

Behörde gehen, zur Schule gehen, dann fungieren die Kinder eben

als Dolmetscher. Und die Kinder können erzählen, was sie wollen.

Die Mutter muss ihnen das eben glauben, weil sie die Sprache nicht

beherrscht. Und die Männer verlangen ja wieder, dass die Frauen zu

Hause bleiben und eben nur für die Erziehung da sind, für den

Haushalt, so dass die Funktionen solcher Mütter auf einmal ganz

anders geworden sind. In Vietnam, als sie noch da waren, allein mit

ihren Kindern, haben sie gelernt, die Entscheidungen zu treffen. Und

hier haben sie überhaupt nichts mehr zu sagen und werden von den

Kindern oder auch von den Männern in die Ecke gedrückt.“

(Interview I)

3.3.5 Sprache

Vielen Vietnamesen fällt das Erlernen der deutschen Sprache schwer. Dies liegt an

der völlig anderen Struktur ihrer Heimatsprache. Einige wesentliche Unterschiede

finden sich in der Broschüre von Dien Hong (1998): Zunächst einmal ist

Vietnamesisch eine Tonsprache, in der jede Buchstabenreihe durch unterschiedliche,

genau festgelegte Tonhöhen eine andere Bedeutung erhält. Im Deutschen werden

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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deshalb von den Vietnamesen häufig willkürlich Tonhöhen eingesetzt, die zu

falschen Betonungen und damit zur schweren Verständlichkeit führen. Weiterhin

muss bedacht werden, dass die vietnamesische Sprache hauptsächlich aus einsilbigen

Wörtern besteht, weshalb das Bilden und Aussprechen langer, zusammengesetzter

Worte oft Schwierigkeiten bereitet. In der vietnamesischen Sprache werden sie durch

aufeinander folgende Substantive ausgedrückt. Die Reihenfolge der einzelnen

Bestandteile ist dabei der im Deutschen entgegengesetzt („Ledertasche“ = „Tasche

Leder“). Bestimmte Laute, die im Vietnamesischen keine Entsprechung haben (z.B.

P oder J) oder anders dargestellt werden (stimmhaftes S = vietnamesisch D oder Gi),

bereiten Probleme bei der Aussprache. Im Deutschen vorkommende

Konsonantenhäufungen führen zur Bildung von Sprossvokalen („Sprache“ wird zu

„Sperache“ ). Im Vietnamesischen gibt es weder Deklinationen noch

Verbkonjugationen oder Tempusformen. Zeitangaben verdeutlichen die Aktualität

des Geschehens. Auch Artikel existieren nicht. Die Substantive werden bestimmten

Gruppen (Tiere, Gegenstände) zugeordnet. Der Satzbau ist fast immer gleich. Durch

Hilfswörter ist zu erkennen, um welche Satzart es sich handelt. (Vgl. Dien Hong

1998, S. 27)

Die vietnamesischen Kinder und Jugendlichen werden nach ihrer Ankunft in

Deutschland relativ schnell eingeschult. Daher verstehen sie oftmals zu Anfang die

Sprache im Unterricht nicht. Sie haben das Gefühl, ein Hindernis für die anderen zu

sein. Die momentane Unfähigkeit, den Stoff aufzunehmen, ist für die lernwilligen

und wissbegierigen Jugendlichen unerträglich. (Vgl. Bui 1996, S. 33ff.)

„ In der Schule haben sie auch wenige Probleme, in Fächern, (…) wo

sie weniger Deutsch beherrschen müssen, sind sie ja super meistens,

sind sehr fleißig. Also, die haben keine Probleme, wenn man sie

denn so betrachtet. Sie sind fleißig, sie sind lernbereit. Das größte

Problem, was sie haben, ist eben die deutsche Sprache, die sie nicht

beherrschen.“ (Interview I)

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

47

3.3.6 Bildung und Ausbildung

Um zu verstehen, warum gerade Vietnamesen besonders darunter leiden, wenn sie in

einigen Fächern Schwierigkeiten haben, muss man den Stellenwert von Wissen in

Vietnam kennen. In Vietnam genießt die akademische Bildung eine hohe

Anerkennung. Berufliche, besonders handwerkliche Ausbildungen hingegen werden

gering geschätzt. Aus der Überlieferung vieler Jahrhunderte leitet sich ab, dass eine

hohe Bildung die Voraussetzung für sozialen Aufstieg ist.19 Es bedeutet für

vietnamesische Eltern einen Gesichtsverlust, wenn ihr Kind „nur“ an eine

Berufsschule geht. Der Verzicht auf eine höhere Schule und ein Studium wird als

soziale Rückstufung betrachtet und bedeutet eine starke psychische Belastung. Junge

Vietnamesen werden in dieser Hinsicht oftmals unter Druck gesetzt und fühlen sich

zu Höchstleistungen verpflichtet. (Vgl. Bui 1996, S. S. 27 u. S. 65ff.) Die

Großfamilie, Dorfgemeinschaft (oder im Ausland die community20) wirken als eine

Art Kontrollinstanz, die das Verhalten der einzelnen Kinder und Jugendlichen wertet.

„ Also die vietnamesischen Jugendlichen, die hier in Rostock leben, in

dieser community, so wie man es nennt, in dieser Gemeinde (…): man

kennt sich ja mit Namen und auch die Eltern unterhalten sich

untereinander und das ist ja eben schon für die eine Schande, wenn die

eine Tochter oder der andere Sohn irgendwie Mist baut oder nicht mal Mist

baut, sondern nicht mitkommt in der Schule. Dann wird untereinander

gemunkelt und das empfinden sie schon als eine Schande. Und das ist in

Vietnam vielleicht ja auch so. Man lebt in großen Familien und einerseits

hat das eine schützende Funktion, aber anderseits ist eine Sanktion oder

Strafe sehr, sehr beeindruckend, einprägend.“ (Interview I)

Diese Einstellung zur Bildung habe ich während meiner Zeit bei Dien Hong immer

wieder erfahren. In den letzten Sommerferien nahmen z.B. viele der Jugendlichen

jeden Tag vier Stunden lang Deutschunterricht, um die Sprache besser zu erlernen

und damit Chancen auf eine hohen Abschluss zu haben.

19 Auch hier spielt wiederum der Konfuzianismus eine entscheidende Rolle: wer sich mit Bildung

beschäftigt, kann in der sozialen Hierarchie aufsteigen (siehe Abschnitt 3.2.1.1).20 Gemeinschaft der an einem Ort lebenden Vietnamesen (nach Schönmeier 1991)

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

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„ Also die (vietnamesischen Jugendlichen) nehmen verschiedene

Angebote an, aber eben ja nur, was Bildung betrifft.“ (Interview I)

Das Schulsystem und die Rolle des Lehrers hier sind ganz anders als in Vietnam, was

den Schülern Schwierigkeiten bereitet. Der Lehrer ist in Vietnam neben den Eltern

die wichtigste Respektsperson und das Vorbild, dem nachgeeifert wird. Er gilt als

vollkommen, weise und selbstbeherrscht, Der Schüler hat ihm gegenüber

insbesondere die Pflicht des Gehorsams. „Deutsche LehrerInnen können in der Regel

diese traditionelle Rolle nicht ausfüllen. Sie sind meist noch jung, sie sind nicht

streng, sie beanspruchen keine Vollkommenheit oder Weisheit. Oft wissen sie auf

Fragen selbst keine Antwort.“ (Nguyen-thi 1998, S. 181) Die Gefühle der Schüler

sind zwiespältig. Sie wollen die Lehrer respektieren, diese aber fordern in ihren

Augen zu wenig Respekt und Achtung. „Einerseits gefällt es ihnen, dass es keine

Prügelstrafe gibt, andererseits sind sie versucht, den Lehrer wegen seiner

‚Schwachheit’ zu verachten. Das Ergebnis ist oft große Verwirrung und personales

Ungleichgewicht, das sich in mangelnder Lernmotivation und schlechten Leistungen

niederschlagen kann.“ (Ebd.)

3.4 Zusammenfassung

Im Abschnitt 1.2.3 wurden bereits die Probleme zusammengefasst, denen sich

Jugendliche mit Migrationserfahrungen stellen müssen. Es hatten sich dort vier

Bereiche abgezeichnet, die nun auf die spezielle Situation der vietnamesischen

Jugendlichen bezogen werden.

1. Vietnamesische Jugendliche haben, wie alle anderen in ihrem Alter, die

gestellten Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Dabei ist zu beachten, dass in

Vietnam wichtige Werte - Zusammenhalt, Bescheidenheit, Disziplin und

Ähnliche - nicht in allen Fällen den in unserer individualistischen Gesellschaft

geforderten Fähigkeiten und Dispositionen entsprechen. Hier sollen die

Jugendlichen ein stärker auf sich selbst als auf andere ausgerichtetes Ich

entwickeln.

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Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher

49

2. Der Ver lust der Selbstverständlichkeiten, welche die eigene Kultur bietet, ist

in allen Lebensbereichen sichtbar. Die Jugendlichen wechseln vom asiatischen in

den westeuropäischen Kulturkreis und müssen sich hier zurechtfinden. Besondere

Probleme ergeben sich beim Erlernen der Sprache, die als Vermittler der Kultur

und Medium des Kontaktes mit der Umwelt große Bedeutung hat. Weitere

Schwierigkeiten liegen im Bereich der Bildung und Ausbildung, die in Vietnam

anders bewertet werden. Auch die Rolle der Familie und die Definition von

Geschlechterrollen ändern sich. Der Verlust von Freunden und

Familienmitgliedern und der gewohnten Umgebung ist ein schwer zu

verarbeitendes Ereignis. Hinzu kommt der Wechsel des Gesellschaftssystems.

Während Vietnam sich im Wandel vom sozialistischen zum

marktwirtschaftlichen System befindet, ist in Deutschland die soziale

Marktwirtschaft fest etabliert.

3. Die sozialen Ressourcen der migrierten Jugendlichen sind nicht in jedem Fall

ausreichend. Die Rolle der Familie ändert sich, da die Eltern oft mehr

Schwierigkeiten im neuen Umfeld haben als ihre Kinder, und somit in vielen

Bereichen als Ratgeber ausfallen. Gleichzeitig erwarten sie aber weiterhin ein

Befolgen ihrer Anweisungen. Die Jugendlichen müssen unter den gleichaltrigen

Vietnamesen und Jugendlichen anderer Herkunft Freunde finden, die sie

unterstützen.

4. Die Feindlichkeit und Ablehnung, die Vietnamesen erfahren, beruht auf ihrem

fremden Aussehen und auf bestimmten Klischees, die man ihnen zuschreibt.

Natürlich haben alle von der vietnamesischen Zigarettenmafia gehört und davon,

dass man in Asien Hunde isst. Andererseits scheinen in den neuen Bundesländern

Vietnamesen als freundlich und fleißig zu gelten und im Vergleich mit anderen

Gruppen von Ausländern am ehesten als ‚ irgendwie dazugehörend’ empfunden

zu werden.21

Vietnamesen haben also wie alle Jugendlichen mit Wanderungsgeschichte besondere

Probleme und deshalb nicht in allen Bereichen die gleichen Chancen, wie

Einheimische in ihrem Alter. Sie benötigen Unterstützung, um sich in der neuen

Umgebung zurechtzufinden.

21 So ähnlich drückte es Wolfgang Richter im Gespräch aus. (Interview II)

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

50

4 Unterstützung durch soziale Netzwerke

Im Folgenden wird betrachtet, wie ein soziales Netzwerk aussehen sollte, welches

den Jugendlichen bei ihren schwierigen Aufgaben wirkliche Unterstützung

gewährleisten kann. Konkret sollen die Möglichkeiten und Grenzen eines Vereins

dargestellt werden, den man zum Netzwerk vieler (in Rostock lebender)

vietnamesischer Jugendlicher rechnen kann. Dazu wird zunächst die Bedeutung eines

sozialen Netzwerkes für Jugendliche im Allgemeinen beschrieben und kurz die

Stellung eines Vereins, speziell eines Jugendtreffs in diesem Netzwerk skizziert.

Dann wird der Verein Dien Hong vorgestellt.

4.1 Die Bedeutung sozialer Netzwerke

Als soziales Netzwerk versteht man „das Gefüge von sozialen Beziehungen, in das

eine Person einbezogen ist“ (Hurrelmann 1997, S. 240). Hurrelmann stellt fest, dass

eine Person dann besonders gut „mit ungünstigen sozialen Lebensbedingungen,

kritischen Lebensereignissen und andauernden Lebensbelastungen“ fertig wird, wenn

sie sich „ in ein soziales Beziehungsgefüge mit wichtigen Bezugspersonen

eingebunden“ fühlt (ebd.). „Belastende Lebensereignisse und komplizierte

Handlungsanforderungen wirken sich offensichtlich dann besonders wenig auf

Symptome der Auffälligkeit aus, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg ein

hoher Grad von sozialer Unterstützung zur Verfügung steht. Als sehr wichtig erweist

sich die Vielfältigkeit von verschiedenartigen Trägern der sozialen Unterstützung.“

(Hurrelmann 1997, S. 239)

Ein soziales Netzwerk besteht in der Regel aus verschiedenen Formen formeller und

informeller Hilfe. Dabei kann als formelle Unterstützung die Arbeit, welche durch

staatliche oder gemeinnützige Institutionen bzw. kommerzielle Einrichtungen

geleistet wird, bezeichnet werden. Professionelle, die das Beraten und Unterstützen

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

51

erlernt haben, z.B. Lehrer und Mitarbeiter der medizinischen, psychologischen und

sozialen Dienste, stehen dem Einzelnen hier zur Seite.

Informell ist die Unterstützung, die außerhalb dieser Einrichtungen durch Laien

ohne Schulung oder Bezahlung geleistet wird. Besondere Bedeutung in diesem

Bereich kommt der Familie zu. Auch die Verwandtschaft und Nachbarschaft kann

hier genannt werden. Freunde, die verschiedenen Kreisen entstammen

(Klassenkameraden, Mitstreiter im Sport oder anderen Organisationen), sind

ebenfalls von entscheidender Wichtigkeit. Ebenso zählen die vielen

Selbsthilfegruppen in diesen Bereich. In den letzten Jahren wird immer mehr der

Versuch unternommen, diese sogenannten ‚natürlichen’ Netzwerke wieder zu

stärken, da sich formelle Unterstützer immer wieder mit Kosten- und Zeitproblemen

konfrontiert sehen, so dass durch sie allein nicht in allen Fällen eine konkret auf das

Individuum zugeschnittene Hilfe möglich ist. (Vgl. Hurrelmann 1997, S. 241ff.)

Zudem ist die Aufgabe der formellen Unterstützung eher, die Defizite der

informellen Hilfe auszugleichen, nicht sie zu ersetzen.

Die Familie hat in den letzten Jahrzehnten Teile ihrer Unterstützerrolle an andere

Institutionen abgegeben. Die verschiedenen Einrichtungen, welche diese Funktionen

übernommen haben bzw. übernehmen sollen, sind relativ spezialisiert und arbeiten

häufig ohne wirklichen Kontakt miteinander. Ein reger Austausch ist aber nicht nur

wünschenswert, sondern auch notwendig, damit kein Jugendlicher ‚zwischen’ den

verschiedenen Institutionen und ihrer Arbeit ‚hindurch’ und aus dem Netz ‚ fällt’

(Vgl. Hurrelmann 1997, S. 238f.).

Jugendliche bewerten die Hilfe, die sie aus der Familie, speziell von den Müttern,

erfahren, besonders hoch. Mit dem Eintritt ins Jugendalter steigt hingegen der

Stellenwert der Freundinnen und Freunde und die Eltern werden seltener in

Anspruch genommen. Damit nutzen Kinder und Jugendliche hauptsächlich

informelle Unterstützungsleistungen. (Vgl. Hurrelmann 1997, S. 247ff.)

Professionelle Hilfe wird im Vergleich dazu relativ wenig in Anspruch genommen.

Das liegt unter anderem in persönlichen Motiven, wie der Angst vor Offenlegung der

eigenen Probleme, begründet. Aber auch strukturelle Gegebenheiten tragen zu dieser

Situation bei. So sind z.B. in ländlichen Gegenden die Beratungsstellen sehr dünn

gesät. (Vgl. Hurrelmann 1997, S. 249ff.) Dabei ist zu bemerken, dass Jugendclubs

und Freizeitangebote im Vergleich zu Beratungsstellen relativ gut besucht werden.

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

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Maßgebend für die Unterstützung, die ein Netzwerk geben kann, ist seine Struktur,

das heißt, unter anderem die Anzahl der Mitglieder sowie die Intensität und Dauer

der Kontakte zwischen ihnen. Allerdings lässt sich nicht allein daraus auf die

Qualität der Unterstützung schließen. Von Bedeutung sind die Funktionalität des

Netzes in den unterschiedlichen Situationen und das Zusammenspiel der

verschiedenen Unterstützer in einem „koordinierten Unterstützungsnetzwerk“ . (Vgl.

Hurrelmann 1997, S. 240)

Die Unterstützungssysteme sollen den Jugendlichen bei der Bewältigung der

vielfältigen Entwicklungsaufgaben und –probleme helfen. Sie sollen sie befähigen,

sich produktiv mit der Umwelt auseinander zu setzen und dabei eine eigene Identität

zu bilden. „Den Ausgangspunkt müssen diese Maßnahmen deshalb auch bei den

Problemen nehmen, die die Jugendlichen selbst haben“ (Hurrelmann 1997, S. 251).

Präventive Maßnahmen, die dem Jugendlichen ermöglichen, selbst seine Probleme

anzugehen, sind solchen vorzuziehen, die lediglich die Folgen bekämpfen (vgl. ebd.

1997, S. 251ff.).

Zu einem Netzwerk gehören auch Vereine und Jugendtreffs. Sie können auf

verschiedene Weise Kinder und Jugendliche unterstützen. So stellt ein Jugendclub

einen Treffpunkt dar, welcher es ermöglicht, ohne Aufsicht der Eltern gewisse

Freiräume auszuprobieren und sich relativ ungestört in der Peergroup zu bewegen.

Das ist gerade für Jugendliche mit Migrationserfahrungen eine Entlastung in ihrem

Alltag, weil sie sich unter Menschen mit ähnlichen Erfahrungen und Problemen

wissen. Die eigene Kultur zu pflegen und dabei auch Elemente der Aufnahmekultur

zu erproben, kann in einem Jugendtreff möglich werden. Zu einem Verein gehören in

der Regel hauptamtliche Ansprechpartner, die bei Problemen und Sorgen helfen

können. Wenn der in einem Jugendclub mitwirkende Sozialarbeiter (oder jemand mit

einem entsprechenden Berufsbild) nicht nur als ‚Türschließer’ fungiert, kann er in

vielen Fällen ein guter Gesprächspartner sein. Letztendlich ist auch ‚einfach Spaß

haben’ ein Faktor, der einen Verein bzw. einen Jugendtreff für Heranwachsende so

attraktiv macht.

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

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Dien Hong bietet mit seinem Jugendtreff genau diese Möglichkeiten an. Wie seine

Funktion bei der Unterstützung ist, sein soll oder sein könnte wird im Folgenden

untersucht. Dazu werden kurz die Geschichte des Vereins und seine Ziele dargestellt.

In diesem Zusammenhang kommen auch die Ergebnisse der Interviews mit Nguyen

do Thinh, Vereinsvorsitzender und Mitarbeiter bei Dien Hong, und dem

Ausländerbeauftragten der Freien und Hansestadt Rostock, Wolfgang Richter, zur

Sprache. Beide sind Gründungsmitglieder des Vereins und haben die Konzeption mit

erarbeitet.

4.2 Entstehung und Weiterentwicklung des Vereins Dien Hong

Wohl niemand hat die Tage im August 1992 vergessen, an denen das

Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen von Rechtsextremen aus dem ganzen

Bundesgebiet unter Beifall vieler Anwohner belagert und zuletzt in Brand gesetzt

worden war. Unhaltbare Zustände vor der Zentralen Aufnahmestelle für

Asylbewerber (ZAST), die in diesem Gebäude untergebracht war, hatten die

Angriffe, die sich erstmalig in diesem Ausmaße auch gegen ehemalige

Vertragsarbeiter der DDR wandten, ausgelöst. Die im Haus lebenden Vietnamesen

und eine Gruppe mit ihnen sympathisierender Deutscher konnten gerade noch

rechtzeitig vor den Brandsätzen über das Dach fliehen.

Ausgerechnet die Menschen, die soviel Ablehnung und Hass zu spüren bekommen

hatten, überlegten im Nachhinein, was sie im Interesse eines friedlichen

Zusammenlebens und für ihre eigene Zukunft unternehmen könnten. Sie gründeten

im Oktober 1992 den Verein Dien Hong – Gemeinsam unter einem Dach e.V.

Nguyen do Thinh erinnert sich:

„ Die Idee entstand, als wir geflüchtet waren im Schullandheim Niex,

wo das erste Mal nach der Wende (…) viele Vietnamesen Zeit hatten

– wir haben ja kaum andere Möglichkeiten – miteinander zu reden,

und nachdachten, wie wir uns denn selber helfen könnten. Wir haben

gedacht: zu DDR Zeiten hatten wir immer, ob gut oder schlecht,

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

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immerhin eine Außenvertretung, eine Vertretung für Vietnamesen in

Rostock oder im Seehafen. Und das ist seit der Wende weg und das

müssen wir wieder irgendwie auf die Beine stellen. Und deswegen

haben wir uns damals im JAZ22 getroffen. Da waren 67 Vietnamesen

und so ungefähr 10 Deutsche, die den Verein am 26. Oktober `92

gegründet haben.“ (Interview I)

1994 wurde im Sonnenblumenhaus die vietnamesisch-deutsche Begegnungsstätte

eröffnet. Sie sollte zu einem Ort des interkulturellen Austausches und zu einem

Anlaufpunkt für die Vietnamesen in Rostock werden. Besondere Nachfrage

zeichnete sich bei der Beratungstätigkeit ab, die sich über die Hilfe beim Ausfüllen

von Formularen und die Unterstützung bei allen möglichen Problemen bis hin zur

Begleitung bei Behördengängen erstreckt. Der Verein organisierte auch kulturelle

Angebote, wie den allseits beliebten „Blick in den vietnamesischen Kochtopf“ und

verschiedene Feste. Im gleichen Jahr erhielt Dien Hong im Deutschen Bundestag die

Medaille des Internationalen Rates der Christen und Juden.

In den folgenden 3 Jahren führte der Verein das „Modellprojekt zur beruflichen und

sozialen Integration von DDR-Vertragsarbeitern und zur Verbesserung des

Zusammenlebens von Deutschen und Ausländern sowie zur Bekämpfung von

Ausländerfeindlichkeit“ durch, welches im Auftrag des Bundesministeriums für

Arbeit und Sozialordnung (BMA) initiiert wurde.

Eine Dokumentation zur Situation vietnamesischer Migranten konnte 1995 in der

Universität und 1997 im Rathaus gezeigt werden.

Ebenfalls 1997 beschloss der Verein die Öffnung seiner Angebote für alle

Nationalitäten.

1998 begann Dien Hong zwei Projekte, welche sich mit der Beratung und Betreuung

der Migranten und der Förderung ihrer beruflichen Integration beschäftigten. Ab Mai

desselben Jahres finanzierte das Jugendamt der Hansestadt Rostock eine halbe Stelle

für einen Jugendsozialarbeiter im Verein. Im Januar 1999 konnte eine

Kleinstreparaturwerkstatt eröffnet werden.

22 Jugend Alternativ Zentrum

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

55

Im September 1999 zog Dien Hong aus Lichtenhagen in die Waldemarstraße um, die

zentraler gelegen ist. Seitdem teilt sich der Verein die Räumlichkeiten mit

verschiedenen Organisationen unterschiedlicher Nationalitäten, was die

Zusammenarbeit erleichtert. (Vgl. Landeszentrale für politische Bildung 2000, S.

42ff.)

Dien Hong hat sich die Förderung „der Völkerverständigung, internationaler

Gesinnung und der gegenseitigen Akzeptanz von Menschen mit unterschiedlicher

Herkunft, Staatsangehörigkeit oder ethnischer Zugehörigkeit und somit des Abbaus

von Aggression, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit“ zur Aufgabe gemacht (vgl.

Satzung, § 2: Zwecke und Aufgaben des Vereins). Um dies zu ermöglichen, wird das

gegenseitige Kennenlernen der Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen

unterstützt. Die Förderung der Erziehung und Bildung der Migranten ist ebenfalls ein

wichtiges Ziel. Weiterhin bemüht er sich um ihre soziale und berufliche Integration

und die Hilfe zur Selbsthilfe. Wichtig ist zudem die Unterstützung der kulturellen

Identität der Migranten und ethnischen Minderheiten. Nicht zuletzt ist die Förderung

von Jugendlichen ein erklärtes Ziel. (Vgl. ebd.) Nguyen do Thinh nennt zwei

konkrete Aufgaben, die seit der Gründung des Vereins eine große Rolle spielen:

„ Was klar war bei der Gründung: dass wir unbedingt Kontakt zu der

deutschen Bevölkerung aufnehmen wollten einerseits und

andererseits (…) die berufliche Bildung und das setzt ja voraus, dass

man die deutsche Sprache beherrschen muss, denn viele - 99% - sind

entlassen worden aus dem Hafen und berufliche Anerkennung oder

überhaupt einen Beruf haben die meisten nicht. Und wenn sie in den

Arbeitsmarkt reinkommen wollen, müssen sie einen Beruf haben und

das setzt voraus, dass sie die deutsche Sprache beherrschen. Und

das waren die beiden großen Zielsetzungen damals, die wir bis heute

durchgesetzt haben, nur mit einer kleinen Veränderung. Zunächst

haben wir uns ‚deutsch-vietnamesisch’ genannt und schlossen

andere Migranten aus - das ist `97 geändert worden.“ (Interview I)

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

56

Die Situation der Vietnamesen hat sich in den letzten Jahren geändert und damit sind

auch die Aufgaben des Vereins andere geworden. Bis 1997 spielte der unsichere

Aufenthaltsstatus die größte Rolle für die Migranten. Seit seiner ist Klärung die

Suche nach einer sinnvollen Gestaltung des Lebens hier in Deutschland für die

vietnamesischen Familien wichtiger geworden. Dien Hong passt sich dieser

Entwicklung an. Die in Rostock lebenden Migranten sind inzwischen zum großen

Teil mit ihren Familien vereint. Daraus ergeben sich neue Fragen, die der Verein zu

beantworten sucht, indem er entsprechende Informationen (unter anderem über das

deutsche Schulsystem) anbietet. Auch Kenntnisse über die Altersvorsorge oder zum

selbstständigen Unternehmertum sind für viele interessant und notwendig.

Gerade die vietnamesischen Frauen nutzen die Angebote verstärkt. Für sie werden

eigens berufsorientierte Beratungen und Informationsabende mit verschiedenen

anderen Einrichtungen, z.B. den Sozial- und Arbeitsämtern organisiert.

Einzelberatungen, die Vermittlung von Bildungs- und Beschäftigungsangeboten und

Alphabetisierungs- und Sprachkurse gehören ebenfalls zum Angebot des Vereins.

(Vgl. Landeszentrale für politische Bildung 2000, S. 47ff.)

Film-, Karaoke-, Lieder- und Diskussionsabende werden von den Vietnamesen nicht

mehr so gut besucht wie früher. Das liegt unter anderem an der größeren räumlichen

Entfernung zum Treff und an der Geringschätzung kostenloser Angebote. „Wer es

sich leisten kann, bezahlt aus Gründen der gesellschaftlichen Anerkennung lieber

dafür, wenn er zu einem Karaoke-Abend geht“ (Landeszentrale für politische

Bildung 2000, S. 48). Nach und nach ergreifen auch andere Gruppen von der

Begegnungsstätte Besitz. Diese lebt nicht zuletzt davon, dass sie auch immer

Kontakte zur deutschen und andersstämmigen Bevölkerung pflegt. Unter anderem

wird die vietnamesische Kultur auf verschiedenen Veranstaltungen, wie z.B. jüngst

auf dem KTV23-Fest, präsentiert und so anderen Menschen zugänglicher gemacht.

Der Ausländerbeauftragte der Hansestadt Rostock, Wolfgang Richter, ist erfreut,

dass Dien Hong in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Er empfindet den

Verein als sehr wichtig für die in Rostock lebenden Vietnamesen, die dort mit

Beratern in der eigenen Muttersprache kommunizieren können. Dien Hong pflegt

23 Kröpeliner-Tor-Vorstadt, Stadtteil in Rostock

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

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zudem die vietnamesische Identität durch Kulturangebote. Zwar existiert natürlich

neben dem Verein auch ein privates Netz der Unterstützung zwischen den

Vietnamesen, aber Dien Hong hat mit seiner Arbeit immer wieder wichtige Impulse

gesetzt.

Als positiv bewertet Richter die Öffnung der Angebote des Vereins über den Kreis

der Vietnamesen hinaus. Bei einem Anteil an Ausländern von nur 1,9% der

Wohnbevölkerung in Rostock und nur etwa 800 Vietnamesen sei es erstaunlich, wie

präsent der Verein inzwischen in Zeitungen und im Internet, auf verschiedenen

Veranstaltungen und auch im Bewusstsein vieler Menschen ist. (Vgl. Interview II)

Nguyen do Thinh sieht die Entwicklung in den letzten Jahren so:

„ Inzwischen sind wir ja auch kompetente Partner für viele

Institutionen und Ämter geworden. (…) Also für Vietnamesen ist

eben Dien Hong zuständig. Und die sind ja auch kompetent da und

die müssen eben die Lösung finden für diese Leute. Und das ist nicht

nur in Rostock so, sondern ja auch sag ich mal aus Stuttgart rufen

Leute, also Vietnamesen an, um einen Rat von uns zu erhalten. (…)

Also die Qualität der Arbeit des Vereins wird ja schon anerkannt.

Und das drückt sich auch vielleicht in Zahlen aus, dass wir hier von

null bezahlten Mitarbeitern heute auf die Zahl zehn bezahlte

Mitarbeiter gewachsen sind. Die Stadt, die Kommune, unterstützt

das, finanziert auch zum größten Teil, das Land. Also ich glaub Dien

Hong hat sich schon einen Namen gemacht, nicht nur unter

deutschen Behörden, sondern ja auch bei der vietnamesischen

Botschaft.“ (Interview I)

4.3 Der Jugendtreff des Vereins

Von besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit sind die Angebote, die Dien

Hong seit seiner Gründung für Kinder und Jugendliche unterbreitet. Die zum größten

Teil in den letzten Jahren nachgereisten Jugendlichen benötigen in ihrer Situation

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

58

viel Unterstützung. Aber auch die bereits hier geborenen Kinder ehemaliger

Vertragsarbeiter haben es

nicht immer leicht und

können Hilfe gut

gebrauchen.

Eine Freizeitgestaltung der

vietnamesischen

Jugendlichen miteinander

und mit Jugendlichen

verschiedener anderer

Nationalitäten und Kulturen

soll im Jugendtreff und

durch verschiedenen Fahrten und gemeinsame Unternehmungen möglich werden.

Seit Anfang des Jahres 2000 befindet sich der Jugendtreff in einem

Containergebäude, das hinter dem Haus in der Waldemarstraße liegt, in welches der

Verein und einige andere Organisationen gemeinsam eingezogen sind. Der

Jugendtreff bietet die Möglichkeit, gemeinsam Billard, Tischtennis oder Kicker zu

spielen, die Kleinstreparaturwerkstatt zu nutzen, vietnamesische Jugendzeitschriften

zu lesen, Musik zu hören, Gitarre zu üben, zu nähen oder einfach miteinander zu

erzählen. Als Ansprechpartner stehen Nguyen do Thinh, der mit einer halben Stelle

im Jugendtreff arbeitet und eine junge Frau zur

Verfügung, die über eine ABM-Stelle im Verein

mitwirkt. Dabei ist zu beobachten, dass die

vietnamesischen Jugendlichen sich mit den

meisten Problemen und Fragen an den

Sozialarbeiter wenden, mit dem sie in ihrer

Muttersprache kommunizieren können.

Verschiedene Ausflüge der vietnamesischen

Jugendlichen (wie kürzlich die Fahrt nach

Dresden) oder auch Treffen mit anderen

Jugendlichen (z.B. im Mai auf dem Darß) bieten die Möglichkeit, dem Alltag einmal

den Rücken zu kehren und sich fast ausschließlich in der Peergroup zu bewegen.

Im K inder- und Jugendtreff Foto: Michael Hugo

Foto: Cao Phuong, Huyen

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

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In letzter Zeit wird der Jugendtreff zunehmend auch von deutschen und Jugendlichen

anderer Herkunft genutzt. Dies liegt im Interesse des Vereins, der sich die

Begegnung der verschiedenen Kulturen zum Ziel

gesetzt hat. Die vietnamesischen Jugendlichen

müssen sich, so hat es den Anschein, erst noch daran

gewöhnen, dass ‚ ihr’ Revier auch von anderen in

Anspruch genommen wird. Sie bewegen sich

hauptsächlich in ihrer Clique.

„ Die vietnamesischen Jugendlichen, die her kommen mit ihren

Cliquen, die leben irgendwie in ihrer eigenen Welt weiter, weil sie

sich ja miteinander in ihrer Muttersprache unterhalten können und

da wird ja auch die Tradition so weiter gepflegt, die sie in Vietnam

erlebt haben. Sie grenzen sich ein bisschen aus. Es gibt andere, die

nicht zu dieser Clique gehört und die wegen ihrem Wohnort

zwangsläufig mit deutschen Jugendlichen befreundet sind, und die

lernen diese deutsche Kultur sehr schnell. Ich kenne einen aus

Dierkow, der macht allen möglichen Schiet, was die Vietnamesen in

dieser Clique eben nicht machen – Klauen, Lügen und so was, das

machen sie nicht in dieser Clique. Es ist aber vielleicht eine

verpasste Chance für diese Clique, dass die – ja, dass sie einiges

nicht lernen können. Also ich bin der Meinung, man sollte alles

schon mal wissen oder Kenntnis davon nehmen, man muss das ja

nicht machen. Und das ist vielleicht schade in dieser Clique.“

(Interview I)

Die Eltern der Jugendlichen haben an den Verein bestimmte Erwartungen. Sie

wünschen, dass ihre Kinder nicht nur zum Treffen mit Freunden und Jugendlichen

anderer Herkunft zu Dien Hong kommen. Sie sollen viel lernen und sich in der neuen

Umgebung und Kultur besser zurechtfinden, als die Erwachsenen selbst es tun. Auf

einem gemeinsamen Grillabend mit Jugendlichen und Eltern machte ein Vater (und

er war mit dieser Auffassung sicherlich nicht allein) deutlich, dass er seine Kinder

nicht „nur zum Spielen“ zu Dien Hong schicken würde, sondern erwartet, dass ihnen

dort zumindest eine Stunde am Tag Unterricht erteilt wird.

Foto: Dien Hong

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

60

Dies spiegelt sich natürlich im Verhalten der Kinder und Jugendlichen wider, z.B. in

der Tatsache, dass die vietnamesischen Jugendlichen nur freitags in den Treff

kommen, wenn in einem Raum im Gebäude Nachhilfeunterricht in Englisch erteilt

wird. Sie nehmen an dem einstündigen Unterricht gerne teil (jedenfalls hat es den

Anschein), sind aber auch froh, wenn sie nach einer Stunde den Raum verlassen und

in den ‚Container’ gehen können, um sich dort dem Tischtennis, Billard oder Kicker

zu widmen.

„ Andererseits ist da der Jugendtreff. Früher war er in Lichtenhagen

ja nur im kleinen Keller mit wenigen Möglichkeiten. Hier habe wir

einen größeren Raum, aber … – ja, der Besuch von vietnamesischen

Jugendlichen beschränkt sich nur noch auf bestimmte

Bildungsangebote oder Weiterbildungsangebote, die wir machen

können, was ja nicht unserem Wunsch oder unserer Vorstellung

entspricht, dass eine echte Begegnung oder nicht echte, sondern

ganz normale, alltägliche Begegnung zwischen Deutschen und

Ausländern stattfindet. (…) In der Woche kommt eine deutsche

Clique hier rein. Und die vietnamesischen Jugendlichen die kommen

meistens nur Freitag zu bestimmten Angeboten und deswegen ist ja

auch eine Begegnung da. Aber man kennt gegenseitig die Gesichter

und mehr ist da nicht passiert.“ (Interview I)

Ein weiterer Punkt zeigte sich bei Gesprächen mit den Jugendlichen als ebenfalls

ausschlaggebend für das seltene Aufsuchen des Treffs: Sie wohnen zum großen Teil

im Nordwesten der Stadt, in den großen Neubaugebieten. Somit ist der Anfahrtsweg

seit dem Umzug des Vereins aus Lichtenhagen in die Innenstadt weiter geworden.

Auch die Bemerkung, dass sie zu wenig Zeit hätten, um in den Treff zu kommen,

habe ich immer wieder gehört.

Für die bereits hier geborenen Kinder und Jugendlichen finanzieren die Eltern selbst

seit 1996 Vietnamesischunterricht, damit sie ihre Herkunft nicht vergessen.

Es existiert auch eine mehr oder weniger feste Fußballmannschaft, mit der die

Jungen an verschiedenen Turnieren in Rostock und Umgebung teilnehmen. Zu

unterschiedlichen Anlässen werden von den Jugendlichen traditionelle Tänze, wie

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

61

der Drachen-, der Bambus- und

der Fächertanz eingeübt und

aufgeführt. Auch die

vietnamesische Kampfkunst

VoDao24 wird trainiert.

Das gegenseitige Kennenlernen

verschiedener Kulturen

(besonders natürlich der

vietnamesischen und der

deutschen), welches eigentlich mit dem Jugendtreff bezweckt wird, gelingt im

Moment nicht. Jede der Gruppen bildet eine eigene Clique, die sich hauptsächlich

mit sich selbst beschäftigt. Es gibt auch Vietnamesen, die von der Gruppe der

eigenen Landsleute ausgeschlossen werden. Dabei handelt es sich oft um

Jugendliche, die schon länger in Deutschland sind und sich bereits recht gut in

unserer Kultur zurechtfinden.

Die Deutschen, die den Jugendtreff regelmäßig aufsuchen, sind nach Einschätzung

des Sozialarbeiters zum großen Teil Jugendliche mit verschiedenen Problemen, z.B.

innerhalb der Familie. Bei den vietnamesischen Jugendlichen seien dagegen die

Familien in Ordnung. Ihr Problem ist eher die fehlende Sprachkompetenz und das

Unwissen über die deutsche Kultur an sich.

Eine Chance sieht Nguyen do Thinh für den gegenseitigen Abbau von Vorurteilen:

Die deutschen Jugendlichen, die in den Treff kommen, sind meist noch recht jung.

Ihre Einstellungen zu Ausländern lassen sich noch durch das Kennenlernen oder das

bloße Nebeneinander im gleichen Raum beeinflussen. (Vgl. Interview I)

24 Kampfkunstsport, vietnamesische Variante des Kung Fu, entstanden im 12./ 13. Jahrhundert. Die

Übersetzung lautet „Der Weg des Kampfsportes“. VoDao ist eine Kampfkunst, die sowohlmeditative als auch kämpferische Elemente vereinigt.

Die eigene Fußballmannschaft Foto: Dien Hong

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Unterstützung durch soziale Netzwerke

62

Es ergeben sich aus den aufgezeigten Punkten und Gesprächen25 mit den

Jugendlichen folgende Hypothesen:

1. Die Jugendlichen verstehen den Verein hauptsächlich als einen möglichen

Treffpunkt. Sie wollen ihre (vietnamesischen) Freunde sehen, wozu hier

Möglichkeiten gegeben sind. Das Ziel des Vereins, für Menschen aus

verschiedenen Kulturkreisen einen Ort des Austausches und der Begegnung

zu schaffen, ist ihnen nicht bewusst oder interessiert sie nicht.

2. Die Jugendlichen nehmen in erster Linie Bildungsangebote wahr. Dies ist in

der vietnamesischen Sicht auf Bildung und Ausbildung begründet. Die Eltern

haben eigene Erwartungen auf ihre Kinder übertragen und die community

‚wacht’ über die Erfüllungen dieser Erwartungen.

3. Die räumliche Entfernung zum Verein erschwert den Jugendlichen die

Situation. Sie müssen mit dem Rad oder der S-Bahn anreisen, was besonders

im Winter schwierig ist und vermutlich von den Eltern nicht so gerne gesehen

wird

25 Gemeint sind hier nicht die Interviews, sondern informelle Gespräche im Jugendtreff.

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Methodisches Vorgehen

63

5 Methodisches Vorgehen

Für die vorliegende Arbeit kam nur eine qualitative Erhebung in Frage. Zum einen

war die Anzahl vietnamesischer Jugendlicher, die für eine Befragung zur Verfügung

stand, für eine quantitativ repräsentative Methode zu klein. Zum anderen waren nicht

genügend Informationen für eine Untersuchung per Fragebogen vorhanden. Und

schließlich führt „ jede Standardisierung, die für Exaktheit und Kontrollierbarkeit

wichtig ist, (…) zu einer Reduktion der Erkenntnismöglichkeiten“ (Gudjons 1995, S.

63).

Da über die vietnamesischen Jugendlichen, die als Kinder der DDR-Vertragsarbeiter

durch die Familienzusammenführung nach Deutschland gekommen sind, wenig

bekannt ist, sollte möglichst viel über sie erfahren werden. Die Entscheidung, die zu

treffen war, bestand in der Wahl einer bestimmten qualitativen Methode.

Merkens unterscheidet zwei Arten qualitativer Methoden. Die theoriegeleitete

Untersuchung verfolgt eine bestimmte Fragestellung und trifft wesentliche

Entscheidungen (z.B. die über die Stichprobe) bereits vor der Untersuchung. Die

exploratorische Untersuchung (grounded theory) hingegen kann eine genaue

Fragestellung zu Beginn der Untersuchung noch nicht formulieren. Sie setzt voraus,

dass alle theoretischen Annahmen über den Forschungsgegenstand erst im

Forschungsprozess generiert werden. Am Beginn der Untersuchung steht hier die

Herausforderung, sich zunächst mit dem Feld der Forschung vertraut zu machen.

(Vgl. Merkens 1997, S. 97ff.)

Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich gewissermaßen um eine

Mischform aus den beiden Vorgehensweisen. Die Kenntnisse über das

Forschungsfeld mussten erst erarbeitet werden. Dies war noch lange nicht

abgeschlossen, als das Thema für die Magisterarbeit bereits feststand. Das bedeutet:

Die Untersuchung verfolgte eine bestimmte Fragestellung, obwohl die theoretischen

Grundlagen erst gelegt werden mussten.26

26 Dies ist wiederum der Grund für die Erweiterung der Fragestellung (siehe Vorwort).

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Methodisches Vorgehen

64

5.1 Zum Erhebungsverfahren

Narrative Interviews ohne Fragebogen sind die beste Möglichkeit, möglichst viel

über das Leben von Menschen und deren Gefühle, Einstellungen und Erwartungen

herauszufinden. Besonders in frühen Phasen einer Untersuchung, wenn der

Gegenstand noch nicht in allen Dimensionen klar umrissen ist, bietet sich diese Form

der Befragung an. (Vgl. Schnell/ Hill/ Esser 1995, S. 199ff.)

Probleme treten bei mangelnder Sprachkompetenz der Probanden auf. Es ist schwer,

jemanden zum Erzählen in einer Sprache zu animieren, welche ihm nicht leicht

fällt.27 Auch sind unstrukturierte Interviews in keiner Weise vergleichbar. Die

Richtungen, welche die einzelnen Interviews nehmen, werden in diesem Fall von den

Befragten selbst bestimmt. Auch wenn der Inhalt der Gespräche der gleiche ist,

ändern sich doch die Frageformulierung jedes Mal. Dadurch kann oft nicht eindeutig

gezeigt werden, ob unterschiedliche Antworten aus der variierten Fragestellung oder

tatsächlichen Unterschieden herrühren. (Vgl. ebd.)

Um dies zu verhindern, waren im Fall der vietnamesischen Jugendlichen

Leitfadengespräche sinnvoll. Sie garantieren, dass forschungsrelevante Fragen

wirklich gestellt werden und die Interviews wenigstens einigermaßen vergleichbar

sind. Zusätzliche biographische Berichte waren für das bessere Verständnis der

Situation der Jugendlichen natürlich willkommen.

Zu bestimmten Themenkomplexen, die mit allen Jugendlichen diskutiert werden

sollten, entwickelte ich einige Schlüsselfragen, die im Gespräch in einer bestimmten

Formulierung angesprochen wurden.28 Die Reihenfolge der Themen und Fragen und

die Formulierung zusätzlicher Fragestellungen variierten je nach Verlauf des

Gesprächs.

27 Mit einem Übersetzer wollte ich nur ungern arbeiten. Ich hatte das Gefühl, die Jugendlichen würden

in Deutsch Sachverhalte und Emotionen berichten, für die ihnen im Vietnamesischen „die Wortefehlen“. Mit der Sprache sind auch immer bestimmte Traditionen und Tabus verknüpft, die in eineranderen Sprache keine Rolle spielen.

28 Allerdings musste ich des Öfteren Fragestellungen in anderer Formulierung wiederholen oder durchzusätzliche Ausführungen erläutern, was durch die sprachlichen Schwierigkeiten der Interviewtenbedingt war.

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Methodisches Vorgehen

65

Wo sich Einzelgespräche aus sprachlichen Gründen als nicht möglich erwiesen,

fungierten Jugendliche mit guten sprachlichen Kenntnissen als ‚mitinterviewte

Dolmetscher’ . Ein auf diese Weise geführtes Gespräch verlief als Gruppeninterview.

5.1.1 Probleme und mögliche Fehlerquellen

„Bei mündlicher Befragung (…) muss beachtet werden, dass der Durchführende die

soziale Situation mit konstituiert“ (Roth 1991, S. 51).

Interviews sind immer reaktive Messverfahren. Interviewer und Befragter reagieren

in einer sozialen Situation aufeinander. Die Qualität der erhobenen Daten ist daher

abhängig von den Fragen selbst, vom Interviewer und vom Befragten. (Vgl. Schnell/

Hill/ Esser 1995, S. 303) Es kommt zu bestimmten Messfehlern oder

Datenerhebungsartefakten.

Versuchsleitereffekte entstehen z.B. durch äußere Merkmale des Interviewers, wie

Alter, Kleidung oder Geschlecht. Auch unbewusst kommunikativ übertragene

Signale wirken auf den Befragten ein. So kann der Tonfall, in dem eine Frage gestellt

wird, den Interviewten beeinflussen, ebenso eine bestimmte Mimik und Gestik

(Kopfschütteln, Nicken, …). Besonders stark ist aber die Einflussnahme durch den

Versuchsleiter, wenn dieser unterschwellig bestimmte Erwartungen an die Antworten

des Gegenüber stellt. Es ist möglich, dass er durch die Kenntnis der

Forschungsabsicht ungewollt auf eine Bestätigung der Hypothesen hinlenkt.

Wahrnehmungsfehler sind ein weiterer Punkt, der die Objektivität in einem Interview

erschwert. Auch gibt es bestimmte Merkmale eines Menschen, die zu Rückschlüssen

auf seine anderen Eigenschaften verleiten und ein unbefangenes Gegenübertreten

verhindern (z.B. wird „sympathisch“ oftmals gleichgesetzt mit „ intelligent“ ). (Vgl.

Henecka 1994, S. 160ff.)

Ein weiteres Problem besteht, wenn ein Forscher in irgendeiner Weise in die zu

untersuchende Gruppe eingebunden ist. Zum einen verändert er in diesem Fall

bestimmte Umstände selber mit. Zum anderen kann die Zuverlässigkeit seiner

Beobachtungen durch eine zu hohe Identifikation mit dem Untersuchungsgegenstand

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Methodisches Vorgehen

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leiden. (Vgl. ebd., S. 165ff.) Allerdings ist eine Vertrautheit mit der zu

untersuchenden Gruppe Voraussetzung für ein Gelingen der Forschung.

Bei Leitfadeninterviews besteht die Gefahr, dass bestimmte Fragen einfach

vergessen werden, da ihre Reihenfolge nicht festgelegt ist und das Gespräch eher

‚natürlich’ verläuft (vgl. Oswald 1997, S. 79).

In vielen Fällen wird aus einem Interview ein verkürztes Frage-Antwort-Spiel. Die

Gefahr hierfür ist besonders dann gegeben, wenn der Forscher Zeitdruck verspürt,

sein Interesse an verschiedenen Sachverhalten aber so groß ist, dass er die Qualität

der Informationen zu Gunsten der Quantität zurückstellt. Oftmals werden dann

Fragen so formuliert, dass sie zu kurzen Antworten auffordern. Äußerungen des

Interviewten, die in eine andere als die vom Versuchsleiter gewünschte Richtung

gehen, aber sehr aufschlussreich wären, können dann leicht überhört oder als

irrelevant abgetan werden. (Vgl. Friebertshäuser 1997, S. 377)

Die Art und Weise der Fragestellung beeinflusst den Interviewten ebenfalls. Fragen

müssen kurz, konkret und einfach formuliert sein und dürfen keine bestimmten

Antworten provozieren (Suggestivfragen). Doppelte Negationen in einer Frage

erschweren das Beantworten, ebenso hypothetische Fragestellungen. Alle

Antwortmöglichkeiten müssen in der Frage enthalten sein.

Gründe für Handlungen oder Ansichten zu erfahren, ist oftmals schwierig. Dies gilt

besonders dann, wenn die Befragten selbst sich noch keine Gedanken zum

angesprochenen Problem gemacht haben oder sich noch nicht darüber im Klaren

sind. Fragen, auf die vom Interviewten mit „weiß ich nicht“ reagiert wird, können

Sachverhalte ansprechen, mit denen sich tatsächlich noch nicht beschäftigt wurde.

Ebenso ist es möglich, dass jemand über die betreffenden Dinge nicht sprechen will

oder kann. Auch retrospektive Fragen sind häufig alles andere als leicht zu

beantworten. Weiterhin spielt die Reihenfolge der behandelten Themen eine wichtige

Rolle. (Vgl. Schnell/ Hill/ Esser 1995, S. 312ff. und S. 328)

Durch die befragte Person treten ebenfalls Schwierigkeiten auf. Häufig orientieren

die Interviewten ihre Verhaltens- und Meinungsäußerungen an den vermuteten

Erwartungen und Wünschen des Versuchsleiters oder Auftraggebers. Auch das bloße

Gefühl, Versuchsperson zu sein und Aufmerksamkeit zu haben, verändert das

Verhalten der Menschen. (Vgl. Henecka 1994, S. 160ff.) Damit können nicht mehr

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Methodisches Vorgehen

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ihre gewöhnlichen und alltäglichen Reaktionen und Verhaltensweisen gemessen

werden.

Antwortverzerrungen entstehen z.B. durch die Verweigerung von Antworten, das

Abgeben von ‚weiß-nicht-Antworten’ oder auch das Reagieren auf eine Frage, zu

welcher der Interviewte eigentlich gar keine Meinung hat (vgl. Schnell/ Hill/ Esser

1995, S. 328). Häufig werden durch die Interviewsituation selbst die eigenen

Ansichten verändert (vgl. Roth 1991, S. 60f.).

Natürlich reagiert der Befragte auch auf die Anwesenheit Dritter oder auf ein

Tonband (vgl. Schnell/ Hill/ Esser 1995, S. 328). Die Angst davor, dass erhobene

Daten in Hände gelangen, die sie nicht erhalten sollen, oder dass Antworten einer

bestimmten Person zuschreibbar bleiben, hält Befragte vielfach von offenen

Stellungnahmen ab (vgl. ebd., S. 176ff.).

Bei einem Gruppeninterview verzerrt nicht nur die gegenseitige Beeinflussung von

Interviewer und Befragtem das Bild, sondern auch die Tatsache, dass man mit

weiteren Mitgliedern der Gruppe kommuniziert. Das kann bewirken, das der einzelne

Befragte ganz anders antwortet, als wenn er mit dem Interviewer allein wäre, weil er

sich vor den anderen nicht offen äußern kann. Die Gruppenmitglieder üben

gegenseitig eine Art „Kontrolle“ aus und beeinflussen wechselseitig ihre Meinungen.

Es ist auch möglich, dass sich ein Einzelner zum Sprecher macht (oder machen lässt)

und die anderen seinen Aussagen einfach zustimmen. Gerade bei fremdsprachigen

Gruppen kann statt einer puren Übersetzung der Meinungen eine Wertung oder

Deutung erfolgen, die dem Interviewer ein falsches Bild zeigt.

Es gibt keine Sprache, die von allen gleich gut beherrscht wird und deren Worte bei

allen die gleichen Assoziationen hervorrufen. Das wird in jeder alltäglichen

Kommunikation deutlich und ist aus vielen Untersuchungen bekannt, besonders

wenn Interviewer und Befragter aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten

oder Kreisen stammen. (Vgl. Henecka 1994, S. 176ff.) Viel schwieriger ist natürlich

ein Gespräch zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen, wenn der eine

seine vertraute Muttersprache benutzt und der andere sich in der Zweitsprache

ausdrücken muss. Gerade das Beschreiben von Gefühlen und Befindlichkeiten,

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Methodisches Vorgehen

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welches schon in der Heimatsprache oft schwer wird, ist in der Zweitsprache ein

großes Problem.

Leitfadengespräche und biographische Interviews stellen an den Interviewer und an

die Bereitschaft des Befragten zur Mitarbeit hohe Anforderungen. Sie sind relativ

zeitaufwendig, schwer auszuwerten und in ihren Ergebnissen nur wenig vergleichbar.

Spätestens die Transkription der Gesprächsnotizen oder Tonbandmitschnitte

verwandelt die Sätze und Aussage in „situationsunabhängige Daten“ . Sie werden aus

dem Zusammenhang gerissen und bewertet, was die komplexe Gesprächssituation

weitestgehend reduziert. (Vgl. Schnell/ Hill/ Esser 1995, S. 352ff.) Auch vergeht

zwischen dem Interview und seiner Auswertung oft eine längere Zeit, in der sich

Einstellungen des Interviewten und des Gesprächsleiters bereits verändert haben

können (vgl. Roth 1991, S. 60f.).

Durch Interviews können letztlich nur Aussagen und Meinungen und nicht das

tatsächliche Verhalten abgefragt werden. Das übliche Frage- und Antwortspiel

erfasst die Komplexität der Wirklichkeit kaum.

5.1.2 Stichprobe

Der Kern der Gruppe von Vietnamesen, die im Rahmen dieser Magisterarbeit näher

betrachtet wird, besteht aus etwa 15 Jugendlichen. Sie treffen29 sich regelmäßig bei

Dien Hong und bildeten somit die für mich erreichbaren Interviewpartner.

Dazu muss gesagt werden, dass auch Jugendliche, die nicht dieser Clique angehören,

den Verein (für den Unterricht) aufsuchen. Eines der befragten Mädchen ist in dieser

Situation. Ein nicht in die Gruppe eingebundener Junge, den ich ebenfalls

interviewen wollte, sagte im letzten Augenblick das Gespräch ab. Dies kann darin

begründet sein, dass er keinen richtigen Anschluss an die Gruppe gefunden hat. Er ist

bereits seit 6 Jahren (und damit länger als die Befragten) in Deutschland und hat sich

29 bzw. trafen sich – die Besuche der Jugendlichen im Treff haben in den letzten Wochen stark

abgenommen (siehe 6.3.5)

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Methodisches Vorgehen

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vermutlich schon ganz anders eingelebt. Dies scheint auch ein Grund zu sein,

weshalb ihn die anderen Jugendlichen nicht wirklich annehmen.

Die Clique stellte also meine Ansprechpartner. Aus verschiedenen Gründen (sie sind

in Abschnitt 6.1 erläutert), habe ich diese Jugendlichen nicht alle befragen können.

Acht von ihnen waren aber zu Gesprächen bereit und ließen sich interviewen.30

Bei einer qualitativen Untersuchung kann die statistische Repräsentativität keine oder

nur eine geringe Rolle spielen. Wichtiger ist die inhaltliche Repräsentation, das

bedeutet, dass die Stichprobe eine angemessene Zusammenstellung aufweisen muss.

Der Kern des zu untersuchenden Feldes muss ebenso berücksichtigt sein, wie

abweichende Vertreter. (Vgl. Mertens 1997, S. 100f.) Die zur Clique gehörenden

Jugendlichen sind meines Erachtens nach ausreichend erfasst worden. Diejenigen,

welche nicht fest in die befragte Gruppe eingebunden sind, waren für mich nicht

erreichbar.31 Positiv zu bewerten ist die Tatsache, dass sich unter den Befragten das

oben erwähnte Mädchen befindet, das nicht wirklich zum ‚Kern’ gehört und sich

zum Zeitpunkt der Befragung erst 4 Monate in Deutschland aufhielt.

5.2 Besonderheiten bei der Befragung von Vietnamesen

Um nicht ganz ohne Vorkenntnisse in eine Befragungen zu gehen, ist es sinnvoll,

seine Aufmerksamkeit bestimmten Erfahrungen zu widmen, die andere mit dem

‚Forschungsgegenstand’ gemacht haben. Verschiedene Forscher, die Vietnamesen

untersucht haben, berichten z.B. von einer starken Zurückhaltung der Befragten

während der Gespräche. „Zu den schriftlichen und mündlichen Kontakten mit den

angesprochenen Vietnamesen ist zu bemerken, dass trotz aller Vertraulichkeit und

Anonymität sowie der Benutzung der vietnamesischen Sprache Scheu und Hemmung

bei den PartnerInnen nur schwer zu überwinden waren“ (Nguyen 1991, S. 257).

30 So lange die Verabredungen für Interviews noch unverbindlich waren, erklärten sich viele

Jugendliche dazu bereit. Vielleicht liegt die Begründung dafür in der vietnamesischen Mentalitätbegründet: ein klares ‚Nein’ bekommt man selten zu hören.

31 Jedenfalls nicht im vorgegebenen Zeitraum, es hätte langer Phasen der Beziehungsaufnahme und –pflege bedurft.

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Methodisches Vorgehen

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Ähnliches berichtet auch Nguyen-thi von Gesprächen mit vietnamesischen

Jugendlichen und deren Eltern. Besonders auffällig erscheint ihr die Tatsache, dass

alle bemüht waren, nach außen hin ein positives Bild zu zeigen, ihr „Gesicht zu

wahren“ und die Kontrolle über die gegebenen Informationen zu behalten. Wichtig

für den Interviewer ist nach Nguyen-thi die Kenntnis der Umgangsformen der

Vietnamesen untereinander. Nonverbale Signale müssen während eines Interviews

schnell und richtig gedeutet werden. (Nguyen-thi 1998, S. 155ff.)

Nguyen-thi kannte die Befragten bereits vor den Interviews und sprach auch ihre

Sprache. Trotzdem zeigten sich die meisten der Jugendlichen scheu und

zurückhaltend der Erwachsenen gegenüber, was man unter anderem als aus der

vietnamesischen Ansicht über die Hierarchie des Alters resultierend deuten kann.

Auch die Aufzeichnung der Gespräche auf Tonband gestaltete sich als nicht einfach.

(Vgl. ebd.)

Bereits aus der Literatur ist also ersichtlich, dass Gespräche mit Vietnamesen (wie

mit anderen Menschen natürlich auch, besonders mit solchen aus fremden

Kulturkreisen) nicht ganz ohne Schwierigkeiten sind.

Die Situation, in der die Gespräche für diese Magisterarbeit entstanden, sah

folgendermaßen aus: Während der Vorbereitungszeit der Interviews verbesserte sich

der Kontakt zu den Jugendlichen immer mehr. Sie kannten mich nach einem guten

halben Jahr durch den Unterricht, meine Teilnahme an verschiedenen Festen,

gemeinsame ‚Singestunden’ und Gespräche und das Interesse an den wichtigen

Fußballspielen der Jungs schon recht gut. Für sie war aus der „Frau …? – Wie heißen

sie noch mal?“ einfach „Ulli“ geworden.

Zum anderen bin ich eine Deutsche. Das mag sprachlich eine Hürde sein und

Probleme bei der (nonverbalen) Kommunikation mit sich bringen, hat aber den

Vorteil, dass ich nicht als zur community gehörend gelte und man mit mir bestimmte

Dinge offener besprechen kann. Die Tatsache, dass ich Interesse an den Jugendlichen

und ihrer Kultur zeigte und sie in den Mittelpunkt meiner Magisterarbeit stellte, war

mit Sicherheit auch von Bedeutung. Die Gruppe hatte das Gefühl, wichtig zu sein

und mir helfen zu können, eine gute Arbeit zu schreiben, wenn sie sich zu den

Interviews bereit erklärten. Das Gefühl, dass ich irgendwie zu Dien Hong gehöre,

war vielleicht für die Fragen über den Verein nicht besonders günstig, nach der

langen Zeit dort jedoch kaum vermeidbar.

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Methodisches Vorgehen

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5.3 Hypothesen, Fragestellung, Operationalisisierung

Das Thema der Arbeit lautet „Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer

Jugendlicher an Dien Hong, einen vietnamesisch-deutschen Verein in Rostock und

seinen Jugendtreff“ . Nach den aus der Theorie gewonnenen Einsichten und der

Situation, wie sie bereits im Vorwort beschrieben wurde, wird nun die Fragestellung

für den Forschungsteil dargelegt.

Zum einen lautet die Frage natürlich: Welche Einstellungen und Erwartungen haben

vietnamesische Jugendliche an Dien Hong? Zusätzlich muss aber auch nach der

Lebenssituation der vietnamesischen Jugendlichen allgemein gefragt werden.32 Die

erweiterte Forschungsfrage ist deshalb:

Wie leben vietnamesische Jugendliche in Rostock (in Deutschland), welche

Probleme haben sie hier und was erwarten sie von einem Verein wie Dien Hong?

Die Hypothesen für die Untersuchung wurden bereits in den Abschnitten 3.3 und 4.3

dargestellt. Sie beziehen sich auf die Lebenslage und die Einstellungen der

vietnamesischen Jugendlichen allgemein und auf ihre Einstellung zu Dien Hong. Aus

diesen Hypothesen und der gestellten Forschungsfrage ergeben sich folgende zu

betrachtende Kategorien, die für die Interviews in einem Leitfaden operationalisiert

wurden:

- Persönliches- Leben in Deutschland (im Unterschied zu Vietnam)- Freunde/ Freizeit- Familie/ Rollen- Bräuche/ Traditionen- (kulturelle) Identität- Dien Hong- Zukunft

Diese Punkte wurden mit weiteren Unterpunkten versehen und bestimmte Fragen

formuliert, die als Schlüsselfragen in allen Interviews gestellt werden sollten. Der

gesamte Leitfaden findet sich im Anhang.

32 Ich habe dies im Vorwort bereits versucht zu begründen. Hinzufügen möchte ich an dieser Stelle,

dass die allgemeine Situation der Jugendlichen ihre Einstellungen gegenüber dem Verein natürlichauch beeinflusst.

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Ergebnisse

72

6 Ergebnisse

Dieses Kapitel beinhaltet Anmerkungen zu den Interviews und die Ergebnisse der

Befragung zu den einzelnen Themenbereichen.

6.1 Das erhobene Material

Es wurde zunächst ein Experteninterview mit Nguyen do Thinh (Interview I),

Mitarbeiter und Gründungsmitglied bei Dien Hong, durchgeführt. Er berichtete

vieles aus seinem Leben als Vertragsarbeiter, über die Zeit nach der Wende, die

Gründung des Vereins Dien Hong und dessen heutige Situation. Die Ergebnisse des

Interviews, welches auf Tonband mitgeschnitten und transkribiert wurde, sind in

mehreren Abschnitten im Text enthalten (siehe z.B. 4.3 Der Jugendtreff des Vereins).

Das darauf folgende Gespräch mit Wolfgang Richter (Interview II), dem

Ausländerbeauftragten der Freien und Hansestadt Rostock, konnte nur anhand von

Gesprächnotizen rekonstruiert werden.33 Es beschäftigte sich mit der Situation von

Ausländern – speziell Vietnamesen - in Rostock und der Arbeit der

Ausländerbehörde. Auch aus diesem Interview wurden Punkte in den Text

eingearbeitet (vgl.: 3.2.2: Die Mentalität).

Anschließend begann die Phase der Interviews mit den Jugendlichen. Das erste

Interview führte ich als Gruppengespräch mit drei Mädchen bei mir zu Hause durch,

was sich für die Situation als sehr positiv erwies. Die drei Befragten verbrachten zum

damaligen Zeitpunkt ihre Freizeit häufig miteinander und kannten sich gegenseitig

recht gut. Sie wollten sich nicht einzeln interviewen lassen, was zumindest bei einer

von ihnen auch wegen mangelnder Sprachkenntnisse kaum möglich gewesen wäre.

Außerdem verweigerten sie die Tonbandaufnahme, obwohl ich ihnen erklärte, dass

33 Die Bedingungen waren für einen Tonbandmitschnitt ungünstig (Sprechzeit in der

Ausländerbehörde).

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Ergebnisse

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die Bänder nach dem Transkribieren gelöscht würden und sie auch die Möglichkeit

hätten, das Gerät auszuschalten, wenn bestimmte Dinge nicht festgehalten werden

sollten. Befragt, warum sie lieber ohne Tonband sprechen wollten, antworteten sie,

sie würden sich ansonsten nicht trauen, etwas zu sagen und schüchtern werden. Da

sie insgesamt zurückhaltend sehr waren, entschied ich (entgegen wissenschaftlicher

Genauigkeit), nicht weiter auf sie einzureden.34

Allerdings stellte sich das gleiche Problem bei allen weiteren Interviews. Die

Vermutung liegt nahe, dass die Jugendlichen sich untereinander ausgetauscht und

erfahren hatten, dass ich, wenn sie sich gegen eine Aufnahme weigerten, auch mit

Stichpunkten zufrieden sein würde. Ich ließ mich darauf ein, da die Bereitschaft, sich

interviewen zu lassen, ansonsten noch geringer gewesen wäre.

Die Gespräche wurden also nach Mitschriften transkribiert. Der Versuch, möglichst

genaue Formulierungen der Jugendlichen zu übernehmen, funktionierte recht gut, da

sie aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse oft länger nach Worten suchten. Zu

jedem Gespräch liegen zusätzlich Feldnotizen vor, die eine genaue

Situationsbeschreibung beinhalten und die Atmosphäre während der Interviews

wiedergeben. Die Aufzeichnungen werden in dieser Arbeit nur in Ausschnitten

dargestellt. Den Jugendlichen wurde zugesichert, dass niemand die Interviews lesen

würde, da gerade Personen, welche die vietnamesische community kennen oder ihr

angehören, Rückschlüsse auf die Befragten ziehen könnten.

Nach dem Gruppengespräch konnten noch fünf Einzelinterviews geführt werden.35

Eine größere Anzahl an Gesprächen war aufgrund von Verweigerungen nicht

möglich. Die Interviews dauerten zwischen einer halben und anderthalb Stunden und

waren sprachlich recht unterschiedlich.

Sie fanden in den Räumen oder auf dem Gelände des Vereins statt. Die Jugendlichen

waren nicht bereit, einen anderen Termin als den Freitag, an dem sie gewöhnlich in

den Treff kamen mit mir zu verabreden. Vielleicht wäre es an einigen Stellen

möglich gewesen, noch deutlicher darauf hinzuweisen, wie wichtig die Umgebung

und die zur Verfügung stehende Zeit für Interviews ist. Aber ich sah es als Chance

34 Eines der Mädchen hat das niedergeschriebene Interview noch einmal gelesen und bestätigt, dass

die Aussagen richtig wiedergegeben wurden. Die anderen Interviews wurden nicht mehr gelesen,da die Jugendlichen nicht mehr in den Treff kamen.

35 Liste siehe Anhang

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Ergebnisse

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an, wenn ein Jugendlicher, der zunächst sagte: „Nee, keine Lust, ein Interview zu

machen“, sich doch noch auf ein Gespräch einließ.

Warum die Bereitschaft zu den Interviews letzten Endes viel geringer war, als es

zunächst den Anschein hatte, ist schwer einzuschätzen. Es mag zum Teil daran

liegen, dass die Befragungen nach den Sommerferien begannen, in denen kein

Unterricht stattfand und mein Kontakt zu den Jugendlichen deshalb weniger intensiv

war. Auch hatte ich bereits im Juli angekündigt, dass ich die Stunden nicht mehr

allzu lange fortführen würde, weil mir die Zeit dazu fehlte. Möglicherweise hatte

dies die Jugendlichen verunsichert, denn nach den Ferien kamen nur noch wenige in

den Jugendtreff, was die Menge an potentiellen Interviewpartnern weiter

einschränkte. Vielleicht konnte ich mit meinen Abiturkenntnissen in Englisch und

ohne didaktische Ausbildung auch den Unterricht nicht hinreichend interessant und

hilfreich gestalten.36 (Die Anzahl der Teilnehmer war vor den Ferien allerdings

immer weiter angestiegen.) Einigen schien der nur einstündige Unterricht den

Aufwand der Anfahrt aus dem Nordwesten der Stadt nicht wert zu sein. Vielleicht

hatten auch die Eltern nach unserem gemeinsamen Grillabend, auf dem ich meine

Absicht darlegte, den Jugendlichen aus Gründen der Pietät gegenüber der Familie

von Interviews abgeraten.

Trotz aller Schwierigkeiten lässt sich für viele Bereiche ein Stimmungsbild der

vietnamesischen Jugendlichen in Rostock nachzeichnen.

6.2 Die Ergebnisse der Interviews

Die Interviews werden nicht getrennt voneinander ausgewertet, da sie für das

Erstellen von Porträts der einzelnen Jugendlichen nicht tiefgreifend genug sind.

Wegen der sprachlichen Schwierigkeiten war nicht zu erwarten, dass die Befragten

längere Passagen aus ihrem Leben erzählen würden. Sie bemühten sich, möglichst

36 Vor kurzem führte ich mit einem der Mädchen ein (informelles) Gespräch, in dem wir auch über

den Englischunterricht sprachen. Sie war der Ansicht, dass es an den Jugendlichen selbst, nicht anmir läge, dass diese den Verein nicht mehr aufsuchen. Im Moment werde es zu früh dunkel, es seikalt und die Jugendlichen hätten keine Lust, zum Unterricht zu kommen.

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Ergebnisse

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genau auf die angesprochenen Punkte einzugehen und die gestellten Fragen zu

beantworten.

Eine linguistische Analyse kommt ebenfalls nicht in Betracht, da sie für das Thema

lediglich am Rande relevant ist.37 Nur wo bestimmte Unsicherheiten möglicherweise

die Antworten verfälscht haben, wird dies erwähnt.

Die folgenden Abschnitte stellen die Ergebnisse der Interviews anhand des

Codierleitfadens vor. Dies ist notwendig, um die Interviews für die einzelnen

Themenbereiche zu strukturieren und die Bewertung der Untersuchung

vorzubereiten. Der Codierleitfaden ergibt sich aus den in 5.3 genannten Punkten und

wird durch erhobene Informationen ergänzt. (Vgl. Schmidt 1997, S. 547 ff.)38

6.2.1 Persönliche Daten der Stichprobenteilnehmer

Unter diesem Punkt finden sich die Angaben der Jugendlichen zu ihrem Alter, der

Schulart und Klassenstufe, die sie zum Zeitpunkt der Befragung besuchten, ihren

Lieblingsfächern, ihrer Herkunft und der Dauer des Aufenthaltes in Deutschland.

Die Gespräche führte ich mit vier Mädchen und vier Jungen im Alter von 16 bis 18

Jahren39, deren Aufenthaltsdauer in Deutschland zwischen 4 Monaten und 4,5 Jahren

lag. Dementsprechend unterschiedlich waren die sprachlichen Fähigkeiten der

37 Dazu sei bemerkt, dass viele der Jugendlichen Schwierigkeiten mit der Sprache hatten. Es traten

häufig genau die Fehler auf, die in Abschnitt 3.2.5 beschrieben sind Ursache waren dieunterschiedlichen Strukturen der vietnamesischen und deutschen Sprache. So wurden z.B.Zeitformen gar nicht, unsicher oder willkürlich gebraucht („ Ich lerne damals in der 3. Klasse.“ –fiktives Beispiel)

38 Die Kategorien des Codierleitfadens finden sich in den Überschriften 6.3.1 bis 6.3.5. Der gesamteLeitfaden liegt im Anhang bei.

39 Eine der Befragten gab ihr Alter nicht an und berichtete nicht viel von ihrer Herkunft. Sie wohnthier im Kinderheim und ist ohne Familie nach Deutschland gekommen. Offiziell gilt sie als 13 oder14 Jahre alt. Es lässt sich aber aus verschiedenen Gesprächen und ihrem gesamten Auftretenvermuten, dass sie älter ist.

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Jugendlichen. Bis auf eines der drei im Gruppengespräch befragten Mädchen

stammen alle aus dem Norden bzw. aus Mittelvietnam (aber ehemalige DRV).40

Die Jugendlichen besuchten im Befragungszeitraum die Realschule (2)41,

Gesamtschule (2) oder ein Gymnasium (2) bzw. Fachgymnasium (2) und lernten in

der 6. bis 11. Klasse.42

Alle Befragten nannten als erstes Lieblingsfach Mathematik, gefolgt von weiteren

Naturwissenschaften wie Physik und Chemie. Das von den Jungen als nächstes

erwähnte Fach war Sport. Informatik (m)43 sowie Musik und Kunst (w) wurden

jeweils einmal angeführt. Die Begründungen dafür waren bei allen ähnlich:

„ Da gibt es Regeln, die man nachvollziehen kann, nicht so wie z.B.

in Deutsch.“ (Interview 1)

„ Weil ich muss nicht so viel Deutsch sprechen. Ich bin schon lange

gut in Mathe.“ (Interview 3)

Die naturwissenschaftlichen Fächer werden von den Jugendlichen auch bei geringen

Deutschkenntnissen gut verstanden. Sie können die diesen Fächern eigenen

logischen Regeln und Strukturen nachvollziehen. Bereits in Biologie aber wird es

schon schwieriger, denn:

„ Biologie sind zu viele Begriffe.“ (Interview 1)

Es wird deutlich, dass die Jugendlichen große Probleme mit der Sprache haben.

Auffällig ist, dass trotzdem alle Befragten zumindest die Realschule besuchen. Ihnen

ist Bildung sehr wichtig, wie bereits im Abschnitt 3.3.6 dargelegt wurde. Sie lernen

intensiv, um einen möglichst guten Abschluss zu erreichen.

40 Auch die dritte Interviewte stammt vermutlich ursprünglich aus Nordvietnam, da sie, wie mir

erklärt wurde, einen nördlichen Akzent hat. Sie gab aber im Gespräch an, aus der Nähe von Ho ChiMinh Stadt, also aus Südvietnam zu kommen.

41 Die Zahlen in den Klammern stehen für die Häufigkeit, mit der eine Angabe gemacht wurde.42 Die großen Unterschiede bei den Klassenstufen trotz relativ gleichem Alter resultieren daraus, dass

das o.g. Mädchen wegen ihres offiziellen Alters die 6. Klasse besucht.43 Ich werde im Folgenden ein (m) für „männlich“ und ein (w) für „weiblich“ verwenden, um zu

zeigen, ob bestimmte Aussagen abhängig vom Geschlecht waren. Äußerten sich beidegleichermaßen, so verzichte ich auf diese Angabe.

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6.2.2 „ In Vietnam ist es lustiger“

Um zum einen ein Bild über die Erfahrungen der Jugendlichen in Vietnam zu

‚zeichnen’ und zum anderen herauszufinden, wie sie in Deutschland zurechtkommen,

wurden sie sowohl zum Leben im Herkunfts- als auch zu dem im Aufnahmeland

befragt. Die folgenden Fragen wurden weitgehend im hier gezeigten Wortlaut

gestellt:

- Kannst du mir bitte etwas über dein Leben in Vietnam erzählen?44

- Was gibt es für Unterschiede zwischen dem Leben in Vietnam und dem in

Deutschland?

- Welche Probleme hast du in Deutschland?

- Was machst du in deiner Freizeit?

- Mit wem verbringst du deine Freizeit?

- Mit wem lebst du hier zusammen in einer Wohnung?

- Wie stellst du dir deine eigene Familie einmal vor?

- Gibt es vietnamesische Traditionen, z.B. Feste, die ihr hier in Deutschland weiter

macht?

Außerdem wurden weitere ergänzende Fragen gestellt.45 Unter anderem sollten die

Jugendlichen versuchen, etwas ‚ typisch Deutsches’ oder ‚ typisch Vietnamesisches’

zu nennen. Gerade zu diesem Punkt gaben die Jugendlichen sehr interessante

Antworten. Über Schule, Familie, Freunde und Freizeitgestaltung wurde in einer

Weise berichtet, die zeigt, wie unterschiedlich die Jugendlichen die beiden Kulturen

erleben.

Alle Interviewten erzählten bereitwillig über ihr Leben in Vietnam, wobei der

‚Gehalt’ der Aussagen verschieden war. Das mag an der unterschiedlichen

Beherrschung der deutschen Sprache, aber auch an dem jeweils speziellen Verhältnis

liegen, dass ich zu den einzelnen Jugendlichen aufgebaut hatte.

44 Dazu erklärte ich immer, dass ich noch nie in Vietnam gewesen bin und mich deshalb alles

interessiert, was ihnen zu diesem Thema einfällt.45 Alle Fragen und alle ergänzenden Stichpunkte finden sich wiederum im Leitfaden im Anhang

(Fragenkomplexe 2-5)

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6.2.2.1 Typisch! – Mentalitätsunterschiede

Die für die beiden erlebten Kulturen als ‚ typisch’ angesehenen Merkmale fließen in

die Darstellung der verschiedenen Themenbereiche ein. Um jedoch einen Überblick

darüber zu geben, was die Jugendlichen als ausgesprochen Deutsch oder

Vietnamesisch empfinden, seien ihre Aussagen dazu hier kurz zusammengefasst.

Die Befragten sehen die Vietnamesen als gastfreundlicher und als aufopferungsvoller

in sozialen Beziehungen an. Sie nannten diese Eigenschaften ausdrücklich als

‚ typisch’ für die eigene Mentalität.

Interessant ist, dass im Gruppengespräch von den Mädchen die Familie

angesprochen wurde, und zwar auf eine nicht unkritische Weise. Dies war aufgrund

der vietnamesischen Zurückhaltung bei Äußerungen über den privaten Bereich nicht

zu erwarten.46

A: „ Vietnamesen habe sehr anstrengende Eltern.“

Frage: „ Ja, ich habe darüber gelesen. Die Eltern haben bei euch

sehr viel zu sagen.“

A: „ Sie habe nicht sehr viel zu sagen, sie haben ganz zu sagen.

So: Solange du deinen Fuß unter meinen Tisch stellst, ne…“

(Interview 1)

Einzelne Jugendliche bezeichneten die unterschiedliche politische Situation der

beiden Länder, die kulturellen Unterschiede, den anderen Umgang mit der Umwelt

und die besseren Lebensbedingungen in Deutschland als auffällig. Auch Schnee und

‚ riesige’ Menschen erwähnten sie als ‚ typisch deutsche’ Erscheinungen.

46 Weitere Aussagen zur Familiensituation finden sich unter 6.3.2.7.

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6.2.2.2 Schule

Ein von den Jugendlichen häufig angesprochenes Thema waren die Unterschiede

zwischen den Schulen hier und im Herkunftsland. Da ihnen dieser Bereich besonders

wichtig schien, soll hier einiges aus ihren Berichten dargestellt werden. Die Auswahl

der schulbezogenen Sachverhalte ist von den Jugendlichen vorgegeben.

Im Gruppengespräch und in mehreren Einzelinterviews berichteten die Befragten

von einer ‚Teilung’ des Unterrichts in Vietnam.

„ Also bei uns ist das so: Wir haben in der Schule zwei Zeiten. Die

erste Hälfte lernt von morgens bis mittags und die andere

nachmittags, so bis 18.00 Uhr. Das sind dann immer höchstens 5

Stunden. (…) Das ist wegen der Räume. Wir haben nicht genug

Räume für alle. Und außerdem (…) wegen des

Bevölkerungswachstums. Bei uns gibt es sehr viele Kinder.“

(Interview 1)

Dass der Unterricht in Deutschland über einen halben Tag hinausgeht, empfinden

die Jugendlichen nicht als negativ, was aus ihrer Einstellung zum Lernen resultieren

mag.

Mehrere Jugendliche erzählten, dass in vielen vietnamesischen Schulen Uniformen

getragen werden.

„ Wir müssen in der Schule Uniform tragen. Die Mädchen einen

Rock und die Jungs lange Hosen. Und dazu ein weißes Hemd.“

(Interview 2)

„ Das ist nicht so gut. Alle sehen gleich aus.“ (Interview 1)

Einer der Jungen beschrieb außerdem die Raumausstattung, welche sich von der in

deutschen Schulen unterscheidet.

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„ Wir haben lange Bänke, nicht Stühle wie hier.“ (Interview 3)

Auch die Klassengröße ist eine ganz andere als in deutschen Schulen.

„ In Vietnam waren in meiner Klasse viel mehr Schüler, es waren 63.

Das ist sehr hart. Es ist sehr warm und sehr hart.“ (Interview 3)

Dauer und Zeitpunkt der Ferien in Deutschland sind für die Vietnamesen ungewohnt.

Im Herkunftsland erstrecken sich beispielsweise die Sommerferien über drei Monate.

Allerdings scheinen die Schüler diese lange Zeit nicht nur zur Erholung zu nutzen.

Lediglich der erste Monat ist für sie wirklich frei. Die anderen beiden dienen der

Vorbereitung auf das neue Schuljahr. (Interview I)

„ Wir haben weniger Ferien als in Deutschland, aber im Sommer

haben wir drei Monate Ferien. Es gibt auch keine Winterferien, wir

haben kein Eis, … und keine Herbstferien.“ (Interview 3)

Die Methoden der Wissensvermittlung sind in beiden Ländern ebenfalls nicht

identisch. In vietnamesischen Schulen wird viel mehr auswendig gelernt als in

Deutschland.47

Besonders das Verhältnis zu den Mitschülern war in den Interviews immer wieder

Thema. Die Schüler beschrieben es als weniger intensiv verglichen mit Vietnam.

„ Typisch deutsch ist: die Kontakte zwischen den Schülern sind nicht

wie in Vietnam. Bei uns ist sehr viel Gemeinschaft.“ (Interview 3)

Im Gegensatz zum Herkunftsland pflegen die vietnamesischen Jugendlichen in

Deutschland nur mit einigen Mitschülern engeren Kontakt. Direkte Ablehnung

scheinen sie aber in der Klasse nicht zu verspüren.

47 Dies stimmt mit der Annahme aus 2.2.2 überein, nach der in vielen Herkunftsländern ein

memorisierendes Lernsystem existiert. (Vgl. Nieke 1999; 16.11.1999)

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„ Ich bin hier nicht bei allen akzeptiert. Aber die sagen mir das nicht,

die beachten mich bloß nicht. Ich habe nur zu einem Teil der Klasse

Kontakt. Ich weiß nicht, manche trauen sich wohl nicht, mich

anzusprechen oder ich traue mich nicht. Ich bin hier mehr

zurückhaltend.“ (Interview 1)48

Einen Unterschied zwischen sich und den einheimischen Schülern sehen die

Befragten bei der Lerneinstellung.

„ Die Deutschen sind immer cool. Die Vietnamesen sind normal. Sie

konzentrieren sich alle nur auf die Schule. In Vietnam ist es egal, ob

das Spaß macht oder nicht.“ (Interview 2)

Eines der Mädchen hob die Materialien und Möglichkeiten, die Schülern in unserem

Land zur Verfügung stehen, besonders hervor.

„ Es gibt sehr viele Lehrmittel, darum kann ich gut lernen.“

(Interview 5)

Die Jugendlichen wählten, befragt nach ihrem Leben in Vietnam, vielfach das Thema

Schule. Dies kann mehrere Ursachen haben. Es ist mit Sicherheit ein Ausdruck dafür,

dass Unterricht und Lernen für vietnamesische Jugendliche besondere Bedeutung

besitzen. Möglicherweise sahen die Jugendlichen mich auch stärker als Lehrerin, als

ich vermutete und erzählten mir aus diesem Grunde viel über Schule in Vietnam.

Zudem war ich letztlich doch ein relativ fremder Mensch und die Interviewten

wussten vielleicht nicht genau, über was sie mit mir reden könnten. Schule bot sich

als ein Thema an, das z.B. die Privatsphäre nicht allzu sehr berührte und bei dem die

Jugendlichen trotzdem etwas Wichtiges von sich mitteilen konnten.

48 zu Zusammenleben und Gemeinschaft siehe 6.3.2.3

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Neben der Schule an sich, in der in vielen Bereichen Unterschiede zwischen

Deutschland und Vietnam existieren, war der Umgang mit den Mitschülern ein

wichtiges Thema für die Jugendlichen. Er ist in Deutschland ein völlig anderer als

im Herkunftsland. Die vietnamesischen Jugendlichen kommen in der Schule ganz

gut zurecht, sind aber über die geringen Kontakte der Schüler untereinander

enttäuscht.

6.2.2.3 Zusammenleben und Gemeinschaft

Die Jugendlichen (bis auf das erst seit vier Monaten in Deutschland lebende

Mädchen) beschrieben deutliche Unterschiede im Zusammenleben zwischen

Vietnamesen und Deutschen.

„ In Vietnam hat jede Familie die Nachbarn und man hat die Türen

auf. Man kann rumgehen und mit den anderen sprechen und so. Hier

ist alles zu, jede Wohnung. “ (Interview 2)

Ausdrücklich als ‚ typisch vietnamesisch’ bezeichneten die Jugendlichen die

Gastfreundschaft und Freundschaft überhaupt.

„ Typisch vietnamesisch ist die Freundschaft, die ist mehr als bei

Deutschen.“ (Interview 4)

„ Ich sage mal so. Die Deutschen sind selten ganz und gar für ihre

Freunde da, also für jeden Fall. Bei uns ist das mehr so. Ich hatte

einige deutsche Freunde, aber da waren nur ein paar so richtig für

mich da. Dann frage ich mich: Mögen die mich nicht oder sind die

nun mal so?!“ (Interview 1)

„ Die Menschen sind auch anders. Das war am Anfang schwer, aber

da kann man sich dran gewöhnen. Bei den Deutschen kannst du

nicht einfach so vorbeikommen. Da musst Du vorher einen Termin

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machen. Bei uns sagst du einfach: Ich komme vorbei und dann

quatschen wir. Und hier bei Deutschen ist das so, wenn die noch bei

ihren Eltern wohnen, dann müssen die erst dort fragen. Und wenn

man dann da ist, dann geht man meistens auch nur in das Zimmer

der Freundin. Und bei uns ist das so: Das Schlafzimmer ist mehr so

für die Familie, das ist Privatsphäre. Wenn Besuch kommt oder

Freunde, dann geht man ins Wohnzimmer. (…) Und wenn wir zu

Besuch kommen, dann kommt man zum Abendbrot gleich dazu, auch

wenn man sich nicht angemeldet hat. Da wird gesagt: Du bleibst

zum Abendbrot und dann ist das okay. Hier, wenn ich zum Beispiel

zu dir Mittagessen kommen will, dann muss ich mich am besten

einen Tag vorher anmelden. Das ist bei uns eben gastfreundlich.“

(Interview 1)

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die vietnamesischen Jugendlichen die

Deutschen als weniger gastfreundlich und in ihrem Umgang mit Freunden als nicht so

aufopferungsvoll empfinden wie ihre Landsleute. Das ist in vielen Bereichen nicht zu

bestreiten. Gastfreundschaft und gegenseitige Unterstützung haben im asiatischen

Kulturkreis einen höheren Stellenwert als in unserer individualistischen Gesellschaft.

Allerdings darf man bei dieser Einschätzung nicht vergessen, dass die Jugendlichen

ihre vertraute Umgebung, viele Freunde, Verwandte und Nachbarn zurückgelassen

haben und die gesamte Familie jahrelange Bindungen aufgeben musste. Diese

vielfach über Generationen bestehenden Beziehungen können in der neuen Heimat

nicht innerhalb weniger Jahre aufgebaut werden, besonders da die umgebende Kultur

nun eine fremde ist und man sich gegenseitig mit Unsicherheiten betrachtet. Fehlende

Beziehungen im Aufnahmeland verleiten vielleicht den einen oder anderen dazu, die

Vergangenheit (und damit die zurückgelassene Umgebung) als sehr positiv zu

empfinden und die aufnehmende Kultur als kalt.

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6.2.2.4 Freunde und Freizeit

In diesem Abschnitt finden sich die Angaben der Jugendlichen zu ihrer Freizeit und

den Freundschaften. Dabei wird die Aussage aus dem vorhergegangenen Abschnitt

nicht noch einmal wiederholt, Vietnamesen würden mehr auf ihre Freunde eingehen,

als Deutsche es tun.

Die Freundeskreise der Jugendlichen waren im Herkunftsland ihrer Einschätzung

nach größer und die Beziehungen untereinander intensiver.

„ In Vietnam hatte ich mehr Freunde.“ (Interview 4)

„ Na und den Rest des Tages sind wir dann mit Freunden zusammen.

Die Hausaufgaben machen die meisten bei uns abends. Mit den

Freunden fahren wir weiter vom Wohnort weg, machen Picknick

oder fahren dahin, wo etwas zu sehen ist.“ (Interview 1)

Der Aufenthalt in einem fremden Land ist für vietnamesische Jugendliche, wie für die

meisten Menschen mit Migrationserfahrungen, nicht einfach. Aufgrund mangelnder

Sprachkenntnisse und der völlig fremden Kultur haben Neuankömmlinge nicht nur

Schwierigkeiten in der Schule, sondern auch beim Knüpfen sozialer Kontakte.

„ Die ersten beiden Jahre waren schwer. Ich konnte die Sprache nicht

und deshalb war es auch in der Schule schwer. Ich hatte auch zuerst

nicht viele Freunde, weder Vietnamesen noch Deutsche.“

(Interview 2)

Die Frage danach, wie und mit wem sie ihre Freizeit heute verbringen, beantworteten

die Jugendlichen unterschiedlich. Bei den Jungen spielt ohne Ausnahme der Sport

(Fußball) eine große Rolle. Sie haben eine gemeinsame Mannschaft, mit der sie am

Wochenende trainieren und auch an Turnieren teilnehmen.

„ Am Wochenende spielen wir zusammen Fußball.“ (Interview 3)

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Dies ist ein Bereich, in dem die Befragten mit Gleichaltrigen anderer Herkunft in

Kontakt kommen.

„ In der Freizeit? Da mache ich Sport und bin mit Freunden

zusammen, mit Vietnamesen und Deutschen.“ (Interview 2)

In der Schule beschränkt sich der Umgang in der Regel auf deutsche Freunde und

Mitschüler. Die meisten Jugendlichen sind die einzigen Vietnamesen in ihrer Klasse.

„ Ich habe viele Freundinnen und Freunde (in der Klasse). Sie sind

sympathisch. Wenn ich nicht so gut spreche, können sie mir erklären.

In der Klasse gibt es keine vietnamesischen Schüler.“ (Interview 5)

„ In der Schule sind es deutsche Freunde.“ (Interview 6)

Obwohl sie viel Zeit mit dem Lernen und der Unterstützung der Familie verbringen,

gab keiner der Jugendlichen an, zu wenig Freizeit zu haben. Einige von ihnen

scheinen auch Übungsstunden und die Hilfe zu Hause zur Freizeit zu zählen.

Frage: „ Was machst du in deiner Freizeit?

G: „ Nur so lernen – nur lernen. Ich lerne oder arbeite im

Nebenjob, z.B. im Fruchthof oder Zeitungen (austragen).“

Frage „ Mit wem verbringst du deine Freizeit?“

G: „ Nur allein. Ich lerne mit meinem Lehrer. Er ist Vietnamese,

er lehrt mich Deutsch und Französisch. Ich muss lernen in

der Bibliothek oder im Internetkabinett in der Schule. Ich

muss lernen zu übersetzen.“ (Interview 5)

„ Ich spiele Fußball und fast jeden Tag helfe ich meinem Vater und

meiner Mutter beim Aufbauen, bei der Arbeit. Wir bauen die Kleider

und so was auf, für das Textilgeschäft.“ (Interview 4)

Dass die vietnamesischen Jugendlichen das Lernen und die Hausarbeit als freie Zeit

betrachten, liegt vermutlich in ihrer Mentalität begründet. Die Unterstützung der

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Eltern im Haushalt oder bei der Arbeit gehört wie selbstverständlich zum Leben dazu

und wird anscheinend nicht als sehr belastend eingestuft.

Die vietnamesischen Jugendlichen haben sowohl Freunde unter den Deutschen als

auch unter ihren Landsleuten. Besonders in der Schule und beim Sport kommen sie in

Kontakt mit Jugendlichen anderer Herkunft. Einen großen Teil ihrer Freizeit

verbringen sie mit dem Lernen, dem Helfen zu Hause und der Familie.

6.2.2.5 Probleme in Deutschland

Ausnahmslos alle Jugendlichen nannten die Sprache als das größte Problem, welches

sie im Aufnahmeland haben. Daraus folgen Schwierigkeiten in der Schule mit den

Fächern, in denen die Sprache eine entscheidende Rolle spielt, z.B. Deutsch, Englisch

und Geschichte. Die Antwort auf die Frage nach ihren Problemen in Deutschland

waren bei allen Befragten ähnlich:

„ Die Sprache!“ (Interviews 1, 4, 6)

„ Die ersten beiden Jahre waren schwer. Ich konnte die Sprache

nicht…“ (Interview 2)

„ … dass ich noch nicht so gut Deutsch kann. Das ist auch mein

Problem in der Schule.“ (Interview 3)

„ Die Sprache natürlich, z.B. Deutsch, Englisch und Französisch.

Alles (andere) ist kein Problem.“ (Interview 5)

Eine zweite Schwierigkeit sehen die Vietnamesen in der Mentalität der Deutschen,

welche sie als weniger gastfreundlich und offen erleben (vgl. 6.3.2.3).

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Heimweh wurde nur von einem der Jungen als ein großes Problem genannt. Auch alle

anderen gaben an, einmal nach Vietnam reisen zu wollen. Sie bezeichneten aber

Heimweh nicht ausdrücklich als Problem.

Fremdenfeindlichkeit führte nur einer der Jugendlichen als Problem an. Alle anderen

hatten nach eigene Aussage noch keine negativen Erfahrungen auf diesem Gebiet

gemacht. Ein weiterer Junge bezeichnete an anderer Stelle Rechtsradikalismus als

negativ. Im Gruppengespräch kam erst bei der Nachfrage, ob die Mädchen sich von

Deutschen abgelehnt fühlen, zur Sprache, dass sie nicht von allen angenommen

werden.

F: „ Als Ausländer hier leben finde ich nicht so gut.“

Frage: Hast du selbst schon einmal Ausländerfeindlichkeit erlebt?“

F: „ Ja, habe ich schon erlebt.“ (Interview 4)

Die Tatsache, dass die Ausländerfeindlichkeit kaum als Problem angegeben wurde,

kann mehrere Ursachen haben. Positiv wäre natürlich, dass die vietnamesischen

Jugendlichen tatsächlich wenig Ablehnung erfahren. Das erscheint aber nach dem

Brand des Sonnenblumenhauses, den zumindest einige der Eltern miterlebten, und

Übergriffen auf Vietnamesen (auch während der Zeit des Schreibens der

Magisterarbeit) eher unwahrscheinlich. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit bestände

in der Annahme, dass die Jugendlichen sich in der Schule und in den Sportvereinen

gut zurechtfinden und ansonsten kaum in Gefahr laufen, feindliche Einstellungen zu

erleben. Sie besuchen keine Disco und benutzen abends nicht die S-Bahn. Deshalb

kommen sie in den Wintermonaten, in denen es früh dunkel wird, nicht zu Dien

Hong. Ob die Jugendlichen die Fremdenfeindlichkeit nicht ansprachen, weil sie die

Gefahr verdrängen wollten, kann nicht geklärt werden.

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6.2.2.6 Wissen über Deutschland vor der Migration

Keiner der Befragten gab an, vor der Migration Informationen über Deutschland

gehabt zu haben. Ein Jugendlicher hatte jedoch gewisse Vorstellungen, was ihn

erwartete:

„ Ich muss lernen, dann kann ich einen guten Beruf bekommen. Das

wünschen meine Eltern auch.“ (Interview 6)

Alle anderen erinnerten sich, nichts oder nur sehr wenig gewusst zu haben. Sie

machten sich aber damals Gedanken darüber, wie es hier aussehen könnte.

„ Nein, wir haben nichts so richtig gewusst. Aber ich habe mir selber

so Sachen eingebildet. Ich habe so gedacht: Da gibt es viele blonde,

große Menschen mit blauen Augen und weißer Haut. Aber so richtig

hatte ich keine Vorstellung.“ (Interview 1)

D: „ Nein, ich habe gar nichts gewusst.“

Frage: „ Wie hast du dir denn Deutschland vorgestellt?“

D: „ Na, so wie Amerika. Weil wir amerikanische Filme

gesehen haben.“ (Interview 2)

Keiner der Jugendlichen gab an, wegen des Elternteils, der als Vertragsarbeiter seit

vielen Jahren hier lebte, den Wunsch gehabt zu haben, nach Deutschland zu kommen.

Die beiden Interviewten, die äußerten, gern ausgereist zu sein, nannten als Grund die

Annahme, hier würden bessere Lernbedingungen existieren (w) und Deutschland sei

ein schönes Land (m). Einer der Jugendlichen berichtete, erst zwei Tage vor der

Ausreise erfahren zu haben, dass er die Heimat verlassen würde.

Die meisten Jugendlichen waren unschlüssig, ob sie nach Deutschland gehen wollten.

Diese Aussage kann durch die Art der Frage zustande gekommen sein, die

retrospektiv gestellt und somit schwer zu beantworten war. Vielleicht erfuhren die

Jugendlichen alle erst kurz vor der Ausreise, dass sie nach Deutschland gehen

würden. Möglich ist ebenfalls, dass die Eltern die Migration einfach beschlossen und

die Kinder an dieser Entscheidung nichts kritisieren wollten. Vielen mag auch die

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Ergebnisse

89

bessere Lebenssituation in Deutschland den Abschied von der Heimat etwas

erleichtert haben. Einige der Jugendlichen ließen jedoch an verschiedenen Stellen

durchblicken, wie schwer es ihnen fiel, Vietnam zu verlassen.

6.2.2.7 Familie

Dieser Abschnitt bezieht sich auf die Situation der vietnamesischen Familien hier in

Deutschland und vergleicht sie mit der im Herkunftsland. Auf Unterschiede zu

einheimischen Familien wird ebenfalls eingegangen. Außerdem kommen

Vorstellungen für die eigene familiäre Zukunft zur Sprache.

Im Unterschied zum Leben in Vietnam wohnen die Jugendlichen hier weitgehend

nur mit der Kleinfamilie zusammen. Für die meisten hat sich mit der Migration auch

die Situation innerhalb dieser Kernfamilie verändert. Ein Elternteil befand sich schon

seit Jahren in Deutschland und wurde erst durch den Nachzug seiner Angehörigen

wieder in deren Kreis integriert.49

Die Befragten beschrieben die Situation als nicht immer leicht. Besondere

Schwierigkeiten treten auf, wenn der Vater, den sie eine lange Zeit nicht gesehen

hatten, nun wieder das Oberhaupt der Familie darstellt. Ruft man sich in Erinnerung,

wie hierarchisch die Familien strukturiert sind, kann man das Ausmaß der

Belastungen erahnen (vgl. 3.2.3).

„ In Vietnam hatte ich keinen Vater. Ich hatte schon einen Vater,

aber er war hier. Ich kann in Vietnam mehr machen als hier. Hier

sagt mein Vater: So und so… Mein Vater war schon 14 Jahre hier.

Er hat zu DDR-Zeiten im Stadthafen gearbeitet.“ (Interview 3)

„ In Deutschland haben wir nicht so viel Freiheit wie in Vietnam.

Hier ist mein Vater da. Er war schon seit 10 Jahren in Deutschland,

als wir her kamen.“ (Interview 4)

49 Das Mädchen, welches kein Alter angibt wohnt im Kinderheim und ist allein in Deutschland. Sie

fällt aus den Betrachtungen zur Familie heraus.

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90

Während sich ein Elternteil in der DDR - später dann in der BRD - aufhielt,

veränderte sich die Situation in Vietnam stark. Nicht nur, dass die Familie sich auf

ein Leben ohne den Vater oder die Mutter einstellte, die gesamte Gesellschaft befand

und befindet sich im Umbruch. Die Erinnerungen, die sich der hier lebende Elterteil

an Vietnam bewahrt hat, stimmen nicht mit den Erfahrungen der Nachgezogenen aus

den letzten Jahren überein. Der Vater/ die Mutter ist also den eigenen Kindern nicht

nur entfremdet, sondern hat auch völlig andere Erinnerungen an die Heimat und

damit Erwartungen an die Familie, welche diese nicht in allen Bereichen erfüllen

kann.

Viele der jugendlichen Vietnamesen (6) empfinden ihre eigenen Eltern im Vergleich

zu denen ihrer deutschen Freunde deshalb als sehr streng.

„ Bei Deutschen ist das so: wenn die 18 sind, dürfen sie alleine

wohnen. Das dürfen wir nicht. Vielleicht wenn wir verheiratet sind,

dann dürfen wir alleine wohnen. Rauchen und trinken dürfen wir

auch nicht. Bei den Deutschen dürfen das viele mit 16.“

(Interview 3)

Zwei der Jugendlichen berichteten über die verbesserte ökonomische Situation der

Familie.

„ Hier haben wir Geld. Man verdient hier viel und man kriegt Arbeit.

In Vietnam hat jeder seinen Laden, was man so will,… Man hat nicht

viel Geld, z.B. kann man sagen: eine Mark hier sind 7 Mark (Dong)

in Vietnam.“ (Interview 2)

Im Gespräch wurde auch danach gefragt, wie die Jugendlichen sich ihre eigene

Familie einmal vorstellen. Dabei zeigte sich, dass den Jungen diese Frage peinlich

war, sie damit tatsächlich nichts anzufangen wussten oder sich einer Frau gegenüber

nicht äußern wollten. Sie antworteten mit einem verlegenen Lachen und einem

„Okay“ (2), „Weiß nicht“ (1) oder „Kann ich mir noch gar nicht vorstellen“ (1).

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Bei den Mädchen sah die Situation ein wenig anders aus. Eines der Mädchen aus

dem Gruppengespräch wünscht sich für die Zukunft einen Mann und Kinder. Die

beiden anderen am Interview Beteiligten zogen sie damit auf. Ich bin nicht sicher,

ob sie es aus Verlegenheit taten. Das Mädchen aus dem Einzelgespräch

beantwortete die Frage (ebenfalls etwas verlegen) folgendermaßen:

„ Ich habe noch keinen Freund. Ich bin erst 18 Jahre alt und muss

weiter lernen und studieren. Vielleicht, wenn ich ungefähr 28 oder

30 bin, habe ich einen Mann oder ein Kind, bin verheiratet.“

(Interview 5)

Die Familien haben sich durch die Migration verändert. Seither leben die

Jugendlichen weitgehend wieder mit beiden Elternteilen zusammen. Sie empfinden

die eigenen Eltern als streng, besonders im Vergleich mit denen ihrer deutschen

Freunde. Eine eigene Familie gründen zu wollen nannten sie (außer zwei Mädchen)

weder als einen Wunsch für die Zukunft, noch gaben sie an, dahin gehende Pläne zu

haben. Dies muss aber nicht ihre tatsächlichen Gedanken widerspiegeln, sondern

kann ein Ausdruck der Zurückhaltung und Verlegenheit gegenüber der

Interviewerin oder des Respekts vor dem Wunsch der Eltern sein, sie mögen zuerst

die Schule beenden.

6.2.2.8 Tradition und Religion

Um eine Einschätzung vornehmen zu können, inwieweit die Jugendlichen und ihre

Familien an vietnamesischen Traditionen festhalten, diese zu Gunsten europäischer

aufgeben oder Elemente beider Kulturen ‚mischen’ , wurde danach gefragt, welche

aus ihrem Herkunftsland stammenden Traditionen sie auch in Deutschland

weiterführen.

Das Tet-Fest, das vietnamesische Neujahr, ist das wichtigste Fest überhaupt und als

einziges traditionelles Ereignis in Vietnam ein staatlicher Feiertag (vgl. Heyder 1997,

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S. 182). Auch von den in Deutschland lebenden Vietnamesen wird es zelebriert. Von

fünf der Jugendlichen wurde das Tet-Fest als erste der Traditionen genannt, die sie

hier weiterhin begehen.50

„ Die Feste machen wir weiter. Zum Beispiel das Tet-Fest.“

(Interview 3)

Weihnachten wird ebenfalls gefeiert, allerdings nicht ganz so, wie in europäischen

Ländern üblich.

Frage: „ Wie feiert ihr denn Weihnachten?“

D: „ Na so wie hier: wir essen und so.“

Frage: „ Auch so mit Weihnachtsbaum und Geschenken?“

D: „ Einen Weihnachtsbaum haben wir nicht. Und als

Geschenke gibt es in Vietnam nur Geld. Und dann haben wir

noch diese… na diese Stäbchen.“

Frage: „ Räucherstäbchen?“

D: „ Ja.“ (Interview 2)

Im ersten Gespräch berichteten die Mädchen über das Mondfest51 und beschrieben

die Zeremonien, die dabei vollzogen werden.

Von zwei der männlichen Befragten wurde die Ahnenverehrung als eine Tradition

genannt, die sie auch in Deutschland weiterführen. Während der Gedenktag bei der

einen Familie in der Mitte eines jeden Monats liegt, feiert die andere an dessen

Beginn. In dieser zweiten Familie wird zusätzlich einmal jährlich ein Gedenktag für

die Großeltern begangen.

„ In jeder Mitte des Monats, an jedem 15. im Monat, müssen wir die

toten Verwandten beehren.“ (Interview 3)

50 Das Mädchen, welches zum Zeitpunkt der Befragung erst vier Monate in Deutschland war, gab an

dieser Stelle an, erst so kurze Zeit in Deutschland zu sein, dass sie noch nicht viel zu dieser Fragesagen könne.

51 Das Mondfest ist das buddhistische ‚Ostern’ , das Fest der Auferstehung Buddhas, und wird jährlicham 15.August gefeiert.

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F: „ Wir machen auch einen Gedenktag an die Großeltern,

einmal im Jahr. Und am Ersten des Monats machen wir

einen Gedenktag für alle… - den gibt’s in Deutschland

nicht… (…) - für alle ursprünglichen in der Familie…“

Frage: „ Für die Ahnen…“

F: „ Ja. Wir machen das am Ersten des Monats, damit sie uns

Glück bringen.“ (Interview 4)

Ein Teil der befragten Vietnamesen gestaltet den Drachen-, Fächer- oder

Bambustanz mit. Allerdings kannte keiner von

ihnen diese traditionellen Tänze bereits aus der

Heimat.52 Bis auf den Jungen, der schon die

längste Zeit in Deutschland ist, konnten die

Jugendlichen auch ihre Bedeutung nicht

erklären.

„ Das hat eine bestimmte Bedeutung,

aber die kennen wir nicht. Man hat uns

gezeigt, wie wir das machen sollen und

da haben wir es gelernt.“ (Interview 1)

D: „ Den (Drachentanz) habe ich hier gelernt. Ich bin das zweite

Mal hier gewesen. Thinh hat mich gefragt, ob ich mitmache.

Ich habe gesagt: Okay, wenn`s Spaß macht. Wir haben uns

ein Video angeschaut und das dann nachgemacht.“

Frage: „ Weißt du eigentlich, was der Drachentanz bedeutet?“

D: „ Na, nicht so genau. Da oben im Himmel ist ein König. Der

Drachen ist auf der Erde. Wenn Weihnachten ist, fliegt er

52 Ich bin nicht sicher, ob das Mädchen, welches erst 4 Monate hier ist, die Frage richtig verstand. Es

antwortete: „Das (die Tänze) ist vietnamesische Tradition. Ich möchte (mag?) gerne Drachentanz,weil das meine Heimat ist.“ Ich konnte aber nicht herausfinden, ob sie diese Traditionen bereitskannte.

Vietnamesisches Tanztr io

Foto: Dr . M . Fakhour i

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nach oben zum König … Ich habe auch nicht viel Ahnung.“

(Interview 2)

Ein Grund dafür, dass die Jugendlichen diese traditionellen Feste und Bräuche erst

hier lernten, kann darin liegen, dass im Norden die Menschen viele Traditionen nach

Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft einfach vergessen haben, weil sie diese

nicht ausüben durften (Siehe 3.3.1.2).

Die Jugendlichen gaben an, Buddhisten zu sein und einige der dazu gehörenden

Traditionen zu pflegen. Allerdings berichteten z.B. die Mädchen im ersten

Gespräch, den Glauben nicht sehr streng zu befolgen. Es bestätigt sich die Annahme

aus Abschnitt 3.3.1.2, dass die buddhistischen Traditionen sich in vielen Familien

mit anderen Bräuchen (Weihnachten) und Glaubensvorstellungen gemischt haben.

Die Jugendlichen nannten insgesamt relativ wenige Traditionen, die ihre Familien in

Deutschland weiter pflegen. Entweder werden tatsächlich nur einige Bräuche

übernommen oder vieles ist den Befragten so selbstverständlich, dass sie es nicht

erwähnten. Möglich ist auch, dass es sich um Zeremonien oder Ähnliches handelt,

von denen man Fremden nicht unbedingt berichtet.

6.2.3 „ Ich bin Vietnamese!“ – Kulturelle Identität

Die Frage danach, ob die Jugendlichen sich selbst als eher vietnamesisch, deutsch,

beides oder nichts von beidem sehen, sollte klären, welches Bild sie von ihrer

eigenen kulturellen Identität entwickelt haben. Die Antwort war bei den Jungen

eindeutig und schien mit einer gewissen Entrüstung bzw. einem Unverständnis

darüber verbunden, wie man sie so etwas überhaupt fragen könne.

„ Ich bin Vietnamese!“

Zwei der Jungen gaben an, dass sie auch Eigenschaften der Aufnahmekultur

übernommen haben. Um welche es sich dabei konkret handelt, berichteten sie

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jedoch nicht. Es ist zu vermuten, dass alltägliche Gewohnheiten gemeint waren, wie

sie im Gespräch mit den Mädchen geäußert wurden (siehe unten).

Interessant ist die Tatsache, dass die Mädchen die Sache etwas differenzierter

betrachten. Alle Befragten gaben eine unterschiedliche Antwort.

A: „ Ich bin eher vietnamesisch und ich denke, das bleibt auch

so. Ich habe einen Teil der deutschen Kultur in mir, aber

ich bin vietnamesisch. Das ist so: Du weißt mehr, du kennst

mehr, aber du bist trotzdem du. Man verändert sich

natürlich ein bisschen, so durch das alltägliche Leben und

was man so macht. Aber ich denke, ich bleibe ich.“

Frage: „ Und du … ?“

B: „ Ich bin beides.“

Frage: „ Und … ?“

C: „ Egal.“ 53 (Interview 1)

„ Deutsche (bin ich) nur ein bisschen. Wenn ein Vietnamese mich

fragt, möchte ich auf Deutsch antworten, weil ich möchte Deutsch

lernen. Wenn ich Deutsch sprechen kann, antworte ich

vietnamesisch.“ (Interview 5)

Ob die Interviewte die Frage richtig verstanden hat, ist nicht ganz klar. Deutlich

wird aber eine Haltung, die sowohl das Vietnamesische wahren, als auch das

Deutsche lernen möchte.

Die Jugendlichen sehen sich fast ausnahmslos als Vietnamesen, gaben aber an,

bestimmte Merkmale auch von den Deutschen zu übernehmen. Bei diesen

Eigenschaften handelt es sich vermutlich um alltägliche Dinge, bei denen sich die

Befragten anpassen müssen, um überhaupt in der fremden Kultur klar zu kommen.

53 Die dritte Antwort kam vermutlich durch die schlechteren Sprachkenntnissen des Mädchens

zustande.

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6.2.4 Zukunft und Wünsche

Die Jugendlichen wurden gefragt, was sie nach Beendigung der Schule einmal

machen möchten und welche Wünsche sie für ihre Zukunft haben. Außerdem sollten

sie angeben, ob und für wie lange sie gern einmal nach Vietnam reisen würden.

Ausnahmslos alle Jugendlichen wünschen sich einen Besuch in Vietnam. Die Dauer

des erhofften Aufenthaltes im Heimatland ist dabei etwas unterschiedlich. Fünf der

befragten Jugendlichen gaben an, für mehrere Monate ins Herkunftsland zu wollen.

Einer der Jungen meinte, nicht zu wissen, wie lange er dort bleiben möchte. Ein

Mädchen will „zu Besuch“ fahren und ein weiterer Junge berichtete, „manchmal“

nach Vietnam zu seinen Freunden und Verwandten zu wollen.

Frage: „ Möchtest du mal wieder nach Vietnam?“

F: „ Ja, bestimmt. Für ein paar Monate gleich.“ (Interview 4)

Trotz des zum Teil sehr starken Wunsches, Vietnam zu besuchen, äußerte keiner der

Jugendlichen, auf Dauer in die ehemalige Heimat zurückkehren zu wollen.

Frage: „ Würdet ihr gerne einmal wieder nach Vietnam fahren?“

A: „ Ja!!!“

Frage: „ Nur so zu Besuch oder auch länger?“

A: „ Auch länger, so drei Monate.“

B: „ Oder sechs Monate…“

Frage: „ Aber so für immer wollt ihr nicht zurückgehen?“

B: „ Nein!!!“ (Interview 1)

Zwei der männlichen Befragten spielen jedoch mit dem Gedanken, irgendwann

einmal nach Vietnam zurückgehen.

„ Nein, nicht für immer. Später wenn ich alt bin und keinen Bock

mehr habe, dann vielleicht für immer.“ (Interview 2)

Frage: „ Was ist dein größter Wunsch?

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F: „ Dass ich nachher nach Vietnam zurückfahre, wenn ich älter

bin und Geld habe.“ (Interview 4)

Das erste Zitat zeigt, dass der Jugendliche die Rückkehr nach Vietnam im Alter als

eine von verschiedenen Möglichkeiten in Betracht zieht. Dem anderen liegt die

Rückkehr ins Heimatland sehr am Herzen. Er bezeichnete sie als seinen größten

Wunsch. Dazu soll bemerkt werden, dass der erste der Interviewten bereits zwei

Jahre länger in Deutschland lebt.

Ihre Zukunft sehen die Jugendlichen also zunächst in Deutschland. Entsprechend

gestalten sich auch ihre Wünsche. Eine gute Arbeit bzw. ein guter Beruf, ein

ausreichender Schulabschluss oder auch ein Studium wurden mehrfach als

Vorstellungen geäußert. Zu den genannten Bildungswünschen gehören:

„ Maschinentechnik oder so“ (Interview 3)

„ Informatiker“ oder „ Kfz-Werkstatt“ (wenn Ersteres nicht erreicht

werden sollte) (Interview 2)

„ Programmierer oder ein Studium der Naturwissenschaften“

(Interview 5)

Auch der Wechsel von der Realschule auf ein Fachgymnasium wurde als Wunsch

genannt. Im ersten Interview berichtete eines der Mädchen, eine Familie gründen zu

wollen. Ebenso erwähnten die Jugendlichen die Hoffnung auf ein gutes Leben

insgesamt, auf Geld oder Arbeit. Einer der Jungen führte „Fußballer werden“ als

einen Traum an, der sich aber seiner eigenen Auffassung nach nicht erfüllen wird.

„ Fußballer werden. Aber das werd ich nicht, ist halt ein Wunsch.“

(Interview 2)

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Die befragten Vietnamesen sehen ihre Zukunft in Deutschland. Zwar möchten sie

alle einmal auch für einen längeren Zeitraum nach Vietnam reisen, aber dauerhaft

dort zu leben, können sie sich höchstens für das Alter vorstellen.

Die Wünsche der Jugendlichen beziehen sich größtenteils auf eine gute Bildung,

Ausbildung und Arbeit. Dies ist ein Zeichen für die Hochachtung der Vietnamesen

vor diesen Dingen. Gleichzeitig kommt hier auch die Sorge aller Jugendlicher in

unserem Lande zur Sprache, keinen entsprechenden Ausbildungs-, Studien- oder

Arbeitsplatz zu erhalten.

6.2.5 Zum Verein Dien Hong

Orientiert man sich am Titel der vorliegenden Magisterarbeit, so bildet die

Untersuchung der Einstellungen der Jugendlichen zum Verein Dien Hong das

Kernstück der Arbeit. Wie im Vorwort und der Forschungsfrage (siehe Abschnitt

5.3) beschrieben, lege ich das Thema weiter aus. Allerdings kommt der Darstellung

des Verhältnisses der Jugendlichen zu dem Verein besonderes Gewicht zu. Der

Abschnitt gibt die Ergebnisse der Befragung zu diesem Thema wieder. Die

Einschätzung der Aussagen und mögliche Konsequenzen für den Verein sollen dann

bei der Überprüfung der Hypothesen im letzten Kapitel zur Sprache kommen.

Die Jugendlichen besuchen den Verein einmal in der Woche. Als Gründe für ihr

Kommen nennen sie die folgenden Punkte Sie wollen ihre vietnamesischen Freunde

treffen (7), Englisch lernen (4), vietnamesische Feste feiern und Vietnamesisch

sprechen (4), zusammen Billard, Tischtennis oder Kicker spielen (3). Ihnen wird

zudem geholfen, wenn sie ein Problem haben (1) und sie erfahren dort Termine für

Fußballturniere (1).

Keiner der Jugendlichen äußerte irgend etwas Negatives über Dien Hong. Das mag

an der Zurückhaltung mit Kritik der Vietnamesen insgesamt liegen, kann aber auch

Ausdruck der Unsicherheit einem Interviewer gegenüber sein, der als irgendwie zum

Verein gehörig eingeschätzt wird.

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Als positiv an Dien Hong bewerteten die Jugendlichen die verschiedenen

Möglichkeiten, welche der Verein bietet (siehe oben). Einer der Jungen bezeichnete

die Gelegenheit, Deutsche kennen zu lernen, als wichtig.

Die Interviewten sollten sich auch dazu äußern, was sie sich vom Verein oder dem

Jugendtreff wünschen. Auf diese Frage wurden verschiedene Antworten gegeben.

„ Na, was zusammen

unternehmen oder auch

wegfahren, was wir ja

auch schon gemacht

haben.“ (Interview 1)

Außerdem wurde mehrfach der Wunsch nach mehr Unterrichtsangeboten geäußert.

Frage: „ Was würdest du im Jugendtreff gerne machen?“

D: „ Ich würde etwas für die Schule tun.“ (Interview 2)

F: „ Noch mehr Englisch lernen.“ (Interview 4)

G.: „ Vielleicht nur lernen, weil ich nicht spiele.“ (Interview 5)

Die Jugendlichen und ihre Eltern wünschen und fordern auch außerhalb der

Gespräche vom Verein, mehr Unterricht anzubieten. Dies liegt nicht seiner

eigentlichen Intention. Er möchte den Jugendlichen die Begegnung mit Menschen

anderer Herkunft ermöglichen.

Einige Gründe dafür, warum die Jugendlichen den Treff nur einmal in der Woche

besuchen, wurden in den Interviews deutlich. Sie geben z.B. an, keine Zeit zu

Auf dem Darß Foto: Hoang Ngde Lam

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haben. Viele von ihnen besuchen Nachhilfestunden in Deutsch und auch in anderen

Fächern, helfen der Familie oder sind einfach zu Hause.

Frage: Was müsste denn passieren, damit ihr öfter als einmal in der

Woche zu Dien Hong kommt?

A: Es müssten alle da sein. Wenn alle da sind, kommen wir auch

öfter.

Frage: Und was muss passieren, dass alle da sind?

A: Wenn die alle Zeit hätten, würden die auch kommen. Es ist

auch ganz schön weit für viele.

Dass der Weg sehr weit sei, bestätigte auch einer der Jungen, der angab, nicht für

den einstündigen Unterricht extra den Bus bzw. die Bahn bezahlen zu wollen oder

zu können.

Der Großteil der Jugendlichen hatte keine Vorstellung davon, warum Dien Hong

sich als ‚vietnamesisch-deutscher Verein’ bezeichnet. Einige der Jugendlichen

versuchten aber, eine Antwort zu finden:

„ Ich glaube, er ist nur für Vietnamesen. Kann sein auch beides…“

(Interview 2)

„ Weil er ein Verein der Deutschen ist und hier hilft man den

Ausländern, den Vietnamesen.“ (Interview 4)

Die Jugendlichen schienen sich nicht bewusst zu sein, dass der Verein Dien Hong

eine Organisation ist, in der sich Vietnamesen und Deutsche gemeinsam dafür

einsetzen, Vorurteile gegenüber dem Anderen abzubauen und sich gegenseitig

kennen zu lernen. Sie gaben an, nichts über die Geschichte der Gründung zu wissen.

„ Wir wissen ja auch gar nicht so, was die gemacht haben. Also der

Verein ist ja nicht nur für uns gegründet worden (…) Für uns nicht

so, aber für die Erwachsenen.“ (Interview 1)

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Zum Verein lässt sich zunächst Folgendes festhalten. Die Jugendlichen nutzen ihn

als Treffpunkt und kommen, um miteinander zu spielen und zu erzählen. Die

Möglichkeit, sich in der eigenen Kultur aufzuhalten, scheint den Jugendlichen sehr

wichtig zu sein. Auch das Angebot an Unterricht ist einer der Gründe, der die

Jugendlichen den oft weiten und nicht immer ungefährlichen Weg auf sich nehmen

lässt. Im Sommer ist die Anfahrt gemeinsam mit dem Fahrrad kein Problem, aber im

Winter wird es früh dunkel und die Jugendlichen kommen seltener.

Über die Intention Dien Hongs und seine Ziele scheinen sich die Jugendlichen

wenig Gedanken zu machen. Sie wissen nicht (oder interessieren sich nicht dafür),

was der Verein eigentlich ist und erreichen will.

Die Eltern tragen nicht zur Änderung dieser Situation bei. Auf dem gemeinsamen

Grillabend wurde deutlich, dass die Erwachsenen lediglich die Bildung ihrer Kinder

interessiert. Sie selber sind überzeugt, nicht mehr viel in diesem fremden Land

erreichen zu können, da sie auch nach mehreren Jahren die Sprache nur wenig

beherrschen und viele nach der Wende die Arbeit verloren haben und kaum eine

neue finden. Die Eltern wollen, dass ihre Kinder es schaffen, in Deutschland Fuß zu

fassen und sich eine sichere Existenz aufzubauen. Dafür ist Bildung notwendig,

welche deshalb immer wieder eingefordert wird. Das Kennenlernen der Kultur des

Aufnahmelandes, das ebenfalls bedeutsam ist, stellen die Eltern eher zurück. Sie

scheinen zu anzunehmen, dass, wer sich beruflich etabliert, automatisch in der

Gesellschaft zurechtkommt.

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Auswertung und Ausblick

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7 Auswertung und Ausblick

In diesem abschließenden Kapitel erfolgt die Bewertung der im theoretischen Teil

aufgestellten Hypothesen anhand der vorliegenden Interviews. Daran anknüpfend

sollen für den Verein Dien Hong Vorschläge für die Arbeit mit den Kindern und

Jugendlichen gemacht werden. Damit wird die gestellte Forschungsfrage weitgehend

beantwortet: Wie leben vietnamesische Jugendliche in Rostock (in Deutschland),

welche Probleme haben sie hier und was erwarten sie von einem Verein wie Dien

Hong?

7.1 Zu den Hypothesen

In diesem Abschnitt wird zusammenfassend auf die Hypothesen zur Lebenslage

vietnamesischer Jugendlicher in Deutschland allgemein (vgl. 3.4) und zu

Einstellungen und Erwartungen der in Rostock lebenden und zur untersuchten Clique

gehörenden Schüler an den Verein Dien Hong (vgl. 4.3) eingegangen. Einige

relevante Punkte wurden bereits bei der Wiedergabe der Ergebnisse der Interviews

angesprochen. Sie sollen, wenn notwendig, noch einmal aufgegriffen werden.

7.1.1 Die Lebenslage vietnamesischer Jugendlicher in Rostock

7.1.1.1 Entwicklungsaufgaben und Identität

Vietnamesische Jugendliche haben, wie alle anderen in ihrem Alter, die gestellten

Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Dabei ist zu beachten, dass in Vietnam

wichtige Werte - Zusammenhalt, Bescheidenheit, Disziplin und Ähnliche - nicht in

allen Fällen den in unserer individualistischen Gesellschaft geforderten Fähigkeiten

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Auswertung und Ausblick

103

und Dispositionen entsprechen. Hier sollen die Jugendlichen ein stärker auf sich

selbst als auf andere ausgerichtetes Ich entwickeln.

Die Schwierigkeiten, welche die vietnamesischen Jugendlichen bei der Bewältigung

der beschriebenen Entwicklungsaufgaben haben, werden für die einzelnen

Anforderungen dargestellt, soweit dies anhand der Interviews möglich ist. 54

Das „Akzeptieren des eigenen Körpers“ , die „Entwicklung reiferer Beziehungen zur

Gleichaltrigengruppe“ und die „Erprobung von Sexualität und Intimität“ waren in

keiner Weise Thema der Befragung.55

Der „Erwerb der männlichen oder weiblichen Rolle“ verläuft in besonderem Maße

im Spannungsfeld zwischen Aufnahme- und Herkunftskultur. Die in den

vietnamesischen Familien existierende Hierarchie, nach der die Frauen den Männern

unterstellt sind, widerspricht Erfahrungen, welche die Jugendlichen in Westeuropa

machen. Insofern ist die Orientierung an einem bestimmten Bild schwierig.

Die zu leistende „Lösung von den Eltern und anderen Erwachsenen“ wirft ähnliche

Probleme auf. In der vietnamesischen Tradition sind das Zusammenleben mit

mehreren Generationen und ein enger Familienzusammenhalt üblich. Deshalb fällt

den Jugendlichen die Lösung von den Eltern schwer. Sie geben an, frühestens nach

der Hochzeit in eine eigene Wohnung ziehen zu dürfen. Die Interviewten wollen

mehr Freiheit, stellen aber den Familienzusammenhalt und die Autorität der Eltern

nicht offen in Frage, was durch die Erziehung begründet ist.

Schwer einzuschätzen ist, wie die Jugendlichen die „Vorbereitung auf die Gründung

einer eigenen Familie“ meistern. Mir ist bekannt, dass die Eltern wünschen, sie

mögen erst die Schule beenden (und am besten die Ausbildung oder das Studium

54 Die einzelnen Entwicklungsaufgaben sind auch an dieser Stelle übernommen von: Havighurst und

Dreher & Dreher; zitiert bei Nieke 1997, bzw. Gudjons 1995, S. 123 (Außer Fußnote 56)55 Ich habe mit einzelnen Jugendlichen während meiner Zeit bei Dien Hong auch über solche

Probleme gesprochen. Die Gespräche drehten sich z.B. um Beziehungen, welche die Eltern (wegendes Alters und der noch nicht abgeschlossenen Schule) nicht tolerieren wollen. Diese sehrpersönlichen und vertraulichen Informationen werde ich aber nicht weiter in die Auswertungeinbeziehen.

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Auswertung und Ausblick

104

auch), bevor sie sich Gedanken über eine Beziehung oder gar die Gründung einer

Familie machen. Unklar bleibt jedoch, wie die Jugendlichen zu diesem Punkt stehen.

Die Jungen geben an, noch nicht an eine spätere Hochzeit zu denken. Die Mädchen

sind in ihrer Einstellung geteilt. Während eine der Befragten den Traum von einem

Kind hegt, gibt eine andere an, erst in 10 Jahren solch eine Entscheidung treffen zu

wollen. Ob das aber die persönliche oder eine durch die Eltern suggerierte

Einstellung ist, kann nicht festgestellt werden.

Die „Vorbereitung auf das Berufs- und Erwerbsleben“ ist für die vietnamesischen

Jugendlichen ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Sie lernen sehr viel, um gute

Abschlüsse zu erreichen, da der Bildung in Vietnam traditionell eine hohe

Anerkennung zukommt. Bestärkt werden die Jugendlichen durch die Hoffnungen

und Erwartungen der Eltern. Diese wünschen sich, dass ihre Kinder optimale

Arbeitsbedingungen erhalten und die Ehre der Familie innerhalb der community und

bei den Verwandten im Heimatland gewahrt bleibt.

Die „Übernahme von Verantwortung für das Allgemeinwohl“ lernen die

vietnamesischen Jugendlichen sehr früh, vermutlich früher als die deutschen. Da

Zusammenhalt und Gemeinschaft wichtige Tugenden der vietnamesischen Kultur

sind, wird die Sorge umeinander fast ‚automatisch’ vermittelt.

Über die „Entwicklung eigener Handlungsmuster für die Nutzung des

Konsumwarenmarktes und der Medien“ zur Herausbildung eines eigenen

Lebensstils56 kann keine eindeutige Aussage getroffen werden. Deutlich ist, dass sich

die hier lebenden vietnamesischen Jugendlichen im Kleidungsstil nicht von

Deutschen in ihrem Alter unterscheiden und die gleiche Musik hören wie sie. Es

werden jedoch auch vietnamesische Platten aufgelegt und die Jugendlichen lesen

gerne die Zeitschriften aus ihrer Heimat.

Der Aufbau eines „eigenen Wertesystems“ ist auf dem Hintergrund des Lebens

zwischen den Kulturen schwierig, aber auch sehr wichtig. Wie die Jugendlichen ihn

bewältigen, wird anhand der Interviews nicht hinreichend deutlich. (Gast-)

56 Hurrelmann 1997; S. 34

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Auswertung und Ausblick

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Freundschaft und das Streben nach Bildung lassen sich allerdings als ihnen wichtige

Werte erkennen.

Die hier nur ansatzweise betrachtete „Entwicklung eines reflektierten Selbstbildes“

gewinnt besondere Bedeutung im Hinblick auf einen großen Gegensatz: Während in

der vietnamesischen Tradition das ‚Wir’ Vorrang vor dem ‚ Ich’ hat, ist in unserer

Gesellschaft der Trend gegenläufig. Alle befragten Jugendlichen geben in Bezug auf

die eigene kulturelle Identität an, sich als Vietnamesen zu fühlen. Einige von ihnen

sehen jedoch auch ‚deutsche’ Seiten an sich selbst.

Die Jugendlichen entwickeln eine „Zukunftsperspektive“ , welche sich zu einem

großen Teil auf den beruflichen Werdegang bezieht. Ob dies ein Ausdruck für eigene

Wünsche oder eher für den Druck der Eltern und der community ist, lässt sich

schwer einschätzen. Bis auf zwei der befragten Jungen, die vielleicht im Alter nach

Vietnam zurückkehren möchten, äußert keiner den Wunsch, in der früheren Heimat

leben zu wollen.

Zusammenfassend lässt sich zur Frage der Entwicklungsaufgaben und ihrer

Bewältigung durch die hier lebenden Jugendlichen vietnamesischer Herkunft

Folgendes festhalten:

Nicht alle der genannten Aufgaben, die im europäischen Kulturkreis gelten, sind

ohne Weiteres auf das Leben der Befragten übertragbar. Die vietnamesischen

Jugendlichen müssen für sich selbst einen Weg finden, die unterschiedlichen und

teilweise gegenläufigen ‚Leitbilder’ , welche ihnen die Herkunfts- und

Aufnahmekultur als Entwicklungsziele anbieten - z.B. emanzipierte Frau vs.

Unterordnung unter den Mann - zu vermitteln. Das erschwert die Bewältigung der

verschiedenen Aufgaben zusätzlich. Die aufgestellte Hypothese hat sich damit

bestätigt, soweit sie sich an den Interviews prüfen lässt.

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Auswertung und Ausblick

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7.1.1.2 Kulturelle Unterschiede

Der Verlust der Selbstverständlichkeiten, welche die eigene Kultur bietet, ist in

allen Lebensbereichen sichtbar. Die Jugendlichen wechseln vom asiatischen in den

westeuropäischen Kulturkreis und müssen sich hier zurechtfinden. Besondere

Probleme ergeben sich beim Erlernen der Sprache, die als Vermittler der Kultur und

Medium des Kontaktes mit der Umwelt große Bedeutung hat. Weitere

Schwierigkeiten liegen im Bereich der Bildung und Ausbildung, die in Vietnam

anders bewertet werden. Auch die Rolle der Familie und die Definition von

Geschlechterrollen ändern sich. Der Verlust von Freunden und Familienmitgliedern

und der gewohnten Umgebung ist ein schwer zu verarbeitendes Ereignis. Hinzu

kommt der Wechsel des Gesellschaftssystems. Während Vietnam sich im Wandel vom

sozialistischen zum marktwirtschaftlichen System befindet, ist in Deutschland die

soziale Marktwirtschaft fest etabliert.

Die in der Hypothese vermuteten Schwierigkeiten beim Erlernen der Sprache haben

sich bestätigt. Die Sprache als Mittel des Kontakts zur Umwelt und bei der

Weitergabe von Bildungsinhalten ist in allen Lebensbereichen wichtig. Mangelnde

Sprachkompetenz wird von den Jugendlichen als gravierendstes Problem gesehen.

Bildung und Ausbildung sind von ähnlicher Bedeutung.57 Im Herkunftsland ist die

Orientierung im Bereich der Schulformen, der Ausbildungen und des Studiums für

Eltern und Jugendliche einfacher. Sie können einschätzen, welche Bildungswege

hohe Anerkennung oder einen Prestigeverlust bedeuten. In Deutschland

unterscheiden sich zum einen die Formen der Lehre von denen in Vietnam, zum

anderen werden bestimmte Berufe unter Umständen nicht gleich bewertet. Das wird

am Beispiel der Lehrer deutlich: Während sie in Vietnam eine ganz besondere

Stellung und hohe Wertschätzung genießen, müssen sie in Deutschland häufig um

Anerkennung kämpfen.

57 Zur Bedeutung der Bildung vergleiche auch 7.1.1.1.

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Auswertung und Ausblick

107

Durch die Migration ändern sich die Funktionen der Familien (siehe 6.3.2.7 und

7.1.1.3). Die Geschlechterrollen sind in den beiden Kulturen ebenfalls

unterschiedlich. Die Jugendlichen berichten davon, dass der Vater („der Vater, nicht

die Mutter“ – Interview I) das Sagen hat. Auch auf dem Grillabend sprachen in der

Regel die Männer.58 Die Jugendlichen erleben bei deutschen Bekannten eine andere

Rollenverteilung und sind dadurch zusätzlich verunsichert. Viele von ihnen

beginnen, ein ‚Doppelleben’ zu führen: Unter Freunden passen sie sich deren

Ansichten an, in der Familie fügen sie sich weitgehend den traditionellen

Anforderungen. Die Clique mag an dieser Stelle eine wichtige Gruppe sein, in

welcher der Einzelne sich unter Gleichgesinnten weiß.

Inwiefern innerhalb der untersuchten Clique die traditionellen vietnamesischen

Rollenmuster weiterhin befolgt werden, kann ich aufgrund mangelnder

Sprachkenntnisse nicht ermitteln.59 Es scheint als wären die Mädchen in der Gruppe

voll akzeptiert und setzten sich auch gegen die Jungen durch.

Darüber, wie die Befragten den Wechsel von einem Gesellschaftssystems in ein

anderes erlebten, lässt sich an dieser Stelle keine Aussage machen. Nur einer der

Interviewten äußert, befragt nach den Unterschieden zwischen Heimat- und

Aufnahmeland, dass in Vietnam ein kommunistisches System existiert. Zwar wird

von mehreren die Armut Vietnams im Vergleich zu Deutschland herausgestellt, die

Jugendlichen bringen dies aber nicht in einen Zusammenhang mit dem System.

Der Verlust der gewohnten Umgebung, der Freunde und Verwandten ist bei allen

Jugendlichen zu spüren. Sie wünschen sich, nach Vietnam zu fahren, um die

Zurückgelassenen zu besuchen. Viele beschreiben ihr Leben im Herkunftsland als

„ lustiger“ . Sie verbrachten viel Zeit mit Freunden außerhalb des Hauses, weil es in

Vietnam erheblich wärmer ist und konnten mehr unternehmen. Die Menschen in

Vietnam sind zudem herzlicher im Umgang miteinander. Die Sehnsucht nach den

Angehörigen wird deutlich, wenn die Jugendlichen vom Heimweh berichten und

vom Leben in einer Großfamilie. Es ist auch nach mehreren Jahren für viele ein nicht

58 Dies hing nicht damit zusammen, dass sie schon länger in Deutschland sind und die Sprache besser

beherrschen, denn die Gespräche wurden auf Vietnamesisch geführt und übersetzt.59 Die Jugendlichen sprachen i.d.R. Vietnamesisch miteinander.

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Auswertung und Ausblick

108

bewältigtes Problem, dass sie Menschen, die ihnen lieb sind, verloren haben, selbst

wenn sie sich dies kaum anmerken lassen.

Hier und in vielen anderen Bereichen zeigt sich, was die Jugendlichen in der Heimat

zurück gelassen haben und wie sich ihr Leben heute von dem in Vietnam

unterscheidet. In diesem Rahmen, vor dem Hintergrund des Verlustes der

Sicherheiten einer Kultur und des Hineinwachsens in eine andere, spielt sich das

gesamte Leben der vietnamesischen Jugendlichen ab. Die entstehenden Probleme

und Unsicherheiten sind in allen Bereichen des Alltags sichtbar. Somit trifft die

aufgestellte Hypothese zu. Über den Wechsel des Gesellschaftssystems können

allerdings keine Aussagen gemacht werden.

7.1.1.3 Soziale Ressourcen – Familie und Freunde

Die sozialen Ressourcen der migrierten Jugendlichen sind nicht in jedem Fall

ausreichend. Die Rolle der Familie ändert sich, da die Eltern oft mehr

Schwierigkeiten im neuen Umfeld haben als ihre Kinder und somit in vielen

Bereichen als Ratgeber ausfallen. Gleichzeitig erwarten sie aber weiterhin ein

Befolgen ihrer Anweisungen. Die Jugendlichen müssen unter den gleichaltrigen

Vietnamesen und Jugendlichen anderer Herkunft Freunde finden, die sie

unterstützen.

Die Eltern der Jugendlichen haben in vielen Bereichen mehr Schwierigkeiten, sich an

das Leben hier zu gewöhnen und sprechen häufig nur wenig Deutsch. Sie benötigen

die Hilfe und Unterstützung ihrer Kinder.60 Gleichzeitig erwarten sie von diesen

weiterhin das Achten ihrer Anweisungen. Im Gegensatz zum Herkunftsland fehlt hier

zudem die weitere Verwandtschaft, die viele Funktionen übernehmen könnte. Die

60 Die Jugendlichen äußern sich nicht zu diesem Punkt, was vermutlich durch die Pietät gegenüber den

Eltern begründet ist.

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Auswertung und Ausblick

109

Familie ist somit nicht in allen Lebensbereichen in der Lage, die notwendige

Unterstützung zu leisten.

Hinzu kommt eine weitere Veränderung. Während in Vietnam der Vater als

Oberhaupt häufig fehlte, weil er als Vertragsarbeiter im Ausland war, ist die

Kleinfamilie hier weitestgehend komplett. Der Vater hat das Sagen, was die Kinder

nicht ohne Weiteres verkraften. Sie leiden unter der Strenge der vietnamesischen

Erziehung, die durch das Kennenlernen der liberaleren europäischen bzw. deutschen

Formen noch drückender erscheint. Die Jugendlichen berichten vielfach vom

lockeren Umgang miteinander in den Familien ihrer deutschen Freunde und scheinen

sich eine weniger strenge Erziehung zu wünschen.

Die Jugendlichen müssen sich neue Freunde suchen. In der Anfangszeit ist die

Kontaktaufnahme zu einheimischen Jugendlichen durch mangelnde

Sprachkenntnisse nicht leicht. Das ändert sich nach einer gewissen Zeit und die

vietnamesischen Jugendlichen lernen Deutsche und deren Kultur kennen. Ihre

Situation ist jedoch anders als die der hier Geborenen, welche ihnen daher nicht in

allen Fällen Unterstützung bieten können. Eine Beschränkung auf einen Kreis

vietnamesischer Freunde ist jedoch ungünstig, weil dadurch der Kontakt zu

Einheimischen und das Einleben in die neue Kultur erschwert werden.

Freunde haben die befragten Jugendlichen sowohl unter den Deutschen,

insbesondere durch die Schule und den Sport, als auch unter vietnamesischen

Migranten. Über den Kontakt zu nicht-vietnamesischen Freunden lässt sich anhand

der Gespräche und nach der Zeit im Verein nur wenig sagen, da die Interviewten

ohne sie zu Dien Hong kommen und auch nichts über sie berichteten. Es scheint aber

so, als würden sich die Freundschaften der vietnamesischen Jugendlichen

untereinander von denen mit deutschen unterscheiden. Die Befragten empfinden die

Vietnamesen als freundschaftlicher und aufopferungsvoller. Sie orientieren sich

deshalb in vielen Situationen an der Clique.

Ein Junge, der schon länger (6 Jahre) in Deutschland ist, berichtete in einem

(informellen) Gespräch, er hätte weder richtige deutsche noch echte vietnamesische

Freunde. Die Vietnamesen seien ihm in ihrer Art zu freundlich und würden nie

jemandem eine etwas härtere Meinung ins Gesicht sagen, die Deutschen seien im

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Auswertung und Ausblick

110

Gegensatz dazu wiederum zu kühl im Umgang miteinander. Dies macht die

Schwierigkeiten, welche die Jugendlichen haben, noch einmal sehr deutlich.

Die sozialen Ressourcen, welche den befragten Jugendlichen zur Verfügung stehen,

sind also recht unterschiedlich. Die Familie ist als Träger der Herkunftskultur und als

Unterstützung in vielen Lebenslagen wichtig, kann aber bestimmte Funktionen nicht

mehr wie gewohnt erfüllen. Die deutschen Freunde helfen beim Kennenlernen der

Aufnahmekultur. Sie wecken bei den vietnamesischen Jugendlichen Zweifel an der

Richtigkeit der eigenen Traditionen, bzw. an deren Weiterführung im europäischen

Kontext. Die Mitglieder der vietnamesischen Clique, die befragt wurden,

unterstützen sich gegenseitig bei der Vermittlung zwischen den beiden Kulturen und

der Entwicklung eigener Vorstellungen.

Der Verein Dien Hong könnte für die Jugendlichen mit Migrationsgeschichte als eine

Art Schnittpunkt zwischen den verschiedenen ‚Unterstützern’ fungieren, indem er

Kontakt zu den Eltern hält und den Jugendlichen Angebote der Freizeitgestaltung

unterbreitet, die diese mit ihren Freunden unterschiedlicher Herkunft gemeinsam

nutzen können.

7.1.1.4 Fremdenfeindlichkeit

Die Feindlichkeit und Ablehnung, die Vietnamesen erfahren, beruht auf ihrem

fremden Aussehen und auf bestimmten Klischees, die man ihnen zuschreibt.

Natürlich haben alle von der vietnamesischen Zigarettenmafia gehört und davon,

dass man in Asien Hunde isst. Andererseits scheinen in den neuen Bundesländern

Vietnamesen als freundlich und fleißig zu gelten und im Vergleich mit anderen

Gruppen von Ausländern am ehesten als ‚ irgendwie dazugehörend’ empfunden zu

werden.

Die Ergebnisse, wie sie in Abschnitt 6.3.2.5 zum Thema Fremdenfeindlichkeit

gegenüber den Vietnamesen dargelegt wurden, zeigen auf den ersten Blick, dass die

Jugendlichen die Ablehnung, die ihnen von Einheimischen entgegengebracht wird,

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Auswertung und Ausblick

111

zwar wahrnehmen, aber nicht als gravierendes Problem betrachten. In jenem

Abschnitt wurde bereits versucht, eine Erklärung für diese Tatsache zu finden. So ist

es einerseits möglich, dass die Vietnamesen tatsächlich wenig Fremdenfeindlichkeit

erfahren, was die Aussage Wolfgang Richters bestätigen würde, dass sie als

„ irgendwie dazugehörig“ empfunden werden (Interview II). Dagegen sprechen aber

alltägliche Erfahrungen vieler Vietnamesen, die immer wieder Hass und Gewalt

erleben.

Eine weitere Erklärung wäre, dass die Jugendlichen gefährliche Situationen

weitgehend meiden, indem sie viel Zeit in der Familie und mit Freunden gleicher

Herkunft verbringen.

Möglich ist auch, dass sie die Ablehnung, die sie z.B. in der Schule erfahren, wenn

Mitschüler sie nicht beachten, nicht auf ihre Herkunft, sondern auf sich als Person

beziehen (was ja durchaus zutreffen kann). Die Annahme, dass die Jugendlichen die

Probleme verdrängen, lässt sich anhand der Interviews weder bestätigen noch

verwerfen.

Die Hypothese über die von Vietnamesen erfahrene Ausländerfeindlichkeit erweist

sich als nicht richtig. Nur einer der Jugendlichen äußert, etwas Ähnliches schon

erlebt zu haben. Insgesamt scheinen die Interviewten die Situation als wenig

bedrohlich wahrzunehmen. Dies kann aber ein Eindruck sein der täuscht.

Möglicherweise meiden die Jugendlichen die Gefahren und wollen sich weder dazu

äußern, noch sich überhaupt Gedanken machen, weil die Erlebnisse in diesem

Bereich beängstigend sind.

7.1.2 Einstellungen und Erwartungen an Dien Hong

Die im Kapitel 4.3 nach der Literaturrecherche und dem Gespräch mit Nguyen do

Thinh aufgestellten Hypothesen über die Einstellungen und Erwartungen der

vietnamesischen Jugendlichen an den Verein Dien Hong sollen nun anhand der

Interviews bewertet werden.

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Auswertung und Ausblick

112

α Hypothese 1:

Die Jugendlichen verstehen den Verein hauptsächlich als einen möglichen

Treffpunkt. Sie wollen ihre (vietnamesischen) Freunde sehen, wozu hier

Möglichkeiten gegeben sind. Das Ziel des Vereins, für Menschen aus verschiedenen

Kulturkreisen einen Ort des Austausches und der Begegnung zu schaffen, ist ihnen

nicht bewusst oder interessiert sie nicht.

Die Hypothese, nach der die Jugendlichen den Verein hauptsächlich als einen

Treffpunkt für die Begegnung mit den vietnamesischen Freunden verstehen, hat sich

im Laufe der Gespräche bestätigt. Wie aus den Interviews deutlich wurde, kommen

die Jugendlichen hauptsächlich zu Dien Hong, um ihre Freunde zu sehen. Ihnen ist

anscheinend nicht bewusst, was der Verein mit seinem Treff eigentlich bezwecken

will und warum er gegründet wurde.

Vielleicht kennen die Befragten auch die Entstehungsgeschichte, fühlen sich aber

nicht direkt angesprochen. Sie waren beim Brand des Sonnenblumenhauses noch

nicht in Rostock und haben so keinen direkten Bezug zum Anlass der Gründung. Das

mag zu der Aussage führen, der Verein sei nicht für sie, sondern für die Erwachsenen

gegründet worden (Interview 1).

Möglicherweise sehen die Jugendlichen keinen Anlass, den Treff zur Begegnung mit

anderen Jugendlichen zu nutzen. Mit Deutschen haben sie auch in der Schule und

beim Sport Kontakt. Sie sind froh, wenn sie sich ungestört in ihrer Muttersprache

unterhalten können und wissen, dass sie im Verein Leute sehen, die den gleichen

kulturellen Hintergrund haben, mit ihnen die Migrationserfahrungen teilen und sich

mit ähnlichen Sorgen und Problemen beschäftigen. Dies wirkt mit Sicherheit

entlastend in einem Alltag, der durch die Balanceversuche zwischen verschiedenen

Kulturen bestimmt ist.

Nicht deutlich geworden ist, warum den Eltern nichts daran liegt, ihren Kindern die

Bedeutung des Vereins zu vermitteln und die Chancen aufzuzeigen, die er bietet. Es

ist unwahrscheinlich, dass die Erwachsenen die Anliegen Dien Hongs nicht kennen.

Viele von ihnen waren damals im Sonnenblumenhaus und bei der Gründung des

Vereins dabei. Entweder verstehen die Eltern den Verein also inzwischen tatsächlich

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Auswertung und Ausblick

113

(wie im Vorwort beschrieben) als ein Dienstleistungsunternehmen, oder sie haben

mit der Entstehungsgeschichte, die mittlerweile 8 Jahre zurückliegt, abgeschlossen

und sehen keine Notwendigkeit mehr, zwischen den Kulturen zu vermitteln. Das ist

aber im Hinblick auf immer noch stattfindende Übergriffe und die Ablehnung gegen

Fremde nicht anzunehmen.

Am wahrscheinlichsten ist die Vermutung, dass die Eltern der schulischen und

beruflichen Bildung einen höheren Stellenwert einräumen, als dem gegenseitigen

Kennenlernen der Kulturen. Vielleicht glauben sie, dass Integration gerade dann

gelingt, wenn jemand eine gute Arbeit hat. Aus diesem Grunde mag die eigentliche

Intention des Vereins für sie in den Hintergrund treten.

Die Hypothese, nach der die Jugendlichen Dien Hong lediglich als einen Treffpunkt

nutzen, ohne nach seinen Zielen und Hintergründen zu fragen, bewahrheitet sich.

Ähnlich verhält es sich mit Sicherheit in vielen anderen Jugendclubs auch: Sie

werden aufgesucht, weil ein Bedürfnis nach Raum vorhanden ist, in dem sich der

Einzelne und die Gruppe ausprobieren können. Welche Absicht der Betreiber des

Treffs hat, ist weitgehend egal, solange er nicht versucht, die Besucher zur Erfüllung

dieser Ziele anzuhalten. Die Jugendlichen empfinden so etwas als eine Beeinflussung

durch andere (bzw. durch Erwachsene), der sie gerade durch das Aufsuchen eines

Jugendclubs entgehen wollen.

α Hypothese 2:

Die Jugendlichen nehmen in erster Linie Bildungsangebote wahr. Dies ist in der

vietnamesischen Sicht auf Bildung und Ausbildung begründet. Die Eltern haben

eigene Erwartungen auf ihre Kinder übertragen und die community ‚wacht’ über die

Erfüllungen dieser Erwartungen.

Bildungsangebote stehen auf der Wunschliste der Jugendlichen an den Verein Dien

Hong ganz oben. Sie erwarten Nachhilfe in den verschiedenen Fächern und kommen

nur zu diesen Anlässen in den Jugendclub. Zwar geben sie als Hauptgrund für ihre

Besuche bei Dien Hong das Treffen mit Freunden an, sie nutzen aber die

Begegnungsstätte nur an den Freitagen, wenn auch Unterricht stattfindet.

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Auswertung und Ausblick

114

Die Jugendlichen nennen als Grund dafür, warum sie z.B. unbedingt Englisch lernen

möchten, dass es ihnen nur

mit Kenntnissen in dieser

Sprache möglich ist, das

Gymnasium zu besuchen und

das Abitur zu machen. Dieses

wiederum ist Voraussetzung

für ein Studium, welches die

meisten von ihnen anstreben.

Sie verbringen einen großen

Teil ihrer Freizeit mit dem Lernen. Allerdings werden die Nachhilfestunden im

Verein in gewisser Weise auch als ein Vorwand gegenüber den Eltern (und sich

selbst) genutzt, um Freunde treffen zu können.

Für die Zielsetzung von Dien Hong ist das alles andere als förderlich. Die

Jugendlichen kommen nur in den Waldemarhof, wenn sie als Anlass dafür die

Nachhilfestunden angeben können. Sie bleiben an diesem einen Tag in der Woche

hauptsächlich in ihrer Clique beisammen und nehmen wenig Kontakt zu anderen

Jugendlichen auf.

Auch diese Hypothese erweist sich als richtig. Die Jugendlichen sind, beeinflusst

durch die Eltern und die community, besonders an Bildungsangeboten interessiert.

Ein Grund dafür liegt mit Sicherheit in der Wertschätzung, die Vietnamesen

traditionell einem ‚Weisen’ entgegenbringen. Aber auch der Wunsch, sich in der

neuen Heimat gut zu integrieren, spielt eine Rolle. Die Hoffnung vieler Eltern, die

Kinder mögen ‚es einmal besser haben’ , mag ebenfalls einen Beitrag zu dieser

Einstellung leisten.

α Hypothese 3:

Die räumliche Entfernung zum Verein erschwert den Jugendlichen die Situation. Sie

müssen mit dem Rad oder der S-Bahn anreisen, was besonders im Winter schwierig

ist und vermutlich von den Eltern nicht so gerne gesehen wird.

Englischnachhilfe bei Dien Hong Foto: Michael Hugo

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Auswertung und Ausblick

115

Der Jugendtreff und der Verein befinden sich noch nicht allzu lange im

Waldemarhof. Vorher waren die Räumlichkeiten in Lichtenhagen und somit für

einen Großteil der Jugendlichen besser erreichbar, weil sie aus dem Nordosten der

Stadt kommen.

Zum einen spielt vielleicht die Gewohnheit eine Rolle, wenn die Jugendlichen heute

den Treff seltener aufsuchen. Früher konnten sie auch ‚mal eben schnell’ eine Runde

Billard spielen gehen und ihre Freunde treffen, was jetzt unmöglich ist. Zum anderen

ist die Entfernung zwischen Wohnort und Jugendclub wirklich beträchtlich. Im

Sommer kommen die Jugendlichen mit dem Fahrrad zu Dien Hong. Es wird spät

dunkel und somit ist die Gefahr geringer, dass auf dem Heimweg etwas passieren

könnte. Im Winter ist das Wetter oftmals schlecht und es wird abends eher dunkel.

Somit ist der Weg nach Hause nicht ohne Probleme zu bewältigen. Zudem kostet die

S-Bahn Geld, das nicht alle immer aufbringen können oder wollen.

Die dritte Hypothese zu den Einstellungen und Erwartungen an Dien Hong wird also

ebenfalls durch die Interviews gestützt.61 Ob die Jugendlichen im Winter von sich

aus nicht zum Verein kommen, weil es gefährlicher ist, ob die Eltern es ihnen

verbieten oder ob sie einfach keine Lust haben, wie mir ein Mädchen berichtete, ist

nicht ganz eindeutig. Eventuell würde sich die Situation ändern, wenn der

Nachhilfeunterricht länger als eine Stunde dauerte. Dann lohnt sich der Preis für die

Bahn eher und das Argument gegenüber den Eltern ist stärker.

7.2 Ausblick

Einen Ausblick für die Arbeit im Jugendtreff zu geben, ist nicht leicht. Die

vorliegende Studie kann nicht allen Hoffnungen, Erwartungen und Wünschen, die an

sie gestellt wurden, gerecht werden. Immer wieder äußerten Mitarbeiter von Dien

Hong, diese Arbeit mit Spannung zu erwarten, weil man sich von ihr die Lösung der

Probleme erhofft, die der Verein derzeit mit der seltenen Anwesenheit der

61 Es zeigt sich, dass sich die aufgestellten Thesen in vielen Bereichen bestätigen. Das ist unter

anderem ein Resultat meiner Einbindung ins Forschungsfeld während der Erarbeitung dertheoretischen Grundlagen und der Aufstellung der Vermutungen.

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Auswertung und Ausblick

116

Jugendlichen hat. Es gibt einige Punkte, die dazu angemerkt werden sollen, weil sie

während der Zeit bei Dien Hong und durch das Schreiben dieser Arbeit deutlich

geworden sind. Ein Konzept, wie der Verein die Jugendlichen und ihre Eltern dazu

bewegen könnte, seine Angebote mehr und im Sinne der gesetzten Ziele zu nutzen,

kann an dieser Stelle nicht entwickelt werden. Ebenso ist es im Rahmen der

vorliegenden Arbeit unmöglich, konkrete pädagogische Handlungsanweisungen für

die Mitarbeiter aufzustellen. Um dies zu leisten wäre eine tiefer gehende

Beschäftigung mit dem Thema, vielleicht im Rahmen weiterer Magister- oder

Diplomarbeiten, denkbar. Die vorliegenden Kapitel sollten als eine Grundlage für

solche Untersuchungen verstanden werden.

Folgende Punkte können, die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen neu zu

gestalten:

Den Wunsch nach Bildung nutzen

Die Jugendlichen sind sehr an Bildung interessiert und besuchen den Verein, wenn

dort Unterricht angeboten wird. Dien Hong könnte dieses Bedürfnis der Jugendlichen

ganz bewusst nutzen, um sie zu erreichen. Zwar liegt Nachhilfeunterricht nicht

unbedingt in der Intention des Vereins, aber wie sich im letzten dreiviertel Jahr

gezeigt hat, ist er für die Jugendlichen ein guter Anlass, zunächst überhaupt in den

Waldemarhof zu kommen. Der Unterricht muss nicht im herkömmlichen Sinne

gegeben werden, sondern könnte verschiedene Momente interkultureller Erziehung

beinhalten. Eine Möglichkeit wäre die Bildung von gemischten Gruppen aus

Jugendlichen verschiedener Kulturen, die gemeinsam an einem Thema arbeiten oder

sich über die eigenen Traditionen informieren. So bietet z.B. der Englischunterricht

die Möglichkeit, voneinander zu erfahren, wie die verschiedenen Sprachen aufgebaut

sind. Inwiefern die Eltern und auch die Jugendlichen diese Form des Unterrichts

akzeptieren würden, ist natürlich nicht sicher. Da sich aber bereits Studenten

gefunden haben, die den Nachhilfeunterricht weiterführen wollen, wäre ein in diese

Richtung gehender Versuch naheliegend.

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Auswertung und Ausblick

117

Einbezug der Eltern

Die Eltern beeinflussen die Einstellungen und Handlungen der Kinder maßgeblich.

Wichtig ist deshalb eine Zusammenarbeit mit ihnen. Dies haben wir unter anderem

durch einen gemeinsamen Grillabend mit den Jugendlichen und ihren Familien

versucht. Allerdings kann sich die Zusammenarbeit nicht auf ein Treffen im Jahr

beschränken, bei dem man sich gegenseitig über seine Vorstellungen von der

Freizeitgestaltung der Kinder informiert. Wichtiger ist ein regelmäßiger Austausch

über die Bedürfnisse der Jugendlichen und Eltern, bei dem auch deutlich werden

sollte, wo die besonderen Probleme beim Leben in einer fremden Kultur liegen. Die

Erwachsenen müssen auf diesem Wege erkennen, dass ihre Kinder nur dann eine

Chance in der neuen Heimat haben, wenn sie sich auch im Alltag in ihr gut

zurechtfinden. Möglich wären gemeinsame Abende mit den Eltern der deutschen und

andersstämmigen Kinder, die den Verein aufsuchen. Dabei muss aber gewährleistet

sein, dass den Jugendlichen ihr Freiraum im Treff erhalten bleibt und sie nicht das

Gefühl entwickeln, die Eltern mischten sich verstärkt in ihre Freizeitgestaltung ein.

Kultur nicht nur vorstellen

Der Austausch zwischen den Kulturen, wie ihn der Verein ermöglichen möchte, darf

nicht in einem bloßen Vorstellen der eigenen Traditionen bestehen. Einen

Drachentanz auf einem Stadtteilfest aufzuführen, ist gut und schön. Dieser wirkt

jedoch lediglich exotisch und unverständlich auf die Zuschauer, wenn seine nicht

Bedeutung erklärt wird. Wichtig sind deshalb Angebote, bei denen man sich direkt

(mit den Vietnamesen) austauschen und die Hintergründe und den Sinn bestimmter

Bräuche erfragen kann. Dazu ist es wiederum notwendig, dass die kulturelle Identität

der Migranten insofern gestärkt wird, dass ihnen die Bedeutungen der eigenen

Traditionen selbst bewusst werden. Die Jugendlichen müssen wissen, was der Tanz

bedeutet, den sie aufführen, um dies anderen vermitteln zu können. Insofern sind

Angebote durch den Verein sinnvoll, die das Kennenlernen der eigenen Kultur in den

Mittelpunkt stellen, ohne dass die Aufnahmekultur dabei an Bedeutung verliert.

Andere vietnamesische Jugendliche er reichen

Die vietnamesischen Jugendlichen, welche momentan den Jugendtreff nutzen, bilden

eine recht feste Clique. Das birgt die Gefahr in sich, dass, sobald eines oder mehrere

der Mitglieder dieser Gruppe den Treff nicht mehr aufsuchen, auch alle anderen

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Auswertung und Ausblick

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fernbleiben. Außerdem werden die Jugendlichen den Verein, wenn sie eine längere

Zeit in Deutschland sind, nicht mehr so nötig brauchen. Deshalb ist es für Dien Hong

wichtig, auch andere und neu hinzuziehende Kinder und Jugendliche mit seinen

Angeboten zu erreichen. Eine möglicherweise in Frage kommende Gruppe sind die

in der Innenstadt von Rostock lebenden vietnamesischen Jugendlichen. Sie werden

von der Clique im Treff wenig akzeptiert. Da diese aber im Moment nicht

regelmäßig dort erscheint, wäre es einen Versuch wert, sie in den Club einzuladen.

Persönliche Anmerkung

Eine persönliche Anmerkung zu meiner Zeit bei Dien Hong sei mir am Ende der

Arbeit gestattet. Dem Verein waren der Englischunterricht, für den auf Handzetteln

und im Internet geworben wurde, und die erwarteten Ergebnisse meiner

Untersuchung wichtig. Das ist verständlich und ehrt mich. Für die zukünftige

Zusammenarbeit mit ‚Ehrenamtlichen’ würde ich jedoch eine bessere Weiterleitung

von Informationen als bedeutsam ansehen. Von manchen Veranstaltungen, welche

die Jugendlichen durch die traditionellen Tänze mit gestalteten, erfuhr ich gar nicht

oder erst so spät, dass es mir aus zeitlichen Gründen nicht möglich war, daran

teilzunehmen. Dadurch konnte ich viele Gelegenheiten, den Kontakt zu

intensivieren, nicht nutzen. Wenn an jemanden der Anspruch gestellt wird, er solle

zur Lösung eines Problems beitragen, ist es von großer Bedeutung, ihn mit allen

entsprechenden Informationen zu versorgen.

Andere Kulturen, Mentalitäten und Traditionen erweitern den eigenen Horizont und

wirken nicht mehr beängstigend und fremd, wenn man sich ihnen erst einmal

genähert hat. Ich habe in der Zeit bei Dien Hong vieles über die vietnamesische

Kultur und die Situation der ehemaligen Vertragsarbeiter der DDR und ihrer

Familien gelernt. Je mehr ich erfuhr, desto größer wurde der Berg an Fragen, die sich

auftaten. Eines meiner nächste Reiseziele ist Vietnam und ich bin sicher, dass ich

dort noch mehr über dieses faszinierende Land und seine Menschen erfahren werde.

Page 119: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Literatur

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Literatur

· Beck, Ulrich/ Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.) 1994: Riskante Freiheiten

Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag

· Bem, Arim Soares do 1998: Das Spiel der Identitäten in der Konstitution von

„Wir“ -Gruppen: ost- und westdeutsche Jugendliche und in Berlin geborene

Jugendliche ausländischer Herkunft im gesellschaftlichen Umbruch

Frankfurt/ Main: Peter Lang GmbH, Europäischer Verlag der Wissenschaften

· Bui, Marie Thérèse Cong Tang 1996: Die zweite Heimat: Zur Integration

vietnamesischer Flüchtlinge in Frankfurt am Main und Umgebung 1979-1994

Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag

· Collatz, Jürgen/ Brandt, Andreas/ Salman, Ramazan/ Timme, Sabine (Hrsg.)

1992: Was macht Migranten in Deutschland krank? Zur Problematik von

Rassismus und Ausländerfeindlichkeit und von Armutsdiskriminierung in

psychosozialer und medizinischer Versorgung

Ethnomedizinisches Zentrum Hannover e.V.

Hamburg: EB-Verlag Rissen

· Das große Buch des Allgemeinwissens. Ein unentbehrliches Nachschlagewerk

für die ganze Familie

Mannheim: Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG

Stuttgart: Verlag Das Beste GmbH (Sonderausgabe), 1991

· Der Spiegel

Nr. 21 vom 24.05.1999

Page 120: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Literatur

120

· Dien Hong – Gemeinsam unter einem Dach e.V. 1998: Berufliche und soziale

Integration Ehemaliger DDR-VertragsarbeiterInnen in Rostock

Ein Modellprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und

Sozialordnung. Juni 1994 – Dezember 1997

Rostock

· Doan Minh Phuong 1984: Das politische Denken der Vietnamesen. Erfahrungen

eines Vietnamesen.

Protokoll eines in freier Rede gehaltenen Vortrags

In: Doan Minh Phuong / Köppinger, Peter (Hrsg.) 1984, a.a.O., S. 13-24

· Doan Minh Phuong / Köppinger, Peter (Hrsg.) 1984: Vietnam. Der lange Weg in

Unfreiheit

Bonn: Vietnamesisches Kulturzentrum e.V.

Buchendorf: Buchendorfer Verlag GmbH

· Dorfmüller-Karpusa, Ekatherini 1992: Bikulturalität: Belastung oder Privileg?} ~����#��� � � � � ����� � � � ���8� �!� � � ~�� �#� � ��� �_� ����������� ��� � � ���;��� ����� � ���

· Fischer, Arthur/ Münchmeier, Richard 1997: Die gesellschaftliche Krise hat die

Jugend erreicht. Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse der 12. Shell

Jugendstudie

In: Jugendwerk der deutschen Shell (Hrsg.), 1997, a.a.O., S. 11-23

· Flückiger, Anita 2000: Vietnam – das wahre Indochina

In: Gour-med. 2000, a.a.O., S. 32 – 44

· Friebertshäuser, Barbara 1997: Interviewtechniken – ein Überblick

In: Friebertshäuser, Barbara/ Prengel, Annedore (Hrsg.) 1997, a.a.O., S. 371-395

· Friebertshäuser, Barbara/ Prengel, Annedore (Hrsg.) 1997: Handbuch qualitative

Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft

Weinheim und München: Juventa Verlag

Page 121: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Literatur

121

· Gour-med. Das Magazin für Ärzte

Heft 1/ 2 2000; 16. Jahrgang

Sulzburg: mvp medizinische praxisverlagsgesellschaft mbH

· Griese, Christiane/ Marburger, Helga 1995: Zwischen Internationalismus und

Patriotismus. Konzepte des Umgangs mit Fremden und Fremdheit in den Schulen

der DDR

Frankfurt/ Main: IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation

· Gudjons, Herbert 1995: Pädagogisches Grundwissen

3. Auflage

Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt

· Henecka, Hans Peter 1994: Grundkurs Soziologie

5., durchgesehene Auflage

Opladen: Leske + Budrich

· Hettlage-Varjas, Andrea 1992: Bikulturalität – Privileg oder Belastung?�  �¡�¢#£�¤ ¥ ¦ § ¨ ©�ª�« ¬ ¤ ­ ®H. Elçin (Hrsg.) 1995, a.a.O., S. 142-167

· Heyder, Monika 1997: KulturSchock Vietnam

Bielefeld/ Brackwede: Reise Know-How Verlag Peter Rump GmbH

· Hitzler, Ronald/ Honer, Anne 1994: Bastelexistenz – Über subjektive

Konsequenzen der Individualisierung

In: Beck, Ulrich/ Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.) 1994, a.a.O., S. 307-313

· Hoffmann, Klaus 1990: Leben in einem fremden Land. Wie türkische

Jugendliche ‚soziale’ und ‚persönliche’ Identität ausbalancieren

Bielefeld: KT-Verlag, Karin Böllert

· Horr, Manfred 1991: Das ‚Fachkräfteprogramm Vietnam’ aus der Sicht der in

den alten Bundesländern lebenden Vietnamesen

In: Schönmeier, Hermann W. (Hrsg.) 1991, a.a.O., S. 285-354

Page 122: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Literatur

122

· Horr, Manfred 1991: Demographische Merkmale, Berufliche Qualifikation und

Erwerbstätigkeit der Vietnamesen in den alten Bundesländern

In: Schönmeier, Hermann W. (Hrsg.) 1991, a.a.O., S. 33-63

· Hurrelmann, Klaus 1997: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die

sozialwissenschaftliche Jugendforschung

5. Auflage

Weinheim; München: Juventa Verlag

· Illner, Hans 1989: Reiseland Vietnam

Moers: edition aragon

· Jones, John R. 1990: Vietnam Handbuch

Kiel: Conrad Stein Verlag

· Jugendwerk der deutschen Shell (Hrsg.) 1997: Jugend `97. Zukunftsperspektiven,

Gesellschaftliches Engagement, Politische Orientierungen

Opladen: Leske + Budrich

· König, Eckard/ Bentler, Annette 1997: Arbeitsschritte im qualitativen

Forschungsprozess – Ein Leitfaden

In: Friebertshäuser, Barbara/ Prengel, Annedore (Hrsg.) 1997, a.a.O., S. 88-96

· Krebs, Astrid 2000: Daheimgeblieben in der Fremde. Vietnamesische

VertragsarbeitnehmerInnen zwischen sozialistischer Anwerbung und

marktwirtschaftlicher Abschiebung.

Diplomarbeit an der Fachhochschule „Alice Salomon“ in Berlin vom SS 1999

Broschürenreihe „BRD und Dritte Welt“ ; Hrsg.: Reinhard Pohl

Kiel: Magazin Verlag

· Kuckartz, Udo 1997: Qualitative Daten computergestützt auswerten: Methoden,

Techniken, Software

In: Friebertshäuser, Barbara/ Prengel, Annedore (Hrsg.) 1997, a.a.O., S. 584-595

Page 123: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Literatur

123

· ¯#°�± ² ³ ´ µ ¶�·�¸ ¹ ± º »�¼!¸ ½ ¾ ¿ÁÀ Â�Â�Ã;Ä�Å#¹ Æ °�·�¸ ¹Ç¾ ¿�È�¹ ±ÊÉ�± ¹ Ë�È�¹In: Collatz, Jürgen/ Brandt, Andreas/ Salman, Ramazan/ Timme, Sabine (Hrsg.)

1992, a.a.O., S. 69-84

· Ì#Í�Î Ï Ð Ñ Ò Ó�Ô�Õ Ö Î × Ø�Ù8Ú�Û!Õ Ü Ý Þàß Ù#Î × á�Ú â#ã ä�ä�å�æ�ç�Ý Ö�è�é�Õ Ñ Ý ê�é�Õ Ñ é�Î Ö Õ Õ Ö8ë#Ö × Ö Õ Õ × ì Ô�Ð í Ñ æ�ç�Ö ÎXî�Ö ázur Gleichstellung?

2. Auflage

Frankfurt/ Main: Verlag für Interkulturelle Kommunikation

· Kunzmann, Peter/ Burkhard, Franz-Peter/ Wiedmann, Franz 1995: dtv-Atlas zur

Philosophie. Tafeln und Texte

5. Auflage

München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG

· Lajios, Konstantin (Hrsg.) 1993: Die psychosoziale Situation von Ausländern in

der Bundesrepublik. Integrationsprobleme und seelische Folgen

Opladen: Leske + Budrich

· Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern und die

Hansestadt Rostock unter Mithilfe von Dien Hong – Gemeinsam unter einem

Dach e.V. (Hrsg.) 2000: Das Leben ist bunt. Interkulturelle Arbeit in

Mecklenburg-Vorpommern

Aktualisierte Nachauflage

Rostock

· Landkreis Marburg/ Biedenkopf/ Jugendbildungswerk (Hrsg.) 1993: Hier war ich

ein Niemand … vielleicht nur ein Regentropfen, der auf die Erde gefallen ist.

Kinder und Jugendliche schreiben ein Buch über das Zusammenleben mit

Ausländern

2. Auflage

Marburg; Berlin: Schüren Presseverlag

Page 124: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Literatur

124

· Lietsch, Jutta 2000: Bittersüße Feierlichkeiten

Tazmag, 14. Woche, Nr. 133

Sonnabend/ Sonntag, 8./ 9. April 2000

· Marburger, Helga (Hrsg.) 1993: „Und wir haben unseren Beitrag zur

Volkswirtschaft geleistet“ : eine aktuelle Bestandsaufnahme der Situation der

Vertragsarbeiter der ehemaligen DDR vor und nach der Wende

Frankfurt/ Main: Verlag für Interkulturelle Kommunikation

· Marburger, Helga/ Helbig, Gisela/ Kienast, Eckhard/ Zorn, Günter 1993:

Situation der Vertragsarbeitnehmer der ehemaligen DDR vor und nach der

Wende

In: Marburger, Helga (Hrsg.) 1993, a.a.O., S. 10-37

· Merkens, Hans 1997: Stichproben bei qualitativen Studien

In: Friebertshäuser, Barbara/ Prengel, Annedore (Hrsg.) 1997, a.a.O., S. 97-106

· Meuser, Michael/ Nagel, Ulrike 1997: Das ExpertInneninterview –

Wissenssoziologische Voraussetzungen und methodische Durchführung

In: Friebertshäuser, Barbara/ Prengel, Annedore (Hrsg.) 1997, a.a.O., S. 481-491

· Nguyen Minh Ha, 1991: Die Perspektiven der in der ehemaligen DDR lebenden

VietnamesInnen

In: Schönmeier, Hermann W. (Hrsg.) 1991, a.a.O., S. 253-283

· Nguyen-thi Minh-Dai 1998: Identitätsprobleme vietnamesischer Kinder und

Jugendlicher in deutschen Schulen

Köln/ Weimar/ Wien: Böhlau

· Nieke, Wolfgang 1995: Interkulturelle Erziehung und Bildung.

Wertorientierungen im Alltag.

Opladen: Leske + Budrich

Page 125: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Literatur

125

· Nieke, Wolfgang 1997: Jugendtheorien. Vorlesung im Sommersemester 1997

Universität Rostock

· Nieke, Wolfgang 1998: Ausländische Kinder und Jugendliche in der

Jugendforschung

Reader zum Seminar: Zur Berücksichtigung von Minderheiten in der

Jugendforschung

Universität Rostock, SS 1998 - WS 1998/ 99

· Nieke, Wolfgang 1999: Einführung in die Interkulturelle Erziehung; Vorlesung

im Wintersemester 1999/ 2000

Universität Rostock

· Oswald, Hans 1997: Was heißt qualitativ forschen?

In: Friebertshäuser, Barbara/ Prengel, Annedore (Hrsg.) 1997, a.a.O., S. 71-87

· Pfeifer, Claudia 1991: Konfuzius und Marx am Roten Fluss: vietnamesische

Reformkonzepte nach 1975

Unkel/ Rhein; Bad Honnef: Horlemann Verlag

· Riedel, Almut 1994: Algerische Arbeitsmigranten in der DDR … „hatten ooch

Chancen, ehrlich!“

Opladen: Leske + Budrich

· Roth, Leo 1991: Forschungsmethoden der Erziehungswissenschaft

In: Roth, Leo (Hrsg.) 1991, a.a.O., S. 32–67

· Roth, Leo (Hrsg.) 1991: Pädagogik: Handbuch für Studium und Praxis

München: Ehrenwirth

· Satzung des Verein Dien Hong – gemeinsam unter einem Dach e.V.

Rostock, den 19. Juli 1997

Page 126: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Literatur

126

· Schmidt, Christiane 1997: „Am Material“ : Auswertungstechniken für

Leitfadeninterviews

In: Friebertshäuser, Barbara/ Prengel, Annedore (Hrsg.) 1997,a.a.O., S. 544-568

· Schönmeier, Hermann W. (Hrsg.) 1991: Prüfung der Möglichkeiten eines

Fachkräfteprogramms Vietnam.

Saarbrücken/ Lauderdale: Verlag breitenbach Publishers

· Trogemann, Gerd 1997: Doi Moi – Vietnams Reformpolitik in der Retrospektive

Universität Passau: Lehrstuhl für Südostasienkunde

· Weggel, Oskar 1984: Die innenpolitische Lage Vietnams. Die wirtschaftliche

und gesellschaftliche Entwicklung in Vietnam seit 1975.

Protokoll eines in freier Rede gehaltenen Vortrags

In: Doan Minh Phuong / Köppinger, Peter (Hrsg.) 1984, a.a.O., S. 45-65

Page 127: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Anhang

I

Anhang

Liste der geführten Interviews

α Befragte Jugendliche

Nr. Geschlecht Alter In Deutschland seit AnmerkungBezeichnung der

Interviewten

1www

1717?

3,5 Jahren2 Jahren

2,5 Jahren

Gruppen-gespräch

ABC

2 m 16 4,5 Jahren D

3 m 18 2,5 Jahren E

4 m 16 2,5 Jahren F

5 w 18 4 Monaten G

6 m 16 2 Jahren H

α Interview I: Nguyen do Thinh (Vereinsvorsitzender und Mitarbeiter bei Dien

Hong), 11.09.2000

α Interview II: Wolfgang Richter (Ausländerbeauftragter der Hansestadt Rostock

und Gründungsmitglied des Vereins Dien Hong), 19.09.2000

Page 128: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Anhang

II

Leitfaden

γ Persönliche Daten der Stichprobenteilnehmer

Alter

Schule

Was sind deine Lieblingsfächer und warum?

Zeit in Deutschland

γ Leben in Deutschland

Kannst du mir etwas über dein Leben in Vietnam erzählen?

Was gibt es für Unterschiede zwischen dem Leben in Vietnam und dem in

Deutschland?

Wissen über Deutschland/ wer war schon hier

Wunsch, herzukommen/ Heimweh

„ typisch deutsch“? und „ typisch vietnamesisch“

Welche Probleme hast du in Deutschland? (Sprache, Ausländerfeindlichkeit)

γ Freunde/ Freizeit

Mitschüler/ Freunde in der Schule

Was machst du in deiner Freizeit?

Genug Freizeit?

Mit wem verbringst du deine Freizeit?

Deutsche oder vietnamesische

γ Familie/ Rollen

Mit wem lebst du hier zusammen in einer Wohnung?

hat sich etwas verändert

Unterschiede zu deutschen Freunden?

Wie stellst du dir deine eigene Familie einmal vor?

Page 129: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Anhang

III

γ Bräuche/ Traditionen

Gibt es vietnamesische Traditionen, z.B. Feste, die ihr hier in Deutschland weiter

macht?

Was verändert?

gerne Drachen-/ Bambus-/ Fächertanz? Welche Bedeutung haben diese Tänze?

γ Identität

Wenn dich jemand fragt, ob du Deutscher oder Vietnamese oder beides oder nichts

von beidem bist, was antwortest du?

Was ist an dir vietnamesisch und was deutsch?

γ Dien Hong

oft im Jugendtreff?

Was ist dir dort wichtig? (Freunde treffen, lernen,...)

Dien Hong ist ein vietnamesisch-deutscher Verein. Was stellst du dir darunter vor?

Was würdest du gerne im Jugendtreff machen?

Was ist gut/ was schlecht?

γ Zukunft

Was möchtest Du später einmal machen?

Meinst du, dass du das schaffen wirst?

Mal nach Vietnam?

Größter Wunsch

Page 130: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Anhang

IV

Codierleitfaden

1. Persönliche Daten der Stichprobenteilnehmer:

- Geschlecht

- Alter

- Dauer des Aufenthaltes in DL

- Sprachkenntnisse

- Schulform/ Klassenstufe

2. „ In Vietnam ist es lustiger“

- Schule/ Mitschüler

- Zusammenleben/ Gemeinschaft

- Freunde/ Freizeit

- Typisch! γ Mentalitätsunterschiede

- Problemeï Spracheð Heimwehñ Feindlichkeit

- Wissen über DL

- Familieò Veränderungenó Unterschiede zu deutschen Familienô Rollen

- Traditionen/ Religion

3. „ Ich bin Vietnamese!“

- kulturelle Identität

- Rückkehrwunsch

4. Dien Hong

5. Zukunft/ Wünsche

Page 131: Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher ... · Magisterarbeit zum Thema Einstellungen und Erwartungen vietnamesischer Jugendlicher an Dien Hong, einen deutsch-vietnamesischen

Erklärung

V

Erklärung

Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne

Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe. Die aus

fremden Quellen direkt oder indirekt übernommenen Gedanken sind als solche

kenntlich gemacht.

Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen

Prüfungsbehörde vorgelegt.

Ulrike Stepan

Rostock, am 15. Dezember 2000